Neben der Reform von Gesetzen und Verordnungen ist auch die Ausdeutung von formalen Normen ein politisches Feld, auf dem unterschiedliche Akteure und Interessen um Einfluss ringen. Dies gilt wie oben bereits gesehen für die verbindliche Ausdeutung durch die Rechtsprechung. Es gilt aber auch für das breite Spektrum an nicht verbindlichen Informations- und Beratungsangeboten, wie die formalen Regeln in der Praxis implementiert werden können. Die Doppelbewegung aus Vermarktlichung und Sozialpolitisierung hat sich nicht nur in einer verdichteten und inhaltlich mehrgleisigen Regulierung der öffentlichen Auftragsvergabe niedergeschlagen, sondern ist auch mit einem starken Ausbau von Deutungsangeboten für die administrative Praxis einhergegangen, die den Verwaltungsangestellten Unterstützung und Orientierung in dem neuen Regelungswerk bieten sollen. Um diese nicht-verbindlichen Deutungsangebote für die Vergabepraxis und die verschiedenen Akteure, die an ihrer Produktion mitwirken, geht es in diesem Kapitel.

Diese Deutungsangebote treffen in der kommunalen Vergabepraxis oft auf politische Entscheidungsträger und Behördenangestellte, die ihrerseits eher über generalistisches Wissen verfügen und insofern auch in der Selbstdeutung Lücken und Nachholbedarfe bei der vergabespezifischen Expertise haben; dies gilt zumindest für die von uns betrachteten Beschaffungssegmente (s. Kap. 7 und 8). Die externe Expertise hat hier daher auch performative Wirkung: Mit den Angeboten wird zugleich die Nachfrage nach Expertise generiert. Denn mit der schriftlichen Kodifizierung von Anforderungen an Prozesse und Resultate der Auftragsvergabe tragen sie zur Etablierung von vergabespezifischen fachlichen Standards bei, an denen sich Vergabestellen messen lassen müssen. Zugleich bieten sie ihnen praktische Unterstützung bei der Bewältigung der gestiegenen Anforderungen. Die Deutungsangebote nehmen daher für sich in Anspruch, die Professionalisierung der Vergabepraxis zu unterstützen, die nach weit geteilter Überzeugung notwendig ist, um den zunehmend anspruchsvollen Zielekanon für die öffentliche Beschaffung mit Leben zu füllen (Europäische Kommission 2017b; OECD 2019).

Berufsverbände und Bildungseinrichtungen für Vergabepraktiker*innen selbst spielen bei dieser Professionalisierung keine so zentrale Rolle wie im Falle der klassischen Professionen und Semi-Professionen des Gesundheits- und Sozialwesens. Vielmehr werden die professionellen Standards von einer Vielzahl auch externer Akteure mitentwickelt, die mit unterschiedlichen Interessen den Vergabepraktiker*innen ihre Expertise in Form von Beratungen, Schulungen, Leitbildern und Standards einer guten Auftragsvergabe andienen. Diese Professionalisierungs-Angebote helfen insofern nicht lediglich, Wissensdefizite auszugleichen, mit denen Verwaltungsakteure angesichts einer zunehmend komplexen Regelungsmaterie zu kämpfen haben, sondern sie transportieren auch Lösungsvorschläge, die den Überzeugungen und Interessen mancher gesellschaftlichen Akteure stärker entsprechen mögen als denen anderer Akteure. Wir verwenden daher für diese Mischung aus Lobby-Tätigkeit und Aufklärungsangeboten den Ausdruck ‚politische Professionalisierung‘. Einen politischen Charakter erhalten diese Tätigkeiten auch dadurch, dass hier auch externe politische Akteure an der Professionalisierung mitwirken, etwa einzelne Ministerien und die Europäische Kommission.

Der folgende Abschnitt (Abschn. 6.1) gibt zunächst einen kurzen Überblick über diese stark gewachsene Expertise-Infrastruktur. Im Anschluss daran werden ausgewählte Akteure und die von diesen entwickelten Normen einer ‚guten‘ Auftragsvergabe näher beleuchtet. Zum einen geht es dabei um Akteure und Normen, die sich auf die Tätigkeit der öffentlichen Beschaffung selbst beziehen und hierfür einen neuen professionellen Standard der ‚strategischen Beschaffung‘ entwickeln (Abschn. 6.2). Zum anderen geht es um Akteure und Normen, die sich auf die von uns betrachteten Dienstleistungen beziehen (Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen) und hierfür Standards guter Dienstleistungen entwickeln (Abschn. 6.3).

All diese Angebote produzieren die informellen Normen, die neben den Gesetzen und Verordnungen Bestandteil der ‚Governance‘-Strukturen in der Vergabepraxis sind. Wenngleich mit unterschiedlicher Akzentuierung und zum Teil unterschiedlichen Intentionen produzieren die genannten Akteure im Ergebnis Versatzstücke eines neuen Leitbildes, das der Gewährleistung qualitativ guter öffentlicher Dienstleistungen größeren Wert beimisst, und das wir mit dem Ausdruck ‚Guter Dienstleister‘ belegen. Die normativen Vorstellungen zu einer ‚guten‘ öffentlichen Auftragsvergabe lassen sich also nicht erschöpfend entlang der beiden Dimensionen ‚Vermarktlichung‘ und ‚Sozialpolitisierung‘ beschreiben. Vielmehr wahrt dieses neue Leitbild gegenüber den Kernnormen beider Trends (wettbewerbliches Verfahren/Gute Arbeitsbedingungen) eine gewisse Distanz. Soziale Kriterien sind, wie zu sehen sein wird, in diesem Leitbild gewissermaßen ‚entfernte Verwandte‘ – sie gehören nominell zur erweiterten Wertefamilie und sind, um in Bild zu bleiben, mitunter auch auf Familienfotos drauf, bislang aber eher in den hinteren Reihen.

1 Öffentliche, private und gemeinnützige Beratungs- und Deutungsangebote: Ein Kurzüberblick über den neuen Beratungsmarkt

Die neue Expertise-Infrastruktur wird sowohl von gewerblichen Anbietern, (halb-)staatlichen Agenturen, sowie Verbänden und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen erbracht. Ihre Angebote lassen sich in Beratungsleistungen, Fachtagungen und Schulungen, Leitfäden und Informationsdienste sowie Foren für den peer-to-peer-Austausch unterteilen (siehe Tab. 6.1).

Tab. 6.1 Öffentliche, private und gemeinnützige Beratungs- und Deutungsangebote: Ein Überblick über den neuen Beratungsmarkt

Unter den gewerblichen Anbietern dominieren spezialisierte Vergaberechtskanzleien; daneben gibt es weitere Beratungsfirmen, die beispielsweise auf die Erstellung von Leistungsverzeichnissen und weiteren Vergabeunterlagen in bestimmten Wirtschaftsbereichen spezialisiert sind. Neben vergaberechtlicher Expertise bringen sie auch Marktwissen, also fachliche Expertise zur ausgeschriebenen Leistung (zu Firmenstrukturen, Preisen, marktgängigen Varianten der zu beschaffenden Leistungen, technischen Standards etc.) in die Vergabeprozesse ein. Diese gewerblichen Anbieter können über die bloße Beratung hinaus auch ihrerseits mit der Durchführung von Vergabeverfahren, oder einzelnen Schritten darin, beauftragt werden (Burgi 2019). Neben dem Kerngeschäft der Beratungs- bzw. Beschaffungsdienstleistungen beteiligen sich die Kanzleien und Beratungsfirmen auch an den übrigen Angeboten (Schulungen und Tagungen, Informationsdienste); nicht zuletzt, weil ihnen diese auch als Foren zur Kundenakquise dienen dürften.

Für die Unterstützung bei konkreten Beschaffungsvorhaben können sich Kommunen zudem auch (halb-)öffentlicher Einrichtungen bedienen. Neben zentralen Beschaffungsstellen in Trägerschaft der KommunenFootnote 1 können sie dafür insbesondere auf die Auftragsberatungsstellen (ABSt) zurückgreifen. Diese gehören zu den Selbstverwaltungseinrichtungen der deutschen Wirtschaft und sind überwiegend als gemeinsame Einrichtungen der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern des jeweiligen Bundeslandes organisiert. Sie bieten Beratungsdienste, Praxisseminare und einen Vergaberechts-Newsletter an. Nach der eigenen Statistik haben die 15 ABSt im Jahr 2019 beispielsweise über 15.000 Beratungen sowie über 200 Seminare mit fast 5000 Teilnehmenden durchgeführtFootnote 2. Der Übergang zwischen Auftragsberatungsstellen und privatwirtschaftlichen Anbietern von Expertise ist dabei fließend: Die ABSt übernehmen ebenfalls gegen Entgelt die Durchführung von Vergabeverfahren (Interview ABSt 1); zum Teil agieren sie auch als Vermittler, die Angebot und Nachfrage nach Expertise zusammenführenFootnote 3.

Was die inhaltliche Ausrichtung anbelangt, gilt für die bisher genannte Gruppe von Akteuren und Angeboten, dass ihre Geschäftsgrundlage die dynamische Rechtsentwicklung und die daraus resultierende Rechtsunsicherheit ist, und der primäre Zweck der Beratungsleistungen darin besteht, die Vergabestellen bei der Durchführung eines rechtssicheren Verfahrens zu unterstützen.Footnote 4 Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, dass hier eine bestimmte konservative Ausdeutung des Rechts dominiert, die von der Berücksichtigung sogenannter ‚vergabefremder‘ Ziele abrät. Vielmehr richten sich die Beratungsdienstleistungen nach den Vorstellungen und Wünschen ihrer Kunden, also der öffentlichen Auftraggeber, und diese können sehr unterschiedlich sein (Interviews ABSt 1, ABSt 2; Vergaberechtskanzlei). Tendenziell werden die Beratungsdienstleistungen demnach insbesondere dort nachgefragt, wo eine Vergabestelle neue Wege beschreitet, sich also auch vom bisher genutzten, vergaberechtlich einfachen Verfahren der Vergabe nach dem niedrigsten Preis verabschiedet.

Eine gezieltere politische Agenda verfolgen hingegen weitere öffentliche und verbandliche Akteure. Zu ihnen zählen verschiedene ‚Kompetenzzentren‘ auf Bundes- und Landesebene, etwa das Kompetenzzentrum für nachhaltige Beschaffung (KNB), das seinen Schwerpunkt auf der ökologischen Nachhaltigkeit hat, sowie das Kompetenzzentrum für innovative Beschaffung (KOINNO) – auf beide geht Abschn. 6.2.2 noch näher ein. Auch die Internetplattform ‚Kompass Nachhaltigkeit‘ (www.kompass-nachhaltigkeit.de) zählt dazu; sie ist ein Kooperationsprojekt zweier öffentlich finanzierter, entwicklungspolitischer Einrichtungen und legt ihren Fokus auf die Beschaffung fair gehandelter Produkte.Footnote 5 Ein entsprechendes eigenes Kompetenzzentrum für die sozialverantwortliche Auftragsvergabe hierzulande erbrachter Dienstleistungen fehlt demgegenüber bislang – was den nachrangigen Stellenwert des Themas in der Praxis (s. Kap. 8 und 9) begünstigt.Footnote 6

Ein ähnliches inhaltliches Profil wie die Kompetenzzentren – einschließlich der Schwachstelle in Bezug auf die sozialverantwortliche Auftragsvergabe von Dienstleistungen – besitzt auch das einschlägige ‚Soft law‘, also die Vielzahl schriftlicher Leitfäden und Best-Practice-Sammlungen, die von öffentlichen Stellen wie auch von anderen Organisationen verfasst werden, um den auftraggebenden Stellen Möglichkeiten zur nachhaltigen Auftragsvergabe innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen aufzuzeigen. An ihrer Produktion beteiligen sich neben Ministerien (z. B. Umweltministerium Baden-Württemberg 2017) und zivilgesellschaftlichen Organisationen (z. B. CIR/Terre des hommes 2015; WEED 2019), auch die Europäische Kommission (s. Abschn. 6.2.1), sowie Verbände der Sozialpartner selbst (s. Abschn. 6.3.1).

Wichtige Orte der Produktion von informellen Normen sind schließlich auch die verschiedenen Foren, in denen die zuständigen Entscheider*innen eigene Wissensbestände und Erfahrungen austauschen – auf Fachtagungen und Praxisseminaren, sowie in eigens dafür eingerichteten Netzwerken. Hier werden nicht nur Informationen ausgetauscht, sondern auch Ratschläge erteilt und Überzeugungen vermittelt, welche Handlungsweisen möglich, heikel, geboten sind. Insbesondere hier findet auch ein Praxis-Abgleich statt – also eine Verständigung nicht nur darüber, was rechtlich möglich ist, sondern auch was praktikabel ist, bzw. was in der Vergabepraxis in punkto Ressourcenaufwand und Kontrollierbarkeit des Ergebnisses als ‚gerechtfertigtes‘ Vorgehen erscheint. Für solche Netzwerke für den peer-to-peer-Austausch ist in der Literatur auch der Ausdruck „communities of practice“ (Wenger 1998) geprägt worden; diese vereinen Personen, die im beruflichen Alltag vor den gleichen praktischen Problemen stehen und im regelmäßigen Austausch mit anderen dafür nach Lösungen suchen und voneinander lernen. Die Europäische Kommission hat in Rahmen ihrer Professionalisierungsstrategie (s. unten) ihren Mitgliedsstaaten ausdrücklich die Unterstützung solcher ‚communities of practice‘ empfohlen (Europäische Komission 2017b). Sie haben sich aber, zumindest in Deutschland, unabhängig davon bereits früher gebildet, etwa das Online-Forum des Deutschen Vergabenetzwerks (http://www.dvnw.de) oder die Regionalgruppen des Forums Vergabe e. V.

Im Folgenden betrachten wir nun einige ausgewählte Akteure und die inhaltliche Stoßrichtung ihrer Professionalisierungs-Angebote etwas näher.

2 Professionalisierung des öffentlichen Einkaufs und der neue Standard der strategischen Beschaffung

Zunächst geht es in diesem Abschnitt um Akteure und Normen, die die verwaltungsseitigen Tätigkeiten in der öffentlichen Beschaffung selbst zu professionalisieren beanspruchen und dabei einen neuen Standard der ‚strategischen Beschaffung‘ entwickeln. Neben der Europäischen Kommission (Abschn. 6.2.1) wirken hieran auch die Fachverbände, spezialisierte Beratungszentren und die akademische Betriebswirtschaftslehre mit (Abschn. 6.2.2).

2.1 Professionalisierung ‚von oben‘: Soft Law-Strategie der EU

Nach Abschluss der Umsetzung der reformierten Vergaberechtsrichtlinien in nationales Recht hat die Europäische Kommission ihre Aufmerksamkeit auch deren Anwendung in der Praxis höhere Aufmerksamkeit zugewandt. Zu diesem Zweck hat sie unter anderem Empfehlungen zu Professionalisierungsmaßnahmen der Mitgliedsstaaten (Europäische Kommission 2017b) veröffentlicht und verschiedene Instrumente zur Professionalisierung der Vergabepraxis entwickelt – eine Best-Practice-Sammlungen zur Professionalisierung (u. a. Europäische Kommission 2017c); einen ‚Europäischen Kompetenzrahmen für Fachkräfte des öffentlichen Beschaffungswesens‘ (Europäische Kommission 2020a, b, c), und insbesondere ein „E-Kompetenzzentrum“ mit verschiedenen Leitfäden und weiteren Materialien, “mit deren Hilfe öffentliche Auftraggeber ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und bessere politische Ergebnisse für die Bürgerinnen und Bürger erzielen“ sollen.Footnote 7

Mit diesen Maßnahmen sucht die Kommission ihre eigene Rolle bei der Implementation des europäischen Vergaberechts zu erweitern, wie die zuständige Generaldirektion Binnenmarkt in einem Treffen mit ihrem Expert*innen-Beirat zur öffentlichen AuftragsvergabeFootnote 8 in Vorbereitung der Materialien erläuterte:

„Now that the new Directives have been adopted and are being transposed, it is time to think of their practical implementation on the ground. In terms of policy orientations, the Commission seeks to shift from being just the enforcer to ensuring procurement is carried out in an efficient manner through more concrete assistance to the Member States efforts to professionalise PP.“ (Europäische Kommission 2016, S. 4)

Die Kommission war hier offenbar zu der Auffassung gelangt, dass die frühere Herangehensweise der Kommission als ‚Hüterin der Verträge‘ mithilfe rechtlicher Verfahren (u. a. institutionalisierter Bieterschutz) zu kurz griff und der Ergänzung um proaktive Orientierungshilfe bedürfe. Den Ausschlag dafür dürften nicht zuletzt die hohen Ermessensspielräume in der Praxis gegeben haben, die mit der Reform 2014 und der damit einhergehenden stärkeren Öffnung für ‚horizontale Ziele‘ noch ausgeweitet wurden. Der geringe Professionalisierungsgrad der administrativen Ebenen in vielen Mitgliedsstaaten wurde in der gleichen Beiratssitzung als ein Grund für die eher gering verbreitete Nutzung von Möglichkeiten zur Berücksichtigung ökologischer, innovativer und sozialer Ziele eingeschätzt (ebda., S. 3). Zugleich warnten mehrere der anwesenden Expert*innen auch vor einer übermäßigen und missbräuchlichen Nutzung sozialer Ziele, die in eine Bevorzugung lokaler Bieterfirmen, Wettbewerbszerrungen und Verletzungen des Gleichbehandlungsgrundsatzes münden könnten. Vergabestellen müssten daher umsichtig mit diesen Möglichkeiten umgehen, um die übrigen Prinzipien des europäischen Vergaberechts nicht zu verletzen (ebda., S. 3.). Folgerichtig wurde in der Beiratssitzung angeregt, die Europäische Kommission möge Handreichungen entwickeln, die erklären „what can be done, what is compliant or not compliant with the Directives“ (ebda., S. 4).

Die gleichen Vorbehalte hatte die Generaldirektion Binnenmarkt der Kommission bereits während der Verhandlungen zur Reform der Vergaberichtlinien geltend gemacht und daher eine insgesamt bremsende Rolle eingenommen (s. Kap. 4 und Semple 2018, S. 84). Entsprechend hatte sie auch bereits zuvor den vom Beraterkreis empfohlenen Ansatz verfolgt, indem sie in ihren früheren Mitteilungen nicht nur auf die vergaberechtlichen Möglichkeiten, sondern auch auf Grenzen der Berücksichtigung sekundärer Ziele hinwies – so auch in ihrem ersten Leitfaden ‚Buying Social‘ zur sozialverantwortlichen Auftragsvergabe aus dem Jahr 2011 (Europäische Kommission 2011). Zwar formulieren die neueren Handreichungen zur Professionalisierung durchgängig den Anspruch, Vergabestellen bei der ‚strategischen‘ Nutzung der Auftragsvergabe zu unterstützen. Angesichts der genannten Vorbehalte ist jedoch ebenso plausibel anzunehmen, dass ein wichtiges Motiv für diese Professionalisierung ‚von oben’ darin bestand, die Nutzung insbesondere sozialer Ziele in Zaum zu halten oder zumindest zu einer Nutzung ‚in Maßen‘ und in selektiver Weise anzuhalten.

In selektiver Weise hatte die Europäische Kommission ihre Vorbehalte gegenüber ökologischen Zielen schon vor längerer Zeit abgebaut und sogar einen pro-aktive Haltung eingenommen. Dafür hatte auch der Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2010 die Türen geöffnet, indem er eine neoliberal geprägte Umdeutung und Vereinnahmung der umweltgerechten Beschaffung vornahm, wie Kunzlik (2013a, b) herausgearbeitet hat: Die aktive Förderung energieeffizienter und anderer innovativer, umweltschonender Technologien auch mithilfe der öffentlichen Beschaffung soll nach dem neuen Verständnis nun die Vorreiterstellung europäischer Unternehmen in diesem Marktsegment ausbauen und darüber vermittelt auch die globale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen in anderen Wirtschaftsbereichen stärken.

Eine ähnliche Überformung und selektive Akzentuierung nehmen die jüngeren EU-Dokumente zur Professionalisierung auch in Bezug auf soziale Ziele vor; auch wenn dies im Endeffekt nur begrenzt gelingt. Die Mitteilung der Kommission, die die Professionalisierung der Vergabepraxis zu einer von mehreren Prioritäten für eine „funktionierende öffentliche Auftragsvergabe“ erklärt (Europäische Kommission 2017a), ordnet die Professionalisierung als einen Beitrag zu einer „strategischen Auftragsvergabe“ ein, die auch politische Zielsetzungen umfassen kann. Dieses Verständnis von ‚strategischer Auftragsvergabe‘ überschneidet sich stark mit dem der OECD und anderer InstitutionenFootnote 9. Gemeinsamer Nenner der verschiedenen Definitionen ist es, öffentliche Aufträge nicht mehr nur auf Grundlage des Angebotspreises zu bewerten, sondern den öffentlichen Mitteleinsatz zugleich auf die Erreichung sogenannter ‚strategischer Ziele‘ hin zu steuern (OECD 2019, S. 195 ff.). Kernzwecke bleiben jedoch weiterhin die Effizienzsteigerung sowie die Qualität der beschafften Güter und Dienstleistungen, wie das folgende etwas längere Zitat veranschaulicht:

„Die europäischen Bürgerinnen und Bürger erwarten für ihre Steuern eine faire Gegenleistung in Form qualitativ hochwertiger öffentlicher Dienstleistungen. Eltern möchten, dass ihre Kinder in den Schulen gesundes Essen erhalten (…). Für eine hohe Qualität der öffentlichen Dienstleistungen ist ein strategisches Vorgehen bei Beschaffungen notwendig. (…) Für Behörden stellt die Vergabe öffentlicher Aufträge speziell in Zeiten angespannter Haushalte in den Mitgliedstaaten ein wirksames Instrument zur effizienten, nachhaltigen und strategischen Verwendung öffentlicher Gelder dar. Ein besseres Management der Auftragsvergabe (…) kann erhebliche Einsparungen in den öffentlichen Haushalten und eine Steigerung der Investitionen bewirken. Beispielsweise könnten mit einem Effizienzgewinn von 10 % Mittel in der beträchtlichen Höhe von 200 Mrd. EUR eingespart werden, ohne dass das Niveau der Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger Europas sinken würde. (…) Die 2014 verabschiedete neue Generation von Richtlinien zur Vergabe öffentlicher Aufträge stellt einen Rahmen für ein flexibleres öffentliches Auftragswesen bereit. Durch die Richtlinien werden die Verfahren vereinfacht und der Zugang von KMU zu öffentlichen Aufträgen verbessert. Das allgemeine Ziel besteht darin, bei öffentlichen Ausgaben ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis und bessere Ergebnisse im Sinne der politischen Zielsetzungen auf gesellschaftlicher und sonstiger Ebene zu erzielen und gleichzeitig ihre Effizienz zu erhöhen.“ (Europäische Kommission 2017a, S. 2 f., Hervorhebungen durch die Autorinnen)

Im Unterschied zum Verständnis der OECD, die noch auf das Spannungsverhältnis zwischen „sekundären“ Zwecken und dem „need to achieve value for money“ (OECD 2015, S. 9) verweist, fließen in der EU-Definition von ‚strategischer‘ Auftragsvergabe alte und neue Zwecksetzungen spannungsfrei zusammen: Sie dient sowohl den alten Prinzipien von Transparenz und effizienter Mittelbewirtschaftung als auch den neueren „politischen Zielsetzungen“. Die verbindende Formel ist hier das „bessere Kosten-Nutzen-Verhältnis“. Dazu können alte Zielsetzungen etwa auf der Kostenseite beitragen – zum Beispiel durch eine kostensenkende effizientere Beschaffung, die Mittel für Investitionen an anderer Stelle freisetzt. Auf der Nutzen-Seite können die neuen Zielsetzungen dazu beitragen, da der Nutzen nun explizit über den unmittelbaren Gebrauchswert der beschafften Güter und Dienstleistungen hinaus auch einen zusätzlichen gesellschaftlichen Nutzen umfassen kann.

Was diesen gesellschaftlichen Nutzen anbelangt, legen OECD wie auch Europäische Kommission ein sehr breites und heterogenes Zielspektrum zugrunde: Wirtschaftspolitische Zielsetzungen – sowohl traditionelle (Förderung von KMU) wie auch neuere (Förderung von Innovationen) – werden ebenso unter dem Ausdruck der ‚strategischen Ziele‘ subsumiert wie ökologische und soziale Ziele. Im Soft law der OECD wie auch der EU dominieren dabei eindeutig die beiden wirtschaftspolitischen Ziele sowie die ‚grüne‘ Beschaffung.Footnote 10 Soziale Ziele werden ebenso adressiert, jedoch nimmt die Kommission hier eine selektive Akzentuierung vor. Dies veranschaulicht der Prozess zur Überarbeitung ihres ‚Buying-Social‘-Leitfadens (Europäische Kommission 2011), den die Europäische Kommission als ein Element zur Unterstützung der professionellen strategischen Auftragsvergabe versprach. Sie wählte dafür explizit einen konsultativen Ansatz – vermutlich auch in Reaktion auf Kritik seitens der europäischen Verbände der Sozialpartner, die sich beim ersten Leitfaden nicht genügend einbezogen sahen (u. a. EFFAT und FERCO 2008). Den inhaltlichen Fokus der Konsultationen versuchte die Kommission allerdings zu lenken: in ihrer Mitteilung kündigt sie an, sich in den Konsultationen Anregungen für die Überarbeitung einzuholen, „insbesondere in Bezug auf die Frage, wie die Nachfrageseite für soziale Innovation und soziales Unternehmertum am besten integriert werden kann“ (Europäische Kommission 2017a, S. 10). Mit der Durchführung von verschiedenen Workshops und der Zusammenstellung zweier Sammlungen zu Beispielen guter Praxis der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe beauftragte die Europäische Kommission folgerichtig die eigene ‚Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen‘ (EASME), die dabei einen besonderen Fokus auf die Beteiligung von Unternehmen der Sozialwirtschaft an öffentlichen Ausschreibungen legte (Europäische Kommission 2019, 2020c). Wenig überraschend dominieren dort im Ergebnis Beispiele für Praktiken, die Inklusionsziele verfolgen – sowohl auf Seiten des Arbeitsangebots (Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose und benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt; bevorzugte Vergabe von Aufträgen an Unternehmen der Sozialwirtschaft) als auch auf Seiten der Nutzer*innen der öffentlich beschafften Dienstleistungen und Produkte (Barrierefreiheit für Behinderte und ältere Menschen). Deutlich weniger Raum nehmen demgegenüber Maßnahmen ein, die auf eine Verbesserung von Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen zielen.

Diese Schwachstelle hatte Semple bereits für die erste Fassung des ‚Buying Social‘-Leitfaden diagnostiziert, und das auf die entsprechenden Bedenken der Kommission gegenüber der wettbewerbsbeschränkenden Nutzung sozialer Kriterien zurückgeführt, nicht etwa auf die lückenhafte Praxis: Zu diesem Zeitpunkt (2011) seien Lohnvorgaben und fair-trade-Kriterien bereits gut in der lokalen Vergabepraxis etabliert gewesen, fänden in dem Leitfaden jedoch kaum Erwähnung (Semple 2018, S. 84). Trotz der selektiven Herangehensweise der Europäischen Kommission bei der Erstellung ihrer Orientierungshilfen hat sich dies mit der überarbeiten Fassung des ‚Buying-Social‘-Leitfadens (Europäische Kommission 2021) allerdings verändert. Fair-trade-Kriterien nehmen hier nun einen deutlich breiteren Raum ein, und auch die Arbeitsbedingungen in vor Ort erbrachten Bau- und Dienstleistungen stehen bei mehreren der angeführten Beispiele und Anregungen im Zentrum.Footnote 11

Möglich ist, dass sich darin auch eine entsprechende Diversifizierung und stärkere Verbreiterung von Praktiken der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe in den Mitgliedsländern niederschlägt. Dass solche Praktiken auch Aufnahme in den ‚Buying-Social‘-Leitfaden gefunden haben, dürfte zudem auch dadurch begünstigt worden sein, dass neben EASME auch weitere Akteure in die Zusammenstellung eingebunden waren – etwa das Netzwerk ICLEI (Local Governments for Sustainability); und schließlich ein breiterer Kreis von Expert*innen, Institutionen und Verbänden, deren Stellungnahmen zum Leitfaden über eine Online-Befragung eingeholt wurden.Footnote 12 In jedem Fall kann diese Themenerweiterung im Vergleich zum ersten ‚Buying-Social‘-Leitfaden als Beleg dafür betrachtet werden, dass hier eine gewisse Eigendynamik am Werk ist, welche den Standard der ‚strategischen Beschaffung‘ zugunsten eines breiteren Verständnisses sozialer Ziele öffnet. Mit dem konsultativen Ansatz und der wenigstens vordergründig widerspruchsfreien Eingemeindung und Gleichstellung sozialer Ziele im Wertekanon der ‚strategischen Auftragsvergabe‘ wurde gewissermaßen eine Bühne eröffnet, auf der auch solche Beschaffungspraktiken Legitimität als ‚bewährte Vorgehensweise‘ beanspruchen können, die über den enger abgezirkelten Rahmen der Europäische Kommission hinausreichen.

2.2 Professionalisierung durch Fachverbände und akademische Betriebswirtschaftslehre

Für die Vergabepraxis in Deutschland ist vor allem relevant, mit welchen konkreten Inhalten der neue Standard der strategischen Beschaffung in Deutschland gefüllt wird. Daher wenden wir uns nun den Deutungsangeboten zu, die auf nationaler Ebene dazu beitragen, den Standard zu präzisieren, weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Zentrale Akteure in Deutschland sind dabei insbesondere der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e. V. (BME)Footnote 13, die akademische Betriebswirtschaftslehre, sowie spezialisierte Kompetenzzentren, die auf eine stärkere ‚Innovationsorientierung‘ im öffentlichen Einkauf von Produkten und Dienstleistungen fokussieren, und in dem Zusammenhang auch die Zielsetzung der ‚Nachhaltigkeit‘ im Beschaffungsprozess verfolgen. Namentlich sind dies vor allem das vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte ‚Kompetenzzentrum Innovative Beschaffung‘ (KOINNO), das vom BME betrieben wird, und die aus dem Maßnahmenprogramm Nachhaltigkeit der Bundesregierung hervorgegangene ‚Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung‘ (KNB).Footnote 14 KOINNO und KNB haben insofern in ihrer Zielsetzung eine größere gemeinsame Schnittmenge, als viele innovative Lösungen auch zu nachhaltigen oder umweltfreundlichen Ergebnissen beitragen.

Der Beitrag der Kompetenzzentren besteht vor allem in der Verbreitung des Standards der strategischen Beschaffung. In ihrer vielfältigen Informations- und Beratungsarbeit beziehen sich die Beratungszentren, insbesondere von KOINNO, teils explizit auf Diskurse und Konzepte aus der akademischen Betriebswirtschaftslehre (insbesondere auf Arbeiten von Michael EßigFootnote 15) – oder, so die KNB, auf Informationen aus einem breiten Netzwerk einschlägiger Institutionen (u. a. Umweltbundesamt, Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe FNR) und NGO’s (u. a. CorA, WEED), die sich im Grundsatz mit der Implementierung von mehr Nachhaltigkeit im öffentlichen Einkauf befassen. KOINNO und KNB verstehen sich als Anlaufstellen für öffentliche Beschaffer*innen, die Informationen, Praxisbeispiele, Handlungsleitfäden und Tools (u. a. zur Berechnung von Lebenszykluskosten) bereitstellen, sich in Form von Veranstaltungen und Diskussionsforen aber auch proaktiv ins Spiel bringen und die bundesweite Vernetzung mit weiteren Verbänden und Initiativen auf dem Feld der strategischen Beschaffung vorantreiben. Sie bieten Praktiker*innen auf allen Ebenen des öffentlichen Auftragswesens darüber hinaus Seminare und Workshops sowie verwaltungsinterne Change-Management-Projekte an, um die Themen ‚Innovation‘ und ‚Nachhaltigkeit‘ zu verankern und Einkaufsprozesse im Sinne einer strategischeren Auszurichtung zu professionalisieren. Im Rahmen von KOINNO werden regelmäßig der Award ‚Innovation schafft Vorsprung‘ verliehen und auch ZertifizierungenFootnote 16 vorgenommen.

Mit ihrem Fokus auf Innovation und ökologischer Nachhaltigkeit  (in jüngerer Zeit auch vermehrt auf ‚Fair-Trade‘-Prinzipien) und ihrer Rückbindung an das Ziel der effizienten Mittelbewirtschaftung und die hergebrachten vergabepolitischen Kernprinzipien entspricht das von diesen Akteuren entwickelte Verständnis einer professionellen, strategischen Beschaffung in Bezug auf die Zwecke weitgehend dem von Europäischer Kommission und OECD. In einem gemeinsam von Eßig und dem BME herausgegebenem Band zu ‚Exzellenter öffentlicher Beschaffung‘Footnote 17 wird eine im Hinblick auf ihre Strategiefokussierung als ‚exzellent‘ zu bezeichnende öffentliche Beschaffung definiert als „das strategische, Leistungs- und Prozess-Management aller externen Ressourcen einer Organisation zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, um ihre möglichst wirtschaftliche Versorgung mit Gütern, Dienstleistungen, Fähigkeiten und Wissen unter Berücksichtigung des Wettbewerbs- und Transparenzprinzips bei gleichzeitiger Berücksichtigung definierter politisch-strategischer Ziele zu sichern“ (Eßig et al. 2013, S. 20; ähnlich auch Knopf et al. 2010; Lohmann und Werres 2013).

Eigene Akzente setzen die betriebswirtschaftlich unterfütterten Konzepte vor allem bei den Mitteln auf dem Weg zu diesem Ziel. Deutlicher als von Seiten der OECD und EU wird dabei aus einer betriebswirtschaftlichen Perspektive eine einseitige Orientierung am (vermarktlichten) Vergaberecht und dem in ihm verankerten Primat des Wettbewerbsprinzip problematisiert – beispielsweise weil anders als im Falle privater Beschaffungsvorgänge langfristige Lieferantenbeziehungen dadurch erschwert werden, und durch die kurzfristigen Verträge und offenen Wettbewerbe hohe Transaktionskosten bei den Ausschreibungsverfahren erzeugt werden, „ohne im Ergebnis den leistungsfähigsten Anbieter auszuwählen“ (Eßig und Batran 2006, S. 119). „Das Dilemma der öffentlichen Beschaffung resultiert einerseits aus der Forderung nach mehr Wettbewerb zur effizienten Allokation von Ressourcen sowie andererseits den Erfolgen der Privatwirtschaft durch strategisches Supplier Relationship Management, also dem expliziten und fallweisen Ausschluss von Wettbewerb.“ (ebda., S. 121). Die effiziente Mittelbewirtschaftung bleibt – neben den politisch definierten Zielen – damit ein wichtiger Maßstab; der „‚reine‘ Lieferantenwettbewerb“ (ebda.) gilt dafür aber als suboptimales Mittel. Das Effizienz-Ziel wird zudem auf den Beschaffungsvorgang selbst bezogen, also auf die „Prozesskosten“, die verwaltungsseitig für die Planung und Durchführung einer Ausschreibung und bieterseitig für die Teilnahme an Ausschreibungen entstehen. Hier werden erhebliche Einsparpotentiale gesehen; auch und gerade bei Beschaffungsvorhaben mit ‚sekundären‘ politischen Zielen (Eßig et al. 2013, S 10 ff.). Unter Rückgriff auf Grundgedanken des New Public Management soll das Verwaltungshandeln in der Beschaffung so insgesamt durch eine stärkere Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher Konzepte in der Beschaffungsorganisation leistungsfähiger werden, und dadurch Vergabestellen in die Lage versetzt werden, auch politische Ziele effizient und effektiv zu verfolgen.

Auf dieser Reorganisation von Entscheidungskompetenzen und Abläufen bei den Einkaufsprozessen sowie beruflichen Kompetenzen der Einkäufer*innen liegt dementsprechend der Schwerpunkt der verschiedenen Ausarbeitungen und Beratungsangebote zur ‚strategischen Beschaffung‘, sowohl seitens der akademischen Betriebswirtschaftslehre als auch seitens der Kompetenzzentren. Strategische Beschaffung erfordert demzufolge eine möglichst frühzeitige Implementierung von Sekundärzielen in den Vergabeprozess. Voraussetzung sei hierfür eine strategische Einkaufsorganisation mit optimierten und digitalisierten Einkaufsprozessen sowie klaren Zuständigkeiten, an der es bislang mangele (Interview KOINNO)Footnote 18. In dem bereits zitierten Band zu ‚Exzellenter öffentlicher Beschaffung‘ definieren Lohmann und Werres (2013) verschiedene Kernziele für ein strategisches Beschaffungsmanagement. Dazu zählt die „Weiterentwicklung der bisherigen regelzentrierten Einkaufspraxis zu einer integrierten betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise“ (ebda., S. 74). Ein strategisches öffentliches Beschaffungsmanagement ziele in systematischer Weise auf eine Volumenkonzentration, eine Optimierung der Gesamtbeschaffungskette sowie ein strategisches Lieferantenmanagement. Auch die Konsolidierung ausgewählter Einkaufsfunktionen als ‚Shared Services Center‘Footnote 19 diene der strategischen Optimierung des öffentlichen Einkaufs. Letzteres meine „mehr als nur eine Zentralisierung von Aufgaben“ (ebda., S. 78). SSC’s ermöglichten auch eine Bündelung strategisch relevanter Kernprozesse, wie die Beobachtung der Marktentwicklung und des Rechtsrahmens, Qualitätsmanagement und Beschaffungscontrolling.

Flankiert wird die Vorstellung von einer strategischeren oder gar ‚exzellenten‘ Beschaffungsorganisation von der Vision einer neuen Art von Einkäufer*in. Im ‚klassischen‘ Einkaufsprozess befindet sich die beschaffende Stelle modellhaft in einer „Sandwich“-Position (Interview KOINNO) zwischen a) Bedarfsträgern bzw. Nutzern des Produktes oder der Dienstleistung und b) deren Herstellern bzw. Anbietern. Oberhalb der beschaffenden Stelle werde (idealerweise) die c) strategische Entscheidung getroffen, die ihrerseits zwischen gesetzlichen (vergaberechtlichen) Regelungen und politischen Zielsetzungen vermittele, indem sie ‚strategische‘ Ziele definiere und gegenüber der beschaffenden Stelle begründe („klares Mandat von oben“). Die beschaffende Stelle agiert in diesem ‚Sandwich‘-Modell oftmals nur als operativer Bestellabwickler, zumal wenn sie erst nach Erstellung des Leistungsverzeichnisses eingebunden wird (Schuster et al. 2020, S. 4). Offen bleibe dabei stets eine Reihe von Fragen, die die Einflusslücken ‚klassischer‘ Einkäufer offenlegt:

„Aus einkäuferischer Sicht ist eben die Frage: Wo werden die Kriterien definiert? Mit welcher Maßgabe, mit welchem Mandat von oben? Was darf es auch kosten, welches Budget haben wir dafür? Welche Anbieter gibt es, können die das auch, wollen die das auch erfüllen? Habe ich dafür vorher auch schon mal eine Markterkundung gemacht, habe ich überhaupt einen Überblick, wie die Anbieterseite da auch aufgestellt ist und: Kann ich das, was ich da dann als Kriterium nehme, auch hinterher kontrollieren?“ (Interview KOINNO)

In Bezug auf soziale Nachhaltigkeit, die aufgrund der häufig höheren Kosten (auch gegenüber Umweltzielen) immerhin zu Zielkonflikten in der Beschaffungsstelle führe, beschreibt die interviewte Vertreterin der KNB das auftretende Dilemma:

„Es gibt ganz viele Situationen, wo der Einkauf nicht teurer wird, gerade bei den ökologischen Kriterien (…). Bei sozialen Kriterien sieht das anders aus. (…) Da wird es dann tatsächlich teurer und diesen Zielkonflikten muss sich ein Beschaffer stellen. Und die Frage ist dann: Wer muss eigentlich in welcher Rolle welche Frage beantworten? Und das ist in der Tat etwas, wo die Vorzimmerdame, die nebenher noch einkaufen soll, dann an ihre Grenzen stößt, häufig.“ (Interview KNB)

Im neuen Ideal des ‚strategischen‘ Einkaufs soll dieses Dilemma aufgelöst werden. Die Einkäufer*innen sollen als Expert*innen mit „Markt-Know-How“ (Eßig et al. 2013, S. 16) schon frühzeitig in den Prozess eingebunden werden, nämlich bereits in die Budgetplanung, sodass sie etwa Einfluss auf die Bedarfsermittlung nehmen, Warengruppenstrategien etablieren oder durch ein Lieferantenmanagement proaktiv nach außen (Schuster et al. 2020, S. 4) und insofern als kompetente Verhandlungs- und Ansprechpartner*innen agieren können. Die Beschaffer*innen von morgen nehmen eine Schlüsselrolle ein, sind nicht länger „Erfüllungsgehilfen“ (Eßig et al. 2013, S. 16), sondern entwickeln sich selbst zu Strategen:

„Es wird eine andere Art von Einkäufer [benötigt] – nicht ein Erfüllungsgehilfe, der auf den Knopf drückt und eigentlich ausführt, was andere Fachstellen beschafft haben wollen. Sondern, dass er selber maßgeblich auf Augenhöhe mit der Amtsleitung (…) eine übergreifende (…) kommunale Strategie verfasst, in der eben Nachhaltigkeitskriterien enthalten sind, innovative Kriterien“ (Interview KOINNO)

In der Konsequenz plädiert die betriebswirtschaftliche Literatur für eine deutliche Erweiterung der Kompetenzprofile öffentlicher Einkäufer*innen (Eßig et al. 2013, S. 29), in denen Produkt- und Marktkenntnissen sowie betriebswirtschaftlichem Wissen ein größerer Raum („mindestens gleichwertig“) gegenüber dem „Primat des Vergaberechts“ eingeräumt werden müsse. Dies mache weitreichende Schulungen und Weiterbildungen erforderlich, um die gegenwärtige „Professionalisierungslücke“ (Eßig 2018, S. 499) zu schließen.

Insgesamt zielen diese neuen fachlichen Normen zum strategischen Beschaffungsmanagement also vor allem darauf, die organisatorischen sowie personell-qualifikatorischen Grundlagen für eine Beschaffungspraxis zu schaffen, die für die Verfolgung jeglicher sekundärer Ziele erforderlich sind. Sie setzen damit auf die grundsätzliche Befähigung der Vergabepraxis, aus dem breiten Kanon der ‚strategischen Ziele‘ die für sie passenden Ziele auszuwählen und anzuwenden. Eine proaktive, gezielte Unterstützung sozialer Ziele durch konkrete Handlungshilfen, Anreize und Fördermaßnahmen fällt allerdings deutlich schwächer aus als in Bezug auf die übrigen strategischen Ziele. Die Einstufung von sozialen Zielen als ‚entfernte Verwandte‘ in dieser Wertefamilie erscheint daher hier gerechtfertigt.

3 Professionalisierung der Dienstleistungen und neue Standards guter Dienstleistungen – die Rolle von Verbänden

Neben den Normen, die sich auf den Beschaffungsvorgang selbst beziehen, sind Vergabeverantwortliche auch gehalten, Normen zu berücksichtigen, die sich auf die beschafften Dienstleistungen selbst beziehen und diese zu professionalisieren suchen, also Standards guter Dienstleistungen. Während im Bau-Bereich mit DIN- und EN-Normen fachliche Standards bestehen, die über Verweise in der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) verankert sind und der Verwaltung so als Orientierungsrahmen bei der Erstellung der Vergabeunterlage und der Bewertung der Angebote vorgegeben werden, sind es im Bereich der Schulverpflegung und der Sicherheitsdienstleistungen vornehmlich gesetzliche Normen sowie Richtlinien und Handbücher, die einen ähnlichen Zweck verfolgen. An ihrer Produktion wirken – insbesondere im Fall der Sicherheitsdienstleistungen – auch die Verbände der Sozialpartner mit, also die Interessenvertretungen der Produzenten öffentlicher Dienstleistungen (s. Abschn. 6.3.1) Im Fall der Schulverpflegung sind es Organisationen und Institutionen, die vorrangig im Interesse der Konsument*innen der Dienstleistungen tätig werden (s. Abschn. 6.3.2). Die Mitwirkung der Verbände hat dabei nicht die gleiche Qualität wie in klassischen korporatistischen Beteiligungsformen, da ihre Beteiligung kaum formalisiert und die von ihnen produzierten Normen für sich genommen auch keine Verbindlichkeit besitzen. Es handelt sich insofern um eine Art ‚Korporatismus light‘. Durch Verweise in den Ausschreibungsunterlagen und Verträgen können sie aber für die beauftragten Firmen einen verbindliche(re)n Charakter bekommen.

3.1 Professionalisierung durch Verbände und ‚Korporatismus light‘: Der Fall der Sicherheitsdienstleistungen

Im Fall der Sicherheitsdienstleistungen ist es insbesondere der Arbeitgeberverband, der sich sehr aktiv an der Formulierung fachlicher Standards beteiligt. Der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW) verfolgt im Sinne seiner Mitgliedsunternehmen eine Professionalisierungsstrategie, die sich in seine breit angelegte Kampagne zur Image-Pflege der privaten Sicherheitsdienstleistungen einschreibt und in der Hauptsache darauf abzielt, sich von der großen ‚Schmutzkonkurrenz‘ in der Branche abzuheben. Mit der Formulierung einer internen ‚corporate identity‘ und der Bestimmung fachlicher Standards geht es dem BDSW um eine öffentliche Aufwertung von Sicherheitsdienstleistungen. Der Blick richtet sich hierbei sowohl ‚nach innen‘, auf die Branche selbst (s. Abschn. 6.3.1.1), als auch ‚nach außen‘, sowohl an den Gesetzgeber als auch an öffentliche Auftraggeber (s. Abschn. 6.3.1.2). Diese Bemühungen haben sich weitgehend unabhängig von den Vergaberechtsreformen und der ‚strategischen‘ Neuausrichtung der Vergabe entwickelt und auch deutlich früher eingesetzt; der BDSW greift diese Entwicklung jedoch mehrfach als notwendige Voraussetzung auf und verknüpft seine Forderungen mit ihr.

3.1.1 Professionalisierung von Sicherheitsdienstleistungen – Der Blick „nach innen“

Nach innen gerichtet manifestieren sich die Professionalisierungsbemühungen unter anderem in einem erarbeiteten Verhaltenskodex (BDSW 2018a), mit dem die Verbandsmitglieder dazu angehalten werden, „seriöse und anerkannte Geschäftspraktiken und einen fairen Wettbewerb“ zu verfolgen, die „berufliche und persönliche Reputation“ zu wahren und insbesondere darauf zu achten, „dass das öffentliche Ansehen von Verband und Mitgliedern nicht geschädigt wird“ (ebda., S. 2 f.). Dieses Ansinnen zeigt sich in den Aufnahmeregelungen, die nach eigener Aussage „sehr starr“ und einer behördlichen Prüfung ähnlich sind (Interview BDSW Bundesverband, Geschäftsstelle).Footnote 20 Ein Aufnahmeverfahren könne über ein Jahr dauern, wie der Verband mitteilt. Es gibt darüber hinaus Überlegungen, die Mitgliedschaft im BDSW zu einem Zertifikat zu entwickeln. Dieses richtet sich als Professionalisierungsstrategie nicht nur nach innen, indem es auf dem Sicherheitsdienstleistungsmarkt „die Spreu vom Weizen“ trennen soll (ebda.), sondern soll auch Signalwirkung als „Qualitätssiegel“ für privatwirtschaftliche und öffentliche Auftraggeber entfalten.

Die praktische Umsetzung eines solchen Zertifikates qua Verbandsmitgliedschaft steht jedoch bislang noch aus; vermutlich auch, weil es alternative Möglichkeiten der Zertifizierung gibt. Grundlage dafür ist die bereits im Jahr 2002, „unter maßgeblicher Beteiligung des BDSW“ (BDSW 2018c)Footnote 21 veröffentlichte, eigenständige DIN-Norm 77200 für Tätigkeiten im privaten Sicherheitsgewerbe. Laut dem Deutschen Institut für Normung e. V. dient die Norm einem einheitlichen Verständnis zwischen Auftraggeber und -nehmer im Hinblick auf Transparenz und Eindeutigkeit in der Bestimmung und Festlegung des Auftragsumfangs.Footnote 22 Sie enthält verschiedene Anforderungen und Leistungskriterien, also greifbare Qualitätsstandards für die Vergabe (s. Abschn. 8.2.2) und gilt daher auch als Auftraggeber-Handbuch.

Der erste Teil der inzwischen mehrfach überarbeiteten DIN 77200 legt Mindestanforderungen an Sicherheitsdienstleister in Bezug auf Organisation, Prozesse und PersonalFootnote 23 fest. Er ist ausdrücklich auch zur Bewertung von Angeboten geeignet, wenn der Auftragnehmer nicht entsprechend zertifiziert ist. Der zweite Teil enthält weitere Anforderungen an Sicherheitsdienstleister für Leistungsbereiche mit besonderer Sicherheitsrelevanz, darunter die in unseren Fallstudien im Fokus stehenden Dienstleistungen für Flüchtlingsunterkünfte. Die formulierten Standards betreffen Anforderungen zur Erbringung der Leistung, die Qualifikation von Einsatz- und Führungskräften sowie die Ausrüstung. Auch sind Kriterien für spezifische Schulungen und Trainings enthalten. Mit der Veröffentlichung des dritten Normteils im November 2017 ist erstmals auch die Zertifizierung von Wach- und Sicherheitsdienstleistungen ermöglicht worden (BDSW 2017b). Dieser Teil wendet sich schließlich an Zertifizierungsstellen (z. B. DEKRA oder VdS), indem er die Grundlagen und Anforderungen des Verfahrens offenlegt.

Ebenfalls läutete die Jahrtausendwende den Beginn einer verbandsseitig vorangetriebenen „Qualifizierungsoffensive“ (Hirschmann 2016, S. 158) in Bezug auf die Beschäftigten im Wach- und Sicherheitsgewerbe ein. Die zuvor sehr niedrigschwellige Zugangsvoraussetzung „Unterrichtungsverfahren“ (§ 34a GewO),Footnote 24 in der Branche auch als „Sitzschein“ bekannt, ist im Jahr 2003 nach Neufassung der Bewachungsverordnung immerhin um eine anschließende Sachkundeprüfung (IHK) für ausgewählte, als sensibel geltende Sicherheitskontrolltätigkeiten im öffentlichen Raum erweitert worden (BDSW 2017a). Zeitgleich wurde mit der Fortbildung zum ‚Geprüften Meister für Schutz und Sicherheit‘ (IHK) erstmals eine Aufstiegsqualifizierung eingeführt. Als wichtiger „Meilenstein“ und „Ausdruck der Professionalisierung des Sicherheitsgewerbes“ (ebda.) gilt jedoch die Institutionalisierung der dualen Berufsausbildung in der Branche, die mit der ‚Fachkraft für Schutz und Sicherheit‘ (dreijährig) im Jahr 2002 und der ‚Servicekraft für Schutz und Sicherheit‘ (zweijährig) im Jahr 2008 erreicht wurde. Für (in der Regel ältere) Seiteneinsteiger*innen ist im Jahr 2006 zugleich die Fortbildung bzw. Umschulung zur ‚Geprüften Schutz- und Sicherheitskraft‘ entwickelt worden.Footnote 25 Zuletzt wurde mit verschiedenen Studiengängen im Bereich Sicherheitsmanagement eine Akademisierung der gewerblichen Sicherheit vorangebracht (BDSW 2017a, 2018c).

Das Thema Aus- und Weiterbildung ist dem BDSW nach öffentlicher Darstellung in einer Reihe von Pressemitteilungen und Broschüren ein zentrales Anliegen, um den steigenden Ansprüchen an Sicherheitsdienstleistungen sowie dem in der Branche spürbaren Fachkräftemangel Rechnung zu tragen. Der dreijährige Ausbildungsberuf sei „ein Instrument, um geeignetes Personal für immer schwieriger und komplexer werdende Sicherheitsaufgaben zu gewinnen“ (BDSW 2017a). Ein interner ‚Fachausschuss Ausbildung‘, als „einer der größten und aktivsten innerhalb des BDSW“ arbeitet daran, „die Qualität in der Ausbildungspraxis zu verbessern und die Qualifizierungsstruktur bei Unternehmen und Kunden bekannt zu machen“.Footnote 26 Beispielhaft ist der seit 2010 verliehene Ausbildungspreis an Verbandsunternehmen, die sich durch eine gute Praxis hervorheben. Nicht zuletzt führte der BDSW im Jahr 2009 ein auf die Ausbildung bezogenes Zertifizierungssystem ein und tritt seither als Zertifizierungsstelle für Sicherheitsfachschulen auf, die hinsichtlich ihres Portfolios, ihrer Ressourcen, ihrer vermittelten Schulungsinhalte und Didaktik überprüft werden und nach erfolgreichem Audit das entsprechende Siegel der „BDSW-zertifizierten Sicherheitsfachschule“ erhalten (BDSW 2018c) – aktuell sind es 14 Bildungsträger.Footnote 27

Auch wenn es nicht unmittelbar gegen eine Professionalisierung der Branche oder zumindest entsprechend glaubhaft vertretener ‚claims‘ des Verbandes spricht (Hirschmann 2016, S. 173), schlagen sich die Qualifizierungsbemühungen des BDSW bislang doch nur zögerlich in den Ausbildungszahlen (vor allem in Bezug auf die ‚Servicekraft‘) nieder.Footnote 28 Zugleich besteht seit Einführung der Ausbildungsberufe eine hohe Zahl nicht bestandener Prüfungen, die nicht in erster Linie durch ein mangelndes Qualifikationsniveau der Auszubildenden, sondern schlechte betriebliche Rahmenbedingungen begründet ist (ebda., S. 174 f.).Footnote 29 Mit einer Vertragslösungsquote von ca. 46 % (2018) zählt die ‚Fachkraft für Schutz und Sicherheit‘ außerdem bundesweit zu den Ausbildungsberufen mit dem höchsten Anteil an Abbrecher*innen (BIBB 2020, S. 150). Wie Hirschmann (2016, S. 223, 236 f.) darlegt, bildet sich hinter diesen Entwicklungen das noch geringe Interesse der Nachfrageseite (u. a. durch die öffentliche Hand und ihre vertraglich fixierten Leistungsanforderungen) an qualifiziertem Personal fernab der ‚Unterrichtung‘ bzw. ‚Sachkunde‘ ab: Entweder sei das Ausbildungssystem den Kunden nicht bekannt oder es erschließe sich ihnen nicht der Mehrwert für die Erbringung der Dienstleistung. Mit unseren Befunden muss ergänzt werden, dass auch umgekehrt das Wissen um den Fachkräftemangel zu kundenseitig teils geringeren Anforderungen an das Personal führt (s. Abschn. 7.3.1 und 8.2.2.2).

Eng verknüpft mit der Qualifizierungsoffensive des BDSW ist die grundsätzliche Forderung der Branche nach mehr staatlicher Regulierung – ein „striving for jurisdiction“ (Hirschmann 2017). Wie Verbandspräsident Lehnert im Jahr 2018 selbst feststellt, sei die Sicherheitsbranche eine der wenigen Branchen, die von staatlicher Seite strengere Marktzugangsregelungen einfordern: „Das ist außergewöhnlich, aber notwendig, um die Qualität in der Branche zu verbessern“ (BDSW 2018b). Im Rahmen politischer Lobbyarbeit und zahlreicher öffentlicher Stellungnahmen (u. a. BDSW 2016a) rund um die angetriebenen Gesetzesänderungen der seit 1927 bestehenden Gewerbeordnung (§ 34a GewO, 2018 zuletzt geändert) und der ‚Verordnung über das Bewachungsgewerbe‘ (BewachV, 2019 novelliert) setzt sich der BDSW für den Ausbau und die Verschärfung der rechtlichen Grundlagen zum Zutritt für Unternehmer und Beschäftigte in den Sicherheitsdienstleistungsmarkt ein. Im Zuge der letzten Novellierungen ist etwa der Sachkundenachweis für Unternehmensgründer*innen sowie leitendes Personal verpflichtend eingeführt worden, zumindest bezogen auf den Schutz von Flüchtlingsunterkünften und zugangsgeschützte Großveranstaltungen.Footnote 30 Auch sind die Bedingungen für die Zuverlässigkeitsüberprüfungen verschärft und die Einführung eines zentralen Bewacherregisters zum Juni 2019 beschlossen worden, mit dem Prüfbehörden einen erleichterten Zugriff auf die Daten von Unternehmen und ihren Mitarbeiter*innen haben. Kommunale Ordnungsämter sollten die Grundlage für die Datenerfassung schaffen, um mehr Transparenz, vereinfachte Erlaubnisverfahren und schnellere Zuverlässigkeitsüberprüfung zu ermöglichen. Dieses Vorhaben hat sich dem Verband zufolge durch Verzögerungen in den Verwaltungen jedoch als „Dauerbaustelle“ entwickelt und zum Teil dazu geführt, dass sich die Überprüfungszeiten der Beschäftigten auf mehr als vier Wochen verlängert haben. Dies sei insofern schwierig für die Unternehmen, weil sie erst mit der behördlichen Zusage ihr Personal für den Auftrag beim Kunden einsetzen dürfen (BDSW 2020a).

Spätestens seitdem das Wach- und Sicherheitsgewerbe auf der Innenministerkonferenz im Jahr 2009 erstmals offiziell als „wichtiger Bestandteil der Sicherheitsarchitektur“ in Deutschland bezeichnet worden ist (Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder 2009, S. 25), konzentriert sich das „striving for jurisdiction“ des BDSW auf ein eigenständiges „Sektorengesetz“ (BDSW 2018b), begleitet von der wiederholten Forderung nach einer fachlichen Anbindung an das Bundesinnenministerium (BMI), wie es auch in den meisten anderen europäischen Ländern der Fall ist (BDSW 2019). Im Juli 2020 ist der Ressortwechsel vom Wirtschafts- zum Innenministerium schließlich vollzogen worden; in einer Pressemitteilung des BMI wurde damit auch das Ziel verbunden „gemeinsam an höheren Sicherheitsstandards für das Sicherheitsgewerbe“ zu arbeiten. (BMI 2020). In diesem Sinne appellierte der BDSW zuletzt an die Bundesregierung, das immerhin im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom 12. März 2018 geplante „Sicherheitsdienstleistungsgesetz“ noch in der laufenden Legislaturperiode umzusetzen (BDSW 2020c). Als Eckpunkte für ein solches Sicherheitsdienstleistungsgesetz fordert der BDSW unter anderem verbindliche rechtliche Vorgaben zur Qualifikation, Schulung und Weiterbildung aller Sicherheits- und Führungskräfte in ausgewählten Einsatzbereichen mit erhöhten Sicherheitsbedarfen (u. a. Flüchtlingsunterkünfte, Wertdienste) (BDSW 2019).

3.1.2 Kundenorientierte Professionalisierungsstrategien – Der Blick „nach außen“

Während die zuvor dargestellten Professionalisierungsbemühungen des Branchenverbandes BDSW sich in erster Linie – wenn auch immer mit Blick auf die Kundenseite – auf ‚das Innere‘ des Sicherheitsdienstleistungsmarktes richten und damit Ziele der Systematisierung, Standardisierung und Regulierung verfolgen, geht es im Folgenden um diejenigen Strategien mit engerem Bezug zur Nachfrageseite, insbesondere der öffentlichen Auftragsvergabe. Der BDSW bemüht sich hier auf verschiedenen Wegen, die von ihm (mit)entwickelten fachlichen Standards und Empfehlungen in der Vergabepraxis öffentlicher Auftraggeber zu verankern. Diese werden für das angeschlagene Branchen-Image, schlechte Arbeitsbedingungen und qualitative Sicherheitsmängel (mit) mitverantwortlich gemacht werden und als notwendige Partner bei der Professionalisierung der Branche adressiert, wie das folgende Zitat veranschaulicht:

„Gerade öffentliche Aufträge werden in der Regel an den billigsten Anbieter vergeben, ohne dass Qualitätskriterien ansatzweise Berücksichtigung finden. Aufgrund europarechtlicher Vorgaben kann in einer öffentlichen Ausschreibung in der Regel nicht einmal die Einhaltung eines bestimmten Tarifvertrages zur Bedingung einer Auftragsvergabe erhoben werden. Diese Zustände schaden nicht nur dem Ansehen der Sicherheitswirtschaft in der Öffentlichkeit; sie fördern eine Verbreitung sozial missbilligenswerter Arbeitsbedingungen und führen insbesondere zu nicht hinnehmbaren Sicherheitslücken.“ (BDSW 2019)

Mit der DIN-Norm wurden wie oben erwähnt unter Beteiligung des BDSW bereits im Jahr 2002 nicht nur Standards entwickelt, an denen sich die Branche selber orientieren sollte, sondern sie gilt explizit auch als Norm, die zur Bewertung von Angeboten im Rahmen privater und öffentlicher Auftraggeber herangezogen werden kann und soll.

Auf europäischer Ebene haben die Sozialpartner der Branche, CoESS (Confederation of European Security Services) und UNI-Europa, bereits im Jahr 1999 mit Unterstützung der EU-Kommission ein Handbuch „Qualitätsvolle private Sicherheitsdienstleistungen beschaffen“ entwickelt, das zuletzt im Jahr 2014 auf Grundlage der Vergaberichtlinie 2014/24/EU überarbeitet und in 14 Sprachen übersetzt worden ist (CoESS und Uni Europa 2014, S. 4). Anliegen des auch als „Bestbieter-Handbuch“ bekannten Kataloges ist es, „dem Auftraggeber die nötigen Argumente an die Hand zu geben, warum private Sicherheitsdienstleistungen nach dem ‚besten Wert‘ beurteilt werden sollten, wozu auch die für diesen Sektor relevanten sozialen Kriterien gehören“. Es zeige, „wie wichtig es ist, den Bestbieter (…) zu definieren, zu erkennen, zu suchen und auszuwählen“ (ebda.).

Im Kern behandelt das Handbuch einen Leitfaden mit „Ge- und Verboten“Footnote 31 bei der Beauftragung privater Sicherheitsdienste sowie die Festlegung von QualitätskriterienFootnote 32 für Anbieter, Personal, Tätigkeiten, Management und Infrastruktur. Darin eingelassen sind zahlreiche Kriterien, die sich auf die Qualifikation des Personals, wie auch die Beschäftigungsbedingungen beziehen. In Bezug auf die Anbieter werden etwa eine Reihe von Fragen zu den Aspekten „Erfahrung und Erfolgsbilanz“ (u. a. Dienstleistungsspektrum, Referenzen sowie „Erfolgsbilanz bei Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz“) sowie „Ethik, Unternehmensphilosophie und Verhaltenskodex“ (u. a. „internes Konformitäts- und Qualitätsprogramm“) angeführt (ebda., S. 47). Für das Sicherheitspersonal konzentrieren sich die vorgeschlagenen Kriterien (wieder in Form zahlreicher Fragen) auf die Punkte „Einstellung und Überprüfung“ (u. a. „soziale Erwägungen“), „Kenntnisse und Fähigkeiten“ (u. a. Aus- und Weiterbildungsangebote), „Erfahrung“ sowie auch „Beschäftigungsbedingungen“ (Nachweise bzgl. der Einhaltung von Tarifverträgen und sozial- sowie arbeitsrechtlicher Vorschriften). Das Handbuch schließt mit einem detaillierten Beispiel für die Angebotsbeurteilung (v. a. in Bezug auf die Gewichtung spezifischer Qualitätskriterien) und einem „benutzerfreundlichen Online-Tool“ zur Bewertung von Angeboten. Hierbei wird nach dem vorgeschlagenen „Bestbieterprinzip“ eine Gewichtung zwischen Qualität und Preis im Verhältnis 60 zu 40 empfohlen (ebda., S. 53 ff.). Das Handbuch findet regelmäßig Erwähnung im Rahmen der Beratungstätigkeit des BDSW, die sich nicht nur an die eigenen Mitglieder, sondern auch an Auftraggeber richtet (s. Abschn. 9.2.2.2).

In Reaktion auf die steigende Nachfrage nach Sicherheitsdienstleistungen zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften – und vielmehr noch: die sich häufenden qualitativen Missstände bei eingesetzten Sicherheitsdiensten (u. a. Böcking 2014; Faigle 2014) – hat der BDSW ab 2014 sukzessive spezifische Positionen für dieses Marktsegment entwickelt und sich damit öffentlich mit Beratungsangeboten an die Einkäufer entsprechender Dienstleistungen gewendet. Nachdem die nordrhein-westfälische Landesregierung zunächst mit einem überhastet entstandenen „8-Punkte-Plan“ (Bezirksregierung Arnsberg 2014) bezüglich neuer Sicherheitsstandards in Flüchtlingsunterkünften an die Öffentlichkeit getreten war,Footnote 33 bot der Branchenverband seine Expertise an und veröffentlichte ein eigenes „12-Punkte-Programm“ (BDSW 2014). Diese Punkte sind kurz darauf in einem mehrseitigen „Positionspapier zum Schutz von Flüchtlingsunterkünften“ (BDSW 2016b) ausgearbeitet und erweitert worden, das auf die Zusammenarbeit in einem eigens eingerichteten internen Fachausschuss ab Juli 2015 zurückgeht (s. Abschn. 9.2.2.2). Das Papier plädiert in einem ersten Schritt für die Erstellung eines objektspezifischen Sicherheitskonzeptes inklusive Gefährdungsbeurteilung im Vorfeld der Dienstleistungserbringung. Im Anschluss werden eine Reihe von Forderungen vorgestellt, die sich u. a. auf die Qualifikation des Personals, Schutzmaßnahmen zur Eigensicherung (4-Augen-Prinzip durch 2 anwesende Sicherheitskräfte), den Personalschlüssel, den (zu verbietenden) Einsatz von Subunternehmen, aber auch die Entlohnung (Orientierung an einschlägigen TariflöhnenFootnote 34) beziehen. Im Anhang seines Positionspapiers führt der Verband eine Empfehlung zur weitergehenden Qualifizierung von Sicherheitsbeschäftigten in Flüchtlingsunterkünften aus und stellt ein „Bi-Modulares Qualifizierungssystem“ vor, welches aus einer Basis-Schulung (49 Unterrichtseinheiten, u. a. Grundlagen interkultureller Kompetenz, Deeskalation, Ersthelfer und Brandschutz) und einer für Führungskräfte erweiterten Schulung (73 Unterrichtseinheiten) besteht (ebda., S. 7).

Inzwischen findet sich auf der Homepage des BDSW eine Broschüre, die sich deutlich an Auftraggeber wendet und für die eigenen Verbandsunternehmen wirbt: „Sicherheitsdienstleister des BDSW – IHRE PARTNER beim Schutz von Flüchtlingsunterkünften“ (BDSW o. J.). Die Broschüre greift wesentliche Positionen des vorab beschriebenen Papiers auf und zeigt ergänzend das Aufgabenspektrum von Sicherheitsbeschäftigten in Flüchtlingsunterkünften auf: Vom Objektschutz über Zugangs-/Zufahrtskontrolle, die Überwachung und Auswertung von Alarm- und Kontrollsystem über Kontrollgänge und die Unterstützung bei Taschengeldauszahlen und Essensausgaben sind 12 verschiedene Teilaufgaben von Sicherdiensten gelistet. In sehr enger Anlehnung an das ‚Bestbieter-Handbuch‘ wird zudem eine Reihe von Empfehlungen bei der Festlegung der Gewichtung Qualität vs. Preis (60:40), der Gewichtung verschiedener Kategorien und schließlich der Angebotsbewertung aufzeigt.

Dass im Sicherheitsdienstleistungsgewerbe auch künftig auf ‚nach außen‘ gerichtete Professionalisierungsstrategien gesetzt werden wird, verdeutlicht ein im Jahr 2020 veröffentlichtes White Paper des europäischen Branchenverbandes CoESS (2020). Darin werden in erster Linie künftige Herausforderungen der Branche (u. a. Bewältigung des demografischen Wandels, Gewinnung und Bindung neuer Fachkräfte) aufgezeigt und entsprechende Handlungsempfehlungen an die Branchenverbände auf nationaler Ebene gerichtet. In diesem Zusammenhang wird auch die besondere Bedeutung von „Informations- und Aufklärungskampagnen für Kunden des öffentlichen und privaten Sektors“ hervorgehoben, die weiterhin auf Basis des ‚Bestbieter-Handbuchs‘ sowie geltender Vergabevorschriften erfolgen soll (ebda., S. 21).

Diese verschiedenen fachlichen Standards und Empfehlungen haben allerdings für sich genommen zunächst keinen verbindlichen Charakter, müssen also von den Vergabestellen nicht angewandt werden. Selbst wo Vergabestellen sie anwenden wollen, gibt es vergaberechtliche Hürden, sie per Bezugnahme in Ausschreibungsunterlagen und Verträgen verbindlich zu machen. Vor diesem Hintergrund hat der DIN-Verein selbst einen Praxisleitfaden in Auftrag gegeben, der häufige Verstöße und rechtssichere Lösungen in Umgang mit DIN-Normen aufführt (Busch et al. 2016). Besonders häufig wird dies mit Beispielen aus dem Bereich der Wach- und Sicherheitsdienstleistungen veranschaulicht.

  • So ist die offenbar häufiger von Vergabestellen angewandte Praxis, als Eignungskriterium eine Zertifizierung der Bieter nach DIN 77200 zu verlangen, unzulässig, solange sie nicht mit dem Zusatz ‚oder gleichwertig‘ versehen wird, da im Rahmen der (üblicherweise) EU-weiten Ausschreibungen gleichwertige Bescheinigungen aus anderen Mitgliedstaaten ebenfalls anerkannt werden müssen.

  • Auch enthält bzw. enthielt die DIN 77200 zum Teil Anforderungen, die sich nicht auf die Ausführung eines konkreten Auftrags bezogen; eine solche Anforderungen ist gemäß des vergaberechtlich vorgeschriebenen ‚Bezugs zum Auftragsgegenstand‘ unzulässig. So enthielt die DIN-Norm in einer älteren Fassung (DIN 77200: 2008-05) die Anforderung, dass der Auftragnehmer „bei Angebotsabgabe seinen Offenlegungspflichten nachkommen und sicherstellen [muss], dass die Sicherheitsmitarbeiter mindestens gemäß den jeweils für den Erfüllungsort anzuwendenden Mantel-, Lohn- und Gehalts-Flächentarifverträgen zwischen Arbeitgeberverband und einer Gewerkschaft nach dem Günstigkeitsprinzip eingesetzt werden“ (DIN 77200: 2008-05, S. 13). Diese indirekte – über eine Zertifizierung nach der DIN-Norm eingeforderte – Anforderung, dass die Bieter unabhängig vom konkreten Auftrag bestimmte nicht-allgemeinverbindliche Tariflöhne zu zahlen hätten, befand ein Urteil des OLG Düsseldorf im Jahr 2010 für unzulässig (Busch et al. 2016, S. 13). Der Passus wurde bei der Überarbeitung der DIN-Norm entsprechend gestrichen; seitdem enthält sie unter dem Abschnitt ‚Beschäftigungsbedingungen‘ lediglich die Anforderung, dass schriftliche Arbeitsverträge zu schließen seien.

  • Auch die Forderung nach Mitgliedschaft in einem bestimmten Berufs- oder Arbeitgeberverband ist unzulässig, wie der Praxisleitfaden unterstreicht (ebda.). Tatsächlich hatte der BDSW zeitweise für die Verwendung der Verbandsmitgliedschaft im BDSW als Eignungskriterium geworben (Interview BDSW Bundesverband, Geschäftsstelle, 4/2017). Dies ist zum Teil auch von der Vergabepraxis so gehandhabt worden, von den Vergabekammern aber für unzulässig erklärt worden (VK Bund v.29.5.2008, VK 2–58/08).Footnote 35

Diese vergaberechtlichen Schwierigkeiten in Bezug auf die informellen Normen dürften mit ein Grund dafür sein, dass der BDSW auch mit Bezug auf die Vergabeprozesse seine Strategien durch ein ‚striving for jurisdiction‘ ergänzt, das den fachlichen Standards zur verbindlichen Anwendung in Vergabeprozessen verhelfen soll. So adressiert der BDSW neben der Vergabepraxis selbst mit seinen Forderungen auch den Gesetzgeber. In einem entsprechenden Papier hat der Verband zuletzt zur Bundestagswahl 2017 (BDSW 2017c) die nächste Bundesregierung dazu aufgefordert, Korrekturen bzw. Ergänzungen in den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen vorzunehmen. Darin fordert der BDSW etwa die „zwingende Berücksichtigung von Qualitätskriterien und der DIN- Zertifizierung“ oder auch eine „Änderung der Kannvorschrift zur Ablehnung des Zuschlags von ungewöhnlich niedrigen Angeboten in eine Mussvorschrift“ (ebda., S. 11). Auch in seinem Positionspapier zu einem eigenen Sicherheitsdienstleistungsgesetz hat der BDSW zudem gefordert, bei besonders sensiblen Einsatzbereichen (u. a. Flüchtlingsunterkünfte) Regelungen zu schaffen, „nach denen eine angemessene Gewichtung von Qualität und Preis, beispielsweise im Verhältnis 60 zu 40 %, zu erfolgen hat“ (BDSW 2019).

3.2 Professionalisierung durch Verordnungen und Verbraucherschutzverbände: Der Fall Schulverpflegung

Im Bereich der Schulverpflegung spielen die Verbände der Sozialpartner eine geringere Rolle. Zwar haben der europäische Dachverband der Arbeitgeber (FoodServiceEuropa; zuvor: FERCO) und der Gewerkschaftsverband EFFAT (European Federation of Food, Agriculture and Tourism Trade Unions) erstmals im Jahr 2006 dem Beispiel von anderen Branchen folgend gemeinsam einen „Leitfaden zum wirtschaftlich günstigsten Angebot in der Gemeinschaftsverpflegung“ (EFFAT und FERCO 2006) veröffentlicht. Er wurde im Jahr 2019 auf Grundlage der Vergaberichtlinie 2014/24/EU überarbeitet und in 9 Sprachen übersetzt (FoodServicesEuropa und EFFAT 2019). Inhaltlich ist dieser Leitfaden ähnlich umfassend wie das europäische Handbuch der Sozialpartner für die Sicherheitsdienstleistungen: Als „zu berücksichtigende Qualitätskriterien“ werden hier sowohl Aspekte aufgeführt, die sich auf die Qualität der Lebensmittel und der Zubereitungsprozesse beziehen, als auch auf die Qualifikation des Personals und seiner Arbeitsbedingungen. Anders als im Falle des Sicherheitsgewerbes fehlt allerdings in Deutschland ein Arbeitgeber- oder Berufsverband, der an der Verbreitung und Umsetzung dieser Empfehlungen und Handlungshilfen mitwirkt.

Innerhalb des Arbeitgeberverbandes DEHOGA gibt es zwar zwei Fachabteilungen (‚Catering‘ und ‚Gemeinschaftsverpflegung‘), die sich als Sprachrohr für die Unternehmen der beiden (überlappenden) Segmente gegenüber der Öffentlichkeit und Politik versteht. Das Segment Kita- und Schulverpflegung macht aber nur einen kleinen Teil des Umsatzes von Cateringunternehmen aus (DEHOGA 2017), zumal unter den Mitgliedern der DEHOGA; der Schwerpunkt liegt dort überwiegend auf der Betriebsgastronomie. Eigene Leitfäden zur Qualität des Essens in der Kita- und Schulverpflegung oder zur qualitätsvollen Auftragsvergabe lassen sich daher nicht finden; ebenso wenig eine Bezugnahme auf den Leitfaden der europäischen Sozialpartner-Organisationen.

Möglicherweise liegt die Zurückhaltung hier allerdings auch darin begründe, dass im Gegenzug zahlreiche andere staatliche und halbstaatliche Organisationen die Verbesserung der Qualität der Essensverpflegung in Schulen und Kindergärten zum Ziel haben. Das sind unter anderem Ministerien; spezialisierte ‚Kompetenzzentren‘ für die Gemeinschaftsverpflegung (u. a. KERN 2019); allen voran aber die Vernetzungsstellen Schulverpflegung (VNS) sowie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE). Grundlegende Impulse in Form von Fördermaßnahmen und Vernetzungsaktivitäten gingen dabei von der Initiative „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ (https://www.in-form.de/) aus, die 2008 als ‚Nationaler Aktionsplan‘ unter Federführung des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und des Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ins Leben gerufen wurde. So sind die Vernetzungsstellen Schulverpflegung (VNS)Footnote 36 vom BMEL zusammen mit den Bundesländern als eine Initialmaßnahme des Nationalen Aktionsplans eingerichtet worden. Sie beraten und unterstützen Schulen beim Aufbau und Weiterentwicklung der Mittagsverpflegung im Interesse einer gesunden Ernährung der Schülerinnen und Schüler und lassen sich insofern als staatlich finanzierte, schulspezifische Verbraucherschutz-Organisationen bezeichnen. Vorläufer dieser Einrichtungen war die Vernetzungsstelle in Berlin, die ihrerseits aus einer Elterninitiative hervorgegangen ist. Die Koordination der mittlerweile insgesamt 16 Vernetzungsstellen übernahm das im Jahr 2017 vom BMEL eingerichtete Nationale Qualitätszentrum für Kita- und Schulverpflegung (NQZ) in Berlin, das „bestehende Maßnahmen und Initiativen rund um gutes Schul- und Kitaessen koordinieren, Qualitätsstandards und Konzepte zu Qualitätsnachweisen bei Caterern weiterentwickeln sowie relevante Zielgruppen für hochwertige Ernährung und den Stellenwert der Ernährungsbildung sensibilisieren“ soll (BMEL 2016, zitiert nach Kuttenkeuler 2018, S. 48).

Die verschiedenen Organisationen haben mittlerweile eine Vielzahl von Leitfäden veröffentlicht, die sich zum Teil ausschließlich auf die Qualität der Schulverpflegung beziehen, zum Teil auch auf die Vergabeprozesse.Footnote 37 Als wichtigster Standard, auf den sich auch die Leitfäden vielfach beziehen, hat sich der DGE-Qualitätsstandard etabliert. Die DGE ist eine bereits 1953 gegründete wissenschaftliche Fachgesellschaft, die zu 70 % aus öffentlichen Mitteln von Bund und Ländern finanziert wird. Neben der ernährungswissenschaftlichen Forschung ist auch die Ernährungsberatung Organisationsziel. Zentral für die Schulverpflegung sind dabei die von ihr entwickelten ‚Qualitätsstandards für die Schulverpflegung‘, die sie im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) erstellt hat, und die aktuell in der 5. Auflage vorliegen (DGE 2020). Er formuliert Anforderungen in Bezug auf die Zusammensetzung der eingesetzten Lebensmittel, Zubereitungsweisen, Hygienemanagement, Umgang mit Allergenen, oder die Gestaltung von Essensräumen und Essenszeiten. Dieser Standard hat formal nicht den Charakter einer DIN-Norm, faktisch nehmen jedoch nach unserer eigenen Auswertung von Ausschreibungsunterlagen (s. Anhang A-5) sehr viele Ausschreibungen Bezug auf diesen Standard. Darüber hinaus hat die DGE auch ein Zertifikat entwickelt („Schule + Essen = Note 1“), mit dem Schulen dokumentieren können, dass ihr Verpflegungskonzept die Anforderungen des DGE-Qualitätsstandards erfüllt.Footnote 38

Steigende Anforderungen an die Qualität der Dienstleistungen in der Schulverpflegung resultieren darüber hinaus auch aus dem Lebensmittelrecht und hygienerechtliche Vorschriften, die ebenfalls stark durch europäische Vorgaben geprägt ist (Hönig 2016; DGE 2020, S. 69 ff.). Das europäische Lebensmittelrecht definiert auch die kommunalen Verwaltungen, also die Schulträger als ‚Lebensmittelunternehmen‘, sofern sie die Schulverpflegung selbst durchführen, und legt ihnen erhebliche Pflichten auf (Kuttenkeuler 2018, S. 38 ff.) – etwa zur Einführung eines betrieblichen Eigenkontrollsystems mit Dokumentationspflicht, das auf den ‚Hazard Analysis and Critical Control Points (HACCP)‘-Grundsätzen beruht. Die einzelnen Schritte dieses mehrstufigen Eigenkontrollsystems gibt die einschlägige EU-Verordnung detailliert vor (Kuttenkeuler 2018, S. 43 ff.). Allein mit diesen gesetzlichen Bestimmungen dürfte für Schulträger ein erheblicher Anreiz vorliegen, die Schulverpflegung an externe Anbieter zu vergeben, die dann die Hauptverantwortung als ‚Lebensmittelunternehmen‘ tragen. Schließlich ergänzen mehrere Leitfäden der EU und DIN-Normen die gesetzlichen Bestimmungen zum Lebensmittel- und Hygienerecht.

Inhaltlich liegt der Fokus bei den genannten formellen und informellen Normen auf den Themen Lebensmittelsicherheit und gesunde Ernährung; darüber hinaus nimmt auch das Thema Nachhaltigkeit einigen Raum ein, worunter vor allem der Einsatz von ökologisch, regional und saisonal erzeugten Lebensmitteln sowie fair gehandelten Produkten, der Verzicht auf umweltschädliche Verpackungen, die Verringerung von Essensresten, und weitere Maßnahmen bei Einkauf und Zubereitung zur Verringerung von Treibhausgasemissionen verstanden werden (z. B. DGE 2020, S. 25 ff.). im Vergleich zum Bestbieter-Handbuch der europäischen Sozialpartner, oder auch zur DIN-Norm für die Sicherheitsdienstleistungen, spielen Qualifikation und Beschäftigungsbedingungen des Personals dabei eine geringe Rolle. Für Beschäftigte unterhalb der Leitungsebene wurde noch in der Auflage von 2014 in erster Linie auf eine verpflichtende Belehrung zum Infektionsschutzgesetz und Kurz-Schulung (1 Tag) zur Lebensmittelhygiene hingewiesen, sowie eine unspezifische Empfehlung für ‚Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen‘ ausgesprochen (DGE 2014, S. 34). Mit der aktuellen 5. Auflage wird auch für die Küchen- und Ausgabekräfte unterhalb der Leitungsebene eine „einschlägige Berufsausbildung“ empfohlen; alternativ eine Anlernung durch qualifizierte Beschäftigte. Explizit stellt der Leitfaden dabei auch erstmals eine Beziehung zwischen der Qualität der Mittagsverpflegung und der Qualifikation der Beschäftigten her: Deren „Fähigkeiten und Wissen“ helfe eine „gleichbleibende Verpflegungsqualität zu sichern“; zudem trügen kommunikative Kompetenzen und ein freundliches Auftreten der Beschäftigten „maßgeblich zur Akzeptanz der Verpflegung bei den Schüler*innen bei“ (DGE 2020, S. 20). Der neue Standard benennt dabei auch konkrete Themen für Schulungs- und Weiterbildungsangebote (etwa „Basiswissen Allergenmanagement“; oder „Kommunikation und Umgang mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersgruppen und Wahrnehmung dieser als Gäste“ (ebda.)). Zudem werden hier erstmals auch Arbeitsbedingungen thematisiert – eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung sowie „Wertschätzung“ im Umgang mit den Beschäftigten, die die Motivation und Zufriedenheit der Beschäftigten stärken soll und auch in einer (nicht näher spezifizierten) „gerechten Vergütung“ zum Ausdruck kommen soll (ebda., S. 21).

Mit der jüngsten Auflage bestimmt also auch der maßgebliche fachliche Standard in der Schulverpflegung zumindest im Grundsatz die Qualifikationen und Arbeitsbedingungen des Personals zum Baustein einer ‚guten‘ Dienstleistung – wenn auch mit deutlich geringerer Traglast als im Falle der Sicherheitsdienstleistungen. Dies unterstreicht erneut, dass die neuen fachlichen Standards für gute Dienstleistungen durchaus Anknüpfungspunkte für soziale, beschäftigtenbezogene Kriterien bieten; insbesondere im Bereich der Schulverpflegung bleiben sie aber bislang ‚entfernte Verwandte‘.

4 Fazit: Das neue Leitbild des ‚Guten Dienstleisters‘ – Türöffner für soziale Kriterien?

Die verschiedenen Ansätze zur Professionalisierung des öffentlichen Einkaufs und der beschafften Dienstleistungen selbst haben eine Reihe von ergänzenden Normen hervorgebracht, die parallel zur Gesetzesentwicklung einer einseitigen Ausrichtung der Auftragsvergabe an Sparsamkeit und Wettbewerbsprinzip entgegensteuern. Diese Bestrebungen haben unterschiedliche geistige Wurzeln (v. a. die Debatte um ökologische Nachhaltigkeit; New Public Management), dienen unterschiedlichen Interessen (von Produzenten und Konsumenten öffentlicher Dienstleistungen) und setzen unterschiedliche inhaltliche Akzente. In der Summe zeichnen sich jedoch hier die Konturen eines neuen Leitbildes ab, das sich aus zwei Bausteinen zusammensetzt, nämlich aus den branchenspezifischen Standards guter Dienstleistungen und aus dem Standard der strategischen Beschaffung. Zum einen formuliert es höhere Ansprüche an die beschafften Güter und Dienstleistungen, die über das Ziel einer bloßen Bedarfsdeckung hinausgehen – zugunsten der ‚Kunden‘ der öffentlichen Dienstleistungen (Standards guter Dienstleistungen) oder zugunsten übergreifender wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ziele (‚sekundäre‘ Ziele). Als Mittel zu diesem Zweck werden zum zweiten die Beschaffungsprozesse selbst neujustiert (Standard der strategischen Beschaffung). Für dieses durchaus kohärente neue Leitbild schlagen wir den Ausdruck des Staates als ‚Guter Dienstleister‘ vor.

Insbesondere im Standard der strategischen Beschaffung schlägt sich in vergabespezifischer Weise die Ökonomisierung des öffentlichen Sektors in Gestalt einer Reorganisation des Verwaltungshandelns unter Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Konzepte nieder. Auch hier gilt aber tendenziell, dass diese Binnenmodernisierung der Verwaltung im Ergebnis eher dem Modell des ‚Neo-Weberianischen Staates‘ (NWS) (Pollitt und Bouckaert 2011) entspricht, in dem traditionelle bürokratische Prozeduren weniger durch Marktmechanismen ersetzt werden, als durch eine konsultative und professionalisierte Variante hierarchischer Steuerung. Eine Pointe ist, dass sich diese Form der Ökonomisierung explizit auch als Gegenentwurf oder zumindest Korrektiv einer zu stark vermarktlichten Auftragsvergabe versteht – insofern ein unbeschränkter Preiswettbewerb nicht als kompatibel mit dem Ziel gilt, Güter und Dienstleistungen zu beschaffen, die den höheren Ansprüchen an Qualität und erweiterten gesellschaftlichen Nutzen genügen.

Damit wahrt das neue Leitbild eine gewisse Distanz zu den Kernzielen der verrechtlichten Vermarktlichung – oder, wenn man so will, zum Leitbild des Staates als ‚Hüter des Wettbewerbs‘, dessen Auftrag der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse sowie zunehmend auch der Schutz des Wettbewerbs als Institution ist (s. Kap. 3) – und ordnet sie funktional unter, stellt sie also unter den Vorbehalt ihrer Kompatibilität mit seinen primären Zwecken, nämlich der effizienten Beschaffung ‚guter‘ Leistungen. Auch zur Sozialpolitisierung – oder, wenn man so will, zum Leitbild des Staates als ‚Guter Auftraggeber’, das die Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen bei den beauftragten Firmen zum Kernziel hat – wahrt das neue Leitbild eine gewisse Distanz, wenn auch auf andere Weise: Im Grundsatz werden diese sozialen Ziele als Teil der Wertefamilie der strategischen Ziele eingemeindet, bleiben innerhalb dieser Wertefamilie jedoch am Rand und stehen damit eher in einer Art ‚entfernten Wahlverwandtschaft‘ zu den Kernnormen des neuen Leitbildes. Das gilt insbesondere für den ersten Baustein, den Standard der ‚strategischen Beschaffung‘, welcher in erster Linie auf eine Befähigung der öffentlichen Auftraggeber zielt, aus dem breiten Kanon der ‚strategischen Ziele‘ die für sie passenden Ziele auszuwählen und anzuwenden, konkrete Unterstützung in Form von Handlungshilfen aber auf andere ‚strategische Ziele‘ konzentriert.

In jüngster Zeit haben sich jedoch die sozialen Ziele insgesamt, und darin wiederum auch die Arbeitsbedingungen, langsam vom absoluten Rand etwas in Richtung Bildmitte bewegt – etwa im neuen ‚Buying-Social‘-Leitfaden der europäischen Kommission, oder, wenngleich nur sehr ansatzweise, im Standard der ‚guten‘ Schulverpflegung. Einen deutlich höheren Stellenwert nehmen Qualifikationen und Arbeitsbedingungen bereits seit längeren im Standard guter Dienstleistungen für das Wach- und Sicherheitsgewerbe ein, auch hier im Sinne einer funktionalen Eingliederung – sie gelten als Voraussetzungen für die Produktion guter Dienstleistungsqualität.

Deutlich tritt bei diesen Prozessen zur Produktion informeller Normen der politische Charakter der Professionalisierung hervor. Das gilt zum einen für die daran beteiligten Akteure: Im Unterschied zu den klassischen Professionalisierungsprozessen sind nicht in erster Linie Berufsverbände die treibenden Kräfte hinter den Bestrebungen, fachliche Standards zu etablieren, sondern supranationale Behörden, weitere (halb-)staatliche und öffentlich finanzierte Akteure, sowie, vor allem im Falle der Sicherheitsdienstleistungen, auch die Verbände der Sozialpartner, insbesondere der Arbeitgeber.

Diese Akteure verfolgen durchaus Partikularinteressen, die von denen anderer Akteure abweichen. Die Europäischen Kommission etwa scheint mit ihrer Professionalisierungsstrategie zumindest ursprünglich auch das Ziel verfolgt zu haben, ihre eigene Position, die sie in den kontroversen Auseinandersetzungen rund um die europäische Vergaberechtsreform vertreten hat, nun auch über das Soft law an die Verwaltungspraxis heranzutragen und damit ihre Berücksichtigung sicherzustellen. Damit gibt die Kommission ihre bisherige Strategie zur Durchsetzung ihrer Richtlinien-Interpretation mithilfe rechtlicher Interventionen nicht auf, sondern ergänzt sie durch Überzeugungsarbeit. Zugleich entzieht sich die Dynamik bei der Produktion dieses Soft law der Kontrolle der Generaldirektion Binnenmarkt, zumal infolge der starken Politisierung des Themas rund um die Vergaberechtsreform nun auch im Nachgang zur Reform weitere Akteure dabei eingebunden werden (müssen), die das neue europäische Recht in Bezug auf die Berücksichtigung sozialer Kriterien expansiver ausdeuten. Auf diese Weise erhält im Soft law der EU auch die Verankerung von Tarifverträgen und anderen Lohnstandards etwas mehr Raum, obwohl sich im europäischen Vergaberecht durch die Reform dazu wenig geändert hat.

Damit entsprechen diese Prozesse zur Produktion des vergabespezifischen Soft law nur auf den ersten Blick den Entscheidungsprozessen vom Typ der de-politisierten ‚private interest governance‘, die den Kern jener ‚quiet politics‘ ausmachen, welche die größten Durchsetzungschancen für die Interessen mächtiger Lobbyisten aus der Wirtschaft bieten (Culpepper 2011). Zwar genießen diese Entscheidungsprozesse in der Tat wenig öffentliche Aufmerksamkeit über die Grenzen der fachlichen Gemeinde aus Expert*innen in Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft hinaus, die fachliche Gemeinde ist jedoch nicht homogen und geschlossen. Zudem verlaufen die Entscheidungsprozesse zum Teil durchaus nach vergleichsweise formellen konsultativen Verfahren – das gilt für den ‚Buying-Social‘-Leitfaden der EU, aber auch für die DIN-Normen im Bereich Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen. Schließlich trifft zwar zu, dass auf diesem Feld des Soft law auch die Akteure der Wirtschaft darum ringen, informelle Regeln zu etablieren, die mit ihren eigenen Interessen kompatibel sind und so den Erfolg des eigenen Geschäftsmodells sichern (Fligstein 1996). Deutlich unterstreicht dieses Beispiel jedoch auch die Interessenheterogenität innerhalb ‚der‘ Wirtschaft, die, wie in der Einleitung zum Buch thematisiert, der De-Politisierung auch komplexer verteilungspolitischer Entscheidungen Grenzen setzt. Während ein Teil der Wirtschaftsverbände, die rund um die europäische Vergaberechtsreform auf der Linie der Europäischen Kommission lagen (wie z. B. der BDI, s. Abschn. 4.2), sich auch bei dieser informellen Normproduktion durch die Europäische Kommission vertreten sehen dürfte, bringen andere Verbände hier aktiv ihre etwas anders gelagerten Vorstellungen zu einer Marktordnung ein, die teilweise zumindest den gemeinsamen Interessen von Arbeitgebern und Beschäftigten entsprechen.

Am deutlichsten kommen diese ‚klassenübergreifenden Koalitionen‘ zugunsten einer stärker (preis-)wettbewerbsbeschränkenden Auftragsvergabe in den gemeinsamen Stellungnahmen und ‚Bestbieter-Handbüchern‘ der europäischen Dachverbände der Sozialpartner in beiden betrachteten Branchen zum Ausdruck – auch wenn diese auf nationaler Ebene dann im Wesentlichen allein von den Arbeitgeberverbänden im Wach- und Sicherheitsgewerbe aufgegriffen und verbreitet werden. In wichtigen Punkten stoßen diese und weitere Strategien des Arbeitgeberverbands allerdings an die harten Grenzen des Vergaberechts. So scheitert etwa die Einführung einer impliziten Tariftreue über den Umweg einer Zertifizierungspflicht nach DIN-Normen, welche eine Verbandsmitgliedschaft im Arbeitgeberverband zur Voraussetzung erheben. Das Soft law kann insofern auch keine neuen rechtlichen Spielräume schaffen, sondern nur eine maximale Ausschöpfung rechtlicher Handlungsmöglichkeiten unterstützen.

Die Differenzen zwischen den verschiedenen Standardisierungs- und Professionalisierungs-Strategien sollten aber auch nicht überzeichnet werden. Ihr Ergebnis ist ein vielfältiges Soft law, das weite Übereinstimmungsbereiche aufweist und gewissermaßen als kleinsten gemeinsamen Nenner das Leitbild des Staates als ‚Guter Dienstleister‘ besitzt. Konkret bedeutet dies, dass die Eindämmung von (Preis-)Wettbewerb zugunsten von Qualität und ‚strategischen‘ Ziele nicht nur als a) legitim gilt, sondern auch b) in der Praxis eine aktive Unterstützung durch eine breite Expertise-Infrastruktur rechtfertigt, und dass außerdem c) auch soziale Ziele grundsätzlich als funktional, also zweckmäßig für das übergreifende Ziel einer höheren Dienstleistungsqualität und/oder eines höheren gesellschaftlichen Nutzens der gekauften Produkte und Dienstleistungen zählen. Insofern lässt sich das neue Leitbild durchaus als ‚Türöffner‘ auch für soziale Kriterien bezeichnen – um auf die im Titel des Kapitels angerissene Frage zu antworten; wenngleich der Türspalt gerade für die Arbeitsbedingungen noch deutlich dünner ist als für andere Kriterien.