Mich macht wütend, die Menschen denken, ich habe Down-Syndrom und bin krank. Ich bin aber gesund!! Und auch nicht dumm. Die Menschen sind dumm, die nicht den Unterschied zwischen Krankheit und Behinderung kennen. Kranksein bedeutet Schmerzen haben oder Husten. Und dann bekommt man Medizin und geht zum Arzt. (Petkewitz, 2019)

Robert Petkewitz ist Redakteur des Magazins Ohrenkuss und thematisiert mit diesen Worten die Pathologisierung des Down-Syndroms in der Gesellschaft. Trisomie 21 wird häufig als Krankheit missinterpretiert und Betroffene werden wiederholt als Personen bezeichnet, die „unter dem Down-Syndrom leiden“. Sprachlich werden ihnen dabei vermeintlich „gesunde“ Menschen gegenübergestellt (vgl. Leidmedien, 2019). „Die Gleichsetzung von Behinderung mit Krankheit und therapiewürdig ist heute auch ins Alltagsbewußtsein übergegangen und ersetzt das alte Euthanasie-Denken“, schrieb Michael Wunder (1982, S. 74) zur Hoch-Zeit der selbsternannten Krüppelbewegung. Die Frage, welchen Einfluss eine Pathologisierung auf das Narrativ Down-Syndrom hat und welche Folgen für die Wertschätzung und Geburtenrate von Menschen mit Trisomie 21 daraus resultieren, kann an dieser Stelle nicht thematisiert werden. Stattdessen soll im folgenden Kapitel eine zeitgemäße und wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem Down-Syndrom respektive Trisomie 21 erfolgen. Nach der Einordnung des Syndroms als Chromosomenanomalie und einer Darstellung des Forschungsstands zu den kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit Trisomie 21 wird der Begriff der geistigen Behinderung in Frage gestellt. Es werden Besonderheiten im Lernen bei Trisomie 21 anhand der Algebra thematisiert und mit Forschungsergebnissen zur Aufmerksamkeit bzw. Simultanerfassung erklärt. Zuletzt wird der Begriff der Neurodiversität als alternative Betrachtungsweise der kognitiven Besonderheiten bei Trisomie 21 anempfohlen.

2.1 Chromosomenanomalie

Der Psychiater Jean Étienne Esquirol (1838) sowie der Arzt und Pädagoge Édouard Séguin (1864) gelten als die ersten Autoren, die Personen mit Trisomie 21 beschrieben haben (Häcker, 2007, S. 1005). Esquirol stellte verschiedene Menschen mit Beeinträchtigungen vor, die, in seinen Worten, von „Idiotie“ betroffen seien. Er thematisierte ihr Verhalten, die mutmaßlichen Ursachen der Behinderung und ihren Lebensalltag. Für die akribische Beschreibung des Erscheinungsbildes seiner lebendigen wie toten Patienten nahm er u. a. Kopfvermessungen vor (vgl. Esquirol, 1838, S. 157 ff.). Séguin griff die Beobachtungen Esquirols auf und formulierte Merkmale, anhand derer verschiedene Formen der „Idiotie“ diagnostiziert werden könnten (vgl. Séguin, 2012, S. 85 ff.). Als Entdecker des nach ihm benannten Syndroms gilt allerdings John Langdon Down, der eine Klinik für Menschen mit Behinderung leitete (Häcker, 2007, S. 1005). Down stellte Gemeinsamkeiten in der phänotypischen Erscheinung einiger seiner Patienten fest und prägte den Begriff „Mongolian type of idiocy“ (1866, S. 261). Downs Intention zu seiner heute als rassistisch abgelehnten Begriffsfindung erklärt Zimpel (2017a, S. 224 f.): „Die eher mandelförmige Augenform aufgrund der geschrägten Lidachsen, die flache Nasenwurzel und die kleine sichelförmige Hautfalte an den inneren Augenwinkeln, die typisch für Menschen mit einer Trisomie 21 sind, mögen dazu beigetragen haben. Er glaubte, man erkenne die Einheit der menschlichen Rasse an den anatomischen Merkmalen von Kindern.“

Die Ursachen des Down-Syndroms wurden erstmalig von Lejeune, Gautier und Turpin (1959) erforscht. Anhand von neun Kindern mit Down-Syndrom bewiesen sie, dass das 21. Chromosom, das gewöhnlich nur zwei Mal in einer Zelle auftritt, in dreifacher Form vorhanden ist (Lejeune et al., 1959, S. 1722). Diese Chromosomenanomalie, bei der die betroffene Person 47 anstatt der üblichen 46 Chromosomen aufweist, wird als Trisomie 21 bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neugeborenes eine Trisomie 21 hat, beträgt 1:600–800, wobei die Wahrscheinlichkeit mit dem Alter der Mutter des Kindes ansteigt. Bei 95 % der Personen mit dieser Chromosomenanomalie liegt eine freie Trisomie 21 vor, bei der alle Körperzellen ein zusätzliches 21. Chromosom aufweisen (Strauss, 2017, S. 413). Daneben existieren die Mosaikform der Trisomie 21, bei der nur ein Teil der Körperzellen betroffen ist, die Translokationsform der Trisomie 21, bei der sich eines der Chromosomen mit der Nummer 21 an ein anderes Chromosom geheftet hat, sowie die partielle Trisomie 21, bei der Genabschnitte eines der beiden Chromosomen Nummer 21 verlängert sind (Zimpel, 2016, S. 19).

Im Verzeichnis Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme ICD-10 wird das Down-Syndrom als Chromosomenanomalie unter der Kennziffer Q90 geführt (vgl. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2020). In einem Entwurf der ICD-11 (Version 09/2020) ist Complete Trisomy 21, die freie Trisomie 21, unter der Kennziffer LD40.0 zu finden und wird folgendermaßen charakterisiert: „Trisomy 21 is a chromosomal abnormality, characterised by the presence of a third (partial or total) copy of chromosome 21, which clinical manifestations include variable intellectual deficiency, muscular hypotonia and joint laxity, often associated with facial dysmorphism and variable malformations (essentially heart and digestive) and a risk of complications (epilepsy, leukemia, auto-immune and endocrine pathologies, earlier aging and Alzheimer disease“ (World Health Organization, 2020). Symptome einer Trisomie 21 sind demnach ein variables intellektuelles Defizit, Muskelhypotonie, Gelenknachgiebigkeit, Gesichtsdysmorphismus, variable Fehlbildungen u. a. bei Herz und Verdauung sowie ein Risiko von Epilepsien, Leukämie, Autoimmunerkrankungen, hormonelle Erkrankungen, frühzeitiges Altern und Alzheimer-Krankheit.

2.2 Kognitive Fähigkeiten bei Trisomie 21

2.2.1 Forschungsstand

Diverse Forschungsarbeiten zur Trisomie 21 gehen der Frage nach, wie sich das „variable intellektuelle Defizit“ äußert, das laut ICD-11 regelmäßig mit einer Trisomie 21 einhergeht. In der Regel werden der Intelligenzquotient, die Schriftsprache und die mathematischen Fähigkeiten von Schüler*innen mit Trisomie 21 erhoben, um Rückschlüsse auf die kognitive Entwicklung zu ziehen.

Lorenz, Sloper und Cunningham (1985) ermittelten mithilfe einer Befragung von Lehrpersonen die Lesefähigkeit von 58 Schüler*innen mit Trisomie 21 im Alter von fünf bis sieben Jahren. 47 % der Schüler*innen im Alter von fünf Jahren, 63 % im Alter von sechs Jahren und 75 % im Alter von sieben Jahren waren in der Lage, ihren eigenen Namen zu lesen. Die Fähigkeit, fünf bis zehn Wörter lesen zu können, wurde bei 19 % der Fünfjährigen, 32 % der Sechsjährigen und 44 % der Siebenjährigen beobachtet (Lorenz et al., 1985, S. 65).

Buckley und Sacks veröffentlichten 1987 ihre Forschungsergebnisse zu 90 Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 im Alter von elf bis 17 Jahren. Zuvor befragten sie deren Familien u. a. zu ihrer Autonomie im täglichen Leben, den schulischen Fähigkeiten, ihrer Gesundheit, ihrem Verhalten und zur psychischen Entwicklung der Untersuchungspersonen. Buckley und Sacks unterschieden dabei zwei Versuchsgruppen: Die erste Gruppe bestand aus unter 14-jährigen Kindern, darunter 18 Mädchen (Durchschnittsalter 12;3) und 28 Jungen (Durchschnittsalter 12;6). Die zweite Gruppe bestand aus Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren und setzte sich aus 40 Mädchen (Durchschnittsalter 16;1) und 50 Jungen (Durchschnittsalter 15;6) zusammen (Buckley & Sacks, 1987, S. 17). 92 % der Mädchen und 77 % der Jungen in der Gruppe der unter 14-Jährigen waren laut Angabe der Familie in der Lage, ganze Sätze zu lesen. Dies traf auch auf 77 % der Mädchen und 87 % der Jungen in der Jugendlichen-Gruppe zu. Als „ziemlich gute Leser“ wurden 16 % der Jungen unter 14 und 18 % der Jungen über 14 bezeichnet. Sie waren in der Lage, Bücher zu lesen, die über spezielle Erstleser*innenliteratur hinausgehen. Von den weiblichen Teilnehmenden waren 36 % der unter 14-Jährigen und 22 % der über 14-Jährigen ebenfalls in der Lage, Bücher aus der Kinder- und Jugendliteratur (z. B. Die Fünf Freunde von Enid Blyton) zu lesen (Buckley & Sacks, 1987, S. 55 f.).

Um die mathematischen Fähigkeiten der Teilnehmenden zu untersuchen, wurden u. a. Fragen zur Zählfähigkeit gestellt. 22 % der Mädchen sowie 25 % der Jungen unter 14 waren in der Lage, die Zahlenreihe über die 20 hinaus aufzusagen. In der Gruppe der über 14-Jährigen gelang dies 45 % der Mädchen und 54 % der Jungen. Das tatsächliche Zählen von mehr als 20 Objekten gelang 6 % der Mädchen und 14 % der Jungen unter 14 Jahren sowie jeweils 27 % der Mädchen und Jungen über 14 Jahren. Des Weiteren wurden Fragestellungen zur Arithmetik erhoben, die die Fähigkeit zur Durchführung simpler Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen zum Gegenstand hatten. Simple Additionen gelangen demnach 59 % der Mädchen und Jungen in der Gruppe der Jugendlichen sowie 45 % der Mädchen und 43 % der Jungen in der Kindergruppe. Die Subtraktion konnten 37 % der jugendlichen Mädchen und 32 % der jugendlichen Jungen sowie 28 % der Mädchen und 22 % der Jungen unter 14 Jahren durchführen. Nur vereinzelten Untersuchungspersonen gelangen indes Multiplikation und Division (Buckley & Sacks, 1987, S. 61).

Carr (1988) berichtet von einer Langzeitstudie, in der die kognitiven Fähigkeiten von 54 Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 im Alter von 21 Jahren erfasst wurden. Der durchschnittliche IQ der Untersuchungspersonen veränderte sich im Laufe der Studie. Betrug dieser im Alter von sechs Monaten noch 80, sank er auf 45 im Alter von vier Jahren und auf 37 im Alter von elf Jahren. Im Alter von 21 Jahren wurde mithilfe der Leiter International Performance Scale ein durchschnittlicher Intelligenzquotient von 41,9 ermittelt (Carr, 1988, S. 409 f.). Im Vernon’s Arithmetic-Mathematics Test erzielten 34 der Untersuchungspersonen im Alter von 21 Jahren einen Score, der eine Auswertung ihrer Testergebnisse ermöglichte. Ihr durchschnittliches arithmetisches Entwicklungsalter betrug 5;6 Jahre. Die Lesefähigkeit der 21-jährigen Teilnehmenden wurde mit Hilfe des Neale Analysis of Reading Tests überprüft, bei dem lediglich 16 Teilnehmende einen Score erzielten. Ihr durchschnittliches Entwicklungsalter im Bereich Lesen betrug 7;8 Jahre (Carr, 1988, S. 411 f.).

Gelman und Cohen führten eine Studie zu Zählfähigkeiten und -strategien bei Trisomie 21 durch. Dabei untersuchten sie zehn Personen mit Trisomie 21 im Alter von neun bis 13 Jahren (Durchschnittsalter 11) sowie 16 Vierjährige und 16 Fünfjährige ohne Syndrom (Gelman & Cohen, 1988, S. 67 f.). Die Kontrollgruppe schnitt in der Untersuchung besser ab und nutzte im Gegensatz zur Experimentalgruppe Zählprinzipien (Gelman & Cohen, 1988, S. 92).

Im Rahmen einer Langzeitstudie verglich Shepperdson die schriftsprachlichen und mathematischen Fähigkeiten von Personen mit Trisomie 21 zweier Jahrgänge im Jugendalter. Der ersten Untersuchungsgruppe gehörten 49 Teilnehmende an, die Mitte der 1960er-Jahre geboren wurden. Zu dieser Gruppe existieren zusätzlich Daten aus dem Erwachsenenalter. In der zweiten Untersuchungsgruppe gab es 26 Untersuchungspersonen, die in den 1970er-Jahren geboren wurden (Shepperdson, 1994, S. 98). Shepperdson stellte Fachleuten, in der Regel Lehrkräften, 26 Fragen zu den mathematischen Fähigkeiten der Untersuchungspersonen. Die Bandbreite reichte dabei von der Fähigkeit, bis fünf zu zählen, bis zur Aufgabe, zehn Objekte zwischen zwei Personen gerecht zu verteilen (Shepperdson, 1994, S. 98). Die Gruppe, die in den 1960er-Jahren geboren wurde, erreichte im Jugendalter einen durchschnittlichen Score von 10,3. Im Erwachsenenalter schnitten 15 Teilnehmende dieser Gruppe deutlich besser ab als noch in ihrer Jugend. 23 Untersuchungspersonen offenbarten dagegen deutlichere Schwierigkeiten als zuvor. Insgesamt zeigt sich im Erwachsenenalter ein marginal höherer Durchschnittsscore. Die Untersuchungspersonen, die in den 1970er-Jahren geboren wurde, zeigten im Jugendalter einen durchschnittlichen Score von 14,2 und schnitten damit deutlich besser ab als die Gruppenmitglieder, die in den 1960er-Jahren geboren wurden (1994, S. 100). Shepperdson befragte die Lehrkräfte außerdem mithilfe einer modifizierten Variante des Schonell Graded Word Reading Tests nach den Lesefähigkeiten der Untersuchungspersonen (1994, S. 98). Von den 49 Untersuchungspersonen, die in den 1960er-Jahren geboren wurden, konnten als Jugendliche 17 einen Score in diesem Test erzielen. Ihr durchschnittliches Entwicklungsalter in Bezug auf die Lesefähigkeit betrug 7;3 Jahre. Aus der gleichen Gruppe konnten im Erwachsenenalter lediglich zwölf Personen einen Score erzielen. Ihr durchschnittliches Entwicklungsalter in Bezug auf die Lesefähigkeit betrug 8;6 Jahre. Aus der Gruppe der adoleszenten Teilnehmenden, die in den 1970er-Jahren geboren wurden, konnten lediglich 15 von 58 einen Score erreichen. Ihr durchschnittliches Entwicklungsalter in Bezug auf die Lesefähigkeit betrug 7;6 Jahre (Shepperdson, 1994, S. 99).

Porter (1999) setzte sich mit den Schwierigkeiten von Personen mit Trisomie 21, Zählen zu lernen, auseinander. Die Untersuchungsgruppe bestand aus 16 Personen mit Trisomie 21 im Alter von 7;0 und 13;8 Jahren (Durchschnittsalter 10;1). Diese matchte Porter mit einer Kontrollgruppe aus 16 Personen, die ebenfalls Lernschwierigkeiten, aber keine Trisomie 21 aufwiesen und die gleichen Zählfähigkeiten zeigten. Beide Gruppen sollten Aufgaben bewältigen, die u. a. darin bestanden, verschiedene Anzahlen an Schmuckstücken zu zählen und eine Puppe zu korrigieren, der Fehler beim Zählen unterliefen (Porter, 1999, S. 87). Verglichen wurde die Berücksichtigung des Prinzips der stabilen Ordnung, des Prinzips der Eins-zu-Eins-Zuordnung und des Kardinalzahlprinzips. Im Gegensatz zur Kontrollgruppe offenbarten die Teilnehmenden mit Trisomie 21 mehr Schwierigkeiten bei der Wiedergabe der korrekten Zahlenfolge. Eine Stärke wiesen sie dagegen in der Eins-zu-Eins-Zuordnung auf (Porter, 1999, S. 88).

Mit dem Ziel, die Bedeutung von Sprache beim Erwerb numerischer Fähigkeiten zu erforschen, verglichen Paterson, Girelli, Butterworth und Karmiloff-Smith (2006) Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 und dem Williams-Beuren-Syndrom in drei Experimentalreihen. Die dritte Experimentalreihe enthielt u. a. Zählaufgaben, Aufgaben zur Benennung des Vorgängers oder Nachfolgers einer Zahl, Aufgaben zur Seriation sowie Additions-, Subtraktions- und Multiplikationsaufgaben (Paterson et al., 2006, S. 197 f.). Die Stichprobe bildeten acht Teilnehmende mit Williams-Beuren-Syndrom im Alter von 10;11 und 32;9 Jahren (Durchschnittsalter 20;9) sowie sieben Teilnehmende mit Trisomie 21 im Alter von 17;11 und 35;3 Jahren (Durchschnittsalter 26;4). Als Kontrollgruppen fungierten Teilnehmende ohne Syndrom, die einmal nach dem chronologischen Alter und einmal nach dem Entwicklungsalter gematcht wurden. Die beiden Versuchsgruppen schnitten erwartungsgemäß schlechter ab als die Kontrollgruppe mit gematchtem chronologischen Alter. Die Versuchsgruppe mit Williams-Beuren-Syndrom ließ grundsätzlich größere Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen erkennen als die Versuchsgruppe mit Trisomie 21 (Paterson et al., 2006, S. 199). Da sie davon ausgingen, dass Menschen mit Trisomie 21 größere Sprachbarrieren haben als Personen mit Williams-Beuren-Syndrom, schlossen Paterson et al. aus diesen Ergebnissen, dass die Entwicklung numerischer Fähigkeiten keine ausgeprägten verbalen Fähigkeiten voraussetzt (2006, S. 200).

Brigstocke, Hulme und Nye (2008) untersuchten die arithmetischen Fähigkeiten von 49 Menschen mit Trisomie 21 im Alter von 5;6 bis 16;2 Jahren. Im standardisierten BAS Basic Number Skills Test erreichten lediglich 27 der Teilnehmenden ein auswertbares Ergebnis, das in der Regel im unterdurchschnittlichen Bereich lag (Brigstocke et al., 2008, S. 74).

2.2.2 Mathematische Entwicklungsverzögerung

Die o. g. Studien weisen darauf hin, dass sich eine Trisomie 21 negativ auf die Entwicklung des mathematischen Verständnisses auswirkt. Im Folgenden wird diese Beobachtung anhand einer größeren Stichprobe geprüft.

Im Rahmen der Aufmerksamkeitsstudie zur Verbesserung des Lernerfolgs von Menschen mit einer Trisomie 21 wurden mit allen Teilnehmenden, die eine entwickelte Objektpermanenz aufwiesen, ein Experiment zur Zahlbegriffsentwicklung durchgeführt. Die Kriterien bei der Entwicklung des Experiments umfassten eine kurze Dauer, damit es im Rahmen der Untersuchung aller Teilnehmenden implementiert werden konnte sowie eine Reproduzierbarkeit, um eine genügend große Aussagekraft um die mathematische Entwicklungsverzögerung, die mit einer Trisomie 21 einhergeht, anhand einer großen Stichprobe nachzuweisen. Die These zu dieser Untersuchung lautet: Die Versuchsgruppe der Trisomie-21-Studie zeigt im Vergleich zur Kontrollgruppe in allen Altersbereichen ein durchschnittlich geringeres mathematisches Verständnis.

2.2.2.1 Entwicklungspsychologischer Hintergrund

In seiner Konzeption ist das Experiment an den Untersuchungen von Piaget und Szeminska (1975) zur Zahlbegriffsentwicklung angelehnt. Jean Piaget wird eine zentrale Rolle in der Erforschung der kognitiven Entwicklung des Kindes zugesprochen (Eckhard, 2013, S. 71). Obgleich seine Theorien und Erkenntnisse im Laufe der letzten Jahrzehnte in Teilen konkretisiert oder falsifiziert worden sind, stellen seine Überlegungen zur Zahlbegriffsentwicklung nach wie vor das Fundament vieler mathematikdidaktischer Überlegungen dar (vgl. Krauthausen, 2018, S. 183). Piagets Überlegungen zur Bedeutung der Kardination und Ordination finden sich beispielsweise in den Zahlaspekten und Zählprinzipien wieder, die in der Didaktik des mathematischen Anfangsunterrichts eine große Rolle spielen (Krauthausen, 2018, S. 44, 49). Besondere Bekanntheit erlangten allerdings Piagets Experimente zur Invarianz, da er deren Ergebnisse eine große Aussagekraft hinsichtlich der kognitiven Entwicklung einer Person zusprach. Personen, die bei diesen Experimenten korrekt antworten, haben laut Piaget einen Meilenstein in der geistigen Entwicklung erreicht: Sie sind in der Lage, sog. Operationen durchzuführen. Sodian (2002, S. 439) erklärt in diesem Zusammenhang: „Mit dem Begriff der Operation (im Sinne einer internalisierten Handlung) meint Piaget die Möglichkeit, interne Repräsentationen mental zu manipulieren“.

Piagets Forschungsgruppe konzipierte verschiedene Experimente zur Erhaltung von kontinuierlichen Quantitäten (wie z. B. Flüssigkeiten) oder diskontinuierlichen Quantitäten (wie z. B. Perlen). In einem Experiment zur Invarianz von Volumen werden der Untersuchungsperson (bei Piaget handelt es sich dabei in aller Regel um Kinder) zwei gleichartige Gläser, befüllt mit der gleichen Menge an Flüssigkeit mit blauer und roter Färbung, präsentiert. Dem Kind wird erklärt, dass das Glas mit roter Flüssigkeit für ihn sei und das Glas mit blauer Flüssigkeit für ein anderes Kind. Es wird gefragt, ob jeder von ihnen gleich viel zu trinken habe. Danach wird vor den Augen des Kindes die rote Flüssigkeit des einen Glases in zwei kleinere umgefüllt. Daraufhin wird das Kind erneut gefragt, ob beide Kinder gleich viel zu trinken hätten. Kinder, die die Invarianz von Flüssigkeiten noch nicht verinnerlicht haben, antworten, dass sie mehr zu trinken hätten als das andere Kind (Piaget & Szeminska, 1975, S. 17, 19).

In einer anderen Form dieses Experiments wird der Inhalt eines Glases komplett in ein anderes Glas umgegossen, das entweder deutlich dicker oder dünner ist. Kinder, die sich vom veränderten Wasserstand nicht verunsichern lassen, sondern auch die Breite des Glases mitberücksichtigen, haben die Invarianz von Volumen verinnerlicht und sind sich der Reversibilität der Handlung des Umfüllens bewusst (Piaget & Inhelder, 1986, S. 101) (Abbildung 2.1).

Abbildung 2.1
figure 1

Alternatives Experiment zur Invarianz von Flüssigkeiten (vgl. Sodian, 2002, p. 440)

Um das Verständnis für die Invarianz von kontinuierlichen Quantitäten bei Kindern experimentell zu bestimmen, arbeiteten Piaget und Inhelder (1986, S. 40) neben Flüssigkeiten auch mit Ton: Vor dem Kind wird eine von zwei gleichgroßen und -schweren Tonkugeln verformt. Nun wird das Kind befragt, ob Gewicht, Menge, Materie und Volumen gleichgeblieben seien. Mithilfe von Perlen kann nach Piaget und Szeminska (1975, S. 42 ff.) die Invarianz diskontinuierlicher, also leicht zählbarer Quantitäten thematisiert werden. Der Vorteil des Materials besteht darin, dass sich Perlen einerseits für Umfüll-Experimente eignen, aber auch nachgezählt oder als Ketten aufgefädelt werden können.

Im Experiment im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden gedruckte Punkte als diskontinuierliche Quantität herangezogen. Auf diese Weise konnte der Anforderung Rechnung getragen werden, das Experiment zeitsparend und reproduzierbar zu gestalten.

2.2.2.2 Verlauf des Experiments

Im Vorfeld der Durchführung wurde sichergestellt, dass die jeweilige Untersuchungsperson eine entwickelte Objektpermanenz aufwies. War dies nicht der Fall, wurde die Untersuchung nicht durchgeführt und die Aufgaben als nicht bestanden bewertet. Bei vorhandener Objektpermanenz wurden die folgenden drei Aufgaben gestellt. Sobald der Untersuchungsperson ein Fehler unterlief, wurde die Untersuchung beendet. Nur bei vollständiger Durchführung und wenn alle Antworten korrekt gegeben wurden, galt die Aufgabenstellung als bestanden.

Aufgabe 1: Zu Beginn wurden acht Karten, bedruckt mit den Ziffern 1 bis 8, vor der Untersuchungsperson auf dem Tisch ausgebreitet. Die Untersuchungsperson wurde daraufhin gefragt, ob sie eine Zahl wiedererkenne. Nachdem sie auf eine Ziffer gezeigt und ihre Bezeichnung genannt hatte, wurde sie darum gebeten, die Ziffern in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Aufgabe 2: Im nächsten Schritt wurden acht Karten auf den Tisch gelegt, die jeweils einen bis acht ungeordnete Punkte zeigten. Der Untersuchungsperson wurde exemplarisch eine Karte gezeigt. Sie wurde gefragt, um wie viele Punkte es sich handele. Antwortete sie korrekt, wurde sie darum gebeten, alle Punktkarten den passenden Ziffernkarten zuzuordnen (Abbildung 2.2).

Abbildung 2.2
figure 2

Korrekt angeordnete Kärtchen aus den Aufgaben 1 und 2

Aufgabe 3: In einem weiteren Schritt wurde der Untersuchungsperson folgende Karte vorgelegt (Abbildung 2.3)

Abbildung 2.3
figure 3

Erste Karte Aufgabe 3 im Experiment zur Zahlbegriffsentwicklung

Dabei wurde sie gefragt, auf welcher Seite mehr Punkte zu sehen seien oder ob es sich um gleich viele Punkte handele. Danach wurde der Untersuchungsperson folgende Karte vorgelegt (Abbildung 2.4)

Abbildung 2.4
figure 4

Zweite Karte Aufgabe 3 im Experiment zur Zahlbegriffsentwicklung

Erneut wurde sie gefragt, auf welcher Seite mehr Punkte zu sehen seien oder ob es sich um gleich viele Punkte handele. Im letzten Schritt wurde der Untersuchungsperson noch folgende Karte vorgelegt (Abbildung 2.5)

Abbildung 2.5
figure 5

Dritte Karte Aufgabe 3 im Experiment zur Zahlbegriffsentwicklung

Wieder wurde sie gefragt, auf welcher Seite mehr Punkte zu sehen seien oder ob es sich um gleich viele Punkte handele. War die Untersuchungsperson der Meinung, dass auf beiden Seiten der letzten Karte gleich viele Punkte zu sehen seien, galt die Aufgabenstellung als bestanden. Ein solches Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass die Person bereits die Fähigkeit entwickelt hat, die Invarianz von diskontinuierlichen Quantitäten zu erkennen.

2.2.2.3 Ergebnisse der ersten Auswertung

Die Resultate dieses Experiments wurden bereits in der Vergangenheit veröffentlicht (vgl. Rieckmann, 2016, S. 168 f.). Sie bilden eine Entwicklungsverzögerung bei den Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 (n = 1284) im Vergleich zu den neurotypischen Untersuchungspersonen (n = 624) ab (Abbildung 2.6).

Abbildung 2.6
figure 6

Ergebnisse des Experiments aufgeschlüsselt nach Altersbereich und prozentualem Anteil der Untersuchungspersonen einer Gruppe, die die Aufgaben fehlerfrei bewältigten (vgl. Rieckmann, 2016, S. 168)

Im Altersbereich von vier bis fünf Jahren bewältigten 40 % der Untersuchungspersonen ohne Trisomie 21 alle Aufgaben. Mit 43 % erreichten die Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 hingegen erst im Altersbereich von 14 bis 17 Jahren einen ähnlichen Wert. Ab dem Alter von 14 Jahren durchliefen alle Untersuchungspersonen ohne Trisomie 21 die Aufgaben ohne Fehler. Von allen volljährigen Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 absolvierten 45 % die Aufgaben fehlerfrei. Folgende These konnte demnach bereits verifiziert werden: Die Versuchsgruppe der Trisomie-21-Studie zeigt im Vergleich zur Kontrollgruppe in allen Altersbereichen ein durchschnittlich geringeres mathematisches Verständnis.

2.2.2.4 These zur zweiten Auswertung

Offenkundig scheint die Trisomie 21 einen Effekt auf das Abschneiden im Experiment zu haben. Um diese Effektstärke nachzuweisen und zu beziffern, ist gleichwohl eine erneute Aufbereitung der Daten erforderlich. Die These für die erneute Auswertung der Daten lautet: Untersuchungspersonen ohne Trisomie 21 absolvierten die Aufgaben zum Zahlbegriff signifikant häufiger fehlerfrei als Untersuchungspersonen mit Trisomie 21.

2.2.2.5 Stichprobe

In den vorliegenden Daten weisen die Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 einen Altersdurchschnitt von 13;3, die der Kontrollgruppe von 17;10 Jahren auf. Bei der Bestimmung der Effektstärke einer Trisomie 21 auf das Abschneiden bei den Aufgaben zum Zahlbegriff besteht durch das höhere Durchschnittsalter der Kontrollgruppe die Gefahr, das Ergebnis zu verfälschen, da die Zahlbegriffsentwicklung mit dem Altersverlauf korreliert. Aus diesem Grund wird zur folgenden Ermittlung der Effektstärke lediglich der Altersbereich 5;0 bis 17;11 Jahre herangezogen. Es verbleibt demnach eine Stichprobe aus 1053 Untersuchungspersonen mit einem Durchschnittsalter von 10;6 Jahren. Bei 730 dieser Untersuchungspersonen wurde eine Trisomie 21 diagnostiziert. Sie bilden die Versuchsgruppe mit einem Durchschnittsalter von 10;7 Jahren. Die Kontrollgruppe besteht aus 323 neurotypischen Untersuchungspersonen mit einem Altersdurchschnitt von 10;3 Jahren. Der Altersdurchschnitt der Kontrollgruppe liegt damit unterhalb dem der Versuchsgruppe. Eine Verfälschung der Ergebnisse durch das Lebensalter zugunsten der Kontrollgruppe kann damit ausgeschlossen werden.

Die Untersuchungspersonen der Versuchsgruppe wurden größtenteils mithilfe von Elternvereinen ausfindig gemacht, die sich auf das Thema Trisomie 21 spezialisiert und eigens für die Studie Aufrufe gestartet haben. Viele Untersuchungen fanden in den Räumlichkeiten der Universität Hamburg statt, die meisten allerdings an verschiedenen Orten insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Kontrollgruppe setzt sich aus Geschwistern der Personen aus der Versuchsgruppe und Schüler*innen aus Hamburg zusammen.

2.2.2.6 Statistische Analyse

Zur statistischen Analyse der Daten wurde der Mann-Whitney-U-Test verwendet. Es gab einen signifikanten Unterschied bezüglich des Abschneidens bei den Aufgaben zum Zahlbegriff zwischen den Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 (MRang = 414,68) und den neurotypischen Untersuchungspersonen (MRang = 780,84), U = 35905, Z = −21,083, p < 0,001, r = 0,65.

2.2.2.7 Interpretation

Die Effektstärkte wurde als Bravais-Pearson-Korrelationskoeffizient ermittelt: r = 0,65. Cohen (1988, S. 78) spricht ab einem Wert von r = 0,5 von einer starken Korrelation. Folgende These konnte verifiziert werden: Untersuchungspersonen ohne Trisomie 21 absolvierten die Aufgaben zum Zahlbegriff signifikant häufiger fehlerfrei als Untersuchungspersonen mit Trisomie 21.

2.2.2.8 Ergebnis und Diskussion

Die Entwicklungsverzögerung im mathematischen Bereich bei Trisomie 21 konnte in diesem Experiment mit einer großen Stichprobe bestätigt werden. Hierbei handelt es sich allerdings um den Durchschnitt aller Untersuchungspersonen. Liegt das Augenmerk auf einzelnen Personen, zeigt sich eine heterogene Lernentwicklung bei Trisomie 21: Während vier neunjährige Untersuchungspersonen der Kontrollgruppe die Aufgaben nicht korrekt gelöst haben, gibt es 20 sechsjährige Teilnehmende mit Trisomie 21, die ein Verständnis für die Seriation, Ordination, Kardination und Invarianz entwickelt haben. Im Vergleich zu den vier neurotypischen Neunjährigen sind diese bezogen auf die Kenntnisse, die dieses Experiment erfordert, kognitiv weiter entwickelt. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache scheint es nicht angemessen, diese Personen als „entwicklungsverzögert“ oder gar „geistig behindert“ zu bezeichnen.

2.3 Zur Problematik des Bildungsschwerpunkts „geistige Entwicklung“

Angesichts der Erkenntnisse aus der Analyse der Daten des o. g. Experiments stellt sich die Frage, ob die Behauptung aufrechterhalten werden kann, mit einer Trisomie 21 gehe regelmäßig eine geistige Behinderung einher. In Deutschland haben Schüler*innen mit geistigen Behinderungen einen Anspruch auf eine sonderpädagogische Förderung, die ihnen mit der Diagnose des „sonderpädagogischen Förderbedarfs im Schwerpunkt geistige Entwicklung“ zugesprochen wird (Kultusministerkonferenz, 1994, 1998a). Diese Praxis ist gleichwohl umstritten: Ziemen bemängelt etwa, dass diese Fokussierung auf die vermeintliche Abweichung von der Norm administrativer Natur und weitgehend unkritisch in den Kanon der Sonder- und Heilpädagogik aufgenommen worden sei. Eine wissenschaftliche Debatte sei bisher ausgeblieben (Ziemen, 2018, S. 22). Die Diagnostik dieses Förderbedarfs findet traditionell unter Zuhilfenahme von Intelligenzmessung statt: „Die durchschnittliche Punktzahl eines IQ-Tests ist üblicherweise mit hundert und die Standardabweichung mit fünfzehn Punkten festgelegt. Geistige Behinderung entspricht hier einem Wert unter einer zweifachen Standardabweichung nach Links (IQ < 70)“ (Zimpel, 2017b, S. 85).

In jüngster Vergangenheit ist diese Praxis vermehrt in die Kritik geraten, weil der Förderbedarf geistige Entwicklung bei falscher Diagnostik Bildungsabschlüsse verhindern und einen negativen Einfluss auf die Lebensgestaltung haben kann. So wurde dem Schüler Nenad mit sieben Jahren aufgrund eines einmaligen Intelligenztests der sonderpädagogische Förderbedarf geistige Entwicklung diagnostiziert. Er wurde daraufhin an einer Förderschule mit diesem Schwerpunkt eingeschult. Eine erneute Überprüfung der Diagnose wurde während seiner Schullaufbahn versäumt, obwohl Nenad grundsätzlich in der Lage gewesen wäre, einen regulären Schulabschluss zu erlangen (vgl. Schroeder & Schulz, 2018).

Am Zentrum für Aufmerksamkeitsbesonderheiten, einer Beratungsstelle der Universität Hamburg, arbeitete der Autor regelmäßig mit zwei Lernenden mit Trisomie 21, bei denen statt des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung die Förderschwerpunkte Lernen und Sprache diagnostiziert wurden (vgl. Kultusministerkonferenz, 1998b, 2019). Im Gegensatz zum Förderschwerpunkt geistige Entwicklung orientiert sich laut Kultusministerkonferenz die „Schulische Bildung im Schwerpunkt LERNEN … in den Unterrichtsfächern hinsichtlich der Inhalte und der Bildungsziele an denen der allgemeinen Schule“ (Kultusministerkonferenz, 2019, S. 3). Des Weiteren sei sicherzustellen, „ … dass Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt LERNEN den individuell für sie höchstmöglichen Schulabschluss erreichen“ (Kultusministerkonferenz, 2019, S. 3). Die Diagnose des Förderbedarfs Lernen entspricht nicht der Diagnose einer geistigen Behinderung, stattdessen ist sie Ausdruck der Vorstellung einer sog. „Lernbehinderung“, die in dieser Form in Deutschland einzigartig ist (Schumann, 2018, S. 20).

Gegen die These, dass Menschen mit Trisomie 21 grundsätzlich eine geistige Behinderung haben, sprechen außerdem aufsehenerregende Bildungsbiografien einzelner Personen mit Trisomie 21. Zimpel (2016, S. 78 f.) berichtet etwa von Aya Iwamoto, die 1998 englische Literatur studierte und heute Bücher übersetzt, Pablo Pineda, der 1999 ein Studium der Erziehungswissenschaft absolvierte und heute als Buchautor und Schauspieler tätig ist, Francesco Aglio, der 2007 sein Wirtschaftsstudium absolvierte und heute als Wirtschaftsberater tätig ist, Ángela Bachiller, die 2013 Stadträtin von Valladolid wurde, und Karen Gaffney, die 2013 die Ehrendoktorwürde an der Columbia University in Portland erhielt.

Diese Beispiele von Personen mit Trisomie 21, die auch im Vergleich zu neurotypischen Personen überdurchschnittliche Bildungserfolge aufweisen, reichen aus, um festzustellen, dass eine Trisomie 21 nicht a priori zu einer sog. geistigen Behinderung führt. Offen bleibt aber die Frage, worin die Besonderheiten bei einer Trisomie 21 liegen, die dazu führen, dass es häufig zu einer kognitiven Entwicklungsverzögerung kommt. Eine mögliche Antwort wäre, dass Menschen mit Trisomie 21 unsere Umwelt auf eine radikal andere Weise verarbeiten und ihre Form des Lernens von den neurotypischen Personen abweicht. Für diese These sprechen Erfahrungen im Mathematikunterricht, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.

2.4 Neues Verständnis eines geeigneten Mathematikunterrichts

Auf die mathematischen Lernschwierigkeiten, die häufig mit einer Trisomie 21 einhergehen, wurde bisher in der Regel mit der Entwicklung neuer Unterrichtsmaterialien und -methoden reagiert, die Lernenden mit Trisomie 21 die Arithmetik näherbringen sollten (vgl. dazu Unterkapitel 6.2). Ein Ansatz, der einen gänzlich anderen Weg verfolgt und bis heute in der internationalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung zur Mathematikdidaktik für Lernende mit Trisomie 21 rezipiert wird (vgl. Faragher, 2017; Gil Clemente & Cogolludo-Agustín, 2019), nimmt indes eine Neubewertung der Bedeutsamkeit der Arithmetik als Teilgebiet der Mathematik vor. Nach Monari Martinez (2002, S. 22) herrscht die Ansicht, dass arithmetische Fähigkeiten die Basis allen mathematischen Wissens darstellen, da der schulische Mathematikunterricht in der Regel mit der Thematisierung von Zahlen und Operationen beginnt. Diese Vorstellung von Mathematik ist im alten Mathematik-Baum dargestellt, in dem Zahlen und Operationen den Stamm bilden (Abbildung 2.7). Monari Martinez negiert die Bedeutung der Arithmetik in der Mathematik nicht, merkt aber an, dass es noch weitere Teilgebiete gebe, die zufriedenstellend im Unterricht behandelt und gelernt werden könnten. Insbesondere Problemlösungskompetenzen, Algebra, Diagramme, Geometrie und das Messen würden bedeutende Elemente der Mathematik darstellen, die zu selten im Unterricht für Lernende mit Trisomie 21 vorkämen. Diese sind als Äste im neuen Mathematik-Baum aufgeführt (Abbildung 2.7). Den Stamm bilden Mengen, das Zählen und Operationen. Das Kopfrechnen wird ebenfalls als einzelner Ast dargestellt. Die Arithmetik ist in diesem neuen Verständnis also nicht mehr alleinige Basis des Mathematikunterrichts. Rote Markierungen deuten auf Schwierigkeiten hin, die im Messen, beim Problemlösen, Kopfrechnen und Zählen sowie bei Operationen auftreten können. Sie sind von stilisierten Flicken überklebt, die auf Nachteilsausgleiche hindeuten, die in diesen Bereichen greifen: Empfohlen wird die Arbeit mit dem Lineal, Taschenrechner, Visualisierungen und zählbaren Objekten, um Defizite in den arithmetischen Fähigkeiten zu kompensieren (Monari Martinez, 2002).

Abbildung 2.7
figure 7

Alter und neuer Mathematik-Baum (Monari Martinez, 2002; Monari Martinez & Rieckmann, 2019). Zeichnung: Wolfgang Halder

Monari Martinez entwickelte dieses alternative Modell eines Mathematikunterrichts in den 1990er-Jahren anhand ihrer Erfahrungen an italienischen Schulen (Monari Martinez & Rieckmann, 2019). Bereits 1977 wurden in Italien annähernd alle Förderschulen geschlossen und Schüler*innen mit Behinderung, die die Elementar- oder Mittelstufe besuchten, wurden an den Regelschulen aufgenommen. 1992 folgte eine Ausdehnung des gemeinsamen Unterrichts auf die Sekundarschulen, die dazu führte, dass seitdem nahezu alle Schüler*innen im Alter von drei bis 19 Jahren an italienischen Schulen unabhängig von der Ausprägung ihres Unterstützungsbedarfs inklusiv unterrichtet werden (Cottini & Nota, 2007, S. 143 ff.). In diesem inklusiven Lernumfeld beobachtete Monari Martinez (1998), dass 15-jährige Schüler*innen mit Trisomie 21 an Sekundarschulen das Bedürfnis äußerten, die gleichen Lerninhalte wie ihre neurotypischen Mitschüler*innen zu bearbeiten. Für diese Schüler*innen entwickelte sie individuelle Lernprogramme, die sich mit Algebra befassten. Sie formulierte fünf Argumente, die für einen algebraischen Unterricht sprechen:

  • Lernende mit Trisomie 21 werden befähigt, sich in einem mathematischen Lernfeld zu bewegen, mit dem sich ihre Peers beschäftigen. Dies hat einen positiven Einfluss auf den Umgang miteinander und das Selbstbewusstsein.

  • Das Lösen algebraischer Gleichungen folgt einem flexiblen, logischen Plan, dem Schüler*innen mit Trisomie 21 bei genügend Übungszeit folgen können.

  • Algebra folgt einer formalen, klaren und unmissverständlichen Sprache und kommt damit der Denkweise von Personen mit Trisomie 21 entgegen.

  • Das Ergebnis einer algebraischen Gleichung ist entweder eindeutig korrekt oder falsch, was Lernenden mit Trisomie 21 Sicherheit vermittelt.

  • Algebra ist eine effektive Möglichkeit, logische Fertigkeiten zu üben, und kann einen der ersten Schritte in die Kultur der Mathematik darstellen.

2.4.1 Mathematische Problemstellungen mit Gleichungen lösen

Monari Martinez entwickelte gemeinsam mit Kolleginnen ihres Forschungsteams mehrere didaktische Ansätze, die an dieser Stelle jedoch nicht umfassend abgebildet werden können. Exemplarisch wird im Folgenden Monari Martinez‘ und Pellegrinis (2010) Herangehensweise zur Vermittlung von Problemlösestrategien dargestellt.

Beispielhaft sind folgende Problemstellungen gegeben:

  1. a)

    In einem Klassenraum mit 30 Kindern sind 40 % Jungen. Wie viele Jungen sind im Klassenraum?

  2. b)

    In einem Klassenraum sind 12 Jungen. Sie sind 30 % aller Kinder. Wie viele Kinder sind im Klassenraum?

  3. c)

    In einem Klassenraum mit 30 Kindern sind 12 Jungen. Wie hoch ist der Anteil der Jungen im Klassenraum?

Jemand, der die Absicht hat, diese Problemstellungen arithmetisch zu lösen, müsste drei verschiedene Formeln erinnern:

  1. a)

    Prozentwert = (Prozentsatz: 100) ⋅ Grundwert

  2. b)

    Grundwert = Prozentwert ⋅ 100 : Prozentsatz

  3. c)

    Prozentsatz = Prozentwert ⋅ 100 : Grundwert

Monari Martinez und Pellegrini (2010) schlagen vor, solche Problemstellungen mit algebraischen Gleichungen zu lösen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass lediglich eine Formel erinnert werden muss:

  • Prozentwert = (Prozentsatz: 100) ⋅ Grundwert

Es muss lediglich erkannt werden, welche Variablen gegeben sind und welche Variable noch unbekannt ist. Dann kann die Formel in allen drei Fällen verwendet werden:

  1. a)

    x = (40: 100) ⋅ 30

  2. b)

    12 = (40: 100) ⋅ x

  3. c)

    12 = (x: 100) ⋅ 30

Der Fokus, der zuvor noch auf dem Inhalt der Problemstellung lag, liegt vorübergehend auf der Lösung der Gleichung. Erst, nachdem die Unbekannte ermittelt wurde, wird geprüft, ob der ermittelte Wert zur Aufgabenstellung passt. Der Problemlöseprozess ist demnach in mehrere Schritte unterteilt:

  1. 1.

    Einordnung des Problems und Ermitteln der passenden Formel

  2. 2.

    Vergegenwärtigen, welche Variablen bekannt und welche unbekannt sind

  3. 3.

    Einsetzen der Werte in die Formel und Aufschreiben der Gleichung

  4. 4.

    Lösen der Gleichung

  5. 5.

    Interpretation der Lösung im Kontext des ursprünglichen Problems und Prüfung, ob das Problem wirklich gelöst wurde

Monari Martinez und Pellegrini (2010) führten eine Studie mit 15 Lernenden mit Trisomie 21 im Alter von 13 bis 15 Jahren durch. Die Untersuchungspersonen wurden für ein halbes Jahr zweiwöchentlich von Pellegrini für zwei bis drei Stunden zuhause unterrichtet. Neben Brüchen, Prozentsätzen, algebraischen Gleichungen und physikalischen Formeln wurde auch der oben dargestellte Prozess zur Lösung mathematischer Problemlösungen unterrichtet (Monari Martinez & Pellegrini, 2010, S. 16). Ein Post-Test einen Monat nach der Intervention ergab, dass alle Lerninhalte weiterhin erinnert werden konnten. Außerdem ließen sich in allen Bereichen Lernerfolge während der Intervention verzeichnen (Monari Martinez & Pellegrini, 2010, S. 19 f.). Diese Ergebnisse bestätigten sich in einer nachfolgenden Studie mit sechs Jugendlichen mit Trisomie 21 im Alter von 14 bis 16 Jahren, die für neun Monate wöchentlich Einzelunterricht erhielten (Monari Martinez & Neodo, 2020, S. 7). Abbildung 2.8 zeigt beispielhaft die Bearbeitung einer Problemstellung mit Hilfe des Problemlöseprozesses von Monari Martinez und Pellegrini durch eine 14-Jährige mit Trisomie 21.

Abbildung 2.8
figure 8

Übersetzung der Lösung einer mathematischen Problemstellung durch eine 14-jährige Schülerin mit Trisomie 21. Der Text in handschriftlicher Schriftart zeigt die Eintragungen der Schülerin (Baccarin, Benedetti & Monari Martinez, 2004, S. 190; Monari Martinez & Rieckmann, 2019, S. 36)

2.4.2 Einordnung

Monari Martinez und ihre Kolleginnen haben eine Vielzahl an Erfahrungen und Arbeiten von Schüler*innen in einem Mathematikunterricht gesammelt, der mathematische Teilgebiete abseits der Arithmetik zum primären Lerninhalt erklärt. Neben der Lösung algebraischer Gleichungen werden die Arbeit im kartesischen Koordinatensystem, das Lösen von Exponentialgleichungen und die Berechnung von Logarithmen behandelt (vgl. Monari Martinez & Neodo, 2020; Monari Martinez & Rieckmann, 2019). Diese Forschungstätigkeit erstreckt sich in erster Linie über die Zeit in der Sekundarschule, die Schüler*innen in Italien in der Regel ab dem 15. Lebensjahr besuchen. Die Untersuchungspersonen hatten also bereits mehrere Schuljahre Erfahrungen mit arithmetischen Aufgabenstellungen gesammelt, bevor die pädagogische Intervention, die die Algebra forciert, durchgeführt wurde. Die an der Universität Padua entwickelten Lernprogramme setzen ein Verständnis für Zahlen und die Grundrechenarten voraus. Dies wird auch in Abbildung 2.9 deutlich, die die Lösung einer Exponentialgleichung durch eine 18-Jährige mit Trisomie 21 zeigt.

Abbildung 2.9
figure 9

Lösung einer Exponentialgleichung, die die Lösung einer algebraischen Gleichung zweiten Grades erforderte. Übersetzung: 1) Ich ersetze den Bruchstrich durch das Geteiltzeichen. 2) Ich forme die Wurzeln um. 3) Ich gleiche die Basen an. 4) Ich wende die Potenzgesetze an. 5) Ich eliminiere die Basen. (Monari Martinez & Benedetti, 2011; Monari Martinez & Rieckmann, 2019, S. 38)

Ohne ein grundlegendes Verständnis für den Umgang mit Zahlen und Rechenoperationen ist die Lösung einer solchen Gleichung, auch unter Verwendung eines Taschenrechners als Nachteilsausgleich, nicht denkbar. Um die Fähigkeiten zu erlangen, solche algebraischen Gleichungen zu lösen, sollte die Arithmetik also weiterhin im Mathematikunterricht vertreten sein. Monari Martinez‘ Forschungsergebnisse geben allerdings Anlass, Abstand von der Vorstellung zu nehmen, die mentale Bearbeitung von Rechenaufgaben in hohen Zahlenräumen sei eine Voraussetzung für die Arbeit in anderen Teilgebieten der Mathematik. Ihre Arbeit belegt, dass es sich aus pädagogischer Sicht lohnt, auf vielfältige Formen des Denkens und Lernens Rücksicht zu nehmen, diesen Anerkennung zu schenken und sie in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen.

2.5 Lernbesonderheiten verstehen

Es drängt sich die Frage auf, warum Menschen mit Trisomie 21, die Schwierigkeiten in der Arithmetik haben, unter Verwendung von Hilfsmitteln in der Lage sind, algebraische Gleichungen zu lösen. Die Ergebnisse von Monari Martinez und Kolleginnen legen nahe, dass die Form des Lernens von Menschen mit Trisomie 21 derart stark von den neurotypischen Personen abweicht, dass sogar algebraische Zusammenhänge besser gelernt werden können als arithmetische Aufgabenstellungen. Monari Martinez stellt fest, dass das Verwenden einer formalen Sprache, die Informationen kompakt und gebündelt darstellt, Lernenden mit Trisomie 21 entgegenkommt. Demnach scheint die Bündelung von Informationen beim Lernen unter den Bedingungen einer Trisomie 21 von Bedeutung zu sein.

Auf der Suche nach Regelmäßigkeiten in den mathematischen Lernschwierigkeiten von Personen mit Trisomie 21 führten King, Powell, Lemons und Davidson eine Review von acht Studien aus den Jahren 1989–2013 durch, die die mathematischen Fähigkeiten von insgesamt 135 Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 zum Gegenstand hatten (2017, S. 213). Sie stellten fest, dass die mathematischen Lernschwierigkeiten in den Studien unterschiedlich charakterisiert werden und kein einheitliches Muster gefunden werden konnte. Daher sollte in zukünftigen Studien vermehrt syndromspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden, um ihre Verbindungen zu den mathematischen Lernschwierigkeiten zu erforschen (King et al., 2017, S. 218).

Sella, Lanfranchi und Zorzi (2013) überprüften, ob die mathematischen Lernschwierigkeiten von Personen mit Trisomie 21 mit der verzögerten Verarbeitung von Mengen zusammenhängen könnten. Die Versuchsgruppe ihrer Studie bildeten 21 Personen mit Trisomie 21 in einem Durchschnittsalter von 14;2 Jahren. Eine Kontrollgruppe wurde nach dem mentalen Alter der Versuchsgruppe gematcht (chronologisches Durchschnittsalter 5;4), eine weitere nach dem chronologischen Alter. Der Versuchsaufbau sah vor, dass der Untersuchungsperson auf einem Bildschirm für 0,2 s ein Bild mit Punkten unterschiedlicher Größe in den Anzahlen 1 bis 9 gezeigt wurde. Nach einem Störbild und einer kurzen Wartezeit wurde ein weiteres Punktmuster für 8 s präsentiert. Die Anzahl der Punkte entsprach entweder der des ersten Punktmusters oder wich von dieser um den Wert 1 ab. Die Untersuchungsperson sollte durch das Drücken einer Taste angeben, ob beide Punktmuster die gleiche Anzahl an Punkten gezeigt haben (ebd., S. 3800). Den Untersuchungspersonen mit Trisomie 21 unterliefen bei der Unterscheidung von zwei und drei und der Unterscheidung von drei und vier Punkten signifikant häufiger Fehler als der Kontrollgruppe mit gematchtem mentalen Alter (ebd., S. 3802). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Personen mit Trisomie 21 Schwierigkeiten haben, Mengen zu verarbeiten, die normalerweise nicht gezählt werden müssen. Sella, Lanfranchi und Zorzi gehen davon aus, dass die mathematischen Lernschwierigkeiten von Personen mit Trisomie 21 auf eine Schwäche in diesen grundlegenden numerischen Fähigkeiten zurückzuführen sind (2013, S. 3805).

Zeitgleich zu den Forschungsarbeiten von Sella et al. fanden an der Universität Hamburg Untersuchungen zur Aufmerksamkeit von Menschen mit Trisomie 21 statt. Eine repräsentative Stichprobe wurde dabei ebenfalls auf die Fähigkeit der Mengenverarbeitung untersucht. Diese Studie, in deren Rahmen die vorliegende Arbeit entstanden ist, setzte sich zum Ziel, die Lernbesonderheiten von Personen mit Trisomie 21 zu spezifizieren, um daraufhin den Lernerfolg der betroffenen Schüler*innen fördern zu können.

2.6 Aufmerksamkeit

Der Begriff Aufmerksamkeit stellt einen zentralen Aspekt der besagten Studie und dieser Arbeit dar. Aus diesem Grund folgt eine Auseinandersetzung mit der Aufmerksamkeit als bio-psychischem Prozess und Forschungsgegenstand. Da der Umfang der Aufmerksamkeit von besonderer Bedeutung für das pädagogische Problem ist, das den Anlass dieser Arbeit darstellt, wird dieser schwerpunktmäßig behandelt.

Die folgende Definition des Begriffs Aufmerksamkeit dient als Arbeitsdefinition. Sie stammt von André Frank Zimpel, der als Erziehungswissenschaftler mit Schwerpunkt Neurodiversitätsforschung regelmäßig auf die Bedeutung neurobiologischer Prozesse für das Lernen hinweist (vgl. Zimpel, 2010a). Aufmerksamkeit ist, so Zimpel, „Ausdruck der Gerichtetheit und Selektivität aller psychischen Prozesse. Sie bündelt die verfügbare Energie eines Nervensystems auf einen eng begrenzten Bereich einer Tätigkeit (…). Aus der Innensicht empfinden Menschen die mit der Fokussierung der Aufmerksamkeit einhergehende Steigerung des Stoffwechsels in bestimmten Hirnregionen in der Regel als Wachheit, Interesse oder Begeisterung. Müdigkeit und Lageweile entsprechen dagegen eher einem herabgesetzten Stoffwechsel“ (2013a, S. 240).

Diese Definition enthält zwei Charakteristika der Aufmerksamkeit, die in der Theorie einzeln betrachtet werden können, aber in der Praxis grundsätzlich miteinander einhergehen: die Gerichtetheit sowie die Selektivität aller psychischen Prozesse.

Die Gerichtetheit von psychischen Prozessen beschreibt die bewusste und unbewusste Fokussierung auf ausgewählte Reize. Personen, die ihre Aufmerksamkeit bewusst ausdauernd einem Gegenstand zuwenden, werden als konzentriert beschrieben. Dieser Zustand wird auch als Polarisation der Aufmerksamkeit oder Flow bezeichnet. In der Entwicklungspsychologie wird der Gerichtetheit psychischer Prozesse für die kognitive Entwicklung und den Erfolg pädagogischer Angebote ein besonderer Wert zugesprochen. Zimpel (2011, S. 35) hebt deren Bedeutung insbesondere für das entwicklungsfördernde Spiel hervor, da hier die Erkenntnistätigkeit mit dem Bedürfnis des Gehirns nach genügend Anregung von außen verbunden sei. Spielen bezeichnet er als die effektivste Form des sozialen Lernens (Zimpel, 2014, S. 13).

Die Selektivität der psychischen Prozesse trägt der Tatsache Rechnung, dass die simultane (also gleichzeitige) Verarbeitung von Reizen begrenzt ist. Der Aufmerksamkeitsumfang, der diese Grenzen beschreibt, wurde in der Vergangenheit vorranging anhand von visuell dargestellten Mengen gemessen, betrifft aber auch die Verarbeitung von auditiven, taktilen und kinästhetischen Reizen (Röhm, 2016, S. 141 f, 2017; Zimpel & Röhm, 2018).

2.6.1 Polarisation der Aufmerksamkeit

Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik;

diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen…

Maria Montessori (1983, S. 23)

Der Begriff Flow stammt aus der Glücksforschung (Csikszentmihalyi, 2019) und ist als Anglizismus in der deutsche Alltagssprache etabliert (Duden, 2020). Dieser Zustand kann in gewollten, aber risikoreichen Situationen (Nervenkitzel) aufkommen, aber auch bei meditativen Tätigkeiten. Laut Zimpel ist er dann erreicht, wenn „Handlung und Bewusstsein verschmelzen. Die Folge ist ein selbst- und weltvergessenes Aufgehen im Tätigsein“ (2013a, S. 243).

Zur pädagogischen Bedeutung dieses Zustands forschte bereits die Reformpädagogin Maria Montessori. Sie beobachtete, dass sich Kinder, die sich in die Arbeit mit einem Lerngegenstand vertieft haben, auch durch bewusst herbeigeführte Störungen kaum ablenken ließen: „sie vertiefen sich in ihrer Übung mit so intensiver Aufmerksamkeit, dass sie die Dinge um sich herum gar nicht mehr wahrnehmen und immer weiter arbeiten und dabei die gleiche Übung dutzendmal wiederholen“ (Montessori, 2012a, S. 118). Montessori bezeichnete diesen Zustand als „Polarisation der Aufmerksamkeit“ und sprach ihm eine herausragende Bedeutung für das Gelingen pädagogischer Arbeit zu. Renner (1996, S. 139) beschreibt konzentriert arbeitende Kinder in Montessori-Kinderhäusern und -Grundschulen als beeindruckende Erfahrung. Er vertritt die These, Konzentration sei „ein (vielleicht das zentrale) pädagogische Grundphänomen“, und hebt ihre Bedeutung insbesondere in der Montessori-Pädagogik hervor (ebd.). Damit schließt er sich Neuhaus an, die die Konzentration als Kernpunkt der Montessori-Pädagogik bezeichnet: „[D]urch die Konzentration auf eine Sache wird das Kind zu sich selbst geführt“ (1967, S. 92).

Montessoris Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Konzentration und der Polarisation der Aufmerksamkeit wird insbesondere in ihren Vorträgen deutlich (vgl. Montessori, 2014a, 2014b). 1915 erklärte sie zum Anlass eines Vortrages in Oakland anhand eines Schaubildes, welche Schwankungen die Aufmerksamkeit eines Kindes an einer Montessori-Einrichtung über den Tag idealerweise aufweist (Abbildung 2.10)

Abbildung 2.10
figure 10

Schaubild der Arbeitsintensität eines Kindes über den Tag (Montessori, 2011a, S. 399)

Die untere Linie AA des Schaubilds stellt zur Orientierung gänzliche Ruhe dar, die darüber liegende kurvige Linie den Ablauf der Arbeit. Montessori (2011a, S. 399 f.) entwirft den folgenden idealen Tagesablauf eines Kindes in der vorbereiteten Umgebung einer Montessori-Schule: Von 9 bis 10 Uhr beginnt die erste Arbeitsphase (B und C) der Vorbereitung, die sie auch als „Arbeit der Unterhaltung“ bezeichnet. In dieser Phase wählt das Kind eine einfache Arbeit, die ihm bereits vertraut ist. Nach einer Pause (D) sucht sich das Kind eine herausfordernde Aufgabe, der es seine gesamte Aufmerksamkeit widmet und an der es intensiv arbeitet. Diese Phase der langandauernden Arbeit (E) nimmt laut Montessori 1,5 Stunden in Anspruch. Zuletzt schließt die nachdenkliche Haltung (F) an, in der das Kind gesellig wird und sich den Mitschüler*innen und der Lehrperson nähert. In einem späteren Vortrag im Jahr 1922 abstrahierte Montessori diesen Ablauf auf drei Phasen: „[D]ie ‚vorbereitende Phase‘, die ‚Phase der großen Arbeit‘, die mit einem Gegenstand der äußeren Welt im Zusammenhang steht, und eine dritte, die sich nur im Inneren abspielt und die dem Kinde Klarheit und Freude verschafft“ (Montessori, 2011b, S. 62).

2.6.2 Umfang der Aufmerksamkeit

Die ersten Bestrebungen zur Erforschung der Aufmerksamkeit lassen sich bereits in den Anfängen der wissenschaftlichen Psychologie verorten. Bereits Wilhelm Wundt (1911, S. 13) bemühte sich, den Umfang der Aufmerksamkeit von Personen zu messen. Dazu entwickelte er u. a. eine Buchstabentafel, die in einem geringen Abstand mittig zentriert betrachtet werden soll. Die Untersuchungsperson darf ihren Blick vom mittleren Buchstaben o nicht abwenden und soll alle weiteren Buchstaben benennen, die sie identifizieren kann (Abbildung 2.11).

Abbildung 2.11
figure 11

Buchstabentafel zur Ermittlung des Aufmerksamkeitsumfangs (Wundt, 1911, S. 13)

Um zu messen, wie viele Buchstaben unmittelbar verarbeitet werden, wird zuvor ein weißer Schirm vor die Tafel geschoben, der lediglich einen Punkt in der Mitte zeigt. Die Untersuchungsperson wird nun angehalten, diesen Punkt mit einem Auge zu zentrieren und den Blick nicht abzuwenden, während sie das andere Auge geschlossen hält. Für einen kurzen Moment wird der Schirm ruckartig beiseite und dann wieder in die Ursprungsposition geschoben (Wundt, 1911, S. 15). Die Untersuchungsperson nennt die Buchstaben, die sie sich eingeprägt hat. In der Folge werden ihr auf gleiche Weise weitere Buchstabentafeln präsentiert. Wundt beobachtete, dass sich die Anzahl korrekt erkannter Buchstaben hierbei von anfänglich drei bis vier auf sechs ausweitete (1911, S. 16 f.). Da auch bei weiteren Durchführungen dieses Experiments die Anzahl sechs nicht überschritten wurde, betrachtet Wundt diesen Wert als „eine Konstante der Aufmerksamkeit für das menschliche Bewußtsein“ (1911, S. 17).

Kaufman, Lord, Reese und Volkmann entwickelten ein experimentelles Setting, in dem auf einer Leinwand für 200 ms eine Anzahl ungeordneter Punkte projiziert wurde (1949, S. 506) (Abbildung 2.12).

Abbildung 2.12
figure 12

Stimulus Fields aus 7, 28 und 89 Punkten, die im Experiment einzeln projiziert wurden (Kaufman et al., 1949, S. 503)

Den Untersuchungspersonen wurden auf diese Weise 1–15 Punkte sowie ausgewählte Punkt-Anzahlen bis 210 präsentiert (Kaufman et al., 1949, S. 504). In den Untersuchungen wurden bis zu sechs Punkte sicher benannt, danach sank die Genauigkeit der Antworten. Kaufman et al. gingen davon aus, dass ab der Anzahl von sieben Punkten geschätzt oder gezählt werden müsse. Für die Bestimmung von einem bis sechs Punkten schlugen sie das Verb (to) subitize vor, das sich an das lateinische Adjektiv subitus (plötzlich) und das lateinische Verb subitare (plötzlich erscheinen) anlehnt (Kaufman et al., 1949, S. 520). Das Substantiv Subitizing hat sich seitdem in der englischsprachigen Literatur etabliert. Im deutschsprachigen Raum werden in der Regel die Begriffe simultane Anzahlerfassung und Simultanerfassung verwendet (vgl. Sinner, 2016, S. 5).

Um präzisere Aussagen zu Messungen der Aufmerksamkeit tätigen zu können, schlug Miller (1956) die Bezeichnung Chunk (engl. für Stück, Brocken, Klotz) für eine elementare Informationseinheit vor. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Grenze der Simultanerfassung bei sieben (+/− zwei) Chunks zu verorten sei und bezeichnete diese als „The magical number seven“ (Miller, 1956, S. 98). Spätere Studien gehen allerdings von einem kleineren Aufmerksamkeitsumfang aus. Trick und Pylyshyn (1994) erklären beispielsweise, dass grundsätzlich mehr als vier Einheiten gezählt werden müssen, also außerhalb des Subitizing Limits liegen. Deheane und Cohen (1994, S. 961 f.) zeigten Untersuchungspersonen für 200 ms auf einem Bildschirm ein zufällig angeordnetes Punktmuster und baten sie darum, so schnell wie möglich die erkennbare Anzahl zu nennen. Dies gelang ihnen sicher bis zur Anzahl 3, ab der Anzahl 4 stieg die Fehlerrate leicht und verdoppelte sich mit der Anzahl 5. Cowan (2000) bestätigte das Subitizing Limit von vier Chunks in einer Meta-Studie und prägte die Bezeichnung „The magical number 4“. Seine Ergebnisse wurden u. a. von Schneider und Deubel (2001) validiert.

Die meisten Menschen können demnach vier Chunks gleichzeitig verarbeiten. Zimpel (2012a, S. 35) wies in einer historischen Analyse zur Ziffernnotierung nach, dass sich das kulturelle Werkzeug Zahl in seiner Entwicklung am Aufmerksamkeitsumfang von vier Chunks orientierte (vgl. dazu Unterkapitel 3.3.1). In einer Analyse von Wahrscheinlichkeitsmustern von Buchstabenfolgen belegte er, dass dies ebenfalls für die Schriftsprache gilt (Zimpel, 2012a, S. 79 f.). Der Umfang der Aufmerksamkeit bestimmt demnach nicht nur die individuelle Verarbeitung der Umwelt eines Menschen, sondern auch deren Gestaltung. Kulturelle Werkzeuge wie Schriftsprache und Zahl, aber auch weitere Errungenschaften und Entwicklungen von und durch Menschen orientieren sich mutmaßlich an einem Umfang der Aufmerksamkeit von vier Chunks.

In verschiedenen Forschungsprojekten an der Universität Hamburg mit Lernenden mit Trisomie 21 beobachtete Zimpel (2016, S. 90) wiederholt, dass diese Mengen von drei bis vier Objekten abzählen und scheinbar nicht auf einen Blick erfassen können. Aus diesem Grund initiierte er eine Studie, die den Umfang der Aufmerksamkeit von Lernenden mit Trisomie 21 untersuchen sollte.

2.7 Experimente durch Computertachistoskopie

Zimpel konzipierte für die Studie mehrere Experimente und Experimentalreihen, die auf die Messung des visuellen, auditiven und taktilen Aufmerksamkeitsumfangs abzielten. Röhm (2017) ergänzte diese um eine Experimentalreihe zum kinästhetischen Aufmerksamkeitsumfang. Dieses Unterkapitel konzentriert sich auf die Experimente zum visuellen Aufmerksamkeitsumfang am Computertachistoskop, da diese für das vorliegende Forschungsprojekt von besonderer Bedeutung sind.

2.7.1 Voruntersuchung

Um den visuellen Aufmerksamkeitsumfang von Menschen mit Trisomie 21 zu messen und mit jenem von neurotypischen Personen zu vergleichen, entwickelte Zimpel das Forschungsinstrument Computertachistoskop. Das gewöhnliche Tachistoskop ist ein „Instrument der Wahrnehmungsforschung, das ermöglicht, ein Bild für beliebig kurze Zeit, z. B. Bruchteile von Sekunden, darzubieten“ (Spektrum.de, 2000). Bei Zimpels Variante des Forschungsinstruments handelt es sich um eine Software, die auf dem PC verwendet werden kann und dem gleichen Zweck dient. Für jeweils 250 ms wird der Untersuchungsperson ein Bild auf einem Display präsentiert. Ihre Aufgabe besteht nun darin, die Anzahl der Elemente des zuvor gesehenen Bildes zu benennen. Die Zeit zwischen den verschiedenen Bildern kann sie selbst bestimmen (Zimpel, 2013b, S. 39). Die ermittelte Anzahl trägt die Untersuchungsperson oder die Person, die die Untersuchung leitet, in eine Eingabemaske ein. Die Software zeichnet die Angaben auf und ermöglicht so eine nachträgliche Analyse der Antworten.

Mit Hilfe einer Voruntersuchung beabsichtigte Zimpel, die Eignung des Computertachistoskops zur Ermittlung des Aufmerksamkeitsumfangs (bzw. des Subitizing Limits) zu ermitteln. Die Stichprobe setzt sich aus 19 Personen mit Trisomie 21 in der Versuchsgruppe und 36 neurotypischen Personen in der Kontrollgruppe zusammen. Alle Untersuchungspersonen wiesen einen vollständig entwickelten Zahlbegriff nach Jean Piaget auf (Zimpel, 2013b, S. 38). In vier Experimenten wurden beiden Gruppen Schaubilder mit unterschiedlichen Charakteristika dargeboten. Im ersten Experiment kamen Interferenzbilder zum Einsatz. Dabei handelt es sich um Mengendarstellungen mit Teil-Ganzes-Gegensatz. Dies wird im folgenden Beispiel verdeutlicht. Die Menge 4 wird wie im Würfelpunktbild (Würfelaugen) dargestellt. Diese Darstellung wird wiederum nach dem Würfelpunktbild der 5 angeordnet (Abbildung 2.13).

Abbildung 2.13
figure 13

Beispiel für ein Schaubild aus dem Experiment Interferenzbilder (Zimpel, 2013b, S. 39)

Die Aufgabe der Untersuchungsperson besteht darin, die Menge als 4 ⋅ 5 oder 5 ⋅ 4 anzugeben. Neben diesem Beispiel werden 15 weitere Schaubilder gezeigt (siehe Anhang, S. 1 im elektronischen Zusatzmaterial).

In diesem Experiment wiesen die 19 Untersuchungspersonen der Versuchsgruppe signifikant häufiger Schwierigkeiten auf, Teil und Ganzes in Beziehung zu setzen, als die Kontrollgruppe. Das Schaubild 1 ⋅ 3 haben zehn Personen mit Trisomie 21 richtig benannt, das Schaubild 1 ⋅ 4 elf. Darüber hinaus haben sie nur vereinzelt korrekte Antworten gegeben. Von den 36 Untersuchungspersonen der Kontrollgruppe wurden deutlich häufiger korrekte Antworten verzeichnet. Die Anzahl der richtigen Antworten variierte je nach gezeigtem Schaubild zwischen 28 und 36 (Zimpel, 2013b, S. 41).

Im zweiten Experiment wurden Würfelpunktbilder dargeboten. Neben den gewöhnlichen Darstellungen der Mengen 1 bis 6 wurden folgende Darstellungen der Mengen 7 und 8 verwendet (Abbildung 2.14)

Abbildung 2.14
figure 14

Darstellungen der Mengen 7 und 8 im Experiment Würfelpunktbilder (Zimpel, 2013b, S. 39)

Die Würfelpunktbilder 1 bis 8 wurden jeweils zwei Mal in zufälliger Reihenfolge gezeigt (siehe Übersicht im Anhang, S. 2 im elektronischen Zusatzmaterial). Bei der Anzahlnennung der klassischen Würfelpunktbilder mit einem bis sechs Punkten offenbarten weder Versuchs- noch Kontrollgruppe auffällige Schwierigkeiten. Die Benennung der Bilder mit sieben Punkten gelang allerdings nur vier Personen mit Trisomie 21, acht Punkte hat niemand von ihnen korrekt benannt (Zimpel, 2013b, S. 41 f.).

Die Schaubilder des dritten Experiments Quadratwolken erinnern an die Punktmuster von Kaufman et al. (1949). Die Quadrate wurden in der Planung des Experiments nach dem Zufallsprinzip angeordnet, ihre Anordnung blieb aber bei jeder Durchführung identisch, um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten (Abbildung 2.15).

Abbildung 2.15
figure 15

Schaubild des Bildes der 7 im Experiment Quadratwolken (Zimpel, 2013b, S. 40)

Auf diese Weise wurden die Mengen 1 bis 8 jeweils zweimal und die Mengen 9 bis 20 einmal in zufälliger Reihenfolge dargestellt (siehe Anhang, S. 3 im elektronischen Zusatzmaterial). Mehr als die Hälfte der Kontrollgruppe benannte die Anzahl von bis zu sechs Quadraten korrekt. Sieben Quadrate wurden lediglich von acht Personen korrekt benannt. In der Versuchsgruppe ließen sich bereits bei der Anzahl von vier Quadraten Schwierigkeiten erkennen. Diese schätzten elf von 19 Personen korrekt ein. Fünf Quadrate wurden nur noch von fünf Personen korrekt benannt (Zimpel, 2013b, S. 42).

Im vierten Experiment wurden Schaubilder mit Strichreihen verwendet. Die einzelnen Striche hatten immer die gleiche Länge und erschienen parallel zueinander in der Mitte des Bildschirms. Je nach Anzahl variierte der Abstand zwischen den Strichen, der im einzelnen Schaubild aber stets gleichblieb (siehe Abbildung 2.16 und S. 4 im elektronischen Zusatzmaterial).

Abbildung 2.16
figure 16

Schaubilder der 5 und der 8 im Experiment Strichreihen (Zimpel, 2013b, S. 41)

Auch in diesem Fall wurden Mengen bis 20 in den Schaubildern dargestellt. Die Mengen 1 bis 8 kamen in der zufällig geordneten Auswahl an Schaubildern doppelt vor. In diesem Experiment ließ sich der neurotypische Umfang der Aufmerksamkeit von vier Chunks am besten abbilden: Die 36 Untersuchungspersonen der Kontrollgruppe antworteten bis zur Anzahl von vier Strichen immer korrekt. Fünf Striche wurden von 28 Personen, sechs von 16 benannt. In der Versuchsgruppe wurden die Anzahlen 1 und 2 immer korrekt benannt. Die Anzahl von drei Strichen benannten 15 der 19 Untersuchungspersonen, vier Striche benannten sieben korrekt (Zimpel, 2013b, S. 43).

2.7.2 Repräsentative Stichprobe

Da die Ergebnisse der Voruntersuchung auf eine Eignung der Experimente am Computertachistoskop zur Ermittlung des Aufmerksamkeitsumfangs von neurotypischen Personen und Personen mit Trisomie 21 hinwiesen, wurden die Untersuchungen erneut mit einer größeren Stichprobe durchgeführt. In der Versuchsgruppe und in der Kontrollgruppe befanden sich Untersuchungspersonen im Schul- und Erwachsenenalter mit einem entwickelten Zahlbegriff. Die Versuchsgruppe bildeten 194 Personen mit Trisomie 21 im Alter von sechs bis 53 Jahren (Durchschnitt: 19;5 Jahre). Als Vergleichsgruppe kamen 280 Personen ohne Trisomie 21 hinzu, darunter Eltern (32 %), Geschwister (15 %) und Schüler*innen (20 %) im Alter von sechs bis 82 Jahren (Durchschnittsalter 17;5) (Zimpel & Rieckmann, 2020).

Im Experiment Würfelpunktbilder konnten die Ergebnisse der Voruntersuchungen bestätigt werden; der Versuchsgruppe gelang nach wie vor die Nennung der Anzahlen 1 bis 6. Im Vergleich fiel ihr die korrekte Interpretation der nichtklassischen Würfelbilder 7 und 8 indes deutlich schwerer als der Versuchsgruppe (siehe Abbildung 2.17).

Abbildung 2.17
figure 17

Relativer Anteil der korrekten Anzahlnennungen im Experiment Würfelpunktbilder. Abszisse: Anzahl der Punkte. Ordinate: Prozentsatz der Untersuchungspersonen mit drei korrekten Angaben zur Punktzahl. Versuchsgruppe (dunkler Balken) N = 194, Kontrollgruppe (heller Balken) N = 280. (Die Unterschiede sind statistisch hoch signifikant, mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test in zwei Proben und Wald Wolfowitz-Test.) (Zimpel & Rieckmann, 2020)

Im Experiment Strichreihen konnte, genau wie in der Voruntersuchung, die theoretisch erwartete Obergrenze von etwa vier Einheiten bei neurotypischen Untersuchungspersonen mit ausreichender Genauigkeit reproduziert werden. Die Häufigkeit der korrekten Nennungen der Anzahlen in der Versuchsgruppe nahm nach zwei Einheiten leicht und nach drei Einheiten sehr deutlich ab (Abbildung 2.18).

Abbildung 2.18
figure 18

Relativer Anteil der korrekten Anzahlnennungen im Experiment Strichreihen. Abszisse: Anzahl der Striche. Ordinate: Prozentsatz der Personen mit korrekten Angaben zur Anzahl der Striche. Versuchsgruppe (dunkler Balken) N = 194, Kontrollgruppe (heller Balken) N = 280. (Die Unterschiede sind statistisch hoch signifikant, mit einer Fehlerwahrscheinlichkeit von p < 0,001, Mann-Whitney-Test, Moses-Test, Kolmogorov-Smirnov-Test in zwei Proben und Wald Wolfowitz-Test.) (Zimpel & Rieckmann, 2020)

2.7.3 Zwei Formen der Simultanerfassung

Im Experiment Würfelpunktbilder konnten beide Gruppen größere Anzahlen korrekt benennen als im Experiment Strichreihen. Dies lässt sich mit einem qualitativen Unterschied in der Mengenerfassung bzw. -erkennung erklären. Würfelpunktbilder stellen eine spezielle Form von strukturierten Mengen dar, die den Untersuchungspersonen aus ihrem Lebensalltag bekannt vorgekommen ist. Aufgrund von Gesellschaftsspielen, die einen sechsseitigen Spielwürfel erfordern, und den Aufdrucken auf Dominosteinen sind diese in der Kindheit in unserer Gesellschaft omnipräsent. Einerseits zeigen die Würfelpunktbilder die Mengen als Punkte, andererseits sind sie nach einer bestimmten Struktur angeordnet. Werden einige der Würfelaugen miteinander verbunden, ergeben sich bei den Mengen 2 und 3 eine Diagonale, bei der Menge 4 ein Quadrat, bei der Menge 5 ein Kreuz und bei der Menge 6 zwei parallele Linien. Abgesehen von den Anzahlen 2 und 3 sind demnach alle Anzahlen nach einer individuellen Regel angeordnet.

Abbildung 2.19
figure 19

Würfelpunktbilder der Mengen 1 bis 6 mit hervorgehobener möglicher Strukturierung

Bei der Benennung der Würfelpunktbilder 4, 5 und 6 ist es nicht erforderlich, jeden einzelnen Punkt als einzelnen Chunk zu verarbeiten. Die einzige Information, die verarbeitet werden muss, ist ihre Struktur (siehe Abbildung 2.19). Diese Struktur ist ein Ersatzsymbol für die Menge; das Würfelpunktbild kann (mutmaßlich) als ein Chunk verarbeitet werden. Voraussetzung ist indes, dass die Regeln, auf denen die Würfelbilder basieren, bekannt sind. Diese Form des Subitizings wird als Conceptual Subitizing bezeichnet. Werden hingegen Chunks ohne helfende Struktur verarbeitet, wie im Experiment Strichreihen, handelt es sich um Perceptual Subitizing (vgl. Clements, 1999, S. 401). In der deutschsprachigen Mathematikdidaktik wird analog dazu zwischen quasi-simultaner Anzahlerfassung und simultaner Anzahlerfassung unterschieden (vgl. Sinner, 2016, S. 5).

Die Ergebnisse des Experiments Würfelpunktbilder zeigen, dass Menschen mit Trisomie 21 fähig sind, durch quasi-simultane Erfassung Anzahlen korrekt zu benennen, die ihren Aufmerksamkeitsumfang übersteigen. Damit unterscheiden sie sich nicht von der neurotypischen Kontrollgruppe. Letzterer gelang allerdings die korrekte Benennung der falschen Würfelpunktbilder 7 und 8 häufiger. Dieser Befund lässt sich vermutlich darauf zurückführen, dass den Untersuchungspersonen dieser Gruppe mehr Kapazitäten in der Aufmerksamkeit zur Verfügung stehen, um die Unterschiede dieser speziellen und zuvor unbekannten Bilder zu den gelernten klassischen Würfelbildern zu erkennen.

2.7.4 Superzeichen

Bei Würfelpunktbildern handelt es sich um eine besondere Form eines Zeichens, die an dieser Stelle definiert werden soll. Der Begriff Superzeichen stammt aus der Kybernetik, einer wissenschaftlichen Forschungsrichtung, die auf Norbert Wiener zurückgeht und sich mit der Erforschung und Steuerung von Systemen beschäftigt (vgl. von Foerster, 1993, S. 61; Wiener, 1985). Frank (1964) erklärt, dass ein Zeichen als Element eines anderen Zeichens betrachtet werden könne. Das Element wird demnach als Unterzeichen bezeichnet und das übergeordnete Zeichen als Superzeichen. Dies erläutert er am Beispiel des Tons c‘. Dieser klinge, je nach Wahl des Instrumentes, auf dem er gespielt werde, anders. „Der Ton c‘ ist also ein Superzeichen; einige seiner Unterzeichen sind das Orgel-c‘, das Klavier-c‘, das Flöten-c‘. Die Klasse aller dieser Ausführungen von c‘ ist das Superzeichen c‘; die einzelnen Ausführen sind die Elemente, aus denen dieses Superzeichen durch Klassenbildung konstruiert wird“ (Frank, 1964, S. 15 f.). Angewandt auf die Würfelpunktbilder bilden die Strukturierung der einzelnen Würfelaugen und damit die gesamte Erscheinungsform jeden einzelnen Bildes ein Superzeichen. Eine Besonderheit ist in diesem Fall, dass die Unterzeichen ein grafischer Teil des Superzeichens sind. Personen, denen die Regeln der Strukturierung des Superzeichens nicht geläufig sind, können sie dennoch durch Nachzählen nachvollziehen, wofür aber mehr Zeit benötigt wird.

2.7.5 Simultandysgnosie

Die Ergebnisse des Experiments Strichreihen bestätigen die häufig verifizierte Annahme, dass neurotypische Personen einen Aufmerksamkeitsumfang von vier Chunks aufweisen (vgl. Unterkapitel 2.6.2). Sie belegen außerdem, dass die Vergleichsgruppe, bestehend aus Menschen mit Trisomie 21, weniger als vier Chunks gleichzeitig verarbeitet. Ihr Aufmerksamkeitsumfang lässt sich mit zwei bis drei Chunks beziffern (Zimpel & Rieckmann, 2020).

In Anlehnung an den Begriff Simultanagnosie, der die Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf einen Chunk bezeichnet, wählt Zimpel den Begriff Simultandysgnosie. Dieser bezeichnet die Einengung des Aufmerksamkeitsumfangs auf weniger als vier Chunks zur selben Zeit (Zimpel, 2013b, S. 38). Die Ergebnisse zu Zimpels weiteren Experimenten zum visuellen, auditiven und taktilen Aufmerksamkeitsumfang und aus Röhms Experimenten zum kybernetischen Aufmerksamkeitsumfang legen nahe, dass es sich hierbei um einen globalen Effekt handelt, der nicht nur die Verarbeitung von visuellen Inhalten, sondern vielmehr die Verarbeitung aller Reize betrifft (Röhm, 2017; Zimpel, 2016).

2.8 Neurodiversität

Aufgrund der Simultandysgnosie ist davon auszugehen, dass Menschen mit Trisomie 21 ihre Umwelt auf eine radikal andere Weise verarbeiten als Menschen ohne dieses Syndrom. Unser Ziffernsystem und die Schriftsprache sind für einen Aufmerksamkeitsumfang von vier Chunks angepasst (Zimpel, 2012a, S. 35, 179 f.). Womöglich sind die gesamten von Menschen gestalteten Teile unserer Umwelt, unsere etablierten Kommunikationsstrukturen und Lebensweisen ebenfalls für den neurotypischen Aufmerksamkeitsumfang optimiert. Dies könnte erklären, warum das Agieren von Personen mit Trisomie 21 mit unserer Umwelt aus Sicht neurotypischer Beobachter*innen als „geistig behindert“ interpretiert wird. Die Behinderung, die Menschen mit Trisomie 21 erleben, muss aber nicht zwangsläufig als Problem kognitiven Ursprungs betrachtet werden. Sie liegt in der Auseinandersetzung von Personen mit Trisomie 21 mit einer Umgebung vor, die nicht für ihren Aufmerksamkeitsumfang optimiert ist. Ein Defizit ist bei dieser Betrachtungsweise ausdrücklich nicht in den Lern- und Denkprozessen von Personen mit Simultandysgnosie zu finden, sondern in der mangelnden Barrierefreiheit der Umwelt, in der sie leben. Die Verortung der Behinderung im Individuum birgt die Gefahr, eine Pathologisierung hervorzubringen und notwendigen Veränderungen in bestimmten Lebenslagen und der Schaffung von Barrierefreiheit entgegenzuwirken (vgl. Kleiner, Rieckmann & Zimpel, 2016, S. 62 f.). Für eine Entpathologisierung von Diversität und damit für die Dekonstruktion von Normalität und Verschiedenheit setzt sich die politische Neurodiversitätsbewegung ein. Ihre Initiatorin Singer stilisiert neuronale Vielfalt zum politischen Kampfbegriff neben Klasse, Gender und Rasse (Singer, 1998, S. 11). Wie zuvor bei sexueller und geschlechtlicher Diversität ist die Neurodiversität längst kein politischer Kampfbegriff mehr, sondern Gegenstand der Forschung und wissenschaftlich anerkannt. Zimpel (2016, S. 100) definiert Neurodiversität folgendermaßen: „Neurodiversität beinhaltet die Anerkennung der menschlichen Vielfalt funktionierender Nervensysteme als gleichberechtigte Lebensformen, die neurotypische Variante natürlich eingeschlossen“.