Schlüsselwörter

1 Einleitung

Der Teilhabebegriff greift normative sowie ethische Orientierungen auf und soll helfen, ein interdisziplinäres Forschungsfeld zu bündeln und neu auszurichten. Teilhabeforschung geht über die Beschreibung und Analyse von Teilhabeverhältnissen hinaus und fragt, wie soziale und physische Umweltbedingungen, Regelwerke und gesellschaftliche Praxen, Unterstützungssysteme und professionelle Praktiken zu gestalten sind, um Menschen mit Beeinträchtigungen eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen (Institut für Teilhabeforschung, 2020, S. 22). Vielen empirischen Studien in der Teilhabeforschung mangelt es jedoch an einer theoretischen Fundierung, was besonders die Formulierung von Hypothesen schwächt und es schwer macht, aus Einzelergebnissen ein Gesamtbild zu strukturieren und tieferes Verständnis der Zusammenhänge zu generieren.

Eine psychologische Analyse von Teilhabe, die das relationale Konzept von Behinderung ernst nimmt und Veränderungswissen generieren will, bedarf theoretischer Konzepte, die Handlungskontexte und das Zusammenspiel von Umwelt und Person differenziert abbilden. Ökologisch-psychologische Konzepte können hier einen wertvollen Beitrag leisten. Das Ökologiekonzept von Urie Bronfenbrenner (1990) ist in verschiedenen Bereichen der Teilhabeforschung bereits eingesetzt worden. Weniger bekannt, allerdings feiner ausgearbeitet für die Beschreibung und Analyse von Geschehensabläufen ist das Behavior Setting-Konzept von Roger Barker. Dieser Ansatz soll hier vorgestellt und sein Potenzial für die Teilhabeforschung exemplarisch in drei Bereichen aufgezeigt werden. Erstens geht es um die Frage, wie Settings inklusiv gestaltet werden können. Zweitens kann, so die These, das dyadische Handeln eines Menschen mit Beeinträchtigung und einer Assistenzperson durch die theoretische Brille des Behavior Settings (BS) präziser analysiert werden. Und drittens kann die Forschung zu Begegnungen und Bekanntschaften im Sozialraum von der Anwendung des BS profitieren.

Dieser Beitrag hat nicht den Anspruch, die Fruchtbarkeit des BS-Konzepts für die Teilhabeforschung abschließend zu bewerten. Er gründet auch nicht auf empirischen Studien, die die Nützlichkeit dieses Ansatzes demonstrieren. Vielmehr sollen im Hinblick auf die drei aufgeworfenen Fragen Potenziale für ein tieferes Verständnis und für die Formulierung neuartiger Hypothesen beschrieben werden. Wissenschaftler*innen mögen inspiriert werden, sich in Forschungsprojekten (auch) dieser theoretischen Perspektive zu bedienen.

2 Psychologische Betrachtungsebene: Teilhabe des Individuums

Teilhabe wird als sozial positiv bewertete Form der Beteiligung des Individuums am gesellschaftlichen Leben bezeichnet (Kastl, 2017, S. 236). Teilhabe konkretisiert sich in den Handlungsräumen von Individuen.

Von der Psychologie wird zu Recht erwartet, dass sie individuelles Handeln mit seinen Verhaltens- und Erlebniskomponenten zum Zielpunkt der Analyse macht. Sie untersucht, unter welchen Umweltbedingungen ein Individuum an welchen Aktivitäten und sozialen Beziehungen teilhat (tatsächliche Teilhabe) sowie welche Handlungsmöglichkeiten einem Individuum offenstehen oder verschlossen bleiben für die eigene Lebensführung (Teilhabechancen; Institut für Teilhabeforschung, 2020, S. 16). Noch feinkörniger richtet sich der psychologische Blick auf qualitative Aspekte der individuellen Teilhabe. Ein Beispiel wäre der Grad der Selbstbestimmung: Nimmt eine Person selbstbestimmt an Aktivitäten und sozialen Beziehungen teil? Kann sie zwischen verschiedenen Alternativen wählen? Inwieweit kann sie die Teilhabesituation ihren Vorstellungen entsprechend gestalten und ihre Interessen und Bedürfnisse verwirklichen? Psychologisch interessiert, was die Teilnahme an Aktivitäten und sozialen Beziehungen kurz-, mittel und langfristig beim Individuum bewirkt. Welche Auswirkungen hat die Teilhabe auf das emotionale, körperliche und materielle Wohlbefinden? Erfährt eine Person Wertschätzung und Anerkennung in sozialen Interaktionen und Beziehungen? Inwieweit wird sie inkludiert in Settings und Beziehungsnetzwerke? Welche Folgen hat die Teilhabe für ihre individuelle Entwicklung, für die Ausbildung eines individuellen Lebensstils (ebd., S. 17)?

Um das Zusammenspiel von Umwelt- und personenseitigen Bedingungen für die Realisierung oder Behinderung von Teilhabe im individuellen Handeln analysieren zu können, bedarf es neben dem Blick auf Verhaltens- und Erlebenskomponenten psychologischer Rahmenkonzepte, die in der Lage sind, auch die Handlungskontexte des Menschen, seine Ökologie, differenziert, prozessorientiert und alltagsnah zu artikulieren. Das ist die Voraussetzung, um aus psychologischer Perspektive fundierte und präzise Veränderungen von Umweltbedingungen anzustoßen sowie psychologische Befunde in Beziehung zu setzen zu Erkenntnissen anderer Disziplinen.

3 Ökologische Kontexte in der Psychologie

Wie kann die Umwelt des Menschen, seine Ökologie, aus psychologischer Sicht konzipiert werden? Traditionell hat die Psychologie sich mehr dafür interessiert und (labor-)experimentell untersucht, wie einzelne Aspekte der Umwelt von Personen wahrgenommen bzw. kogniziert werden und welche emotional-motivationalen, welche kognitiven und welche verhaltensbezogenen Reaktionen sie auslösen (Dieckmann, 2021).

Ein Beispiel aus der Teilhabeforschung: Die Psychologen Robert Schalock und Miguel Angel Verdugo haben ein Konzept der Lebensqualität entwickelt, das als Messkonstrukt in der Wohnforschung zu Menschen mit Beeinträchtigungen international von zentraler Bedeutung ist (Schalock & Verdugo, 2002). Das Lebensqualitätskonzept erfasst mit seinen acht Dimensionen Verhaltens- und Erlebenskomponenten und Auswirkungen der individuellen Teilhabe (z. B. Teilnahme an Aktivitäten, Selbstbestimmung, verschiedene Arten des Wohlbefindens, soziale Einbindung, persönliche Entwicklung) aggregiert über konkrete Handlungskontexte hinweg. Voraussetzungen für Teilhabe werden nur sehr selektiv berücksichtigt (z. B. rechtliche oder materielle Aspekte). Diagnostische Instrumente zur Messung der individuellen Lebensqualität, die auf der Basis des Konstrukts entwickelt wurden, bilden Kontextbedingungen nicht systematisch und genau genug ab, um das Zusammenspiel von Kontext- und Personenfaktoren in Bezug auf konkrete Teilhabeerfahrungen aufzuhellen.

Erst mit der ökologischen Wende in der Psychologie ab den 1970er Jahren sind Ansätze entstanden, die menschliches Handeln und Erleben von ihrem ökologischen Kontext her zu verstehen suchen. Im deutschsprachigen Raum ist die ökologische Entwicklungstheorie von Urie Bronfenbrenner am bekanntesten (Bronfenbrenner, 1990). Für Bronfenbrenner spielt sich das Alltagshandeln von Individuen in Mikrosystemen ab: „Ein Mikrosystem ist ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, das die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit seinen eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt. Ein Lebensbereich ist ein Ort, an dem ein Mensch direkte Interaktion mit anderen eingehen kann.“ (Bronfenbrenner, 1990, S. 76) Mikrosysteme sind in größere Umweltkontexte eingebettet (Meso-, Exo- und Makrosystem). Sozialisation vollzieht sich als Entwicklung eines Individuums innerhalb eines Mikrosystems und im Übergang zwischen Mikrosystemen. Bronfenbrenners Ökologiekonzept wurde häufig in der Heilpädagogik verwendet, um die Umwelt – die „Lebenswelt“ eines Individuums und die sie und das konkrete Verhalten und Erleben bedingenden Kontexte – beschreibbar und operationalisierbar zu machen. So nutzen Lingg & Theunissen (2008) das Konzept, um die Entstehung und Aufrechterhaltung von herausforderndem Verhalten zu analysieren und „lebensweltbezogen“ heilpädagogisches Handeln zu konzipieren. In Monika Seiferts Studie zum Wohnalltag von Erwachsenen mit schwerer geistiger Behinderung (Seifert, 1997a, b) dient der systemökologische Ansatz dazu, Befunde zu Dimensionen der Lebensqualität im „Mikrosystem Wohnbereich“ zu verorten und diesen „im Kontext übergreifender Systeme“ (Seifert, 1997a, S. 201) zu verstehen.

Bei der Formulierung „seines“ Mikrosystems greift Bronfenbrenner auf ein anderes Konzept zurück, das Behavior Setting, das von Roger Barker (1903–1980), einem der Gründungsväter der ökologischen Psychologie, entwickelt wurde (Barker, 1968). Barker beschreibt nicht nur die strukturellen Merkmale eines unmittelbaren Lebensbereichs, an dem eine Person teilhat, sondern auch die Dynamik des darin ablaufenden Geschehens (Barker & Associates, 1978). Das BS ist ein ökologisches Geschehenssystem. Es erlaubt, die individuelle Teilnahme an Geschehen im Verlauf und eingebettet in seine Kontexte zu untersuchen. Damit können Barrieren und förderliche Bedingungen für individuelles Handeln alltagsnah identifiziert werden (Dieckmann, 2021). Ein weiterer Vorteil ist, dass das BS als ökologische Geschehenseinheit für die psychologische Analyse auch anschlussfähig ist für Untersuchungen anderer wissenschaftlicher Disziplinen.

Barker selbst litt seit seiner Jugend an einer Osteomyelitis, einer chronischen Knochen- und Knochenmarksentzündung, und war stark in seinen Bewegungsmöglichkeiten beeinträchtigt (Kaminski, 2002). Er und sein Team widmeten sich in Feldstudien auch der Teilhabe von Menschen mit Behinderung. So wurde die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen mit vs. ohne Behinderung am öffentlichen Leben in einer Kleinstadt in Kansas (USA) und in einer Gemeinde in North Yorkshire (UK) miteinander verglichen (Barker & Schoggen, 1973). Die Fragestellung dieser Feldstudien war ihrer Zeit weit voraus. Angesichts des Anspruchs der Teilhabeforschung sind diese Untersuchungen heute wieder von größter Aktualität.

In Deutschland wurde Barkers Ansatz im Forschungsfeld „Behinderung“ von Vertretern der ökologischen Psychologie aufgegriffen (u. a. Dieckmann, 2002). Als Kooperationspartner im „Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen“ an der Universität Tübingen hat Gerhard Kaminski (1985, 1995) zwei bemerkenswerte Artikel zu Behinderung aus ökologisch-psychologischer Perspektive verfasst, auf die in diesem Beitrag immer wieder Bezug genommen wird. Kaminski hat die Nahtstelle zwischen dem Individualsystem und dem überindividuellen BS psychologisch ausgearbeitet und auch den Zusammenhang zwischen der Teilnahme an BSs und sozialem Beziehungsgeschehen spezifiziert.

4 Das Konzept „Behavior Setting“

Ein Behavior Setting ist ein überindividuelles, konkretes und sozial-kulturelles Geschehenssystem. Im Folgenden werde ich am Beispiel des „Mehr Markt“, eines kleinen Lebensmittelladens in einem Stadtviertel, und in Anlehnung an Kaminski (1995) die strukturellen Merkmale und die Geschehensdynamik eines BS beschreiben.

Das Lebensmittelgeschäft hat klare raumzeitliche Grenzen. Der Laden ist montags bis freitags von 8:30 bis 19:00 Uhr geöffnet, samstags bis 14:00 Uhr. Ebenerdige automatische Zugangstüren führen zu einem großen Verkaufsraum, an dem sich ein Büro- und Mitarbeiterraum und Lagerflächen anschließen. Zur Teilnehmerschaft an diesem BS gehören neben dem persischstämmigen Ehepaar, das den Laden betreibt, Verkaufspersonal (häufig Studierende und Schüler*innen), Lieferanten aus der Region und Kund*innen jeden Alters, die im Viertel schon sehr lange oder nur für kurze Zeit allein, zu zweit, mit der Familie oder in Wohngemeinschaften wohnen oder als Berufstätige (Handwerker*innen, Angestellte, Studierende) dort zu tun haben. Auffällig viele ältere Menschen mit Beeinträchtigung gehen dort allein oder mit einer Begleitperson einkaufen.

Jedes BS hat eine interne soziale Struktur: Verschiedenartige funktionale Positionen sind mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten verbunden. Eine Leader-Position hat das Ehepaar des Ladens inne, das ihn betreibt, u. a. den Einkauf und Verkauf organisiert, Personal anstellt und anleitet, kassiert und die Kund*innen berät. Eine herausgehobene Position haben die Verkäufer*innen, die an der Theke bedienen, Regale nachfüllen, und Kund*innen bei der Suche helfen. Einfache Teilnehmende sind die Kund*innen, die dort einkaufen. Und dann gibt es noch Personen, die den Einkauf anderer nur begleiten oder unterstützen. Die Positionen sind mit verschiedenen Rollenanforderungen verknüpft. Personen sind einerseits aufgrund ihrer funktionalen Position (Rollenanforderungen) im BS beansprucht, andererseits verfolgen sie als Individuen eigene Ziele und gestalten die Handlungsfreiräume innerhalb des BS individuell aus.

Ein BS zeichnet sich durch typische Handlungsmuster aus, im Lebensmittelladen: das Verkaufen und Einkaufen von Lebensmitteln. Ein BS läuft nach einem bestimmten Programm ab, zu dem bestimmte phasenspezifische Abläufe, positionsspezifische Skripte (Drehbücher für Rollen) und positionsspezifische oder für alle Teilnehmenden geltende Regeln gehören. Kund*innen nehmen sich bei dem Betreten des Ladens einen Einkaufswagen oder Korb, suchen und wählen Lebensmittel aus, die sie einkaufen wollen, ordern an der Theke Käse, Antipasti oder belegte Brötchen bei einer Verkaufsperson, die entsprechendes einpackt und mit einem Preis versieht. Kund*innen reihen sich ein in die Schlange an der Kasse, legen ihre Waren auf das Band, die von der Person an der Kasse eingescannt und ggf. gewogen werden. Kund*innen bezahlen, erhalten von der Person an der Kasse einen Bon, packen das Gekaufte ein und verlassen das Geschäft. Parallel dazu läuft das Verkaufsgeschehen, das mit dem Verstauen des Großeinkaufs, Öffnen des Ladens, das Auffüllen der Regale, der Inspektion von Frischwaren, Transaktionen mit Kund*innen u.v. a.m. einhergeht. Der Lebensmittelladen hat also eine gewisse Programmstruktur, bietet aber auch reichlich Gelegenheiten für soziale Interaktionen, die nichts mit dem Kaufgeschehen zu tun haben – dazu unten mehr.

Das Lebensmittelgeschäft besteht aus verschiedenen Subsettings: der Ein- und Ausgangsbereich mit Anschlagbrett, die Gondel mit verschiedenen Obst- und Gemüsesorten, die Theke mit Käse und Antipasti, der Kassenbereich usw. Den Laden zeichnen ein spezifisches räumlich-materielles Milieu und Verhaltensobjekte aus. Das räumliche Milieu und die Verhaltensobjekte sind auf das Handlungsgeschehen abgestimmt (Synomorphie zwischen Milieu und Handlungsgeschehen). Zum Beispiel gibt es Gänge vor den Regalen, Regalleisten mit Preisschildern, die ausgerichtet sind auf die Blickrichtung der Kund*innen. BSs haben eine gewisse Zugangscharakteristik. Die Betreiber*innen und das Verkaufspersonal sind verpflichtet, zu bestimmten Zeiten ihre Rollen auszufüllen. Die Kund*innen nehmen freiwillig teil. Die Voraussetzung für die Teilnahme ist aber, überhaupt Einkäufe tätigen zu müssen bzw. zu dürfen und über entsprechendes Geld zu verfügen. Der Grad der Autonomie des BS wird begrenzt durch rechtliche Vorgaben für den Verkauf von Lebensmitteln und natürlich auch durch die Bedingungen am Markt, weil die Betreiber*innen Erträge und ihr Einkommen erzielen müssen.

Drei Arten von Zielen beeinflussen das Geschehen: Programmziele (Funktion des BS), individuelle Zielsetzungen, die Programmziele spezifizieren, aber auch darüber hinausgehen können, und Aufrechterhaltungsziele, die Störungen vermeiden bzw. beseitigen. Zu den individuellen Zielen gehören die Einkaufswünsche von Kund*innen, aber auch die Begegnungen und persönlichen Gespräche mit den Ladeninhaber*innen oder Nachbar*innen. Störungen, die vermieden werden sollen, sind z. B. leere Regale, Ladendiebstahl oder Einbrüche, Befühlen von Obst und Gemüse, ohne es zu kaufen, oder während der Coronapandemie die Verletzung von Schutzregeln gegen die Übertragung des Virus. Diese Aufrechterhaltungsziele werden auf verschiedene Weise durchgesetzt, z. B. durch Ermahnungen an Kund*innen, eine Kameraüberwachung, Anweisungen an das Verkaufspersonal.

An drei Beispielen soll gezeigt werden, wie das BS-Konzept fruchtbar für Aufgaben der Teilhabeforschung genutzt werden kann. Erstens geht es um die Gestaltung inklusiver Settings, zweitens um die Analyse von Assistenzhandeln und drittens um das Ermöglichen von Begegnungen im Sozialraum.

5 Gestaltung inklusiver Settings

Auf was ist aus ökologisch-psychologischer Sicht zu achten, wenn es darum geht, Settings inklusiv zu gestalten? „Inklusiv“ meint in diesem Zusammenhang, dass sowohl Personen mit als auch ohne Beeinträchtigung nicht nur teilnehmen können, sondern auch tatsächlich teilnehmen. In der Praxis ist es häufig so, dass Angebote, die als inklusiv beworben werden, ausschließlich Menschen mit Beeinträchtigung besuchen. Welche möglichen Barrieren gilt es zu beachten und abzubauen, damit Teilnehmende mit und ohne Beeinträchtigung sich in einem BS begegnen?

Unter Rückgriff auf die Beschreibung des BS-Konzepts von Kaminski (1995) hat Dieckmann (2021) Barrieren für die Teilnahme von Personen formuliert, die in Tab. 1 aufgelistet sind. Aus dem BS-Konzept lassen sich also sehr differenziert Arten von Barrieren ableiten, die grundsätzlich für alle BS-artigen Geschehenssysteme gelten. Ein großer Vorteil ist, dass diese Arten von Barrieren nicht aus der Beschäftigung mit einzelnen Personenkreisen mit spezifischen Beeinträchtigungen erschlossen werden. Es werden also keine Barrieren für „Mobilitätsbehinderte“, für Sehbeeinträchtigte, für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen usw. formuliert, sondern Barrieren, die potenziell alle Menschen betreffen können.

Tab. 1 Barrieren für die Teilnahme einer Person an einem Behavior Setting (BS) (Dieckmann, 2021)

Wodurch wird beispielsweise der erwähnte Lebensmittelladen im Stadtviertel zu einem inklusiven Setting? Was hindert bzw. befördert die Teilnahme von Personen mit Beeinträchtigungen?

Zugänglichkeit: Der Laden liegt gut sichtbar an einer Durchgangsstraße und ist, mangels Alternative, auch sehr bekannt bei den Menschen im Viertel. Anders sieht das aus bei Personen, die hier nur arbeiten – z. B. Pflegekräfte in einer nahegelegenen Demenz-WG oder Assistenzpersonen in einem Wohnheim. Das Geschäft ist auch für Berufstätige nach der Arbeit und am Samstag geöffnet, im Viertel ist es in kurzer Distanz erreichbar. Allerdings benötigen Personen, die nicht verkehrssicher sind oder die sich nicht selbstständig fortbewegen können, eine Begleitperson, um dorthin zu gelangen. Selbst wenn das nicht möglich ist, muss man auf den Kontakt zu dem Laden nicht ganz verzichten. In diesen Fällen bringen die Betreiber*innen ab einem bestimmten Einkaufsbetrag die Lebensmittel auch nach Hause.

Zugangscharakteristik für Personengruppen: Grundsätzlich ist der Laden für jeden zugänglich. Will man aber als Kund*in dort einkaufen, benötigt man zum einen Geld, zum anderen muss ein Erfordernis für den Einkauf bestehen. Wird eine Person z. B. in einer besonderen Wohnform rund um die Uhr mit Essen versorgt oder ist dort der Lebensmitteleinkauf zentral über einen Großlieferanten geregelt, entfallen die notwendigen Anlässe zum Einkaufen und damit auch Gelegenheiten zur Teilhabe. Grundsätzlich ist für die Kund*innen die Teilnahme freiwillig. Da aber die meisten Haushalte im Viertel sich selbst versorgen müssen, besteht eine gewisse Notwendigkeit, in einem der Läden seine Besorgungen zu machen. Gleichwohl werden Menschen im Stadtteil diesen kleinen Laden nur wiederholt wählen, wenn ihre Partizipationserträge ihren Erwartungen entsprechen oder diese übertreffen. Beispielsweise muss das Preis-Leistungsverhältnis stimmen. Und obwohl die Waren frisch sind und die Preise moderat, mögen einige lieber bei weiter entfernt gelegenen Discountern oder in Einkaufszentren einkaufen. Was aber viele Kunden anzieht, ist die Erwartung, auf die Betreiber*innen des Ladens zu treffen und mit ihnen ein „Schwätzchen“ zu halten oder Nachbar*innen zu begegnen. Der Laden hat als informeller Treffpunkt im Viertel gerade für ältere Menschen eine besondere Funktion. Das BS funktioniert nur, wenn die Partizipationserwartungen vieler erfüllt werden, sonst werden Teilnehmende auf Dauer fernbleiben. Aber Erwartungen sind auch veränderbar durch das Settinggeschehen. Beispielsweise nimmt sich der Ladeninhaber sehr viel Zeit, auch ältere beeinträchtigte Menschen an der Kasse zu unterstützen. Er hilft, das passende Geld zu finden, oder packt mit ein. Auch bekommen Kund*innen an der Kasse Obst von ihm geschenkt. Das verlängert die Wartezeit, und Kund*innen werden ungeduldig. Gleichzeitig berührt es die meisten zu erleben, wie rücksichtsvoll dieser Mann mit älteren Menschen umgeht und dass es zu seiner Haltung gehört, Kund*innen nach dem Geschäft etwas mitzugeben. Viele inklusiv geplante Settings scheitern daran, dass die Erwartungen von Menschen ohne Beeinträchtigungen an Partizipationserträge nicht erfüllt werden – man denke nur an Chormitglieder oder Sportkamerad*innen, die Anforderungen an die Gruppenleistung stellen, die sich eben mit bestimmten Teilnehmenden nicht erfüllen lassen.

Beteiligung im BS: Barrieren existieren aber auch innerhalb des BS. Die Einnahme von Positionen (Übernahme von Rollen) ist an die Ausführung von Handlungen gebunden. Zum Beispiel muss eine Kundin Lebensmittel suchen und auswählen, Preisschilder lesen und vergleichen, an der Theke interagieren und bezahlen können. Die Unterstützung durch andere Personen, sei es eine Begleitperson oder andere Teilnehmende, kann helfen, diese Barrieren zu überwinden. Im Lebensmittelladen können beispielsweise einige ältere Kund*innen nicht mehr ihr Geld abzählen oder Waren einpacken und nach Hause tragen. Sie werden vom Verkaufspersonal unterstützt, was ein gegenseitiges Vertrauen voraussetzt. Übrigens gelten für das Verkaufspersonal noch erheblich striktere Verhaltenserwartungen, die Menschen mit Beeinträchtigung eine Anstellung erschweren würden, es sei denn Unterstützung wäre gleich mitbedacht – man denke etwa an CAP-Lebensmittelgeschäfte, die als Inklusionsunternehmen oder Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) in ländlichen Gemeinden geführt werden.

Des Weiteren können Normen für Verhalten und Auftreten, die für alle gelten, Hindernisse für die Teilnahme darstellen. Während der Corona-Pandemie hatten alle Kund*innen im Laden eine Mund-Nasen-Maske zu tragen. Zwar waren Personen mit einem Attest davon befreit, z. B. auch Personen mit schwerer intellektueller Beeinträchtigung, die die für die Atmung lästige Maske immer wieder abnahmen, auch weil sie den Zweck nicht nachvollziehen konnten. Dennoch haben Assistenzpersonen in den Lockdown-Phasen auf einen Besuch des Ladens mit der Person verzichtet – vor allem wegen des Erwartungsdrucks anderer. Die Verletzung von Angemessenheitsnorm muss noch nicht zum Ausschluss führen, wenn z. B. in unserem Lebensmittelladen die Besitzer*innen signalisieren, die Person könne auch ohne Maske hineinkommen, man wisse ja um sie.

Die mangelnde Passung zwischen der physischen Umwelt und den Handlungsmöglichkeiten von Personen stellt eine Barriere dar, wenn Personen z. B. mit dem Rollator oder einem Rollstuhl nicht mehr durch die Regalgänge kommen, die unteren Regalbereiche nicht zu erreichen sind oder Preisschilder nicht gelesen werden können. Insbesondere bei sensorischen und kognitiven Barrieren sind in einem Lebensmittelladen noch viele technische Lösungen denkbar. Die meisten dieser Barrieren lassen sich auch mithilfe anderer Personen überwinden, wenn es im Setting eine Unterstützungskultur gibt, also positive Angemessenheitsnormen existieren, die den Blick für den anderen und die notwendige Hilfe virulent machen. Gerade der kleine Lebensmittelladen aus unserem Beispiel zeichnet sich dadurch aus – oft im Gegensatz zu großen Lebensmittelcentern, in denen sich die Menschen weniger kennen und anonym bleiben.

Veränderbarkeit eines BS: Für die Inklusivität eines BS ist auch entscheidend, wie schnell es sich verändern und anpassen lässt. Das Programmgeschehen kann dem Individuum mehr oder weniger Freiräume für die Ausgestaltung gewähren. Die Abläufe können sehr rigide sein oder sich flexibel der Teilnehmerschaft anpassen. Das Einkaufsgeschehen im kleinen Lebensmittelladen unseres Beispiels unterliegt z. B. keinem großen zeitlichen Druck. Das ermöglicht auch die Nutzung der Programmfreiräume für persönliche Begegnungen und Gespräche mit dem Personal oder anderen Kund*innen aus der Nachbarschaft. An der Theke und Kasse entsteht aber ein höherer Zeitdruck, wenn andere Kund*innen warten. Rigider und zeitkritischer sind im Übrigen die Anforderungen an die Betreiber*innen und an das Verkaufspersonal, die dafür sorgen müssen, dass das Warenangebot in der richtigen Qualität und Frische parat ist. Der Autonomiegrad des von selbstständigen Kaufleuten geführten Lebensmittelladen ist hoch, z. B. gegenüber unselbständigen Filialen. Gleichwohl gelten strenge rechtliche Bestimmungen für den Verkauf von Lebensmitteln und die Gesetze des Marktes, die die Existenz der Kaufmannsfamilie sichern.

Barrieren können durch personale Unterstützung überwunden werden. Nicht nur Begleitpersonen, sondern auch andere Teilnehmende leisten solche Unterstützung. In Settings können Normen für eine angemessene Unterstützung gesetzt, weiterentwickelt und eine Unterstützungskultur verankert werden.

Fazit: Die meisten BS im Sozialraum in den Stadtvierteln, die von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen genutzt werden und in denen sie sich begegnen, werden nicht bewusst inklusiv gestaltet, sondern funktionieren auch deshalb, weil sie sozialräumlich verankert sind, aus dem Sozialraum ihre Teilnehmerschaft beziehen und dahingehend weniger selektiv sein können. Durch die Brille des BS-Konzepts betrachtet werden hinderliche und förderliche Bedingungen für die Teilnahme von Menschen mit verschiedenartigen Beeinträchtigungen oder in unterschiedlichen Wohnformen verständlich. Inklusive Settings funktionieren nur dann, wenn die Erwartungen von Menschen mit wie ohne Beeinträchtigung an Partizipationserträgen erfüllt werden. Gleichzeitig eröffnen Alltagssettings über ihren übergeordneten Zweck hinaus Freiräume für soziale Begegnungen. Unterstützungspersonen sind für die Teilnahme von Menschen mit Beeinträchtigung von immenser Bedeutung. In den nächsten beiden Abschnitten werden die beiden letztgenannten Aspekte ausführlicher beleuchtet.

6 Dyadisches Handeln mit Assistenzperson

Richten wir den Blick auf das sog. assistierende Handeln einer Person, die den Menschen mit Beeinträchtigung begleitet. Die Assistenzperson kann jemand aus dem privaten Umfeld oder eine professionelle Unterstützerin sein. Wie lässt sich ihr Handeln im Rahmen eines BS begreifen?

Beobachten lassen sich die funktionalen Positionen (Rollen), die die Assistenzperson und die Person mit Beeinträchtigung einnehmen. Handelt die Assistenzperson an Stelle des Menschen mit Beeinträchtigung, nimmt sie eine zentralere Position ein; der Mensch mit Beeinträchtigung wird auf eine peripherere Rolle verwiesen, z. B. die als zuschauende. Oder assistiert sie den Menschen mit Beeinträchtigung bei eigenen Handlungen, so dass er/sie die zentralere Rolle einnimmt? Am Beispiel des Lebensmittelgeschäfts: Der Assistent einer Frau mit einer intellektuellen Beeinträchtigung sucht nach den Waren und wählt sie aus, bestellt an der Theke, übernimmt das Bezahlen und das Einpacken der Waren usw. Dann ist er in der Kundenrolle, und die Frau mit Beeinträchtigung wird zu einer zuschauenden Begleitperson. Anders wäre es, wenn die Assistenzperson sich aktiv auf die Unterstützung beschränkt und immer wieder bewusst die Person mit Beeinträchtigung in den Vordergrund rückt, z. B. auch in Interaktionen mit anderen Beteiligten, die vielleicht dazu neigen, primär die Assistenzperson anzusprechen. Die Gefahr, dass Menschen mit Beeinträchtigung gar nicht die Kundenrolle übernehmen, ist dann groß, wenn die Assistenzperson einen Einkauf mit einer Gruppe von Personen mit Assistenzbedarf „zu managen“ hat. Oft bewegt sich diese Gruppe wie in einer abgegrenzten Blase durch den Lebensmittelladen. Nur die Assistenzperson nimmt nach außen Kontakte auf, ohne dass die Menschen mit Beeinträchtigung selbst Waren auswählen oder mit Verkaufspersonal kommunizieren (Clement & Bigby, 2010, S. 165 f.). Handlungskonzepte wie Active Support (ebd., S. 123 f.) zielen auch darauf ab, die Assistenzrolle klar zu definieren.

Betrachten wir noch genauer das Handeln einer Assistenzperson in einem BS: Zum einen wird eine Assistenzperson von anderen Teilnehmenden als jemand wahrgenommen, die mit dem Menschen mit Beeinträchtigung kommuniziert und als Dyade handelt. In dieser Rolle wird sie für andere zu einem Modell für das Handeln gegenüber der Person mit Beeinträchtigung. Ihr Verhalten setzt Normen und trägt dazu bei, die Unsicherheit anderer der Person mit Beeinträchtigung gegenüber zu reduzieren. Das ist besonders auffällig im Umgang mit einer Person, die nicht spricht oder sich auffällig verhält. Zum anderen ist die Assistenzperson mit ihren persönlichen Vorlieben, Interessen und individuellen Eigenarten präsent. Beim häufigen Aufeinandertreffen entwickelt auch sie persönliche Interaktionen, z. B. zu dem Verkaufspersonal oder anderen Kund*innen. Vielleicht war die Person auch unabhängig von ihrer Rolle als Assistenz anderen Teilnehmenden vorher bereits bekannt. Von diesen persönlichen Interaktionen und Netzwerken kann auch die Person mit Beeinträchtigung profitieren. Und gleichzeitig wird deutlich, dass das dyadische Handeln nicht nur von den instrumentellen Erfordernissen für einen Einkauf geprägt ist, sondern auch von den persönlich geprägten Interaktionen und dem Beziehungsgeschehen, das die Person mit Beeinträchtigung und eine Assistenzperson entfalten – und zwar beziehungs-, aber auch settingspezifisch. Deshalb betonen Bigby und Frawley (2010, S. 97) den Koproduktionscharakter dieses dyadischen Handelns, das über ein rein instrumentelles Assistieren hinausgeht. In der Folge werden Assistenzpersonen häufig zu engen Vertrauenspersonen in persönlichen Lebensfragen.

Fazit: Im Kontext des BS lässt sich Assistenzhandeln dahingehend analysieren, inwieweit es der Person mit Beeinträchtigung eine möglichst zentrale Position (Rolle) im Setting verschafft. In einem BS wird das Handeln einer Assistenzperson zum Vorbild für andere Teilnehmende. Darüber hinaus beeinflusst die individuelle Geschichte der Assistenzperson mit dem BS und ihre aktuellen eigenen Zielsetzungen im BS auch die Handlungsfreiräume der Person mit Beeinträchtigung.

7 Begegnungen im Sozialraum

Mit der Deinstitutionalisierung war häufig die romantische Vorstellung verbunden, dass sich für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung tiefergehende soziale Beziehungen zu nichtverwandten Personen in den Gemeinden und Nachbarschaften ergeben würden. Das ist nicht in dem erwarteten Maße eingetreten (Amado et al., 2013). Insbesondere in städtischen Räumen entwickeln jedoch auch andere Einwohner*innen oft keine lang andauernden Freundschaften in ihrem Wohnviertel. Stadtgeographen weisen auf flüchtigere soziale Begegnungen und oberflächlichere Bekanntschaften hin, die auch ein Gefühl der Zugehörigkeit, soziale Anerkennung, Wohlbefinden sowie Sicherheit vermitteln können (Fincher & Iveson, 2008). Eine australische Arbeitsgruppe um Bigby und Wiesel (2019) hat untersucht, was für Arten von Begegnungen Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung außerhalb der Wohnung im Sozialraum erleben und welche Bedingungen „gute“ Begegnungen fördern bzw. verhindern.

Bigby und Wiesel (2019) unterscheiden drei Typen geselliger („convival“) Begegnungen im öffentlichen oder halb-öffentlichen Raum:

  • Begegnungen, die aufgrund der Übernahme gleicher Rollen (z. B. als Tanzschüler*in in einem Tanzworkshop oder als Müllaufleser*in in einer „Putzaktion“ in der Gemeinde) vorübergehend zu einer Identifikation miteinander führen,

  • Begegnungen, die mit einer kurzzeitigen Anerkennung im Alltag verbunden sind z. B. durch Blickkontakt, Hilfeleistungen, Grüßen während der Nutzung des ÖPNV oder in Einkaufsläden,

  • wiederholte Begegnungen, die zu einem Bekanntwerden führen, z. B. als Mitglied in einer Kirchengemeinde, in der Nachbarschaft, beim Bäcker „um die Ecke“.

Von diesen inklusiven Begegnungstypen unterscheiden Bigby und Wiesel (2019):

  • Begegnungen in spezifischen sozialen Räumen für Menschen mit Beeinträchtigung,

  • exkludierende Begegnungen, die das Gefühl vermitteln, nicht dazuzugehören (z. B. durch Ungeduld, abwertende Bemerkungen oder Furchtreaktionen eines Gegenübers),

  • das Auslassen oder Meiden von Interaktionen – sei es absichtlich oder nicht.

Wie Assistenzpersonen gesellige Begegnungen fördern können, zeigt anschaulich die von Bigby und Wiesel (2014) konzipierte Online-Fortbildung „Supporting Inclusion“ (http://supportinginclusion.weebly.com). Auf der Grundlage von teilnehmender Beobachtung, Fragebögen und Interviews haben Bigby und Wiesel (2019) zudem förderliche Merkmale von öffentlichen bzw. halb-öffentlichen Settings („places“) identifiziert. So würden Settings, deren Aktivitäten nicht wettbewerbsorientiert sind, die von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung für den gleichen Zweck aufgesucht werden und die Gelegenheit für verbale oder nonverbale Kommunikation bieten, gesellige Begegnungen fördern. In den Niederlanden haben Bredewold et al. (2016) am Beispiel von Nachbarschaftskontakten psychisch oder intellektuell beeinträchtigter Erwachsener herausgefunden, dass Settings mit klaren Rollen und Regeln (z. B. Gemeinschaftsgärten, Zuverdienst-Zentren) gesellige Begegnungen erleichtern. Solche Settings stellten nicht zu hohe Anforderungen an soziale Kompetenzen und Aushandlungsprozesse, die Menschen mit Beeinträchtigung oft überforderten. Und die Interaktionsräume bleiben auch für Menschen ohne Beeinträchtigung überschaubar und begrenzbar. Bredewold et al. (2016) sprechen mit Bezug auf Goffman von „build-in-boundaries“, die gesellige Begegnungen erleichtern.

Die Forschung zu begegnungsförderlichen Settings im Gemeinwesen steht erst am Anfang. Mithilfe des BS-Konzepts können öffentlich zugängliche Geschehenstypen voneinander abgegrenzt und systematisiert werden. Vorliegende Befunde lassen sich präziser erklären und neue Hypothesen über förderliche und hinderliche Bedingungen für gesellige Begegnungen formulieren. Beispielsweise muss der Wettbewerbscharakter eines BS-Geschehens gesellige Begegnungen nicht ausschließen. Hinderlich wird der Wettbewerbscharakter dann, wenn die Ansprüche der Teilnehmenden (Ertragserwartungen) zu unterschiedlich und unvereinbar sind oder wenn durch den Wettbewerbscharakter ein auch zeitlicher Handlungsdruck entsteht, der nicht kompensierbar ist und zu einer Überforderung von Beteiligten führt. BSs, die Freiräume für Kommunikation vorsehen, können Begegnungen vertiefen, man denke z. B. an die Begrüßungsphase oder Schlussgespräche bei einer Yogastunde. Zusätzlich erleichtern Gesprächsanlässe (wie gemeinsam Erlebtes, Verabschiedungen) oder eine notwendige Verständigung (z. B. Absprachen bei Partnerübung) die Aufnahme von Kommunikation. Der Zweck eines BS führt Personen zusammen, wie Bigby und Wiesel (2019) richtig konstatieren. Aber ein inklusives BS, an dem Personen mit und ohne Beeinträchtigung freiwillig teilnehmen, wird nur dann Bestand haben, wenn die individuellen Zielerwartungen der verschiedenartigen Teilnehmer*innen befriedigt werden. BSs mit einem strukturierten Programm und klaren Rollen und Regeln erleichtern die Interaktion einander bislang nicht bekannter Menschen und schützen auch vor weitergehenden persönlichen Ansprüchen (Bredewold et al., 2016). Und natürlich sind BSs, die im Alltag immer wieder aufgenommen werden und an denen eine Person immer wieder teilnimmt, förderlich, um einander bekannt zu werden, so dass aus Begegnungen Bekanntschaften entstehen.

Aus der Perspektive des BS-Konzepts lassen sich auch neue Hypothesen formulieren: So können durch das räumlich-materielle Arrangement (Milieu) Kommunikationsanlässe geschaffen werden, z. B. wenn die Essenden sich in einem Imbiss an einem langen Tisch gegenübersitzen, statt an Zweier-Tischen voneinander separiert zu sein. Auch der Umgang mit Verletzungen von Angemessenheitsnormen (geäußerte Verhaltenserklärungen, Bewertungen und die evtl. Anpassung von Normen) kann für die Wahrnehmung einer Person mit Beeinträchtigung bei anderen und die Kontaktaufnahme entscheidend sein. Und die Rolle einer Assistenzperson als weitere Teilnehmende in einem BS eröffnet neue Gelegenheiten für soziale Interaktionen.

Insgesamt kann das BS-Konzept helfen, Settings im Gemeinwesen im Hinblick auf Inklusion und Möglichkeiten für soziale Begegnungen zu klassifizieren und zu sondieren. Das kann z. B. Wohndiensten der Eingliederungshilfe, aber auch Tagesförderstätten helfen, die beginnen, Settings in der Gemeinde zu suchen, in denen auch Menschen mit komplexer Beeinträchtigung kleinere Arbeiten übernehmen können („sich nützlich machen“) und die damit einhergehend Begegnungsmöglichkeiten bieten (Becker, 2016).

8 Schlussfolgerung

Teilhabeforschung will soziale Innovationen auf den Weg bringen. Die wissenschaftliche Psychologie hat nicht nur den Anspruch, Teilhabehandeln und Teilhabeerleben von Individuen zu beschreiben, sondern ihr Zustandekommen zu erklären und Veränderungswissen zur Verfügung zu stellen. Für die Entwicklung von Hypothesen über das Zusammenspiel von Umwelt- und Personenbedingungen auf der einen Seite und der individuellen Teilhabe auf der anderen Seite bedarf es theoretischer Strukturen, die die Komplexität alltäglicher Umwelten und des Zusammenspiels abbilden. Der Beitrag hat gezeigt, dass Rahmentheorien der ökologischen Psychologie, insbesondere das Behavior Setting-Konzept von Roger Barker, ein Potenzial bergen, das in der aufkommenden interdisziplinären Teilhabeforschung nutzbar gemacht werden sollte. Wie fruchtbar das ist, wird der Autor im Rahmen einer Studie zu förderlichen Merkmalen von öffentlich zugänglichen Settings für gesellige Begegnungen ausloten.