10.1 Aussagekraft

Abbildung 10.1
figure 1

Das Mengenbild 7 aus dem Gedächtnis gezeichnet von Noa

Das vorliegende Forschungsprojekt zeigt, dass es möglich ist, ein Unterrichtsmaterial zu entwickeln, das spezifische Kriterien erfüllt, um Mengen und Operationen barrierefrei für Menschen mit Simultandysgnosie darzustellen. Mit Hilfe formativer Evaluation wurde nachgewiesen, dass Schüler*innen mit Trisomie 21 unter Verwendung des Materials ihre mathematischen Fähigkeiten weiterentwickelt haben. Darüber hinaus wurde in einem Quasi-Experiment mithilfe von Eye-Tracking belegt, dass einige dieser Schüler*innen mentale Vorstellungen der Mengenbilder des Materials entwickelt haben. Dennoch sollte nicht der Trugschluss entstehen, dass alle Lernenden mit Simultandysgnosie zwangsläufig von mathildr profitieren. Schüler*innen unterscheiden sich in ihren Vorerfahrungen, Begabungen, Interessen und Kompetenzen. Das mathildr-Lernmaterial kann für sie – so wie jedes Lernmaterial – unter Umständen völlig ungeeignet sein. Mögliche Beispiele sind Schüler*innen, die noch keine Objektpermanenz entwickelt haben und durch die Arbeit mit der mathildr-App überfordert würden, oder solche, die bereits eine Zahlvorstellung entwickelt haben, im Kopf rechnen können und durch die App demnach unterfordert würden. Erfahrungsgemäß gibt es einzelne Personen, die trotz der schulischen Arbeit mit der Kraft der Fünf eine Mengenvorstellung entwickelt und das Kopfrechnen erlernt haben, indem sie eigene Bündelungsformen und Rechenstrategien entwickelt haben. Dabei handelt es sich um eine anerkennenswerte Leistung, die gefördert werden sollte. Das mathildr-Lernmaterial bietet den Lernenden einen Vorschlag zur gedanklichen Darstellung von Mengen. Ob im Einzelfall dieser Vorschlag als praktikabel erachtet und angenommen wird, liegt im Ermessen der individuellen Schülerin bzw. des individuellen Schülers (Abbildung 10.1).

10.2 Fazit

Zu Beginn dieser Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, ob die mathematischen Lernschwierigkeiten von Menschen mit Trisomie 21 allein auf das Syndrom oder auch auf mangelhaften Schulunterricht zurückzuführen sind. Die Auseinandersetzung mit der Informationsverarbeitung von Menschen mit Trisomie 21 und den Lernmaterialien der Kraft der Fünf hat gezeigt, dass Schüler*innen mit Simultandysgnosie regelmäßig Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt wird, das inkompatibel zu ihrem Aufmerksamkeitsumfang ist und die pädagogische Absicht, ein mentales Bild zu entwickeln, nicht erfüllen kann. Der Unterricht mit traditionellen Lernmaterialen ist demnach ungeeignet, um mathematischen Lernschwierigkeiten bei Simultandysgnosie zu begegnen. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde daher ein Unterrichtsmaterial entwickelt, das sich zur barrierearmen bzw. barrierefreien Gestaltung des Mathematikunterrichts für Schüler*innen mit Simultandysgnosie eignet. In der abschließenden Evaluation wurde deutlich, dass die Entwicklung gedanklicher Mengenbilder mit diesem Material möglich ist.

10.3 Ausblick

Lehrkräfte stehen täglich vor der Herausforderung, Unterricht zu gestalten, der unabhängig von möglichen Lernschwierigkeiten, Behinderungen oder Hochbegabungen alle Schüler*innen adäquat fördert. Die gängigen Lernmaterialien sind zur Bewältigung dieser Aufgabe nicht immer hilfreich, da sie selten den individuellen Anforderungen aller Schüler*innen entsprechen.

Das vorliegende Forschungsprojekt offenbart die Bedeutung von Grundlagenforschung für die Unterrichtsentwicklung: Der Anlass dieses Projekts war André Frank Zimpels Aufmerksamkeitsstudie zur Verbesserung des Lernerfolgs von Menschen mit Trisomie 21, die ein Überdenken des Einsatzes der Kraft der Fünf erst hervorrief. Grundlagenforschung auf einem zeitgemäßen Niveau kann das Fundament für Forschungsprojekte bilden, die Problemstellungen der Pädagogik und Didaktik bewältigen. Ein erfolgreicher Forschungstransfer ermöglicht, dass ein „Das haben wir schon immer so gemacht!“ einem „So geht es besser!“ weicht. Das vorliegende Projekt ermöglicht durch die wissenschaftliche Weiterentwicklung grundlegender Prinzipien der Didaktik, dass Schüler*innen mit Simultandysgnosie im Mathematikunterricht eine Alternative zum üblichen Lernmaterial verwenden können, das zur Zeit der Weimarer Republik auf dem damaligen wissenschaftlichen Stand für neurotypische Kinder entwickelt wurde (vgl. Unterkapitel 3.3.1).

Die Kraft der Fünf ist nur ein Lernprinzip unter vielen, das sich fest in der Didaktik etabliert hat, aber nicht für alle Schüler*innen geeignet ist. Dementsprechend ist das mathildr-Lernmaterial ein kleiner Baustein, der dazu beitragen kann, einen individuellen Unterricht zu gestalten, der der Neurodiversität der Schülerschaft gerecht wird. Zur Gewährleistung eines Unterrichts, der Neurodiversität ernstnimmt und die individuelle Entwicklung der Schüler*innen berücksichtigt und fördert, sollten idealerweise viele weitere Unterrichtsmaterialien folgen, die den spezifischen Anforderungen einer diversen Schülerschaft gerecht werden.

Das vorliegende Forschungsprojekt verdeutlicht, dass es lohnenswert ist, Schüler*innen in die Entwicklung von Lernmaterialien aktiv einzubeziehen. Eine forschungsunterstützte Entwicklung des Unterrichtmaterials stellt nicht nur sicher, dass es tatsächlich einen Lernerfolg herbeiführen kann, sondern auch, dass es attraktiv für die Zielgruppe ist und diese gerne mit dem Material arbeitet. Letztlich sind es die Schüler*innen, die zur Verwendung des Materials motiviert werden sollen.

Mithilfe eines multiprofessionellen Teams und des Engagements unterschiedlicher Akteur*innen können Lernmaterialien entwickelt werden, die keine kommerzielle Verwertung fokussieren. In diesem Projekt engagierten sich neben dem Forschungsteam an der Universität Hamburg Familienmitglieder und Freund*innen des Autors, Lehrpersonen, Erzieher*innen sowie Personen mit Simultandysgnosie und deren Eltern. Ein ganz besonderer Dank gebührt Rolf Rieckmann, Dennis Krohn und sämtlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Simultandysgnosie, ohne die dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre.

Damit das mathildr-Lernmaterial auch zukünftig zur Verfügung gestellt werden kann und nicht von dem Engagement von Einzelpersonen abhängt, wurde im November 2018 der gemeinnützige Verein Guter Unterricht für alle e. V. gegründet. Aktuell ermöglicht der Verein die kostenlose Bereitstellung der mathildr-Web-App und den Bezug der analogen Lernmaterialien. Unter der URL http://www.mathildr.app kann die Web-App in nahezu jedem Browser verwendet werden.

Die Erfahrungen rund um das Forschungsprojekt lassen erkennen, dass seitens der Schulen ein großes Interesse besteht, sich mit der Neurodiversität der eigenen Schülerschaft auseinanderzusetzen und diese im Unterricht gezielt zu adressieren. Lehrkräfte ergänzen das Lernmaterial, das beispielsweise von Schulbuchverlagen bezogen wurde, mit alternativen Lernmaterialien wie der mathildr-App, die als Freeware bezogen werden kann, oder Lernmaterialien, die als Open Educational Resources (vgl. Müller, 2019) vorliegen. Ein solches Bestreben nach einem individualisierten Unterricht macht nicht die Lernschwierigkeiten oder Behinderungen von Schüler*innen dafür verantwortlich, wenn Probleme mit einem Material bestehen, sondern sucht oder entwickelt alternative Lernmaterialien, die den Anforderungen der Schüler*innen gerecht werden.