Die stärkere Akzentuierung des Wettbewerbsprinzips wurde von Beginn an durch Konflikte und zum Teil gegenläufige Entscheidungen begleitet, welche um die Frage kreisten, inwieweit die Verfolgung von sogenannten ‚sekundären‘, ‚horizontalen‘, ‚strategischen‘ Zielen oder NachhaltigkeitszielenFootnote 1 im Rahmen der wettbewerblichen Vergabe von öffentlichen Aufträgen zulässig sei. Die Befürworter*innen einer ökologisch und sozial nachhaltigen Auftragsvergabe haben zwar mit der letzten europäischen Vergaberechtsreform (2014) und ihrer Umsetzung in nationales Recht (in Deutschland: 2016) nach einem weithin geteilten Konsens einen wichtigen Etappensieg errungen. Das Ringen um den Stellenwert von Nachhaltigkeitszielen ist aber bis heute nicht zum Abschluss gekommen.

Die Konfliktlinie verlief dabei keineswegs allein zwischen europäischer Ebene und den Mitgliedsstaaten. Vielmehr waren auf beiden Seiten europäische Institutionen, politische und gesellschaftliche Akteure innerhalb der Mitgliedsstaaten und auch transnationale Akteure involviert, und der Konflikt wurde sowohl auf der Ebene der europäischen als auch der nationalen Gesetzgebung und Rechtsprechung geführt. Um diese Konflikte und Konfliktlösungen an den verschiedenen Schauplätzen des europäischen Mehrebenen-Systems soll es nun in diesem Kapitel gehen. Die Analyse gibt sowohl Aufschluss über den aktuellen Stand der ‚Sozialpolitisierung‘ der Auftragsvergabe auf gesetzlicher Ebene, als auch über die zugrundeliegenden Ursachen und Dynamiken, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Die Frage nach den Triebkräften für die Gesetzesentwicklung, wie auch die nach den Ergebnissen berühren dabei den Kern einer umfassenden rechts- und politikwissenschaftlichen Debatte zum Einfluss der europäischen Rechtsprechung auf die Politik der Mitgliedstaaten. Diese hilft auch die Entwicklungen in der Vergabepolitik zu verstehen. Daher geht der nachfolgende Abschnitt zunächst auf diese Debatte ein, bevor wir uns der eigenen Analyse der vergabepolitischen Gesetzgebung auf europäischer Ebene (s. Abschn. 4.2. und 4.3) und auf nationaler Ebene (s. Abschn. 4.4.) zuwenden.

1 Juridische Europäisierung und Gegenbewegungen – Thesen und Befunde zum Einfluss des Europäischen Gerichtshofs

Die Forschung zur (top-down-)Europäisierung durch das europäische Sekundärrecht befasst sich bereits seit längerem mit Ausmaß, Formen und Ursachen von ‚Non-Compliance‘ bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in nationale Gesetze und bei der effektiven Anwendung und Durchsetzung dieser Gesetze (u. a. Falkner et al. 2009; Thomson 2010; Thomann und Sager 2017). Ähnliches gilt in jüngerer Zeit für die juridische Europäisierung, also für die Änderungsimpulse, die von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf Basis des europäischen Primärrechts einhergehen. Wie oben gesehen, ist diese auch für das Vergaberecht von hoher Bedeutung. In der Literatur stehen sich dabei verschiedene Sichtweisen zur Autonomie des EuGHs und zu seinem Einfluss auf die Gesetzgebung gegenüber.

Ein Teil der Literatur unterstreicht, dass und wie die Rechtsprechung des EuGH auf direkte und indirekte Weise die Gestaltungsfreiheit von europäischen und nationalen Gesetzgebern beschränkt – etwa darüber, dass die Rechtsprechung in nachfolgenden europäischen Richtlinien kodifiziert wird, dass sie die Rechtsprechung nationaler Gerichte bindet, oder dass die von den Urteilen erzeugte rechtliche Unsicherheit nationale Gesetzgeber zu Gesetzesänderungen in ‚vorauseilendem Gehorsam‘ oder im Gegenteil zum Verzicht auf geplante Gesetzesanpassungen bewegt (Blauberger 2014; Blauberger und Schmidt 2017; Schmidt 2018; Höpner und Schmidt 2020). Damit wendet sich die Argumentation auch gegen die ‚intergouvernementalistische‘ Sichtweise, dass die Rechtsprechung des EuGHs ihrerseits die Interessen der Mitgliedsländer widerspiegelt, auch weil sie deren Fähigkeit zur Nicht-Befolgung (‚non-compliance‘) politisch unerwünschter Urteile oder zur Überschreibung (‚override‘) ihrer Urteile durch Änderungen der europäischen Verträge oder der Sekundärrichtlinien antizipiert (Conant 2002; Carruba et al. 2012; Larsson und Naurin 2016). Die Quasi-Konstitutionalisierung der europäischen Verträge, wie auch die Mehrheitserfordernisse für gemeinsame Entscheidungen, lasse jedoch, so die Gegenargumentation, den Mitgliedstaaten faktisch kaum Spielraum, die Gerichtsurteile zu ignorieren oder zu überschreiben (Scharpf 2010; Stone Sweet und Brunell 2012; Blauberger und Schmidt 2017). Selbst wo einzelne Urteile zum Zeitpunkt ihrer Entstehung kompatibel mit den Interessen der Mitgliedsstaaten sein mögen, entfalten sie über die genannten Mechanismen auch Langzeitwirkungen und werfen so einen „langen Schatten“ auf die nationale und supranationale Gesetzgebung (Schmidt 2015, 2018).

Demgegenüber haben andere Studien verschiedene Formen der Gegenwehr und Ausweichbewegungen in Reaktion auf Entscheidungen des EuGHs identifiziert, die sich zum Teil auch im Zwischenbereich von ‚Kodifizierung‘, ‚Non-Compliance‘ oder ‚Überschreibung‘ bewegen (Martinsen 2015; Hofmann 2018). Diese Strategien im Zwischenraum von Abwehr und ‚Eins-zu-eins‘-Umsetzung zielen darauf, die realen Auswirkungen kontroverser EuGH-Urteile einzudämmen. So argumentiert Martinsen, dass auch für die Variante der Kodifizierung auf europäischer Ebene hohe institutionelle Hürden – in Gestalt von Mitspracherechten von Kommission, Rat und Europäischem Parlament – zu überwinden sind (Martinsen 2015, S. 1635; s. auch Wincott 2001). Ihrer empirischen Analyse zufolge lassen sich daher die gesetzlichen Folgen von zahlreichen EuGH-Urteilen eher dem Muster der ‚Modifizierung‘ zuordnen, bei der das neue Gesetz nur partiell dem Urteil folgt, „in the continuous attempt to maintain national control and decide on the balance between social rights and free market“ (Martinsen 2015, S. 1647). In ähnlicher Weise beschreibt Hofmann verschiedene Formen des Widerstands „below the threshold of non-compliance“, mit denen es den Mitgliedstaaten gelingt, die Wirkung umstrittener Urteile auf einem Niveau zu halten “to what national policy-makers would find an acceptable level“ (Hofmann 2018, S. 270). In dieser Perspektive liegt das Augenmerk daher auch in hohem Maße auf den Akteuren und Interessenkonstellationen auf nationaler Ebene, die die gesetzlichen Reaktionen beeinflussen und zum Teil erhebliche Policy-Varianz zwischen den Mitgliedsstaaten hervorbringen.

Allerdings haben auch die Arbeiten, die den Einfluss des Europäischen Gerichtshofs höher gewichten, eine Reihe von Anpassungsreaktionen identifiziert, die jenseits von Kodifizierung, Nicht-Befolgung und Überschreiben liegen – etwa kompensatorische Maßnahmen, um die ursprünglichen politischen Ziele mit anderen, europarechtlich kompatiblen Mitteln weiterzuverfolgen (ausführlich Schmidt 2018, S. 197 ff.; s. auch Blauberger 2012, 2014). Zudem heben auch diese Arbeiten hervor, dass und wie Eigeninteressen von Europäischer Kommission und Akteuren auf nationaler Ebene als Filter bei der Anpassung von europäischer und nationaler Politik an das europäische Fallrecht wirken (s. auch Schmidt 2012; Seikel 2015).

Die Ansätze weisen daher mehr Gemeinsamkeiten auf, als die oftmals kontrastierende Darstellung beider Ansätze in der Literatur vermuten lässt. Dies veranschaulicht auch unsere eigene nachfolgende Analyse zur Sozialpolitisierung der Vergabepolitik auf europäischer und nationaler Ebene. Sie trägt zudem dazu bei, Verbindungslinien zwischen beiden Ansätzen aufzuzeigen, indem sie illustriert, dass der „lange Schatten“ des europäischen Fallrechts (Schmidt 2015) einerseits die nachfolgende Gesetzgebung auf europäischer und nationaler Ebene substantiell beschränkt hat, zugleich aber auch die Herausbildung genuiner Gesetzesinnovationen unterstützt hat, die sich aus diesem Schatten heraus bewegen, und die ihrerseits wieder Rückwirkungen auf Rechtsprechung und Gesetzgebung haben (s. auch Refslund et al. 2020). Um die Dialektik dieser Entwicklung vollständig zu erfassen und ihre Hintergründe zu verstehen, ist die von Susanne Schmidt entwickelte Langzeitperspektive mit ihrer Unterscheidung indirekter und direkter Effekte des europäischen Fallrechts hilfreich. Sie bedarf jedoch der Erweiterung um Eigendynamiken des politischen Wettbewerbs sowie, jedenfalls im Falle der Vergabepolitik, der Auseinandersetzungen in den traditionellen Arenen der industriellen Beziehungen.

2 Kodifizierung von Kompromissen: Europäische Vergaberichtlinien und der ‚lange Schatten‘ der EuGH-Rechtsprechung

Die sukzessive Öffnung der europäischen Vergaberichtlinien für soziale Kriterien begann Ende der 1980er Jahre und folgte zunächst weitgehend dem Muster der Kodifizierung, wie sie von der Literatur zur juridischen Europäisierung beschrieben wurde. Allerdings mit zwei Besonderheiten, wie wir im Folgenden zeigen: nämlich erstens, dass die EuGH-Rechtsprechung eine solche Öffnung zugunsten von Nachhaltigkeitszielen unterstützt und in dieser Hinsicht damit nicht Motor, sondern Bremse noch marktliberalerer Auslegungen der EU-Verträge durch die Europäische Kommission und andere Akteure ist. Und zweitens, als Folge dessen, dass die Reformen der neuen Vergaberichtlinien in den Jahren 2004 und 2014 einen Kompromiss kodifizieren zwischen den beiden widerstreitenden Positionen und eine einseitige Ausrichtung an Marktöffnung und Wettbewerbsprinzip damit korrigieren – die inhaltliche Richtung der Kodifizierung ist hier also eine andere.

In einer Reihe von Urteilen hatte sich der Europäische Gerichtshof seit dem Ende der 1980er Jahre mit der Zulässigkeit von ökologischen und sozialen Zwecken bei der öffentlichen Auftragsvergabe befasst:

  • In seinem Urteil zur Rechtssache ‚Beentjes‘ (C-31/87) aus dem Jahr 1988 befand der EuGH erstmals Auflagen zur Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen als grundsätzlich zulässig.

  • In der Rechtssache ‚Nord-Pas-de-Calais‘ (C-225/98) aus dem Jahr 2000 erkannte der EuGH zudem ausdrücklich an, dass soziale Zwecke – in diesem Fall Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung – auch als Zuschlagskriterien zulässig seien.

  • In zwei weiteren Urteilen – Rechtssache ‚Concordia Bus Finland‘ (C-513/99) und ‚Wienstrom‘ (C-448/01) – stufte der EuGH zudem ökologische Auflagen und Kriterien als grundsätzlich zulässig ein.

  • In einem späteren Urteil aus dem Jahr 2012 schließlich erweiterte der EuGH die Möglichkeiten zur Berücksichtigung von ‚Fair-Trade‘-Kriterien (Rechtssache ‚Max Havelaar‘, C-368/10).

Die Verfahren waren ihrerseits zum Teil von der Europäischen Kommission, zum Teil von einzelnen Unternehmen in verschiedenen europäischen Ländern initiiert worden, um entsprechende nachhaltigkeitsorientierte Vergabepraktiken in den Mitgliedstaaten zu Fall zu bringen.

Wenngleich der Europäische Gerichtshof in anderen Fällen auch explizite Grenzen für die Berücksichtigung sekundärer Ziele setzte (Barnard 2017, S. 2131 f.), hat er in den oben genannten Urteilen noch restriktivere Interpretationen der Vergaberichtlinien und des Primärrechts, wie sie von der Generaldirektion Binnenmarkt der Europäischen Kommission vertreten worden waren, zurückgewiesen (Caranta 2010; Kunzlik 2013). So wendete sich der Gerichtshof in ‚Concordia‘ insbesondere gegen die Interpretation, dass zusätzliche Zuschlagskriterien jenseits des Preises nur zulässig seien, wenn diese einen direkten wirtschaftlichen Vorteil für den Auftraggeber mit sich bringen. Ebenso wies der Gerichtshof die Auffassung zurück, dass Leistungsbeschreibungen und Auswahlkriterien lediglich Anforderungen stellen dürften, die sich auf die Nutzungseigenschaften des Produktes oder der Dienstleistung bezogen, nicht auf den Produktionsprozess. Beide Klarstellungen erweitern die Möglichkeiten für die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Zwecke deutlich (Kunzlik 2013; Semple 2016, S. 58 ff.). Zugleich zog der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache ‚Wienstrom‘ mit dem Vorbehalt, die Kriterien müssten grundsätzlich mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen (‚link to the subject matter‘) eine wichtige Grenze ein, die für die weitere gesetzliche Entwicklung folgenreich sein sollte (Semple 2016, S. 58 ff.).

Es gehört somit zu den Paradoxien der Geschichte, dass die rechtlichen Verfahren, die von der Kommission zwecks Durchsetzung einer stärker wettbewerblichen Auftragsvergabe ins Leben gerufen wurden, auch der Verankerung ökologischer und sozialen Kriterien auf europäischer Ebene die Tür öffneten. Die „strategic litigation“ (Kelemen 2011), mithilfe derer Kläger unter Berufung auf europäisches Recht bestehende wettbewerbsbeschränkende Regeln und Praktiken in den Mitgliedstaaten zu Fall bringen wollten, erwies sich damit als Bumerang. Mit Goethes ‚Zauberlehrling‘ formuliert, hat die Kommission mit dem Bieterschutz einen Geist gerufen, den sie nicht wieder los wurde, und der aus Sicht des Wettbewerbsschutzes mindestens zwiespältige Ergebnisse produzierte. Daher heben Sack und Sarter (2018a) in Abgrenzung zur These der juridischen Europäisierung durch den EuGH ‚von oben‘ hervor, dass die explizite Öffnung für soziale und ökologische Kriterien in dieser ersten Phase ein ‚bottom-up’-Prozess war: „local debates and practices proved to be of high importance in this field. (…) As these local practices of socially responsible public procurement became judicially contested by bidders they triggered the judicial assessment and balancing of norms by the superior judicative authority and initiated the opening up of public procurement to the inclusion of social considerations via case law.” (Sack und Sarter 2018a, S. 379).

Gleichwohl waren die ‚bottom-up‘-Initiativen dafür ganz wesentlich auf die Unterstützung durch den Europäischen Gerichtshof in Form einer entsprechenden Rechtsausdeutung angewiesen. Und in einem weiteren Punkt bestätigt auch diese Urteilsreihe den starken Einfluss des EuGHs: Die erste große Reform der Vergaberichtlinien im Jahr 2004 (Richtlinie 2004/18/EG) kodifizierte explizit in Anlehnung an das Fallrecht die Möglichkeiten, soziale oder ökologische Zwecke mit der Auftragsvergabe zu verbinden. Die Kommission sah sich hier also nicht in der Lage, das unliebsame Fallrecht zu ignorieren. „Bestrebungen der Kommission, einer weiten Verfolgung von Sekundärzwecken zu begegnen, waren spätestens mit Einführung der Richtlinien überholt“, so auch die Einschätzung von Beckmann (2013, S. 424). Auch in Deutschland habe dies für eine Klarstellung gesorgt. Hier war die Reichweite von ‚Sekundärzwecken‘ im Vergaberecht zuvor „u. a. mit europarechtlichen, kartellrechtlichen, verfassungsrechtlichen und beihilferechtlichen Argumenten bezweifelt“ worden (Beckmann 2013, S. 424). Mit der Umsetzung der Richtlinien in das deutsche Recht „ist der Streit zum Teil im Sinne der EuGH-Rechtsprechung beendet worden“ (ebd).Footnote 2

Allerdings war damit noch lange kein grundlegender Richtungswechsel vollzogen, sondern allenfalls eine Öffnung für soziale Zwecke innerhalb des wettbewerbsrechtlichen Rahmens, bei dem der Schutz der vertraglichen Grundfreiheiten weiterhin Vorrang behielt (Sack und Sarter 2018a). Daran hatte auch der EuGH selbst in seinen wegweisenden Urteilen keine Zweifel gelassen (Barnard 2017; Caranta 2010, S. 19 ff.): Die Öffnung erfolgte explizit „vorbehaltlich (…) der Verbote, die aus den vom Vertrag aufgestellten Grundsätzen auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts und des freien Dienstleistungsverkehrs folgen“ (EugH-Urteil vom 20.9.1888 [Beentjes]), RN 20). Diesen Vorbehalt bekräftigte die Kommission, indem sie ihn an mehreren Stellen in der Präambel der Richtlinie von 2004 platzierte.

Die überarbeitete Richtlinie aus dem Jahr 2004 kodifizierte also lediglich einen asymmetrischen Kompromiss. Die Signale für die Mitgliedsstaaten und für die Vergabepraxis waren damit relativ diffus, sie ließen jedenfalls breite Interpretationsspielräume (s. auch Ludlow 2014). Akzentuiert wurde dies noch durch die Urteile des ‚Laval‘-Quartetts, mit denen der EuGH wie oben beschrieben den Grundfreiheiten noch höheres Gewicht beimaß. Dies mündete nicht nur in eine recht unterschiedliche Umsetzung der Vergaberichtlinien in den Mitgliedsstaaten, sondern auch in dem lauter werdenden Ruf nach mehr Rechtssicherheit und Vereinfachung. Dieser war schließlich eines der Motive für eine erneute Überarbeitung der Richtlinien, die im Jahr 2014 nach fast drei Jahren Verhandlungen verabschiedet wurde (Richtlinie 2014/24/EU).

Nach der Analyse von Sack und Sarter (2018a) verdrängte die weithin geteilte Wahrnehmung von Rechtsunsicherheit als drängendes Problem dabei die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden politisch-programmatischen Auffassungen zu den Zielen und Grundsätzen öffentlicher Auftragsvergabe. Dabei standen sich zunächst relativ klar abgrenzbare ‚policy frames‘ und dazugehörige Akteurskoalitionen gegenüber, die in der öffentlichen Debatte explizit unterschiedliche Positionen zur Legitimität von Nachhaltigkeitszielen in der Auftragsvergabe vertraten (Sack und Sarter 2018a, S. 375 ff.):

  • Zum einen ein „market-oriented public goods and services delivery“ frame, der der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen ablehnend gegenüberstand und hinter dem sich wichtige nationale und europäische Unternehmensverbände versammelten.

  • Zum zweiten ein „state-oriented public goods and service delivery’“ frame, der der Zähmung des Bieterwettbewerbs vor allem zugunsten fairer Arbeitsbedingungen den Vorzug gab – unterstützt vor allem von Gewerkschaften, grünen und sozialdemokratischen Parteien, sowie NGOs.

  • Drittens schließlich ein „civil society-oriented delivery“ frame, dessen Kernforderung war, den Besonderheiten der sozialen Dienstleistungen und der in diesem Sektor tätigen gemeinnützigen Organisation durch weitreichende Ausnahmen und Sonderregelungen Rechnung zu tragen.Footnote 3

Dennoch traten im Zuge der Reform Debatten über rechts-technische Detailfragen in den Vordergrund. Vorbehalte gegenüber Nachhaltigkeitszielen wurden auf diese Weise von Vertreter*innen des ‚marktorientierten‘ Deutungsrahmens eher in verdeckter Weise in die Debatte eingespeist und schließlich erfolgreich im Richtlinientext verankert. Eine solche zentrale, rechts-technische Barriere für Nachhaltigkeitskriterien ist dabei der ‚Bezug zum Auftragsgegenstand‘, auf den weiter unten noch einzugehen sein wird. Die Rechtsunsicherheit unterstützte damit Sack und Sarter zufolge die Entpolitisierung einer Debatte, die sich Vertreter*innen des ‚marktorientierten‘ Deutungsrahmens strategisch zunutze machen konnten. „While a political discourse on the desirability of social criteria was but a small part of the debate, the debate was mainly led as a (depoliticised) discourse on (legal) requirements set by the foundations of the single market.” (Sack und Sarter 2018a, S. 383).

Erneut prägte demnach auch in dieser Reformetappe die Verrechtlichung, genauer die Rückbindung der Auftragsvergabe an das europäische Primärrecht, die Sozialpolitisierung. Dies lässt sich dabei auf den ersten Blick als Bestätigung von Culpeppers These zum marktliberalen Bias von entpolitisierten, technokratischen Verhandlungen (Culpepper 2011) lesen, bei denen sich gerade abseits des Lichts öffentlicher Aufmerksamkeit die Interessen mächtiger Wirtschaftsakteure durchsetzen. Hier soll jedoch die gegenteilige These vertreten werden: Auch wenn, wie Sack und Sarter zeigen, depolitisierende Argumentationsmuster Eingang in die Debatte fanden und diese dominiert haben mögen, waren die Aushandlungen um das europäische Vergaberecht vergleichsweise stark politisiert, fanden also unter hoher Beteiligung von Parteien, Regierungen und Interessenverbänden statt und lösten die Richtlinie damit aus dem technokratischen Zugriff der Kommission. Wie van den Abeele (2014, S. 8) unterstreicht, war die Reform der Richtlinie seitens der Kommission ursprünglich vor allem zur Vereinfachung und Flexibilisierung von Vergabeverfahren (u. a. durch eine vollelektronische Abwicklung) eingeleitet worden, um auf diese Weise das Wirtschaftswachstum zu unterstützen. Den Befürworter*innen nachhaltiger Auftragsvergabe gelang es jedoch, diese Reform gegen erhebliche Widerstände für eine deutlich stärkere Öffnung des Sekundärrecht für Nachhaltigkeitsziele zu nutzen.

Die ausführliche Analyse von Semple (2018) zu dem zähen Ringen in der nahezu dreijährigen Verhandlungsphase verdeutlicht, dass dabei vor allem die verschiedenen Bezüge zu den sozialen Kriterien umstritten waren und der finale Text hier besonders weit von dem ursprünglichen Entwurf der Kommission abweicht. Die Konfliktlinien verliefen dabei auch zwischen den Mitgliedsstaaten. Frankreich und die skandinavischen Länder befürworteten eine stärkere Berücksichtigung sozialer Kriterien, während die Regierungen von Deutschland und Großbritannien dagegenhielten, ebenso wie einige der neuen osteuropäischen Mitgliedsländer (Semple 2018, S. 110–125). Auch die Mehrzahl der europäischen und nationalen Unternehmensverbände – darunter der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder der europäische Verband der Automobilindustrie (ACEA) – sprachen sich gegen die Ausweitung sozialer Kriterien aus. Zu der Allianz der Befürworter zählten zahlreiche Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, einschließlich verschiedener transnationaler Netzwerke zur nachhaltigen Auftragsvergabe, wie die ‚Local Governments for Sustainability‘ (ICLEI), aber auch einzelne europäische Unternehmensverbände.Footnote 4 Sie fanden Gehör vor allem bei den grünen und linken Parteien des Europäischen Parlaments, die sich maßgeblich für die zahlreichen Änderungen des ursprünglichen Entwurfs einsetzten (Semple 2018, S. 131–153).

Die beiden Deutungsrahmen, die der nachhaltigen Auftragsvergabe verpflichtet waren („state-oriented“ und „civil societey-oriented“, Sack und Sarter 2018a) hinterließen so im Ergebnis deutliche Spuren im finalen Richtlinientext:

  • Eine wichtige Änderung ist, dass Mitgliedsstaaten nun verpflichtet werden, „geeignete Maßnahmen [zu treffen], um dafür zu sorgen, dass die Wirtschaftsteilnehmer bei der Ausführung öffentlicher Aufträge die geltenden umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen einhalten, die durch Rechtsvorschriften der Union, einzelstaatliche Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder die in Anhang X aufgeführten internationalen umwelt-, sozial- und arbeitsrechtlichen Vorschriften festgelegt sind“ (Art. 18, Abs. 2). Der verpflichtende Charakter dieser Vorschrift, wie auch die explizite Bezugnahme auf Tarifverträge und internationale sozial- und arbeitsrechtliche Vorschriften war ein besonders umstrittener Punkt (Semple 2018, S. 147 ff.).

  • Auf Basis dieser grundlegenden Klausel werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, Angebote mit ungewöhnlich niedrigen Preisen eingehend zu prüfen und diese vom Verfahren auszuschließen, wenn die Prüfung ergibt, dass diese Preise nicht ohne Verstoß gegen die genannten Rechtsvorschriften zu halten sind (Art. 69, Abs. 3). Zudem müssen sie dafür Sorge tragen, dass auch Unterauftragnehmer die in Art. 18 (2) genannten Verpflichtungen einhalten. In dieser Prüfpflicht in Verbindung mit der grundlegenden Klausel sieht Van den Abeele (2014, S. 19) einen „quantum leap“ für die sozialverantwortliche Auftragsvergabe.

  • Zudem sieht die Richtlinie nun nur noch den Zuschlag für das „wirtschaftlich günstigste Angebot“ vor (Art. 67, Abs. 1). Der Zuschlag ausschließlich nach dem Kriterium des niedrigsten Preises wird nicht mehr aufgeführt – allerdings kommt dies lediglich einer semantischen Änderung gleich (Wiesbrock 2016, S. 85). Anders als vom Europäischen Parlament gefordert, ist die Vergabe nach dem niedrigsten Preis weiterhin möglich, da analog zur Wirtschaftlichkeits-Definition im deutschen Haushaltrecht (Maximal-/Minimal-Definition) das beste Preis-Leistungs-Verhältnis auch einzig auf Grundlage des Preises ermittelt werden kann. Die Richtlinie stellt es den Mitgliedsstaaten aber immerhin frei, den reinen Preiswettbewerb mit ihrer eigenen Gesetzgebung zu unterbinden.

  • Ferner präzisiert die Richtlinie in den Art. 98 und 99 eine Reihe von möglichen Zuschlagskriterien (zur Bewertung der Angebote) und Ausführungsbedingungen (konkrete vertragliche Anforderungen), die soziale Aspekte betreffen: etwa Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz, die verstärkte Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben und die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, die Erfüllung der grundlegenden Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit oder zur Förderung der sozialen Integration von benachteiligten Personen bzw. Angehörigen sozial schwacher Gruppen.

  • Schließlich wurden für soziale und andere besondere Dienstleistungen höhere Schwellenwerte und weitere Ausnahmen vom regulären Vergaberecht vereinbart – vor allem weitgehende Freiheiten der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung der konkreten Verfahrensregeln bei der Auftragsvergabe (Art. 74 bis Art. 76). Die Liste der besonderen Dienstleistungen ist dabei weit gefasst: Zu ihnen zählen auch die beiden Branchen, die im zweiten Teil dieses Buchs näher analysiert werden, nämlich Verpflegungsdienste für Schulen sowie Sicherheitsdienstleistungen. Zudem wurden die Möglichkeiten erweitert, Aufträge Integrationsunternehmen vorzubehalten (Art. 20). Damit haben hier auch zentrale Forderungen des ‚civil society-oriented‘ frame Eingang gefunden.

Insgesamt sind durch die Sozialpolitisierung der europäischen Vergabepolitik also durchaus substantielle Änderungen eingeführt worden. Allerdings bleiben die meisten dieser Regeln fakultativ, räumen also lediglich erweiterte Möglichkeiten der sozialen und ökologischen Auftragsvergabe ein (Wiesbrock 2016) – und kamen damit dem Wunsch der meisten Mitgliedsstaaten entgegen (Semple 2018, S. 130).

Darüber hinaus schränkt die Richtlinie die Ermessensspielräume der Mitgliedsstaaten insbesondere durch zwei Vorbehalte deutlich ein: Zum einen bekräftigt die Richtlinie das vom europäischen Fallrecht formulierte Prinzip, dass derartige Kriterien zwingend mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen müssen (‚link to the subject matter‘) und sich nicht auf die allgemeine Unternehmenspolitik der beauftragten Unternehmen beziehen darf. Arbeitsstandards dürfen sich zum Beispiel also nur auf den Teil der Beschäftigten beziehen, der für den ausgeschriebenen Auftrag zum Einsatz kommt. Ein Unternehmen kann verpflichtet werden, diesen Beschäftigten für die Dauer der Ausführungs des Auftrags Tariflöhne zu bezahlen, jedoch darf nicht die Tarifbindung des Unternehmens als Ganzes Ausführungsbedingung, Eignungs- oder Zuschlagskriterium sein. Wie oben erläutert, hatte die Rechtsprechung des EuGHs zwar ein weniger enges Verständnis des Auftragsbezugs zugrunde gelegt als die Europäische Kommission, insofern die jeweils herangezogenen Kriterien sich nicht auf die Eigenschaften des Auftragsgegenstandes auswirken müssen, sondern sich beispielsweise auch auf die Prozesse der Herstellung beziehen können. Diese Öffnung hat die Richtlinie auch explizit kodifiziert (Art. 67 Abs. 3) und damit einerseits mehr Spielraum für soziale und ökologische Kriterien eröffnet (s. auch Barnard 2017).Footnote 5 Andererseits hat, wie Semple (2016) herausgearbeitet hat, die Kommission im Gegenzug die Reform genutzt, um diesen Vorbehalt auf sämtliche Stadien des Vergabeprozesses auszudehnen (einschließlich Eignungskriterien, Leistungsbeschreibung, Ausführungsbedingungen), wohingegen er zuvor im europäischen Fallrecht nur in Bezug auf die Auswahlkriterien herangezogen worden war. „What we are faced with under the 2014 Directives then is a radical extension of the LtSM [link to the subject matter] requirement, apparently based upon the problematic reasoning put forward by the Commission in the Green Paper” (Semple 2016, S. 65). Im Grünbuch hatte die Kommission eben diesen Bezug zum Auftragsgegenstand explizit als geeignete Bremse für eine zu starke Priorisierung politischer Zwecke bezeichnet.Footnote 6

Eine zweite wichtige Einschränkung stellt der Vorbehalt dar, dass die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Ziele im Einklang mit dem Unionsrecht und mit der Entsenderichtlinie angewandt werden müssen (Erwägungsgrund Nr. 37 der Richtlinie). Mit dieser Bezugnahme bekräftigt die Richtlinie indirekt die Beschränkungen, die mit dem ‚Rüffert‘-Urteil ausbuchstabiert worden waren (Barnard 2017, S. 239). Konsequenterweise verzichtete die Richtlinie daher, anders als von Gewerkschaften und von Teilen des Europäischen Parlaments gefordert, auch auf eine Klarstellung, dass die ILO-Konvention Nr. 94 kompatibel mit der Europäischen Vergaberichtlinie sei. Diese ILO-Konvention aus dem Jahr 1949 sieht deutlich weitergehende Möglichkeiten für verbindliche Arbeitsstandards bei öffentlichen Aufträgen vor als die Entsenderichtlinie; sie verlangt von den unterzeichnenden Staaten, dass sie in Verträge mit beauftragten Firmen Klauseln aufnehmen, „die den beteiligten Arbeitnehmern Löhne (einschließlich Zulagen), eine Arbeitszeit und sonstige Arbeitsbedingungen gewährleisten, die nicht weniger günstig sind als die Bedingungen, die im gleichen Gebiet für gleichartige Arbeit in dem betreffenden Beruf oder in der betreffenden Industrie gelten“ (ILO-Konvention 94, Art.2, Abs. 1). Durch den Verzicht auf die Klarstellung geraten diejenigen Mitgliedsstaaten, die die Konvention ratifiziert haben (15 europäische Länder, nicht jedoch Deutschland) potenziell in Konflikt mit europäischem Vergaberecht (Wiesbrock 2016, S. 83). Semple (2018, S. 105) sieht in der fehlenden Klarstellung zur ILO-Konvention und der lediglich impliziten Bezugnahme auf das Rüffert-Urteil in den Erwägungsgründen eine bewusste Nicht-Entscheidung und damit eine Vertagung des Konflikts, da zum Zeitpunkt der Reform zwar einige Mitgliedsstaaten mit dem Rüffert-Urteil unzufrieden waren, sich aber auch noch kein neuer Kompromiss, insbesondere zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, abzeichnete.

Insgesamt hat die jüngste Reform der Richtlinie damit in wichtigen Punkten Klarstellungen und Öffnungen vorgenommen für Ansätze einer sozialen und ökologischen Auftragsvergabe, die sich in den Mitgliedsstaaten ab den 1990er Jahren dynamisch entwickelt haben. Die beiden genannten Vorbehalte (Bezug zum Auftragsgegenstand, Verknüpfung mit Entsenderichtlinie) beschränken und verkomplizieren jedoch eine solche nachhaltige Auftragsvergabe weiterhin an vielen Stellen (Wiesbrock 2016; Semple 2016; Barnard 2017). Auch diese Richtlinie lässt sich daher als Kompromiss mit einer Schlagseite zugunsten des Wettbewerbsschutzes bezeichnen – dies gilt insbesondere mit Blick auf das Thema Arbeitsbedingungen. Mit den beiden Vorbehalten wird der Schatten, den die EuGH-Rechtsprechung auf die Umsetzung in den Mitgliedstaaten wirft, also verstetigt. Allerdings ist dieser Schatten noch weniger als zuvor konsistent marktliberal. Er wirft, wenn man im Bild bleiben will, nur ein diffuses Licht. Damit hat er Raum gelassen für eine weiterhin dynamische Gesetzesentwicklung auf europäischer und vor allem nationaler Ebene auch nach Abschluss der Reform. Mehr noch, er hat solche Entwicklungen durch den Verzicht auf eine explizite Klärung in entscheidenden Punkten – insbesondere im Hinblick auf das Rüffert-Urteil – sogar provoziert.

3 Politisierung der Rechtsprechung und der Nachhall von Staatsschulden- und Flüchtlingskrise

Mit den neuen Vergaberichtlinien ist die Entwicklung des europäischen Vergaberechts nicht, wie etwa Burgi (2018) annimmt, in eine Phase der Konsolidierung eingetreten. Zwar blieb das vergabepolitische Sekundärrecht seitdem weitgehend unverändert, nennenswerte Neuerungen sind jedoch außerhalb der Vergaberichtlinien zu verzeichnen: Korrekturen in der EuGH-Rechtsprechung zu den Implikationen des Primärrechts und schließlich die Reform der Entsenderichtlinie im Jahr 2018 stellen weitere Etappen in einer Entwicklung dar, in deren Verlauf soziale Ziele in der Auftragsvergabe einen höheren Stellenwert erhalten. Die Erklärung für diese jüngsten Dynamiken sind vor allem in drei separaten, genuin politischen Entwicklungen zu suchen: in der Politisierung der Rechtsprechung des EuGHs; in Lernprozessen innerhalb der gewerkschaftsseitigen transnationalen Interessenorganisation; und schließlich in der Revitalisierung der sozialen Dimension Europas. Wichtige Impulse für diese Entwicklungen gehen, wenn auch indirekt und mit zeitlichen Verzögerungen, auch von der europäischen Staatsschuldenkrise aus. Neben den langen Schatten des europäischen Fallrechts gesellt sich so der lange Schatten einer großen Krise des europäischen Integrationsprojekts.

Diese Entwicklung hebt den Konflikt zwischen Wettbewerbsschutz und Nachhaltigkeitszielen allerdings insgesamt nicht auf. Sie führt aber weg von der bislang dominanten, passiv-defensiven Eingliederungslogik sozialer Ziele, bei der diese unter den Vorbehalt von Wettbewerbszielen gestellt werden. Stattdessen trägt diese Entwicklung dazu bei, die Ausbalancierung beider Prinzipien als eigenständiges Ziel europäischer Politik zu verankern. Es kommt hier insofern zu einer Institutionalisierung der Gleichzeitigkeit von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung. Diese löst, wie beschrieben, den Grundsatzkonflikt nicht auf, verschafft aber auch nicht systematisch dem einen oder anderen Prinzip Oberhand, sondern verlagert den Interessenausgleich wieder stärker zurück auf die nationale Ebene.

3.1 Korrekturen in der EuGH-Rechtsprechung: ‚RegioPost‘ und ‚Elektrobudowa‘

In Bezug auf soziale Kriterien sind es insbesondere zwei Urteile, mit denen der Europäische Gerichtshof eine partielle Abkehr von seiner vorherigen Rechtsprechung vollzog:

  • In der Rechtssache ‚RegioPost‘ (C-115/14) aus dem Jahr 2015 wurde dem Gerichtshof eine Regelung zur Vorabentscheidung vorgelegt, zu der mehrere deutsche Bundesländer in Reaktion auf das Rüffert-Urteil gegriffen hatten, nämlich vergabespezifische Mindestlöhne. Diese wurden über die Landesvergabegesetze (hier: des Landes Rheinland-Pfalz) allen öffentlich beauftragten Unternehmen zur Auflage gemacht. Anders als im ‘Rüffert’-Fall basierte die Lohnvorgabe damit, wie von der Entsenderichtlinie gefordert, auf einer gesetzlichen Grundlage. Der Fall teilte aber mit ‘Rüffert’ den Umstand, dass sich die Regelung lediglich auf öffentlich beauftragte Unternehmen bezog, und nicht auf alle Unternehmen, wie in Art. 3 Abs. 8 der Entsenderichtlinie gefordert. Der Gerichtshof entschied dennoch gegen die Klage des unterlegenen Bieters, dass eine solche Auflage zulässig sei. Er begründete seine Entscheidung damit, dass das Erfordernis, eine Regelung müsse für alle Unternehmen gelten, sich nur auf Tarifverträge, nicht auf Gesetze beziehe.

  • In der Rechtssache ‘Elektrobudowa’ (C-396/13) schloss sich der EuGH im selben Jahr der Sichtweise einer finnischen Gewerkschaft an und entwickelte eine unerwartet weitreichende Definition des Begriffs ‚Mindestlohnsatz‘ in der Entsenderichtlinie. Die Entsenderichtlinie überließe es den Rechtsvorschriften der Mitgliedsländer, diesen Begriff genauer zu bestimmen und damit festzulegen, auf welche Entlohnungsbestandteile entsandte Beschäftigte zwingend Anspruch haben. Allerdings standen diese nationalen Entscheidungsspielräume ebenfalls unter dem primärrechtlichen Vorbehalt, dass sie keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit vornehmen dürften. Bis zum Urteil in der Rechtssache ‘Elektrobudowa’ war daher umstritten, wie weit der nationale Gesetzgeber auch ganze Tarifgitter und weitere Vergütungsbestandteile oberhalb von Basislöhnen auf entsandte Beschäftigte erstrecken konnte (Bayreuther 2015). In der Rechtssache ‘Elektrobudowa’ stand daher zur Debatte, ob dieser Begriff sämtliche Lohngruppen und Eingruppierungsvorschriften eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags umfasst, sowie weitere gesetzlich bzw. tarifvertraglich vorgeschriebene Lohnzulagen (u. a. Tagegeld, Wegezeiten-Entschädigung, bezahlter Urlaub). Der Gerichtshof bejahte dies. Zudem kam er zu dem Ergebnis, dass Unterbringungskosten zusätzlich zu zahlen seien, also nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden dürften.

Zwar vollziehen beide Urteile keinen offenen Bruch mit der vorherigen Rechtsprechung; vielmehr ist auch hier erkennbar, dass die Kontinuität zu den im vorhergehenden Fallrecht entwickelten Doktrinen ein wichtiges Prinzip der europäischen Rechtsprechung bleibt (Schmidt 2012; Caranta 2018). So unterstreicht das Urteil im Falle ‚RegioPost’ die Unterschiede in den Sachverhalten zwischen dem ‚RegioPost’- und dem ‘Rüffert’-Fall und hält damit implizit zugleich an den Beschränkungen für nicht-allgemeinverbindliche Tarifverträge fest (Garben 2017; Caranta 2018). Beide Urteile sind in der Fachliteratur und in der Politik dennoch als deutlicher Richtungswechsel bewertet worden (u. a. Bayreuther 2015; Pecinovsky 2016; weitere Beiträge in Sanchez-Graells 2018).

Dieser Richtungswechsel ist zum einen durch eine Veränderung im Rechtsrahmen zu erklären. Denn im Fall ‚Elektrobudowa’ stützt sich der Gerichtshof zur Begründung seiner Entscheidung in mehreren Punkten auf die EU-Grundrechtecharta, die nach langer Wartezeit gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 Rechtskraft erlangte. Bis dahin waren diese Grundrechte lediglich nicht-bindendes ‚Soft Law‘ in Form der ‚Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer‘ von 1989. Mit der Grundrechtecharta erhalten nun auch soziale Rechte von Arbeitnehmer*innen – etwa das Recht auf bezahlten Jahresurlaub oder das Recht zur kollektiven Interessenvertretung – verfassungsähnlichen Stellenwert (Fornasier 2015; Conant et al. 2018; Garben 2020).Footnote 7 Neben die Konstitutionalisierung der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes tritt auf diese Weise die Konstitutionalisierung sozialer Rechte der Arbeitnehmer*innen. Dies führt zu einer Konkurrenz oder zumindest Pluralisierung von Rechtsquellen, die der Europäische Gerichtshof zu berücksichtigen hat. Diese Pluralisierung von Rechtsquellen ist allerdings bis heute unvollständig geblieben (Robin-Olivier 2018), wie sich auch an der Reform der Entsenderichtlinie zeigt (s. Abschn. 4.3.2).Footnote 8

Neben der Pluralisierung der Rechtsquellen ist der Richtungswechsel jedoch auch Ergebnis einer veränderten Auslegung des bestehenden Primär- und Sekundärrechts. So re-interpretierte der Gerichtshof die Zwecksetzung der Mindestlohnvorgaben der Entsenderichtlinie als eine doppelte (Bayreuther 2015, S. 352): Bislang hatten die Urteile des EuGHs diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nur insoweit für europarechtskonform eingestuft, als sie dem Schutz der entsandten Beschäftigten dienten. Die Urteilsbegründung im Fall ‘Elektrobudowa’ sieht jedoch auch die Sicherstellung eines „lauteren Wettbewerbs“ zwischen inländischen und entsendenden Unternehmen als Ziel dieser Mindeststandards an. Auf dieser Grundlage lassen sich auch höhere Lohnvorgaben rechtfertigen, die einen wirksameren Schutz gegen einen ‚unlauteren‘ Unterbietungswettbewerb bieten.

Den Hintergrund für diesen Gesinnungswandel sehen Beobachter in der umfangreichen Kritik, auf die die enge Auslegung der Entsenderichtlinie im ‚Laval‘-Quartett gestoßen ist, sowohl von politischer Seite wie auch von Seiten der eigenen Zunft: „[I]t would appear that the Court, on the receiving end of much criticism from the political sphere but equally from its own quarters, acknowledged the limitations of its previous judgements“ (Picard und Pochet 2018, S. 4). Tatsächlich stellt Garben (2017, S. 33) zu Recht fest, dass die kritischen Kommentare zum ‚Laval‘-Quartett Bibliotheken gefüllt haben. Ähnlich sieht Semple in der Kritik durch die Mitgliedsstaaten – die diese durch schriftliche Stellungnahmen im Rahmen der Gerichtsverfahren äußern können – und durch die eigene professionelle Community einen Korrekturmechanismus, der wie im Falle ‘RegioPost’’ zu einer Anpassung der Rechtsprechung führen kann: „What follows in these situations is criticism, rather than sanctions from member states. One or several judges on the Court will then adjust their views, and aim to convince their colleagues. This process takes place behind closed doors; it may be immediate or gradual over many years and subsequent cases.” (Semple 2018, S. 169). Neben den Mitgliedsstaaten und der eigenen Zunft ist schließlich auch die kritische Medienberichterstattung eine dritte Quelle für Feedback, das den EuGH fallweise zum Einlenken bewegt (Blauberger et al. 2018) und die auch im Falle ‚RegioPost’ und ‚Elektrobudowa’ ihre Wirkung entfaltet hat (Blauberger und Martinsen 2020, S. 393 ff.).

Die massive Kritik von verschiedenen Seiten stufen Blauberger und Martinsen als Indiz für eine generelle Politisierung – im Sinne erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit und Kritik – der Rechtsprechung des EuGHs ein (Blauberger und Martinsen 2020). Die de-politisierende Wirkung der Integration durch Recht, die Burley und Mattli (1993) auf den Begriff vom Recht als ‚Maske und Abwehrschild‘ („mask and shield“) brachten, hat sich demnach im Laufe der Zeit erschöpft, weil die Auswirkungen der kontroversen Urteile des EuGHs sowohl den gesetzgebenden Institutionen wie auch einer breiteren Öffentlichkeit zunehmend bewusstgeworden sind und Gegenwehr hervorrufen. Der Europäische Gerichtshof sei sich dieser kritischen Reaktionen zunehmend bewusst und berücksichtige sie in seiner Rechtsprechung (Blauberger und Martinsen 2020, S. 395 f.). Das sei insbesondere bei solchen Fragen der Fall, die einmal grundlegend politisiert wurden und die dem Gerichtshof in unterschiedlichen Fallkonstellationen wiederkehrend zur Entscheidung vorgelegt werden. In diesen Fällen verlieren die rechtlichen Verhandlungen und Argumentationen im Gerichtshof die Aura des Unpolitischen.

3.2 Die Reform der Entsenderichtlinie

Eine dieser grundlegend politisierten Fragen, die dem Gerichtshof in einer Reihe von Fällen vorgelegt wurden, ist eben die Frage nach der Balance zwischen der Dienstleistungsfreiheit entsendender Firmen, den Interessen entsandter Beschäftigter und dem Schutz der Arbeitsmärkte im aufnehmenden Land vor ‚Sozial-Dumping‘. Diese Frage hatte die Entsenderichtlinie von 1996 in Form eines Kompromisses beantwortet; die Antwort ließ aber, wie gesehen, erhebliche Interpretationsspielräume zu und führte zu wiederkehrenden Auseinandersetzungen vor dem EuGH. Kern dieser Auseinandersetzungen sind nicht allein vertikale Verteilungskonflikte (zwischen Kapital und Arbeit), sondern auch horizontale Verteilungskonflikte zwischen ‚Hochlohn‘- und ‚Niedriglohn‘-Ländern der EU. Im Zuge der Verhandlungen um die erste Entsenderichtlinie 1996 verlief der Konflikt dabei in erster Linie zwischen alten Mitgliedsstaaten und den südeuropäischen Beitrittsländern (Griechenland, Portugal, Spanien), in den nachfolgenden Reformen zwischen den osteuropäischen Beitrittsländern und den westeuropäischen Ländern (Eichhorst 2000; Bernaciak 2015b).

Der Grundsatzkonflikt zwischen freiem Wettbewerb und der sozialen Einbettung von Märkten hat im Laufe der schrittweisen Erweiterung der EU (Südeuropa; Osteuropa) und der damit verbundenen höheren wirtschaftlichen Heterogenität zwischen den Ländern also auch eine territoriale Dimension erhalten, der die Konflikte auf europäischer Ebene so vielschichtig macht und eine Einigung erschwert (Scharpf 2010). Auch die transnationale Interessenaggregation auf Seiten der Gewerkschaften stellt dies vor Herausforderungen. Denn wo illegitimes ‚Sozialdumping‘ aufhört und legitime Teilhabeinteressen von Unternehmen und Beschäftigten aus Ländern mit niedrigerem Lohnniveau anfangen, dazu gehen auch unter den Beschäftigtenvertreter*innen der verschiedenen Länder die Sichtweisen mitunter auseinander (Bernaciak 2015b und weitere Beiträge in Bernaciak 2015a).

Es handelt sich also um einen Langzeitkonflikt, der die Erweiterung und Intensivierung des europäischen Integrationsprojektes seit Anfang der 1990er Jahre begleitet hat und der, wie im Falle der Vergabepolitik, auch über den eigentlichen Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie hinaus seine Wirkung entfaltet hat. Nachdem zwei Reformvorschläge gescheitert waren (die sogenannte Monti-II-Richtlinie aus dem Jahr 2012) bzw. lediglich verbesserte Möglichkeiten zur Durchsetzung der bestehenden Bestimmungen mit sich brachten (sog. Durchsetzungs-Richtlinie aus dem Jahr 2014), ist es im dritten Anlauf mit der 2018 verabschiedeten Reform der Entsenderichtlinie zu einer Neujustierung in Bezug auf den Kernkonflikt gekommen. Die neue Richtlinie ist insgesamt deutlich stärker dem Grundsatz des ‚Equal Pay‘ verpflichtet (s. ausführlich zu den Änderungen Riesenhuber 2018, 2020; Franzen 2019). Vergaberechtlich relevant sind dabei insbesondere zwei Änderungen:

  • Zum einen wird der Begriff des ‚Mindestlohnsatzes‘ durch den Begriff der ‚Entlohnung‘ ersetzt und damit die zulässigen Entgelte, die auf entsandte Beschäftigte erstreckt werden können, deutlich erweitert. Damit kodifiziert die Richtlinie weitgehend die Rechtsprechung des EuGHs im Fall ‘Elektrobudowa’. Zwar bleibt die genaue Festlegung der erstreckten Arbeitsbedingungen weiterhin Angelegenheit der Mitgliedsstaaten und der nationalen Tarifpartner. Ähnlich wie die Vergabe-Richtlinie enthält die Entsenderichtlinie also im Wesentlichen Kann-Bestimmungen und verweist die Entscheidung über die Ausbalancierung verschiedener Interessen damit an die nationale Arena. Die Richtlinie erweitert aber die nationalen Spielräume, indem sie den Kreis der explizit zulässigen ‚Einschränkungen der vertraglichen Grundfreiheiten‘ weiter zieht als zuvor.

  • Insbesondere für Länder wie Deutschland ist relevant, dass nun nicht mehr nur allgemeinverbindliche Tarifverträge erstreckt werden können, sondern auch „allgemein wirksame“ Tarifverträge, sowie Tarifverträge, „die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen“ (Art 3, Abs. 8). Auch wenn umstritten ist, wie weit diese Formulierung die Tür für nicht-allgemeinverbindliche Tarifverträge tatsächlich öffnet, hat sie in Deutschland zu erneuten Reformvorschlägen zur Verankerung konstitutiver Tariftreueregelungen Anlass gegeben (s. Abschn. 4.4).

Dass dieser neue Kompromiss zustande kam, ist insofern bemerkenswert, als der Reformvorschlag anfänglich auf massiven Widerstand von nahezu allen osteuropäischen Mitgliedsländern traf. Diese versuchten mit dem selten genutzten ‚Yellow Card‘-Verfahren, den Richtlinien-Entwurf zu Fall zu bringen. Die Überwindung dieser Blockade im Langzeitkonflikt lässt sich nur durch genuin politische Dynamiken und Lernprozesse erklären, die sich erst über einen längeren Zeitraum entwickelt haben.

Das ist zum einen die oben angesprochene Politisierung der ‚Integration durch Recht‘ und ihre Rückwirkung auf die Rechtsprechung des EuGHs. Zwar gilt auch für die überarbeitete Entsenderichtlinie, dass sich hier mittelbar der lange Schatten der marktliberalen Konstitutionalisierung niederschlägt (Lubow und Schmidt 2021). Denn die Pläne des Europäischen Parlaments, die neue Entsenderichtlinie auf eine doppelte Rechtsgrundlage zu stellen, nämlich sie zusätzlich zu den ökonomischen Grundfreiheiten auch mit den sozialen Zielen der EU (Art 151 und 153 AEUV) zu begründen, scheiterten. Dadurch sollte vermieden werden, dass der EuGH in künftigen Urteilen das ‚Equal-Pay‘-Prinzip erneut den im Vertrag verankerten wirtschaftlichen Grundfreiheiten unterordnen würde. Auch auf Betreiben der Rechtsdienste der Kommission – deren Rolle eine eigene Untersuchung wert wäre – blieb es jedoch bei den wirtschaftlichen Grundfreiheiten als alleiniger Rechtsgrundlage (Lubow und Schmidt 2021). Damit wurden die Ausgestaltungsspielräume für die nationalen Gesetzgeber wieder erheblicher Rechtsunsicherheit unterworfen. Die Entscheidungen des Gerichtshofs im Nachgang zur Entsenderichtlinie – die Regierungen von Ungarn und Polen hatten nach ihrer Verabschiedung Nichtigkeitsklagen beim EuGH eingereicht – lassen sich insofern als Testfall für die Macht des Europäischen Gerichtshofs und die Konstitutionalisierung der Grundfreiheiten begreifen:

„Should the Court validate the reform, the case would show the ability of the legislature to overcome existing judicial constitutional constraints. (…) Should the Court invalidate the compromise found by the EU legislators in extending their control on posted workers, then the significance of the Court and over-constitutionalization would find a new source of confirmation.” (Lubow und Schmidt 2021, S. 332).

Wie sich Ende 2020 herausstellte, haben diese ‚Testfälle‘ tatsächlich den Richtlinien-Kompromiss bestätigt; beide Nichtigkeitsklagen sind vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen worden.Footnote 9 Die Urteilsbegründungen sehen das Ziel der neuen Entsenderichtlinie darin, dass diese „den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage wahren [soll], indem sie den Schutz der entsandten Arbeitnehmer insbesondere dadurch sicherstellt, dass auf diese alle durch den Aufnahmemitgliedsstaat zwingend vorgeschriebenen, die Entlohnung ausmachenden Bestandteile Anwendung finden“ (EuGH Urteil vom 8.12.2020 zu Rechtssache C 626/18). Damit bleibt zwar der Schutz der entsandten Beschäftigten der Maßstab für den Verhältnismäßigkeitstest, und nicht der Schutz der Arbeitsmärkte in den Zielländern der Entsendung. Dieser Schutz wird jedoch im Sinne des ‚Equal-Pay‘-Prinzips verstanden. Insofern verstetigen diese Urteile, wie auch die Richtlinie selbst, den Richtungswechsel in der Rechtsprechung des EuGHs, der sich seinerseits nur als Reaktion auf die oben skizzierte Politisierung der Rechtsprechung verstehen lässt.

Daneben sind es aber auch zwei weitere längerfristige politische Dynamiken, die hier gewissermaßen ihren Schatten geworfen haben. Dies sind zum einen Lernprozesse bei der trans- und supranationalen Interessenorganisation auf Seiten der Gewerkschaften. Während Seeliger und Wagner (2018) noch in Zusammenhang mit der sogenannten Durchsetzungs-Richtlinie (2014) analysierten, dass und warum es misslang, nationale und sektorale Divergenzen innerhalb der Gewerkschaften zu überbrücken, ist dies im Zusammenhang mit der neuen Entsenderichtlinie offenbar gelungen (Furaker und Larrsson 2020). Dabei wurde nicht nur innerhalb des Gewerkschaftslagers eine gemeinsame Position entwickelt, sondern auch koordiniert an ihrer Durchsetzung gearbeitet: Eine Lobbying-Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbundes in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften der zentral- und osteuropäischen Länder trug nach Einschätzung von Picard und Pochet (2018) mit dazu bei, die Regierungen einiger Mitgliedsländer umzustimmen, die zu Beginn gegen die Richtlinie gestimmt hatten (s. auch Bjelinski und Žeravčić 2020 für Kroatien).

Schließlich kommt bei der Reform der Entsenderichtlinie auch eine (Re-)vitalisierung der sozialen Dimension Europas zum Tragen, die unter anderem mit der Verabschiedung der ‚Europäischen Säule sozialer Rechte‘ im Jahr 2017 zum Ausdruck gebracht wurde. Zumindest ein Teil der Literatur sieht darin den Beginn einer neuen, deutlich aktiveren Phase der europäischen Sozialpolitik (Vanhercke et al. 2020; Vesan et al. 2021). Die europäische Kommission unter der Präsidentschaft von Jean-Claude Juncker leitete diese Revitalisierung auch in Antwort auf den Vertrauensverlust ein, der der europäischen Politik im Gefolge der Staatsschuldenkrise ab 2008, der Flüchtlingskrise 2014/2015 und dem Erstarken rechts-populistischer, europakritischer Parteien in zahlreichen Mitgliedsstaaten entgegenschlug. Dabei hatte die Staatsschuldenkrise zunächst den gegenteiligen Effekt. Während die nationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zuvor in erster Linie unter dem Vorbehalt stand, die Wirtschaftsunion (ökonomische Grundfreiheiten) nicht gefährden zu dürfen, gerieten die wohlfahrtsstaatlichen Systeme der Mitgliedsländer mit der Staatsschuldenkrise nun zusätzlich stärker unter den Vorbehalt, die Währungsunion nicht gefährden zu dürfen. Die Auflagen der Troika aus EU, EZB und IWF und das neue fiskal- und wirtschaftspolitische Instrumentarium der EU (u. a. Europäisches Semester, SixPack, Europäischer Fiskalpakt) sahen insbesondere für die von der Schuldenkrise stark betroffenen südeuropäischen Länder starke Einschnitte auch für ihre Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vor (u. a. Lehndorff 2014; Menz und Crespy 2015; Erne 2015). Die Wiederbelegung der sozialen Dimension auf supranationaler Ebene ist insofern auch als Gegenbewegung zur „spaltenden Integration“ (Lehndorff 2014) durch das europäische Krisenmanagement zu verstehen.

Insofern hat auch das europäische Krisenmanagement im Gefolge der Schuldenkrise ähnlich wie das Laval-Quartett einen langen und mit der Zeit diffuseren Schatten geworfen. Es hat Entwicklungen (mit-)angestoßen, die am Ende auf eine Korrektur der einseitig ökonomischen Integration hinausliefen. Das gilt zumindest für die Entsenderichtlinie. Der neue Anlauf für die Reform der Entsenderichtlinie, wie auch die letztliche Einigung, wurden von den Entscheidungsträgern auch als Signal für ein stärkeres soziales Europa unterstützt (Picard und Pochet 2018; Lubow und Schmidt 2021, S. 332).

Offen ist darüber hinaus aber, welche Wirkungen die Entsenderichtlinie selbst entfaltet. Dies hängt, wie bereits oben angesprochen, maßgeblich von ihrer Umsetzung in den Mitgliedsstaaten ab. Denn die Reform der Entsenderichtlinie hat, wie zuvor schon die Reform der Vergaberichtlinie, in erster Linie den Mitgliedstaaten mehr Möglichkeiten eingeräumt, die ökonomischen Grundfreiheiten zugunsten sozialer Zwecke einzuhegen. Die negative Integration durch die marktliberale Europäisierung ‚von oben‘ wurde also nicht durch positive Integrationsschritte in Form gemeinschaftsweit geltender Standards ersetzt, sondern durch eine Rückübertragung von Entscheidungen an die Mitgliedsstaaten korrigiert. Wie ‚sozial‘ Europa ist, hängt also noch mehr als zuvor von den Entscheidungen ‚unten‘ ab. Um diese Entscheidungen soll es nun im letzten Abschnitt gehen.

4 Vergabepolitik in Deutschland: Schauplatz und Vehikel für den Wandel der industriellen Beziehungen

Bislang wurde bereits deutlich, dass von Deutschland starke Impulse für die europäische Rechtsprechung ausgingen. Deutsche Gerichte haben den Europäischen Gerichtshof wiederholt zu Entscheidungen veranlasst, die ihre Wirkung auch deutlich über Deutschland hinaus entfaltet haben. Und umgekehrt haben diese Fälle auch die Gesetzesentwicklung in Deutschland, wie in vermutlich kaum einem anderen europäischen Land, beeinflusst. Das ‚Rüffert’-Urteil hatte zahlreiche Bundesländer nach 2008 zu einer Aufgabe oder zumindest zu substanziellen Einschränkungen ihrer Tariftreuegesetze veranlasst. Die gesetzlichen Folgen des ‚Rüffert’-Urteils in Deutschland werden daher in der Debatte zur juridischen Europäisierung häufig als Beispiel herangezogen – allerdings sowohl von denen, die darin einen Beleg für den starken Einfluss des EuGHs erkennen (Blauberger 2012, 2014), als auch von denen, die auf die Grenzen dieses Einflusses verweisen (Hofmann 2018). Die Gesetzesanpassungen nach ‚Rüffert’ seien in Deutschland lediglich erfolgt, um die Gesetze gerichtsfest zu machen, also vor künftigen Eingriffen zu bewahren und auf diese Weise die ursprünglichen Regulierungszwecke so weit als möglich zu erhalten, so Hofmann (2018, S. 268). Demgegenüber sieht Blauberger in den Gesetzesreformen das Bemühen, die Kosten der Rechtsunsicherheit in Gestalt drohender weiterer Urteile abzuwenden. Daher seien in vorauseilendem Gehorsam umfassende Reformen umgesetzt worden “to avoid endless conflicts” (Blauberger 2014, S. 470).

Der Unterschied zwischen beiden Interpretationen verschwimmt so am konkreten Fall. Er besteht im Wesentlichen darin, ob diese Art der ‚präventiven Gesetzgebung‘ („preemptive legislation“), die weitere Eingriffe des Gerichts zu vermeiden sucht, als „particularly strong examples of ECJ legislative influence” (Blauberger und Schmidt 2017, S. 912) bewertet wird oder als „more covert patterns of pushback“ (Hofmann 2018, S. 721) gegen die Rechtsprechung des EuGHs. Die Fokussierung auf den Umgang mit dem ‚Rüffert’-Urteil lässt jedoch beide Interpretationen einen wichtigen Punkt übersehen: Die ‚präventive Gesetzgebung’ nach ‚Rüffert’ war Teil eines umfassenderen Politikwandels, nämlich die Hybridisierung des deutschen Systems der Lohnfindung, also die staatliche Stützung und Ergänzung kollektivvertraglich vereinbarter Tarifnormen, welche Bosch und Weinkopf (2013, S. 399) bezogen auf Deutschland bereits im Jahr 2013 von einem „Hybridmodell“ der Lohnsetzung sprechen ließ.

Dieser übergreifende Politikwandel hat auch die Antworten auf ‚Rüffert’ geprägt. Weder schirmen die neuen Gesetze daher die ursprünglichen regulatorischen Zwecke nur gegen neue Eingriffe von oben ab oder versuchen, den gleichen Zweck mit anderen Mitteln zu erreichen, noch setzen sie schlicht das europäische Fallrecht um. Vielmehr haben sich hier neuartige (Teil-)Lösungen herausgebildet für einen Grundsatzkonflikt, der zeitlich und sachlich deutlich über die Konflikte um Tariftreueregelungen hinausreicht – nämlich der Konflikt um die Frage, wie mit der nachlassenden Kraft des traditionellen Repertoires zur kollektiven Selbstregulierung des Arbeitsmarktes und der daraus resultierenden Verbreitung von prekärer Arbeit, Niedriglöhnen und stagnierenden Löhnen umzugehen ist. Um den vergabepolitischen Teil dieses Konflikts zu verstehen, muss daher auch dieser erweiterte Kontext einbezogen werden. Von größter Bedeutung sind bis heute vor allem die Wechselwirkungen mit den Entscheidungen und Konflikten zum staatlichen Mindestlohn.

Zum besseren Verständnis dieses erweiterten Kontextes erläutert die untenstehende Übersicht kurz die verschiedenen lohnpolitischen Instrumente, um die es im Folgenden geht, und die zu einer Hybridisierung der Lohnsetzung in Deutschland beitragen. Wie dieses erweiterte Repertoire an Lohnstandards entstanden ist, und welche Rolle es aktuell spielt, wird dann anschließend behandelt. Die Übersicht in Tab. 4.1 verdeutlicht, dass das deutsche System der Lohnsetzung neben rein kollektivvertraglichen Standards mittlerweile auch rein staatlich gesetzte Standards (allgemeiner Mindestlohn, vergabespezifischer Mindestlohn) wie auch Mischformen – wie die allgemeinverbindlichen Tarifverträge oder die konstitutiven Tariftreueregelungen – enthält.

Tab. 4.1 Übersicht: Elemente einer ‚Hybridisierung‘ der Lohnsetzung in Deutschland

4.1 Tariftreuegesetze vor und nach ‚Rüffert’: Wechselnde Allianzen und Zielverschiebung

Seit Mitte der 1990er Jahre haben eine Reihe von Bundesländern Tariftreueklauseln in das Vergaberecht eingefügt – zunächst auf dem Verordnungsweg (Riese 1998, S. 235), ab 1999 dann, beginnend mit Berlin, in landeseigenen Vergabegesetzen. Adressat der Regelungen war dabei primär die Baubranche, auf die als Einzelbranche der größte Anteil des öffentlichen Auftragsvolumens entfällt. Später schlossen einige Tariftreuegesetze auch andere Branchen, insbesondere den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ein. Wie verschiedene Studien herausgearbeitet haben, war der Entstehungskontext für diese Tariftreueregelungen in erster Linie das Lohngefälle zwischen ost- und westdeutschen Bundesländern, aufgrund einer deutlich geringeren Tarifbindung und niedrigerer Tariflöhne ostdeutscher Unternehmen (Bosch et al. 2011). Dies erklärt, warum Tariftreuegesetze vom westdeutschen Baugewerbe unterstützt und in den westdeutschen Bundesländern verabschiedet wurden, nicht aberFootnote 10 in den ostdeutschen Bundesländern (Schulten und Pawicki 2008; Sack 2010; Seikel 2014). Der Interessenkonflikt zwischen west- und ostdeutschen Bauunternehmen und ihre politische Verlängerung in Gestalt der Tariftreueregelungen entsprach damit im innerdeutschen Maßstab dem Konflikt zwischen ost- und westeuropäischen Ländern im Rahmen der Entsenderichtlinie.

Der Konflikt um die Einführung von Tariftreuegesetzen verlief aber nicht nur zwischen west- und ostdeutschen Wirtschaftsverbänden und Politik. Vielmehr verstieß dies auch gegen die traditionelle Auffassung in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, dass die Auftragsvergabe möglichst frei von ‚vergabefremden‘ Zielen zu halten sei und die Erstreckung nicht-repräsentativer Tarifverträge durch Tariftreueklauseln daher weder vom geltenden haushaltsrechtlichen Vergaberecht, noch vom europäischen Recht gedeckt sei (stellvertretend Riese 1998, S. 236; Rittner 1999; anders demgegenüber Rust 1999; Burgi 2001). Die rechtliche Klärung dieser Frage zog sich daher über mehrere Jahre und Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht, das 2006 die Berliner Tariftreueregelung für zulässig nach dem deutschen und europäischen Vergaberecht erklärte (Beschluss vom 11. Juli 2006 (1 BvL 4/00)). Bis dahin waren bereits zahlreiche Bundesländer dem Berliner Beispiel gefolgt. Im Jahr 2008 hatten mit Ausnahme von Baden-Württemberg alle westdeutschen Bundesländer entsprechende Regelungen in ihren Vergabegesetzen verankert (Schulten und Pawicki 2008). Dass die ‚Sozialpolitisierung‘ der Auftragsvergabe den Bundesländern überlassen blieb und hier auch zu der vielbeklagten Uneinheitlichkeit von Landesvergabegesetzen führte, hatte seinen Grund in den fehlenden politischen Mehrheiten auf Bundesebene: Dort war der Entwurf der rot-grünen Bundesregierung für ein Bundestariftreuegesetz im Jahr 2002 von der Mehrheit der unionsgeführten Länder im Bundesrat abgelehnt worden.

Das ‚Rüffert‘-Urteil kam daher trotz der auch in Deutschland nicht unumstrittenen Tariftreuegesetze als „Überraschung“ (Sack 2010, S. 621) und „Schock“ (Schulten et al. 2012, S. 44) daher. Die Reaktionen auf diesen Schock variierten dabei in hohem Maße mit der politischen Zusammensetzung der Landesregierungen, was den Einfluss des Parteienwettbewerbs bestätigt (Sack 2010; Sack und Sarter 2018b). Zwar sprachen sich in mehreren CDU-geführten Ländern auch die in der Union einflussreichen Verbände der mittelständischen Wirtschaft zum Teil explizit für eine rechtssichere Anpassung der Gesetze aus, fast alle CDU-geführten Länder schafften die Tariftreuegesetze jedoch ersatzlos ab (Sack 2010, S. 635). Die SPD-geführten Länder hingegen passten die Gesetze an und holten dafür zum Teil umfassende Rechtsgutachten ein, um die europarechtlichen Spielräume auszuloten. Im Ergebnis haben die novellierten Vergabegesetze zwar die Tariftreue-Bestimmungen auf die allgemeinverbindlichen Tarifverträge beschränkt und die konstitutive Tariftreue damit in Einklang mit dem ‚Rüffert‘-Urteil auf eine deklaratorische Tariftreue zurückgestutzt – mit Ausnahme des ÖPNV, für den eine gesonderte europäische Rechtsgrundlage (EG 1370/2007) weiterhin konstitutive Tariftreueregelungen zulässt. Jedoch beließen die SPD-geführten westdeutschen Landesregierungen es nicht dabei, sondern nutzten die Reformen für die Einführung eines deutlich breiteren Spektrums an sozialen und ökologischen Kriterien. Dadurch wurden „mehr ‚vergabefremde‘ Kriterien im Sinne der Sozial- und Umweltstandards festgeschrieben (…) als in den ursprünglich geltenden Tariftreueregelungen“ (Sack 2010, S. 637). Ermöglicht worden sei dies auch durch eine gewisse Normenpluralität des europäischen Rechts, die nicht zuletzt in der 2004 novellierten europäischen Vergaberichtlinie zum Ausdruck kam (ebda., S. 238).

Das ‚Rüffert‘-Urteil hatte insofern weder einen bloßen Rückbau von Tariftreueregelungen zur Folge, noch allein Gesetzesanpassungen, die den Status quo ante so weit wie möglich zu erhalten suchten. Vielmehr hat es eine Gelegenheit für Gesetzesinnovationen eröffnet, die sowohl der Stoßrichtung des Urteils zuwiderlaufen, als auch von den ursprünglichen Tariftreueregelungen abweichen. Eine besonders bemerkenswerte Innovation war in diesem Kontext der vergabespezifische Mindestlohn, der zum ersten Mal bereits kurz vor dem ‚Rüffert‘-Urteil in das Berliner Landesgesetz eingeführt worden war, und im Rahmen der Gesetzesanpassungen bis 2014 in zehn weiteren Bundesländern eingeführt wurde. Mit der Beibehaltung dieser Regelung in Berlin nach dem ‚Rüffert‘-Urteil betrat man nach der eigenen Einschätzung des damaligen Wirtschaftssenators der Linken, Harald Wolf, „juristisch neues und nicht völlig sicheres Terrain“ im Hinblick auf die europarechtliche Zulässigkeit (Wolf 2016, S. 186). Man betrat aber vor allem auch neues Terrain im deutschen System der Lohnfindung. Denn vergabespezifische Mindestlöhne weichen von den vorherigen Tariftreueregelungen insofern ab, als sie auch Branchen erfassen, in denen es gar keine Tarifverträge gibt, auf die sich eine konstitutive oder auch deklaratorische Tariftreueregelung beziehen könnte. Die Regelung verhilft also nicht Löhnen zur Durchsetzung, die zuvor von den Tarifparteien verabschiedet wurden, sondern setzt diesen Lohnstandard selbst – für Branchen, wo diese mangels verhandlungsfähiger oder -williger Tarifparteien fehlen. Eine solche kompensatorische staatliche Lohnpolitik war dem deutschen System der Lohnsetzung bis dahin völlig fremd und wurde lange Zeit sowohl von den Arbeitgeberverbänden als auch von Teilen der Gewerkschaften mit Verweis auf das Prinzip der Tarifautonomie abgelehnt.

Mit dieser Zielverschiebung oder -anreicherung ging daher auch ein Wechsel in den Unterstützer-Koalitionen einher. Während konstitutive und deklaratorische Tariftreueregelungen sich auch als Resultat einer „klassenübergreifenden Koalition“ (Seikel 2014, S. 17), vor allem zwischen IG BAU und Arbeitgeberverbänden des (westdeutschen) Baugewerbes erklären lassen, gilt dies für die vergabespezifischen Mindestlöhne eben nicht: Unterstützt wurden sie von Gewerkschaften und den Parteien des linken politischen Spektrums. Die Wirtschaftsverbände einschließlich der Verbände des Baugewerbes lehnten solche vergabespezifischen Mindestlöhne hingegen mit Verweis auf die Tarifautonomie ab (Wolf 2016, S. 184; Sack und Sarter 2018b, S. 737). Dies galt auch in Ostdeutschland (Seikel 2014, S. 18) – dennoch entschieden sich mit Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg im Jahr 2011 zwei SPD-geführte ostdeutsche Landesregierungen für die Einführung eines vergabespezifischen Mindestlohns. Dabei war jeweils Die Linke als Oppositionspartei (Mecklenburg-Vorpommern) oder als Koalitionspartner (Brandenburg) eine wichtige treibende Kraft, die dem Thema auf die politische Tagesordnung verhalf.Footnote 11

Dass sich eine solche Koalition zugunsten vergabespezifischer Mindestlöhne zusammenfand, hatte ihre Ursache im Wesentlichen außerhalb der Vergabepolitik. Der Kontext dafür war zum einen die anhaltende Abnahme der TarifbindungFootnote 12 und die Ausdifferenzierung der Lohnentwicklung zwischen Branchen (u. a. Haipeter 2017), sowie die langjährige Kampagne für einen allgemeinen staatlichen Mindestlohn, der seit Ende der 1990er Jahre zunächst von den Gewerkschaften des Dienstleistungssektors (zunächst NGG, später ver.di) initiiert wurde. Erst allmählich gelang es hier, die Widerstände seitens der Gewerkschaften der produzierenden Industrie (v. a. IG Metall und IG BCE) sowie innerhalb der SPD zu überwinden (Bosch 2018). Mit dem Beschluss einer gemeinsamen Mindestlohnkampagne auf der Bundesversammlung des DGB im Mai 2006 wurde diese Kontroverse zumindest offiziell beigelegt und auch in der SPD schwanden die Vorbehalte. Als die rot-rote Koalition im Land Berlin dann 2008 wenige Wochen vor dem ‚Rüffert‘-Urteil den ersten vergabespezifischen Mindestlohn einführte, sahen die dagegen protestierenden Wirtschaftsverbände darin zu Recht auch ein „Signal“, von dem „Auswirkungen auf die Einführung flächendeckender Mindestlöhne in der Bundesrepublik Deutschland“ ausgehen sollten (zitiert nach Wolf 2016, S. 184). Der Meinungswandel zugunsten eines allgemeinen staatlichen Mindestlohns war tatsächlich nicht nur Voraussetzung für die Einführung und Ausbreitung vergabespezifischer Mindestlöhne. Er war auch ein Ziel dieser vergabespezifischen Mindestlöhne. Denn auch in den übrigen Bundesländern wurden sie nicht nur aufgrund ihrer unmittelbaren Schutzwirkung im Bereich der öffentlichen Aufträge eingeführt, sondern auch mit Blick auf ihre weitergehende symbolische Wirkung als Wegbereiter eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns (Dingeldey und Kathmann 2015; Jaehrling et al. 2018; Sack und Sarter 2018b). Eine noch breitere materielle und symbolische Wirkung erhielten diese landesspezifischen Lohnuntergrenzen dadurch, dass sie unter der Bezeichnung als ‚Landesmindestlohn‘ in den drei Stadtstaaten (Bremen, Hamburg, Berlin) sowie Schleswig–Holstein auf den Kreis der Zuwendungsempfänger*innen und auf öffentliche Unternehmen ausgeweitet wurden. Auch dabei war es ausweislich der begleitenden Debatten und Gesetzesbegründungen ein strategisches Ziel, damit ein Signal im Rahmen der bundesweiten Mindestlohndebatte zu setzen (Dingeldey und Kathmann 2015, S. 13–16).

Neben dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ist eine zweite allgemeine lohnpolitische Entwicklung für die Entwicklung der Landesvergabegesetze nach 2008 relevant: In Reaktion auf die abnehmende Tarifbindung und zunehmende Lohnkonkurrenz durch Unternehmen aus den neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten entschied die Bundesregierung in zeitlicher Nähe zum ‚Rüffert‘-Urteil, das Entsendegesetz für weitere Branchen zu öffnen und es dadurch den Tarifpartnern zu ermöglichen, zumindest Kernbestandteile der Tarifverträge – vor allem sogenannte Branchenmindestlöhne – auch auf entsandte Arbeitnehmer*innen zu erstrecken. Im Jahr 2007 war neben dem Baugewerbe bereits die Gebäudereinigungsbranche einbezogen worden. Ab dem Jahr 2009 folgten unter anderem mit dem Wach- und Sicherheitsgewerbe, der Abfallwirtschaft, Großwäschereien, Briefdienstleistungen und Weiterbildungseinrichtungen weitere Branchen, auf die ein erheblicher Anteil öffentlicher Aufträge entfällt. Damit wurde also bereits ohne Anpassung der Vergabegesetze ein Teil der Lücken, die das ‚Rüffert‘-Urteil zu erzeugen drohte, geschlossen (Sack 2010, S. 633), da diese Branchenmindestlöhne allgemein gelten. Dass die novellierten Landesvergabegesetze bis heute dennoch zum Teil mit deklaratorischen Tariftreueregelungen auf sie Bezug nehmen, ermöglicht den öffentlichen Auftraggebern, sie vertraglich zu verankern und ihre Durchsetzung durch eigene Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu unterstützen (s. dazu auch Kap. 9 in diesem Buch).

Im Unterschied zu den konstitutiven Tariftreueregeln vor dem ‚Rüffert‘-Urteil verleihen die über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) erstreckten tarifvertraglichen Regelungen jedoch nicht dem ganzen Tarifgitter Gesetzeskraft, sondern nur wenigen Kernbestandteilen – zumeist der jeweils unterste Tariflohn für Ungelernte, in manchen Fällen auch ein zweiter, höherer Tariflohn für Fachkräfte, sowie Zuschläge und Urlaubsansprüche.Footnote 13 Im Vergleich zu den konstitutiven Tariftreueregelungen kommen diese Branchenmindestlöhne einem Rückbau von vergabespezifischen Schutzmaßnahmen gleich. Der Rückbau wird jedoch abgefedert durch eine Erhöhung allgemeiner Schutzmaßnahmen im Zuge der umfassenderen ‚Hybridisierung‘ der Lohnpolitik. Während die vergabespezifischen Lohnklauseln vor dem ‚Rüffert‘-Urteil sich als partielle Kompensation für die nachlassende allgemeine Tarifbindung verstehen lassen (Schulten et al. 2012, S. 46), kompensieren die Branchenmindestlöhne wenigstens partiell die durch das ‚Rüffert‘-Urteil geschlagene Lücke bei den vergabespezifischen Lohnklauseln. Zumindest für die Branchen mit Mindestlöhnen nach dem AEntG verliert die Arena der Vergabepolitik damit nach ‚Rüffert‘ an Bedeutung für die Lohnsetzung. Für diejenigen Branchen ohne Branchenmindestlöhne und allgemeinverbindliche Tarifverträge – zu ihnen zählt unter anderem das Schulcatering – gewinnt Vergabepolitik hingegen als Arena der Lohnsetzung durch die vergabespezifischen Löhne an Bedeutung.

Zusammenfassend veranschaulicht diese Entwicklung, wie unter der Voraussetzung entsprechender politischer Mehrheiten und einer öffentlichkeitswirksamen Gegenmobilisierung durch die Gewerkschaften „wettbewerbs- und austeritätsorientierte Top-down-Entscheidungen gegenteilige Reaktionen produzieren können“ (Sack und Sarter 2018b, S. 739). Sie veranschaulicht auch, wie solche Gegenreaktionen auf nationaler bzw. subnationaler Ebene wiederum als Bumerang auf die europäische Ebene zurückkehren. Denn die Vorlage des ‚RegioPost’-Falls zur Zulässigkeit des rheinland-pfälzischen vergabespezifischen Mindestlohns beim EuGH war, wie oben gesehen, einer von mehreren Schritten in einem Kurswechsel der europäischen Politik. Insbesondere unterstreichen diese Entwicklungen aber auch, dass der Policy-Wandel in der Vergabepolitik sich nicht als bloße Abfolge von Reaktionen und Gegenreaktionen zwischen europäischer und nationaler Ebene verstehen lässt. Vielmehr ist er Teil eines übergreifenden Policy-Wandels in der Lohnpolitik, der auf die Schwächen des traditionellen Systems der industriellen Beziehungen reagiert. Dieser übergreifende Wandel hat auch die Phase nach der Reform der europäischen Vergaberichtlinien stark geprägt.

4.2 Schritte aus dem ‚Rüffert‘-Schatten heraus: Die Entwicklung nach 2015

4.2.1 Die Umsetzung der Vergaberechtsreform in nationales Recht: Mehr dürfen, weniger müssen

Die Umsetzung der neuen Vergaberichtlinien in nationales Recht hat auch in Deutschland eine Reihe von Klarstellungen und Öffnungen für ‚strategische Zwecke‘ mit sich gebracht (für eine Übersicht der wichtigsten Neuerungen s. Tab. 4.2 unten). Insgesamt nimmt die deutsche Vergaberechtsreform aber nur eine „vergleichsweise moderate Neubewertung der ökologischen und sozialen Zwecke“ vor (Burgi 2018, § 7 RN 20). Das liegt zum einen daran, dass in vielen Landesvergabegesetzen spätestens nach dem ‚Rüffert‘-Urteil schon zahlreiche strategische Ziele Eingang in das deutsche Vergaberecht gefunden hatten, sodass Burgi in ihrer Aufwertung „eher die nachträgliche Anerkennung einer ohnehin schon bestehenden Rechtslage“ sieht (Burgi 2015, S. 19). Zum anderen liegt es an der bewusst moderaten Umsetzung einer Richtlinie, die ihrerseits nur eine moderate Öffnung zugunsten sozialer Ziele vorsah. In dieser Zurückhaltung kommt die grundsätzlich skeptische Haltung zum Tragen, die die Bundesregierung bereits in den Verhandlungen zur europäischen Vergaberichtlinie einnahm – die Auswertung von Stellungnahmen und Vermerken des federführenden Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) lässt Semple sogar von einer „active hostility within BMWi towards the objective of supporting environmental and social policies in procurement“ sprechen (Semple 2018, S. 114). Die Bundesregierung legte sich entsprechend früh auf eine „Eins-zu-Eins“-Umsetzung der europäischen Vergaberichtlinien fest (BMWI 2015, S. 2). Konkret bedeutete dies, dass die in den Vergaberichtlinien enthalten Kann-Regelungen im GWB zum 18. April 2016 in ebensolche Kann-Regelungen umgesetzt und auf verpflichtende Maßnahmen weitgehend verzichtet wurde. Gesetzliche Verbote oder Gebote, die die Richtlinie den Mitgliedsstaaten durchaus offenließ, wurden also nicht ausgeschöpft – etwa die Möglichkeit, eine Vergabe rein nach Preisgesichtspunkten zu verbieten.Footnote 14

Tab. 4.2 Soziale Kriterien: Zentrale Neuerungen im deutschen Vergaberecht vor und nach der Gesetzesnovellierung 2016

Erneut entschied sich der Gesetzgeber damit dagegen, zur Frage der strategischen Ziele eigene bundesweit geltende Bestimmungen zu treffen und damit auch den viel beklagten „Wildwuchs an Landesvergabegesetzen“ zu begrenzen.Footnote 15 Forderungen unter anderem von Seiten der Gewerkschaften nach einer bundesweiten Tariftreueregelung (DGB 2017; DGB 2020a) blieben damit unerfüllt. Stattdessen delegiert das GWB diese Fragen weiterhin an nachgeordnete Ebenen. Allerdings nutzte die Bundesregierung die Gelegenheit, den ‚Wildwuchs‘ der Landesvergabegesetze einzuschränken, indem das novellierte GWB den Landesgesetzgeber nur noch ermächtigt, verpflichtende Regelungen im Bereich der Ausführungsbedingungen (§ 129 GWB) zu erlassen. Zur Berücksichtigung ökologischer bzw. sozialer Aspekte bei den Zuschlagskriterien, also bei der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Angebote, dürfen öffentliche Auftraggeber also von den Landesvergabegesetzen, anders als zuvor, nicht mehr verpflichtet werden. Wie zuvor beim ‚Rüffert‘-Urteil wurde auch auf diese Einschränkung bei der Überarbeitung der Landesvergabegesetze allerdings nicht mit einem bloßen Abbau entsprechender Bestimmungen reagiert, sondern zum Teil auch mit Änderungen, die sich als ‚Gegenpolitik‘ interpretieren lassen.Footnote 16

Die insgesamt „stärkere Betonung des Dürfens anstatt des Müssens“ (Burgi 2018, § 7, RN 21) verlagert die Entscheidung also auf die Ebene des einzelnen Auftraggebers. Während die Gewerkschaften mehr Soll- und Muss-Regelungen anstelle der Kann-Regelungen gefordert hatten (Interview DGB Bundesvorstand, 8/2017; DGB 2017), sahen die von uns befragten Vertreter*innen von öffentlichen und gewerblichen Beratungsstellen darin überwiegend eine sinnvolle Differenzierung, die großen Vergabestellen mit dem entsprechenden Know-how die nötigen Freiräume einräumt, kleinere aber nicht überfordert (ähnlich Burgi 2018, § 7, RN 20). Auch die Ermessensspielräume der einzelnen Auftraggeber werden allerdings unter Vorbehalte gestellt: Neben dem ‚Bezug zum Auftragsgegenstand‘ ist dies insbesondere das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, welches zwar bereits zuvor als allgemeine rechtstaatliche Maxime galt, nun aber erstmals ausdrücklich im Einklang mit der starken Betonung des Grundsatzes im europäischen Recht auch gesetzlich verankert und dabei zu einem weiteren Vergabegrundsatz (neben Wettbewerb, Transparenz, Wirtschaftlichkeit) aufgewertet wurde (§ 97 Abs. 1 GWB) (Burgi 2015; Kühl 2017; Meurers 2020). Sämtliche als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit klassifizierten Maßnahmen müssen demnach einen legitimen Zweck sowie die Gebote der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zur Zweckerreichung erfüllen. Für arbeitsbezogene Anforderungen ergeben sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz „durchaus spürbare Schranken“ (Burgi 2015, S. 28), aber auch erneute rechtliche Unsicherheit.Footnote 17 Dies gilt auch und gerade für die Frage der zulässigen vergabespezifischen Lohnuntergrenzen (ausführlich Krause 2019, S. 72 ff.). So blieb auch nach dem ‚RegioPost’-Urteil mit Verweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beispielsweise strittig, ob verbindliche Lohnuntergrenzen oberhalb des neu eingeführten gesetzlichen Mindestlohns dem Gebot der Erforderlichkeit entsprechen.

Die leichte Ausweitung der Ermessensspielräume für einzelne Vergabestellen wurde also durch das neue Gesetz mit Bremsen für verpflichtende Regeln und mit ermessensbeschränkenden Vorbehalten begleitet. Burgi sieht den Beitrag der neuen Vergaberichtlinien im Bereich der strategischen Ziele daher in erster Linie im Gewinn an Rechtssicherheit für diejenigen Vergabestellen, die solche strategischen Ziele verfolgen möchten (Burgi 2018, § 7, RN 20–22).

4.2.2 Vergabespezifische Mindestlöhne: vom „Auslaufmodell“ zum Vorreiter eines ‚living wage‘

Der Verzicht auf eine bundesweite Tariftreueregelung hatte zur Folge, dass diese Frage weiterhin auf Ebene der Bundesländer entschieden wurde. Für die Entwicklung der Landesvergabegesetze nach 2015 markiert dabei weniger die Vergaberechtsreform oder die veränderte Rechtsprechung des EuGHs (‚RegioPost‘, ‚Elektrobudowa’) eine Wende, sondern vor allem die Einführung des staatlichen Mindestlohns zum Jahr 2015. Mit 8,50 € pro Stunde lag er auf oder nur leicht unter dem Niveau der vergabespezifischen Mindestlöhne, die zu diesem Zeitpunkt in den Bundesländern galten. Für die Landesvergabegesetze hatte dies unterschiedliche Konsequenzen, und erneut schlagen sich in diesen unterschiedlichen Antworten der Länder Parteiendifferenzen nieder.

Dabei sah es zeitweise zunächst so aus, als seien die vergabespezifischen Mindestlöhne und Landesmindestlöhne auf dem Weg vom Vorreiter des Mindestlohns hin zum „Auslaufmodell“ (Dingeldey und Kathmann 2015). Denn ein Teil der Bundesländer schaffte den vergabespezifischen Mindestlohn zunächst ab oder ließ ihn im Laufe die darauffolgenden Jahre vom allgemeinen staatlichen Mindestlohn überholen, da er nun als redundant galt (Rheinland-Pfalz, Saarland, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg, Bremen). Jedoch ist es seit 2017 zu einer „Renaissance“ (Schulten 2020) von vergabespezifischen Mindestlöhnen gekommen: Ein anderer Teil der Bundesländer entschied sich für die Beibehaltung und Anhebung der vergabespezifischen Mindestlöhne deutlich über das Niveau des staatlichen Mindestlohns – allen voran Schleswig–Holstein, das im Jahr 2017 eine Erhöhung auf 9,99 € beschloss. Die damalige SPD-Landesregierung war damit dem bereits zuvor im Landesgesetz verankerten Ziel gefolgt, dass das Land sich seiner „Verantwortung für eine angemessene Vergütung der Beschäftigten“ auch bei Auslagerung von Aufgaben auf private Unternehmen nicht entziehen dürfe (Landtag Schleswig–Holstein, Drucksache 18/187, S. 24, zitiert nach Schulten 2014, S. 5). Entsprechend war hier die unterste Tarifgruppe des Tarifvertrages der Länder für den öffentlichen Dienst (TV-L) als Orientierungsgröße für die Höhe des vergabespezifischen Mindestlohns festgeschrieben.

Diesem Beispiel folgend haben seitdem die drei Stadtstaaten sowie alle ostdeutschen Bundesländer beschlossenFootnote 18, den vergabespezifischen Mindestlohn auf einem Niveau deutlich oberhalb des bisherigen gesetzlichen Mindestlohns fortzuführen. Dabei schob sich auch hier das Ziel einer „angemessenen“, oder „guten“ Bezahlung in den Vordergrund – und nicht mehr die bloße Bedarfsdeckung für eine alleinstehende Person und die Vermeidung von aufstockendem Sozialleistungs-Bezug, was als Orientierungsgröße noch die erste Generation vergabespezifischer Mindestlöhne dominiert hatte (Dingeldey und Kathmann 2015, S. 12, Nassibi et al. 2016, S. 6). Die ‚Renaissance‘ vergabespezifischer Mindestlöhne ist also bei genauer Betrachtung eine Weiterentwicklung: Die zweite Generation der vergabespezifischen Mindestlöhne ab 2017 beansprucht nicht mehr nur, ein Lohndumping zwischen Bietern durch eine absolute Lohnuntergrenze zu verhindern und die öffentlichen Kassen durch unmittelbar existenzsichernde Löhne zu entlasten, sondern „öffentliches Geld nur für gute Arbeit“ (Berlin) auszugeben, oder den Beschäftigten öffentlich beauftragter Firmen „altersarmutsfeste“ Löhne (Brandenburg,Footnote 19 ähnlich BremenFootnote 20) sowie „gute und faire Arbeitsbedingungen“ (HamburgFootnote 21) zu gewährleisten. Sie soll „die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur phasenweise (während der Erbringung der Leistung) verbessern, sondern […] auch einen Beitrag zu einer nachhaltigen Verbesserung der Einkommenssituation leisten“ (Mecklenburg-Vorpommern)Footnote 22.

Damit dehnen die Länder hier wenigstens ansatzweise auf den Bereich der öffentlichen Aufträge den Anspruch aus, der lange Zeit für den öffentlichen Dienst erhoben wurde, nämlich als Staat ‚guter Arbeitgeber‘ zu sein – was sich gerade im Bereich gering qualifizierter Tätigkeiten in höhere Löhne gegenüber der Privatwirtschaft übersetzte (u. a. Gottschall 2009). Bei der zweiten Generation vergabespezifischer Löhne war der Abstand zum gesetzlichen Mindestlohn zu Beginn relativ gering, wie in Brandenburg und Berlin, wo er im Jahr 2017 auf einen Stundenlohn von 9 € angehoben wurde (im Vergleich zum gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde). Mittlerweile hat sich der Abstand jedoch in allen Bundesländern, die über einen vergabespezifischen Mindestlohn verfügen, vergrößert und liegt aktuell in vier Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Bremen, Thüringen) um mehr als 20 % über dem gesetzlichen Mindestlohn (9,82 € ab Jan. 2022). Der derzeit höchste Lohn im Land Brandenburg liegt mit 13 € pro Stunde sogar um 35 % darüber (s. Tab. 4.3).

Tab. 4.3 Entwicklung der Vergabemindestlöhne der ‚zweiten Generation‘, 2018–2022 (Stundenlohn in €)Footnote

Zusätzlich zu den bereits eingeführten Vergabemindestlöhnen haben die Regierungen zweier weiterer Bundesländer, Hamburg und Sachsen, die Einführung eines Vergabemindestlohns angekündigt. In Hamburg hat die Regierung im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen angekündigt, auch öffentlich beauftragte Firmen zur Einhaltung des bislang nur für öffentliche Unternehmen und Zuwendungsempfänger geltenden Landesmindestlohn von derzeit 12 € zu verpflichten. In Sachsen hat die Regierungskoalition aus CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls im Koalitionsvertrag beschlossen, einen vergabespezifischen Mindestlohn in Höhe der untersten Entgeltgruppe des Tarifvertrags der Länder (bzw. EG 1, Stufe 2 des TV-L) einzuführen; dies entspricht gegenwärtig (Stand 7/2021) einem Stundenlohn von 11,93 €. Dabei soll wie in Thüringen ein Vorrang allgemeinverbindlicher Tarifverträge und Branchenmindestlöhne gelten.

Einschränkend gilt es festzuhalten, dass selbst diese Stundenlöhne die Lohnunterschiede zum öffentlichen Dienst nicht vollständig nivellieren: Die im öffentlichen Tarifgitter vorgesehenen Lohnaufstiege mit zunehmender Dauer der Beschäftigung bleiben hier ebenso ausgeklammert wie die Alterszusatzversorgung des öffentlichen Dienstes.

Hinzu kommt, dass weitere Einschränkungen die Reichweite der vergabespezifischen Mindestlöhne verringern. So gelten sie zum Teil nur für Aufträge des Landes, nicht der Kommunen (Thüringen); oder sie können durch allgemeinverbindliche Tarifverträge oder Branchenmindestlöhne unterschritten werden (Thüringen, Sachsen (geplant)). In Bremen gelten sie schließlich nur im Unterschwellenbereich bzw. bei Aufträgen ‚ohne Binnenmarktrelevanz.

Die letztgenannte Einschränkung ist dabei wiederum vor dem Kontext der europäischen Rechtsprechung zu verstehen: Auch nach dem ‚RegioPost’-Urteil blieben unter Vergaberechtler*innen und -politiker*innen wie erwähnt rechtliche Zweifel bestehen, ob vergabespezifische Mindestlöhne auch noch nach der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zulässig seien (Nassibi et al. 2016; Krause 2019, S. 81 ff.). Das Urteil hatte sich auf einen Zeitpunkt vor Einführung des allgemeinen Mindestlohns bezogen und bewertete zunächst nur in diesem Kontext die Einführung einer absoluten gesetzlichen Lohnuntergrenze durch ein Vergabegesetz als verhältnismäßig. Ein neueres Rechtsgutachten zum Bremischen Tariftreuegesetz hält diese vorsichtige Lesart jedoch spätestens seit der Neufassung der Entsenderichtlinie für hinfällig und empfiehlt eine Streichung der Binnenmarktklausel (Klocke 2021, S. 16 ff.). Zudem stellt das ‚RegioPost’-Urteil für die betroffene Branche (Postdienstleistungen) heraus, dass das Fehlen eines branchenspezifischen Mindestlohns nach dem AEntG alternativ einen Vergabemindestlohn rechtfertige. Daher verbleibt ein „Restrisiko“ (Krause 2019, S. 83) bezüglich der Frage, ob verbindliche Lohnuntergrenzen auch oberhalb von Branchenmindestlöhnen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.Footnote 24 Dieses Restrisiko schließt die Regelung zum Vorrang von auch niedrigeren Branchenmindestlöhnen in Thüringen aus. In den anderen Bundesländern hingegen (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) ist man ein solches Restrisiko eingegangen.

Trotz der genannten Einschränkungen bleibt festzuhalten, dass die zweite Generation der Vergabemindestlöhne, wie schon die erste Generation, eine erneute Expansion sozialer Ziele im Vergaberecht bedeutet. Zu erklären ist auch sie weniger durch die europäische Vergaberechtsreform und die neue EuGH-Rechtsprechung – von dort erhielt sie allenfalls indirekte und symbolische Unterstützung, da die oft als ‚Paradigmenwechsel‘ für soziale Zwecke apostrophierte Reform ebenso wie das neue Urteil dafür zumindest eine allgemeine Legitimation boten. Die Hauptursachen der Zielverschiebung hin zum Staat als ‚Gutem Auftraggeber‘ sind jedoch wiederum im übergreifenden Politikwandel im deutschen System der Lohnsetzung zu suchen, und erneut sind es zumindest auch die Dynamiken des Parteienwettbewerbs, die sich hier niederschlagen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei der Partei Die Linke zu: Diese hatte bereits Mitte der 2000er Jahre die Politisierung der Privatisierung öffentlicher Aufgaben „als einen politischen Markenkern für sich entdeckt“ (Sack und Sarter 2016, S. 350). Zudem hat sie sich im Wählerstimmenwettbewerb mit der SPD bereits vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns für eine deutliche Erhöhung auf ein armutsfestes Niveau eingesetzt. In dem Maße, wie sie nach 2015 Regierungsverantwortung übernahm, konnte sie diese Position auch in die Landesvergabepolitik einbringen: Berlin wurde bereits bei der ersten Generation der vergabespezifischen Mindestlöhne unter einer rot-roten Regierung zum Vorreiter, und hat sich bei der zweiten Generation mit einer starken Anhebung im Jahr 2020 (von 9,00 auf 12,50 €) unter einer rot-rot-grünen Regierung zunächst an die Spitze gesetzt. Brandenburg, das den Mindestlohn mittlerweile auf (13 € angehoben hat, war unter einer rot-roten Regierung mit Berlin und Schleswig–Holstein zusammen eines der ersten Bundesländer, das sich für die Beibehaltung Weiterentwicklung vergabespezifischer Mindestlöhne entschieden. Es ist zudem kein Zufall, dass in zwei weiteren Ländern mit Regierungsbeteiligung der Linken (Bremen) bzw. sogar einem linken Ministerpräsidenten (Thüringen) mit die derzeit höchsten vergabespezifischen Mindestlöhne verabschiedet wurden. Eine Mitwirkung der Linken ist allerdings keine notwendige Bedingung: Mit Mecklenburg-Vorpommern (2018), Brandenburg (2019), Sachsen (2019) und Hamburg (2020) haben auch Regierungen ohne Beteiligung der Linken (aber jeweils mit Beteiligung der SPD) eine deutliche Anhebung ihrer vergabespezifischen Mindestlöhne beschlossen oder per Koalitionsvertrag vereinbart.

Dass der Schwerpunkt dieser neuen Generation von Mindestlöhnen dabei bislang in Ostdeutschland liegt, dürfte neben der dort bislang starken Stellung der Linken als Regierungs- oder Oppositionspartei auch mit den Gründen zu tun haben, die bereits die Einführung der ersten Generation von vergabespezifischen Mindestlöhnen in Ostdeutschland begünstigte: das weiter sinkende Niveau der Tarifbindung und die größere räumliche Nähe zu osteuropäischen Nachbarländern mit niedrigerem Lohnniveau.

Tatsächlich besitzt die zweite Generation von Vergabemindestlöhnen aufgrund ihrer Höhe nun eine deutlich größere Reichweite als die erste Generation, da sie höher als die Branchenmindestlöhne in vielen Branchen mit hohem öffentlichen Auftragsvolumen liegen. Sie sind also nicht nur dort wirksam, wo die Tarifbindung schwach ist und allgemeinverbindliche Lohnuntergrenzen oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns fehlen – wie im Schulcatering, bei den Post-Dienstleistungen, oder Wäscherei-Dienstleistungen für Krankenhäuser und Pflegeheime; sondern auch dort, wo es durchaus Branchenmindestlöhne oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns gibt – bis hin zur Braubranche (s. Abb. 4.1). Das gilt zumindest für die Vergabemindestlöhne ab 12 €, wie sie in Bremen, Brandenburg und Berlin zu finden sind.

Abb. 4.1
figure 1

(Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis der Angaben des ZollsFootnote

https://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Arbeit/Mindestarbeitsbedingungen/Mindestlohn-AEntG-Lohnuntergrenze-AUeG/Branchen-Mindestlohn-Lohnuntergrenze/uebersicht_branchen_mindestloehne.html?isPopup=true&view=render%5BStandard%5D&nn=144400

)

Höhe der Branchenmindestlöhne im Verhältnis zu Vergabemindestlöhnen, (Stundenlöhne in EUR) (Stand Januar 2022).

Wie im Falle der ersten Generation von vergabespezifischen Mindestlöhnen ist der übergreifende lohnpolitische Wandel auch bei der zweiten Generation nicht nur ein Hintergrund, der die politische Innovation – hier der Funktionswandel der vergabespezifischen Mindestlöhne – erklärt. Vielmehr erhält dieser übergreifende Politikwandel seinerseits auch Veränderungsimpulse von dem vergabespezifischen Politikwandel. Denn parallel zu der letzten Runde von Erhöhungen der vergabespezifischen Mindestlöhne hat auch die Forderung nach einer substantiellen Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns an politischem Gewicht gewonnen. Während dies bereits seit längerem eine Forderung der Linken ist (Die Linke 2017), haben in jüngerer Zeit auch SPD und der DGB sich diese Forderung zu eigen gemacht. Mit einem Eckpunktepapier forderten die beiden SPD-Minister Hubertus Heil (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz (Bundesministerium für Finanzen) im März 2021 die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf „mindestens 12 Euro“ im Jahr 2022 (BMAS und BMF 2021).

Diese Forderung stellt in zweierlei Hinsicht eine Weiterentwicklung bzw. sogar einen Bruch mit der ersten Version des gesetzlichen Mindestlohns dar, sowohl in Bezug auf die Zielsetzung, als auch in Bezug auf die Anpassungsmodalitäten. Ziel ist nun kein absolutes Existenzminimum mehr, sondern ein „living wage“, der soziale Teilhabe ermöglichen soll. Orientierungsgröße für die Anpassung ist daher nicht mehr nur die allgemeine Tariflohnentwicklung, sondern ein davon unabhängiger Maßstab: „Den Mindestlohn wollen wir deshalb in Richtung eines echten, auf Teilhabe gerichteten ‚living Wage‘ fortentwickeln und damit der Erwerbsarmut entgegenwirken.“ (ebda., S. 2). Als konkreten Maßstab dafür benennt das Papier die Armutsrisikoschwelle, also 60 % des Medianlohns. Dieser Vorschlag wiederum knüpft an den Indikator an, der zeitgleich im Kontext der Debatte zur europäischen Mindestlohnrichtlinie als einheitlicher Richtwert für nationale Mindestlöhne diskutiert wurde. Mit einer solchen, von der Tariflohnentwicklung unabhängigen Entwicklung wird der allgemeine gesetzliche Mindestlohn damit – wie zuvor bereits die zweite Generation der vergabespezifischen Mindestlöhne – noch stärker vom traditionellen System der Lohnfindung abgekoppelt. In den Koalitionsverhandlungen der neuen Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP konnte sich die SPD mit dieser Forderung durchsetzen; im Februar 2022 wurde die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 € zum 1. Oktober 2022 per Gesetz beschlossen. Für die zukünftigen Anpassungen des Mindestlohns wurde zugleich die Beibehaltung der bisherigen Anpassungsmechanismus (Beschlüsse der Mindestlohnkommission auf Basis der allgemeinen Tariflohnentwicklung) beschlossen.

Erneut wird anhand dieser jüngsten Entwicklungen die enge Verzahnung von allgemeiner (Mindest-)lohnpolitik und vergabespezifischem Mindestlohn deutlich. Die ‚zweite Generation‘ von Vergabemindestlöhnen hat nicht nur die unmittelbare Schutzwirkung im engeren Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe erhöht. Sie hat also nicht nur zur Folge, dass das Leitbild des ‚Guten Arbeitgebers‘ (das sich im Vergleich mit der Privatwirtschaft lange in höheren Löhnen vor allem im Bereich der unteren Qualifikationsgruppen im öffentlichen Dienst ausdrückte) nun durch die deutlich erhöhten vergabespezifischen Mindestlöhne auch auf die öffentlichen Aufträge ausgedehnt wurde und der Staat hier gewissermaßen die Rolle des ‚Guten Auftraggebers‘ beansprucht. Vielmehr hatten die politischen Entscheidungen und Debatten rund um die zweite Generation vergabespezifischer Mindestlöhne vielfach auch Vorbild- und Vorreiterfunktion für die Debatte um eine zweite Generation des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, und waren ihrerseits von diesen Debatten beeinflusst.

Neben dieser symbolischen Ausstrahlungswirkung sind aufgrund der relativ hoch angesetzten Vergabemindestlöhne auch reale Interaktionseffekte mit dem allgemeinen Tarifvertragssystem möglich: So ist denkbar, dass ein hoher vergabespezifischer Mindestlohn auch Schrittmacher für Tariflöhne in solchen Branchen wird, deren Löhne nur wenig oberhalb der Vergabemindestlöhne liegen bzw. von diesen eingeholt wurde – wie gesehen ist dies in einer beträchtlicher Anzahl von Branchen der Fall (s. Abb. 4.1). Neben solchen positiven ‚Ripple-Effekten‘ sind aber auch negative ‚Ripple-Effekte‘ möglich, also eine Orientierung der Tarifverhandlungen an den niedrigeren Vergabemindestlöhnen (Bosch und Weinkopf 2015).Footnote 26 Aus den beiden Branchen, die hier im Fokus stehen – Schulcatering und Sicherheits-Dienstleistungen, wurde zumindest in Berlin und Brandenburg in jüngster Zeit von Seite der Gewerkschaften die Forderung in die Tarifverhandlungen eingebracht, die (höheren) Vergabemindestlöhne als Orientierungsmarke für die Tarifverhandlungen zu nehmen und eine Angleichung der untersten Lohngruppe im Tarifwerk an diese Vergabemindestlöhne zu vereinbaren.Footnote 27 Ein Abgleich am Beispiel der Sicherheits-Branche ergibt hier allerdings kein klares Bild (s. Abb. 4.2). So haben sich die Nominallöhne von 2018 bis 2022 sowohl in Bundesländern ohne vergabespezifischen Mindestlohn (NRW, Bayern), als auch in solchen mit deutlich höherem vergabespezifischen Mindestlohn (Berlin, Brandenburg) und solchen mit niedrigerem Vergabemindestlohn (Mecklenburg-Vorpommern) nahezu gleich entwickelt. Am ehesten lässt sich die Entwicklung in Thüringen als Hinweise auf die Ausstrahlungswirkung des dortigen Vergabemindestlohns interpretieren: Hier wurden die recht starken Steigerungen des Vergabemindestlohns durch ähnlich starke Steigerungen der untersten Tariflöhne im Wach- und Sicherheitsgewerbe begleitet.

Abb. 4.2
figure 2

(Quelle: Eigene Berechnungen)

Nominallohnsteigerungen von Vergabemindestlöhnen und Branchenmindestlöhnen im Wach- und Sicherheitsgewerbe (WaSi) im Zeitraum 2018–2022, in % (2018 = 100 %).

4.2.3 Renaissance der konstitutiven Tariftreue

Neben der ‚Renaissance‘ bzw. dem Funktionswandel des vergabespezifischen Mindestlohns lassen sich nach 2015 zumindest erste Schritte auch für eine Renaissance der konstitutiven Tariftreue beobachten. Auch in dieser Hinsicht führt die Entwicklung also raus aus dem Schatten des ‚Rüffert‘-Urteils. Den Anfang machte hier die rot-grüne Landesregierung von Bremen: Dort wurden ab 2016 auch für das Baugewerbe repräsentative Tarifverträge zur obligatorischen Ausführungsbedingung erhoben. Zu diesem Zweck wurde analog zum ÖPNV ein eigener paritätisch besetzter Beirat eingerichtet, der Empfehlungen für die Auswahl der für das jeweilige Gewerbe einschlägigen und repräsentativen Tarifverträge ausspricht. Die SPD-geführte Landesregierung folgte damit dem ausdrücklichen Wunsch des mittelständischen Bauhandwerks, das sich aufgrund seiner weiterhin hohen Tarifbindung strukturell im Nachteil sah, solange lediglich die allgemeinverbindlichen Branchenmindestlöhne bei öffentlichen Aufträgen eine Lohnuntergrenze markierten (ausf. Jaehrling et al. 2016, S. 72 ff.; Jaehrling et al. 2018).

Dieser rechtlich ambitionierte Vorstoß blieb jedoch lange Zeit wenig beachtet. Ein deutlicher Impuls für weitere ähnliche Reformen ging demgegenüber von der novellierten europäischen Entsenderichtlinie und der darauffolgenden Reform des Arbeitnehmerentsendegesetzes aus. Unmittelbar nach Verabschiedung der Richtlinie und im Vorgriff auf ihre Umsetzung in deutsches Rechat kündigten in Brandenburg (2019), Bremen (2019) und in Hamburg (2020) die jeweiligen Regierungskoalitionen in ihrem Koalitionsvertrag mit Verweis auf die novellierte Entsenderichtlinie die Absicht zur Einführung bzw. Ausweitung (Bremen) konstitutiver Tariftreueregelungen an; in Bremen wurde die Ausdehnung auch auf weitere Branchen neben Bau und ÖPNV und auf Aufträge oberhalb der Schwellenwerte angekündigt.Footnote 28 In Thüringen (2019) und Berlin (2020) wurden Tariftreueregelungen eingeführt, ebenfalls unter Bezugnahme auf die novellierte Entsenderichtlinie. Eingefordert und unterstützt wurde dies in erster Linie durch die Gewerkschaften, vor allem vom DGB (u. a. DGB 2017, DGB Hessen-Thüringen 2019) und der IG BAU (u. a. IG BAU 2019) sowie weiteren DGB-Gewerkschaften (Ver.di 2019; IG Metall 2018), weniger durch die Arbeitgeberverbände.Footnote 29 Erneut holten die Akteure dabei Rechtsgutachten ein, um die neuen vergaberechtlichen Spielräume auszuloten (s. die veröffentlichten Versionen der Gutachten für den DGB (Zimmer 2019) und für die saarländische Regierung (Krause 2019).

Allerdings schöpfte die Regierungskoalition bei der Umsetzung der Richtlinie in das überarbeitete Arbeitnehmerentsendegesetz erneut den Rahmen nicht aus, den die novellierte Richtlinie zumindest nach Einschätzung von Teilen des juristischen Schrifttums und der Landesregierungen eröffnete.

  • So wurde nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, auch regionale allgemeinverbindliche Tarifverträge zu erstrecken, sondern weiterhin nur allgemeinverbindliche Tarifverträge, die das gesamte Bundesgebiet abdecken (kritisch Düwell 2020; DGB 2020a; anderer Auffassung Franzen 2021; BDA 2020; ZDB 2020). Dies bedeutet, dass die überwiegend auf regionaler Ebene abgeschlossenen, allgemeinverbindlichen Tarifverträge weiterhin nur Bindungswirkung für inländische Firmen haben, nicht für Firmen mit Sitz im Ausland. Für stark internationalisierte Branchen, in denen ausländische Wettbewerber sich regelmäßig an öffentlichen oder privaten Ausschreibungen beteiligen, wie insbesondere in der Baubranche, enthält auch das neue Entsendegesetz damit einen negativen Anreiz zum Abschluss regionaler allgemeinverbindlicher Tarifverträge.

  • Alternativ können weiterhin Branchenmindestlöhne per Rechtsverordnung erstreckt werden, nun mit drei statt vorher zwei unterschiedlichen Lohnstufen; weiterhin aber nicht das gesamte Tarifgitter.

  • Bezogen auf das Vergaberecht ist schließlich insbesondere die Möglichkeit in der Entsenderichtlinie relevant, zusätzlich zu allgemeinverbindlichen Tarifverträgen solche Tarifverträge oder Schiedssprüche auf entsandte Beschäftigte zu erstrecken, die für alle Unternehmen in einem Gebiet und einem Gewerbe „allgemein wirksam sind“ (Art. 3 Abs. 8 der Entsenderichtlinie (RL 96/71/EG). Entsprechende Forderungen zur Nutzung der erweiterten Möglichkeiten für die Landestariftreuegesetze waren auch von einzelnen Landesregierungen im Gesetzgebungsprozess an die Bundesregierung herangetragen wordenFootnote 30. Von diesen Möglichkeiten wurde jedoch bei der Umsetzung der Entsenderichtlinie kein Gebrauch gemacht (kritisch dazu DGB 2020a, Walser 2020).

Auch ein bundesweites Tariftreuegesetz könnte eine eigene rechtliche Grundlage schaffen und zur Vereinheitlichung der veschiedenene Regeln auf Länderebene beitragen. Hiermit scheint allerdings auf kurze Sicht nicht zu rechnen zu sein. Zwar war Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mit der Ankündigung eines Bundestariftreuegesetzes bereits 2018 an die Presse getreten; begrüßt und unterstützt wurde dies vor allem durch die IG BAU (2019) und den DGB, der nach internen Beratungen mit weiteren Mitgliedsgewerkschaften dazu ein Eckpunktepapier (DGB 2020b) mit eigenen Vorschlägen veröffentlichte. Das bereits erwähnte Eckpunktepapier von Bundesarbeitsminister Heil und Bundesfinanzminister Scholz vom März 2021 enthielt auch erste Eckpunkte zu einem Bundestariftreuegesetz und sah vor, dass öffentliche Aufträge von Bund, Ländern und Kommunen künftig nur an solche Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihren Beschäftigten „die einschlägigen durch Rechtsverordnung festgesetzten tarifvertraglichen Entlohnungsbedingungen gewähren“ (BMAS und BMF 2021, S. 5). Insgesamt habe sich die Idee zu einem eigenen Bundestariftreuegesetz durchaus in einer Art „Ping-Pong-Prozess“ zwischen BMAS und DGB-Gewerkschaften entwickelt (Interview DGB Bundesvorstand, 8/2020).Footnote 31 Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP von November 2021 beschränkt sich allerdings auf die Vereinbarung, die öffentliche Auftragsvergabe des Bundes – nicht der Länder und Kommunen – an die Einhaltung eines repräsentativen Tarifvertrages zu binden.Footnote 32

Vor diesem Hintergrund blieben die Diskussionen über eine gesetzliche Grundlage für konstitutive Tariftreueregelung auch nach Verabschiedung des Entsendegesetzes virulent. Zumindest nach Einschätzung verschiedener Rechtsgutachten steht es den einzelnen Bundesländern frei, in ihren Landesvergabegesetzen weitergehende Regelungen zu treffen (Zimmer 2019; Krause 2019; Klocke 2021), auch ohne eine entsprechende explizite gesetzliche Regelung auf Bundesebene. Die zurückhaltende Umsetzung der Entsenderichtlinie hat die Aktivitäten auf Länderebene zumindest nicht zum Erliegen gebracht.

  • Im November 2021 vereinbarte die neue Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern aus SPD und Die Linke in ihrer Koalitionsvereinbarung, das Landesvergabegesetz so weiterzuentwickeln, dass Aufträge „zukünftig nur noch an solche Unternehmen gehen, die für den Auftrag mindestens Tariflohn oder tarifgleichen Lohn zahlen sowie geltende Mindestarbeitsbedingungen gewährleisten“Footnote 33.

  • Ebenso kündigte die neue CDU/SPD/FPD-Landesregierung von Sachsen-Anhalt im September 2021 an, bis Mitte des Jahres 2022 ein Tariftreue- und Vergabegesetz zu verabschieden, welches sicherstellt, „dass die Vergabe öffentlicher Aufträge nur an Unternehmen erfolgt, die einem repräsentativen Tarifvertrag unterliegen oder die Bedingungen eines repräsentativen Tarifvertrages erfüllen.“Footnote 34. In beiden Ländern steht die Verabschiedung entsprechender Gesetze, ebenso wie in Bremen, Hamburg und Brandenburg noch aus.

  • Im Land Berlin ist das novellierte Vergabegesetz bereits zum 1. Mai 2020 in Kraft getreten. Eine Ausführungsvorschrift, die die konstitutive Tariftreuregelung in verbindliche Vorgaben für die auftraggebenden Stellen umsetzt, ist hier allerdings noch nicht veröffentlicht.

  • Im Saarland setzte die dortige Landesregierung zum 17. Dezember 2021 mit dem neuen ‚Saarländische Tariftreue- und Fairer Lohn-Gesetz‘ ihr seit längerem angekündigtes Vorhaben um, Kernbestandteile des jeweiligen branchenspezifischen Tarifvertrags durch Rechtsverordnung zur Ausführungsbedingung macht. Auch hier stehen die entsprechenden Rechtsverordnungen derzeit noch aus.

  • In Thüringen greift die 2019 eingeführte konstitutive Tariftreueregelung nur für Aufträge des Landes, lediglich fakultativ auch für Aufträge von Kommunen und anderen ‚nicht-staatlichen‘ öffentlichen Auftraggebern. Zudem behalten allgemeinverbindliche Löhne und Branchenmindestlöhne nach dem AentG Vorrang, selbst wenn die dort festgelegten Löhne diejenigen in repräsentativen Tarifverträgen unterschreiten (§ 10, Abs. 4 Thüringer Vergabegesetz (ThürVgG)). So bleibt man auch hier in den Branchen mit hohem Volumen öffentlicher Aufträge (u. a. Bau, Gebäudereinigung), die in der Regel Branchenmindestlöhne haben, ‚unter dem Radar‘ des europäischen Vergaberechts bzw. innerhalb der engen Grenzen, die das ‚Rüffert‘-Urteil und das alte Entsendegesetz gezogen haben. Nur in Branchen ohne Branchenmindestlöhne und ohne allgemeinverbindliche Tarifverträge können zumindest theoretisch als repräsentativ eingestufte Tarifverträge erstreckt werden, dann auch für Aufträge mit Binnenmarktrelevanz und für Unternehmen mit Sitz im Ausland. In der Praxis dürfte diese Regelung selten zur Anwendung kommen. Gegebenenfalls kann sie aber als Drohkulisse wirken, die die Sozialpartner in weiteren Branchen zur Beantragung von Branchenmindestlöhnen veranlasst. Schließlich gibt es auch in Thüringen noch keine Liste als repräsentativ festgestellter Tarifverträge; damit fehlt auch hier noch einer Grundlage für die effektive Anwendung des Gesetzes durch die Vergabestellen.

Auch wenn es mithin noch an den Verwaltungsvorschriften fehlt, entwickelt sich die konstitutive Tariftreue damit derzeit wieder zu einem weiteren Element der vergabespezifischen Lohnpolitik.

In welchen Branchen und Regionen die konstitutiven Tariftreueregeln sowohl der Landesgesetze als auch eines möglichen Bundestariftreuegesetzes zur Anwendung kommen können, hängt allerdings davon ab, welche Tarifverträge als solche „maßgeblichen“ oder „einschlägigen“ Tarifverträge infrage kommen – und vermutlich ist auch dies ein Grund dafür, dass die Ausführungsvorschriften der Länder so lang auf sich warten lassen. Hier stehen sich unterschiedliche Auffassungen dazu gegenüber, welcher Verbreitungsgrad erforderlich ist, um dem Begriff des „allgemein wirksamen“ Tarifvertrags im Entsendegesetz zu genügen. So hält es Zimmer (2019, S. 155) für erforderlich, dass der Tarifvertrag in mindestens zwei Dritteln der Unternehmen angewandt wird, was eine höhere Hürde als bei der Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit bedeuten würde.Footnote 35 Klein und Schneider (2019) und Krause (2019, S. 99 ff.) gehen demgegenüber davon aus, dass auch Tarifverträge, die die hohen Voraussetzungen einer entsenderechtlichen Erstreckung nicht erfüllen, im Vergabekontext durch Rechtsverordnung oder Vergabegesetz erstreckt werden können, weil dadurch alle potenziellen Bieter und damit alle relevanten Unternehmen erfasst sind und damit auch eine Gleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Unternehmen gewährleistet ist. Der DGB betont ebenfalls in seinem Eckpunktepapier, dass hier weniger strenge Kriterien zum Tragen kommen können als bei der Definition „repräsentativer“ Tarifverträge nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz, die lediglich auf quantitative Aspekte abhebt (DGB 2020b). Diese niedrigeren Hürden für „maßgebliche“ Tarifverträge begründet der DGB mit den weniger gravierenden Rechtsfolgen, da der Tarifvertrag nicht mit unmittelbarer Wirkung erstreckt, sondern nur zur Teilnahmebedingung für öffentliche Aufträge erhoben werde (Interview DGB-Bundesvorstand, 8/2020). Zugleich ist auch dem DGB daran gelegen, die Hürden nicht zu niedrig zu hängen, um zu vermeiden, dass jeder beliebige Tarifvertrag – auch solche mit nicht tariffähigen Organisationen – der Tariftreueerklärung zugrunde gelegt werden können (ebda.). Und auch Krause geht für die durch einfaches Landesvergabegesetz oder Rechtsverordnung als ‚repräsentativ‘ erklärten Tarifverträge davon aus, dass diese „innerhalb ihres Geltungsbereichs eine überwiegende Anzahl von Arbeitsverhältnissen prägen“ (Krause 2019, S. 101).

In Segmenten mit schwacher Tarifbindung, wie etwa dem Schulcatering, bietet daher die Renaissance der konstitutiven Tariftreue eher keinen neuen Ansatzpunkt zur Erhöhung der faktischen Tarifbindung. Hier bleibt stattdessen der vergabespezifische Mindestlohn der wichtigste Bezugspunkt – den ein Bundestariftreuegesetz, wie oben erläutert, ebenfalls auf breitere Basis stellen würde. Solange bis er durch einen deutlich erhöhten allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn eingeholt wird, wird der vergabespezifische Mindestlohn in solchen Regionen (u. a. in Ostdeutschland) und Branchen relevant bleiben, in denen die Tarifbindung zu gering ist, oder die Höhe der vereinbarten Löhne unter dem bleibt, was als ‚living wages‘ (Armutsrisikoschwelle bzw. unterste Tarifstufe im öffentlichen Dienst) definiert wird.

Insgesamt gingen also auch in der Phase nach 2015 starke Impulse vom Parteienwettbewerb und von politischen Akteuren aus: Neben den Gewerkschaften waren insbesondere die Parteien Die Linke und die SPD treibende Kräfte hinter der Expansion sozialer Ziele im Vergaberecht. Erneut ging auch nach 2015 viel Reformgeschehen ‚von unten‘, also von der Ebene der Bundesländer auf, weil durch die Umsetzung der geänderten europäischen Richtlinien (Vergabe- und Entsenderichtlinie) in nationales Recht zwar die Spielräume ausgeweitet wurden, die Bundesregierung aber vor allem im Hinblick auf Lohnvorgaben auf eigene Regeln verzichtet hat. Den Ball, den der europäische Gesetzgeber mit den neuen Richtlinien, insbesondere der Entsenderichtlinie, an die Mitgliedstaaten zurückgespielt hat (Seikel 2018), wurde also im Wesentlichen an die Bundesländer weitergepasst.

5 Fazit: Institutionalisiertes Nebeneinander von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung

Vergabepolitik bewegt sich, dies verdeutlicht die vorstehende Analyse, in einem Spannungsfeld aus Vermarktlichung und Sozialpolitisierung. In den letzten zehn Jahren gab es hier zwar einen deutlichen Schub in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung sozialer Ziele, einschließlich der Arbeitsbedingungen bei öffentlich beauftragten Unternehmen. Diese oft als Paradigmenwechsel bezeichnete Entwicklung macht aber den vorhergehenden Paradigmenwechsel zugunsten einer stärkeren Vermarktlichung der Auftragsvergabe nicht rückgängig. Die verschiedenen Elemente der Architektur der Vermarktlichung, wie sie oben beschrieben wurden, bleibt ein Grundgerüst der europäischen und deutschen Vergabepolitik.

Zum institutionalisierten Nebeneinander von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung

Wir haben es also gewissermaßen mit zwei verschiedenen Paradigmenwechseln zu tun, die sich überlagern, also in ein ‚institutional layering‘ (Streeck und Thelen, 2005) gemündet sind. Auch wenn die Bezeichnung ‚Paradigmenwechsel‘ einen bruchhaften, diskontinuierlichen Wandel suggeriert, sind beide Veränderungen eher kumulatives Ergebnis längerfristiger Entwicklungen. Die auf europäischen Druck erfolgte Einbettung der Auftragsvergabe in das Wettbewerbsrecht stellte dem vorherigen Primat von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gewissermaßen ein zweites Primat zur Seite, nämlich den Schutz von ausländischen wie inländischen Bietern. Das zuvor bereits im deutschen Haushaltsrecht bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel einer möglichst sparsamen Beschaffung und traditionellen, wirtschaftspolitischen ‚vergabefremden‘ Zwecken (etwa die Förderung des Mittelstands und/oder heimischer Unternehmen) wurde auf diese Weise um einen weiteren Pol, den Bieter- und Wettbewerbsschutz, ergänzt. Die regulative Nachverdichtung in Gestalt zunehmender Detailregelungen und Gerichtsurteile, die die europäischen primärrechtlichen Grundsätze expansiv ausdeuteten, haben in der Summe zu einer weiteren Zielverschiebung in Richtung des Wettbewerbsschutzes geführt.

Zugleich liegt die Erklärungslast für die Vermarktlichung der Vergabepraxis nicht lediglich in einer marktliberalen Verrechtlichung, die ‚von oben‘, also über den Weg der europäischen Politik und Rechtsprechung, Eingang in die Politik der Mitgliedsstaaten fand. Vielmehr haben auch Änderungen in der ‚Systemumwelt‘ der Vergabepolitik – Austeritätspolitik und Steuerwettbewerb sowie vor allem die Schwächung der kollektiven Selbstregulierung in den traditionellen Arenen der industriellen Beziehungen – dazu beigetragen. Denn in diesem Kontext entfalten sowohl die alten Vergabegrundsätze der Sparsamkeit als auch das neue Primat des Bieter- und Wettbewerbsschutzes eine andere, den Preiswettbewerb intensivierende Wirkung, als in einem Kontext mit hoher kollektiver Selbstregulierung, die den Unterbietungswettbewerb durch Flächentarifverträge bremst.Footnote 36 In der Summe stellen diese Änderungen zwar für sich genommen jeweils keinen Bruch mit dem vorherigen Regelwerk dar, im Ergebnis haben sie die Zweckbestimmung der öffentlichen Auftragsvergabe aber sehr wohl stark verändert.

Gleiches gilt auch für die zweite Entwicklungslinie, die Sozialpolitisierung – auch wenn diese sich insgesamt etwas sprunghafter und vor allem weniger linear vollzog (s. insbesondere den ‚Rücksetzer‘ für Tariftreueregelungen durch das ‚Rüffert‘-Urteil). Auch hier haben die Änderungen in Rechtsprechung und Gesetzgebung auf europäischer Ebene nach 2015 und deren Umsetzung in nationales Recht das institutionelle Regelwerk deutlich zugunsten sozialer Ziele geöffnet. Diese jüngere Entwicklung hebt den Konflikt zwischen Wettbewerbsschutz und sozialen Zielen nicht auf. Vielmehr ist es hier gewissermaßen zu einer Institutionalisierung des Nebeneinanders von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung gekommen. Wie beide Prinzipien ausbalanciert werden, hängt umso mehr von der Ausgestaltung von Gesetzen und Verwaltungspraxis auf der nationalen Ebene ab. Dies wurde bereits in der Vergangenheit nach dem ‚Rüffert‘-Urteil deutlich, und bleibt auch für die Zukunft absehbar. Denn die europäische Ebene hat mit dieser Institutionalisierung zweier widersprüchlicher Logiken den Ball gewissermaßen an die Mitgliedsstaaten zurückgespielt. Dort wurde, zumindest in Deutschland, zum Teil auch in anderen Ländern (Jaehrling et al. 2018), der Ball wiederum bislang vor allem der subnationalen Ebene und der Verwaltungspraxis überlassen. Gerade für die Verwaltungspraxis war und ist, wie wir im zweiten Teil des Buchs noch weiter ausführen, das institutionalisierte Nebeneinander eine prägende Rahmenbedingung.

Juridische Europäisierung und Parteienwettbewerb: Konfliktaustrag zwischen Verrechtlichung und Politisierung

Diese Doppelbewegung im Hinblick auf die Ziele findet eine Entsprechung im Hinblick auf den Modus des Konfliktaustrags: Während sich die Vermarktlichung in hohem Maße im Modus der Verrechtlichung vollzogen hat – also gestützt auf Verfahren, Akteure und Doktrinen des Rechtssystems, wurde die Sozialpolitisierung im Modus der Politisierung durchgesetzt – also gestützt auf Verfahren, Akteure und Ziel-Programme des politischen Systems. Damit ist hier nicht die allgemeine Aussage verbunden, dass sich das Rechtssystem in kapitalistischen Marktwirtschaften systematisch in den Dienst der Vermarktlichung stellt. Im Falle der Vergabepolitik haben sich die Befürworter einer marktliberalen europäischen Integration, allen voran die Generaldirektion Binnenmarkt der Europäischen Kommission, aber auch einzelne Mitgliedsstaaten und Unternehmen, jedoch sehr wohl auf das europäische wie auch auf die nationalen Rechtssysteme gestützt, um diese Vermarktlichung durchzusetzen: durch die Einrichtung entsprechender rechtlicher Verfahren zum Bieterschutz, durch ihre Nutzung (strategische Klageführung), durch die Kodifizierung von Fallrecht und dadurch auch die zunehmende regulative Verdichtung. Es bedurfte daher einer Politisierung, also einer Infragestellung der Ergebnisse dieser Verrechtlichung und der Gegenmobilisierung durch politische und zivilgesellschaftliche Akteure, um in das zunehmend feinmaschige, institutionell ‚dicke‘ Geflecht restriktiver rechtlicher Regelungen Breschen einzuschlagen zugunsten einer Öffnung für soziale Zwecke. Eine treibende Kraft bei dieser Gegenmobilisierung waren neben den Gewerkschaften und einigen Unternehmensverbänden politische Parteien, vor allem SPD und Die Linke. Dies gilt sowohl für die erste Generation der vergabespezifischen Mindestlöhne nach ‚Rüffert‘ (Sack 2010; Sack und Sarter 2018b) als auch, wie gezeigt, für die zweite Generation und die ‚Renaissance‘ der Tariftreue.

Diese Politisierung erfolgte wiederum nicht losgelöst vom Rechtssystem. So war die Politisierung der Rechtsprechung, im Sinne einer Infragestellung der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs und der Legitimität konkreter Urteile, eine Voraussetzung für die zumindest eigensinnigen, wenn nicht gegen-sinnigen Gesetzesanpassungen infolge des Laval-Quartetts – siehe die vergabespezifischen Mindestlöhne. Und umgekehrt erwiesen sich die neu geschaffenen rechtlichen Verfahren zum Bieterschutz auch als Einfallstor, über das der EuGH anhand der eigensinnigen Gesetze zu einer Neubefassung mit dem gleichen Grundkonflikt gebracht wurde. Dass er dabei eine partielle Kurskorrektur vornahm, lässt sich wiederum nicht zuletzt als Reaktion auf die Politisierung seiner eigenen Urteile erklären. Eine wichtige Rolle spielten bei der Suche nach den Lücken und Gestaltungsspielräumen in der verrechtlichten Vergabepolitik zudem jeweils auch Rechtsgutachten, die die politischen Akteure in Auftrag gaben, sowohl bei den vergabespezifischen Mindestlöhnen wie auch bei der Renaissance der konstitutiven Tariftreue. Die Verrechtlichung bleibt also ebenfalls prägendes Grundmuster für die (Sozial-)Politisierung: Letztere kann die Spielregeln und Spielzüge im rechtlichen Feld nicht ignorieren, sondern muss auch in dieser Arena agieren, um erfolgreich zu sein. Auf diese Weise haben Gesetzgebung und Rechtsprechung auch auf europäischer Ebene mit der Vergaberichtlinie 2014, der Entsenderichtlinie 2018 und den neueren EuGH-Urteilen seit 2015 nach und nach Schritte aus dem „lange Schatten“ (Schmidt 2018) des marktliberalen europäischen Fallrechts hinaus gemacht.

Wechselwirkungen zwischen Vergabepolitik und der Arena industrieller Beziehungen

Die Politisierung der Rechtsprechung und die Aneignung von rechtlichen Regeln und Verfahren sind aber nicht die einzigen Entwicklungsdynamiken, über die es zu einer Sozialpolitisierung der Vergabepolitik gekommen ist. Für das Verständnis dieser Entwicklungsdynamiken ist es vielmehr erforderlich, sich von einer zu engen Fokussierung auf die Wechselwirkungen zwischen europäischer und nationaler Ebene und auf das Feld der Vergabepolitik zu lösen. Die Auseinandersetzungen um die Sozialpolitisierung der Vergabepolitik sind Teil eines übergreifenden Grundsatzkonfliktes – nämlich der Konflikt um die Frage, wie mit der nachlassenden Kraft des traditionellen Repertoires zur kollektiven Selbstregulierung des Arbeitsmarktes, mit dem daraus resultierenden Lohndruck und mit den Interessenkonflikten zwischen den Marktteilnehmern aus ‚Hochlohn-‘ und ‚Niedriglohn‘-Ländern (zum Teil auch innerhalb des Lagers der Arbeitnehmer*innen) in der EU umzugehen ist. Dieser Grundsatzkonflikt wurde in Deutschland, und zum Teil auch in anderen Ländern, mit einer Hybridisierung der Lohnpolitik beantwortet. Der Wandel in der Vergabepolitik ist in diesen übergreifenden lohnpolitischen Wandel eingebettet. Um den vergabepolitischen Teil dieses Konfliktes zu verstehen, muss daher auch dieser erweiterte Kontext einbezogen werden. Dies vermeidet, der europäischen Rechtsprechung und Politik zu hohe Erklärungslast zuzusprechen und macht den Beitrag weiterer politikfeldspezifischer Eigendynamiken einschließlich der Dynamiken im System der industriellen Beziehungen sichtbarer.

So haben auch Lernprozesse in der trans- und supranationalen Interessenorganisation auf Gewerkschaftsseite zu dem Politikwandel auf europäischer Ebene beigetragen. Von größter Bedeutung auf nationaler Ebene sind bis heute vor allem die Wechselwirkungen zwischen Vergabepolitik und den Entscheidungen und Konflikten zum staatlichen Mindestlohn sowie zur Stärkung der Tarifbindung über eine Erstreckung von tarifvertraglichen Entlohnungsbedingungen auf nicht-tarifgebundene Unternehmen. Mit der jüngsten Renaissance von konstitutiven Tariftreueregelungen wird ein Instrument revitalisiert, das allerdings seit seiner Abschaffung infolge des ‚Rüffert‘-Urteils an (potentieller) Reichweite verloren hat, weil in der Zwischenzeit aufgrund der allgemeinen Schwächung der Tarifbindung andere Instrumente, allen voran Branchenmindestlöhne, zum Teil auch neue für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge selbst in Branchen mit niedriger Tarifdeckung – wie etwa im Fall des bremischen Hotel- und Gaststättengewerbes – die Lücke gefüllt haben. Hier wird es auch von der konkreten Ausgestaltung der Normenhierarchie in den Tariftreuegesetzen abhängen (Vorrang oder Nachrang gegenüber anderen Lohnuntergrenzen, siehe das Beispiel Thüringen), welche Relevanz der Renaissance der konstitutiven Tariftreue letztlich zukommt.

Noch deutlicher sind die Wechselwirkungen bei der zentralen politischen Innovation, den vergabespezifischen Mindestlöhnen: Neben ihrer unmittelbaren Schutzwirkung für den Bereich der öffentlichen Aufträge waren sie zunächst Vorreiter eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes, und wurden nach 2015 zum Vorreiter eines allgemeinen gesetzlichen ‚living wages‘, also eines armutsfeste(re)n Mindestlohns, wie er seit längeren diskutiert und mit der beschlossenen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 € zu Oktober 2022 nun auch im ersten Schritt beschlossen ist. Die künftige Relevanz der Vergabemindestlöhne und letztlich ihr Fortbestand hängt davon ab, wie stark andere Formen von Lohnuntergrenzen (allgemeiner Mindestlohn, Branchenmindestlöhne, allgemeinverbindliche Tarifverträge, repräsentative Tarifverträge) ‚das Feld bestellen‘ oder Lücken lassen. Es hängt also auch davon ab, ob und wie die Tarifpartner die Vielfalt an Möglichkeiten nutzen (können), die ihnen mittlerweile zur Setzung verbindlicher Lohnuntergrenzen zur Verfügung stehen. Der Ball liegt damit also auch im Feld der traditionellen Akteure des Systems industrieller Beziehungen und es kommt auch darauf an, wie sich Strategien und Machtressourcen dieser Akteure entwickeln.

Es ist darüber hinaus auch eine offene normative Frage, ob die Bundesländer auch nach der Anhebung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf 12 € im Oktober 2022 an dem Ziel festhalten sollte, im eigenen mittelbaren Wirkungsbereich (öffentliche Aufträge) bessere Arbeitsbedingungen zu bieten als in der Privatwirtschaft, und daher auch dann weiter das Instrument der Vergabemindestlöhne oberhalb des gesetzlichen Mindestlohnes nutzen sollte. In verallgemeinerter Form stellt sich die Frage, ob es, mit anderen Worten, noch zeitgemäß ist, im (erweiterten) öffentlichen Dienst gezielt relativ bessere Bedingungen als im Rest der Wirtschaft herzustellen, oder ob das Ziel nicht eher sein muss, absolut gesehen gute Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Das Leitbild des ‚Guten Arbeitgebers‘ bzw. ‚Guten Auftraggebers‘ muss also nicht zwangsläufig mit dem eines ‚besseren‘ Arbeit- oder Auftraggebers übersetzt werden. Angesichts der schwachen Tarifbindung in Niedriglohnbranchen und auch der weiterhin sinkenden Tarifbindung in anderen Branchen scheint es aber zumindest auf absehbare Zeit wahrscheinlich, dass der Staat solche guten Arbeitsbedingungen im eigenen Einflussbereich leichter und schneller umsetzen kann als in der Privatwirtschaft. Dies spricht dafür, eine solche Rolle als ‚Guter Auftraggeber‘ im Sinne eines Vorreiters weiterhin zu beanspruchen.

Insgesamt verdeutlichen diese Analysen, dass und wie es gelingen kann, aus dem ‚Schatten‘ der marktliberalen juridischen Europäisierung herauszuwachsen. Dies hat aber lange Zeit und auf Seiten der Akteure einen langen Atem benötigt sowie ein Zusammentreffen kontingenter Entwicklungen. Denn, wie gesehen, hat auch das europäische Krisenmanagement im Gefolge der Schuldenkrise zusammen mit weiteren Entwicklungen (Flüchtlingskrise und ihr politisches Echo in euroskeptischen Parteien und Regierungen) am Ende eine Revitalisierung der sozialen Dimension Europas begünstigt, die zur Korrektur der einseitig ökonomischen Integration auch im Feld der Vergabepolitik beitrug.

Offen bleibt daher auch die Frage, ob im Falle der Entsenderichtlinie lediglich eine „exceptional politisation“ (Höpner und Schmidt 2020, S. 203) zum Tragen kam, und weitergehend, ob die Entwicklungslinien, die im Falle der Vergabepolitik auf europäischer Ebene zusammen gewirkt haben – die Politisierung der marktliberalen Rechtsprechung, die Revitalisierung der sozialen Dimension Europas und schließlich die Fortschritte auf Seiten der transnationalen Interessenorganisation der Gewerkschaften – auch in anderen politischen Entscheidungsprozessen substantielle Korrekturen des bisherigen Integrationsmodus entfalten können. Diese Frage zur Aussagekraft von Entwicklungen in der Vergabepolitik wollen wir im Fazit des Buchs vertiefen.