Wir Menschen mit Down-Syndrom haben auch ein Recht auf Leben. …

Wir wollen Teilhabe, wir wollen Inklusion, …

um die Welt zu verändern!

Andrea Halder (Weiss & Rapp, 2017)

Nicht erst seit der Diskussion um die neuen Möglichkeiten zur nicht invasiven Pränataldiagnostik stehen Menschen mit Trisomie 21 öffentlich für ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe ein. Mehr noch: Sie möchten die Gesellschaft gestalten, wie das obige Zitat aus einem Fernsehbeitrag über die Aktivistin Andrea Halder verdeutlicht. Unbestritten erlaubt das Beherrschen von Kulturtechniken Menschen die Teilhabe an bestimmten Lebensbereichen, die ihnen andernfalls verwehrt bleiben würden. Insbesondere die Schriftsprache ermöglicht eine selbständige Navigation in unserer Informationsgesellschaft, unabhängig davon, ob sich im realen oder digitalen Raum bewegt wird. Darüber hinaus fördern aber auch ein verständiger Umgang mit Zahlen und ein mathematisches Verständnis die gesellschaftliche Teilhabe.

Diversität bereichert nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch das Leben in der Schule. Ein zeitgemäßer Unterricht berücksichtigt die Vielfalt und Verschiedenheit aller Schüler*innen. Lehrkräfte reagieren auf die ungleichen Wissensstände, Kompetenzen und Begabungen mit der Verteilung von Aufgabenstellungen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade und dem Einsatz offener Aufgabenformate. Darüber hinaus bieten sie Schüler*innen Einzellösungen an: So erhalten etwa gehörlose Schüler*innen idealerweise Übersetzungen in Gebärdensprache und blinden Schüler*innen werden keine PowerPoint-Folien präsentiert. Sie erhalten stattdessen eine Audiodeskription oder die Möglichkeit, den Inhalt über eine synthetische Stimme oder eine elektronische Braillezeile auszugeben. Der Unterricht gestaltet sich für die betreffenden Schüler*innen durch solche Maßnahmen barrierefrei oder zumindest barriereärmer.

Das vorliegende Forschungsprojekt ist aus der Aufmerksamkeitsstudie zur Verbesserung des Lernerfolgs von Menschen mit einer Trisomie 21 hervorgegangen, die unter der Leitung von Prof. Dr. André Frank Zimpel im Jahr 2011 an der Universität Hamburg initiiert wurde. Bei der Studie handelt es sich um Grundlagenforschung, die sich mit der Frage befasst, wie sich die Verarbeitung der Umwelt von Personen mit Trisomie 21 von der Umwelt von Personen ohne Trisomie 21 unterscheidet. Sie belegt, dass Personen mit Trisomie 21 weniger Elemente gleichzeitig verarbeiten können als die meisten Menschen ohne dieses Syndrom. Dies hat zur Folge, dass bestimmte traditionelle Lernmaterialien, die im mathematischen Anfangsunterricht verwendet werden, für Lernende mit Trisomie 21 nur einen begrenzten Nutzen haben. Aus diesem Grund erscheint es nicht verwunderlich, dass Menschen mit Trisomie 21 häufig mathematische Lernschwierigkeiten zeigen. Pablo Pineda ist der erste europäische Hochschulabsolvent mit Trisomie 21. Er gilt als Ausnahmetalent, ist Lehrer, Dozent und Filmschauspieler. Trotz seiner hohen Qualifikation erklärt er in einem Interview: „Mathe war schrecklich. Das Fach ist mir bis heute ein Rätsel“ (Viciano Gofferje, 2004). Hätte sich Pineda in der Schule also mehr anstrengen sollen? Oder liegen die mathematischen Lernschwierigkeiten im Unterricht begründet? Es scheint, als würden sich die üblichen didaktischen Veranschaulichungen in der Arithmetik für Lernende mit Trisomie 21 ebenso wenig eignen wie die Präsentation von PowerPoint-Folien für blinde Schüler*innen.

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Lernbesonderheiten bei einer Trisomie 21 vorliegen und weshalb diese zu mathematischen Lernschwierigkeiten führen. Die Eignung von Lernmaterialien, die mit der Kraft der Fünf arbeiten, wird für Lernende mit Trisomie 21 begründet in Frage gestellt. Im Anschluss folgen die Entwicklung und Evaluierung einer alternativen Form der Veranschaulichung von Mengen und Operationen, die Schüler*innen mit Trisomie 21 einen barrierefreien oder zumindest barriereärmeren Mathematikunterricht ermöglichen soll.