Die These, dass die Art und Weise, wie öffentliche Aufträge vergeben werden, im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte stärker ‚vermarktlicht‘ worden ist, mag auf den ersten Blick überraschen. Schließlich ist die Vergabe öffentlicher Aufträge an Unternehmen per se eine marktförmige Transaktion: Der Staat schließt mit dem Unternehmen einen privatrechtlichen Kaufvertrag über eine bestimmte Leistung und zahlt dafür einen Preis, der marktgängig sein soll, der sich also nicht von anderen Transaktionen zwischen dem Unternehmen und privaten Käufern der gleichen Leistung unterscheiden soll.Footnote 1 Wie lassen sich in dieser Konstellation also Marktprinzipien weiter intensivieren?

Im Wesentlichen vollzog sich dies durch zwei Entwicklungen, die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts näher erläutert werden sollen: formal durch eine Verrechtlichung der Auftragsvergabe, inhaltlich durch eine Zielverschiebung in Richtung des Wettbewerbsschutzes. Ein wichtiger Motor für beide Entwicklungen war dabei die Europäisierung des Vergaberechts. Beide Entwicklungen sind eng miteinander verbunden. Denn die Verrechtlichung stützt die Zielverschiebung in Richtung des Wettbewerbsschutzes; die Vermarktlichung erfolgt also gewissermaßen im Modus der Verrechtlichung. Vier verschiedene Facetten der wettbewerbs-intensivierenden Verrechtlichung lassen sich dabei unterscheiden:

  • Wettbewerbsrecht anstelle von Haushaltsrecht und korporatistischer Steuerung: Erstens die Schaffung einer formal-gesetzlichen Grundlage mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) im Jahr 1999. Dadurch wurde das Vergaberecht zugleich in einen anderen rechtlichen Kontext eingebettet als zuvor, nämlich in das Wettbewerbsrecht anstelle des Haushaltsrechts. Zudem wurden dadurch die Elemente korporatistischer Steuerung im Vergaberecht, also der Einbezug organisierter Interessen bei der Formulierung politischer Entscheidungen, beschränkt (s. Abschn. 3.1 und 3.2).

  • Rechtsschutz für Bieter: Zweitens die Einführung eines Rechtsschutzes für Bieter, der deren individuelle Verhandlungsposition stärkt und die Gestaltungsfreiheit von Verordnungsgebern und öffentlichen Auftraggebern beschränkt – zunächst insbesondere mit dem Ziel, den Marktzugang ausländischer Bieter zu erleichtern (s. Abschn. 3.2).

  • Neue Akteure und Verfahren des Konfliktaustrags: In Verbindung damit treten drittens neue Akteure (Vergabekammern, Gerichte) und Verfahren des Rechtssystems hinzu, die über die Anwendung der europäischen und nationalen Normen wachen, und über die Auslegung dieser Normen mitbestimmen (s. Abschn. 3.3).

  • Regulative Expansion, Verdichtung und ‚Kolonialisierung‘: Viertens schließlich ist eine wichtige Facette der Verrechtlichung auch die Expansion und zunehmende Dichte an spezifischen verfahrensrechtlichen Regelungen. Sie haben zugunsten des Wettbewerbsschutzes Ausnahmen von der Anwendung des Vergaberechts sukzessive beschränkt (Expansion), Ermessensspielräume in der Vergabepraxis eingeschränkt (Verdichtung), und die Geltung der Regelungen auch über den gesetzlich vorgesehenen Anwendungsbereich hinaus ausgedehnt (‚Kolonialisierung‘) (s. Abschn. 3.4 und 3.5).

Diese Entwicklungen haben in der Summe eine Zielverschiebung zugunsten des Wettbewerbsprinzips bewirkt (s. Abschn. 3.5). Insgesamt lässt sich diese Entwicklung in ihrem Kern als Institutionalisierung und Quasi-Konstitutionalisierung des Wettbewerbsprinzips bezeichnen, die in dieser Qualität neu ist, und die auch die ‚Sozialpolitisierung‘ (s. Kap. 4) geprägt hat.

1 Haushaltsrecht und korporatistische Steuerung: Zwischen Preiswettbewerb, Mittelstandsförderung und weiteren ‚vergabefremden‘ Zwecken

Um beurteilen zu können, inwieweit die Entwicklung seit den 1990er Jahren sich überhaupt als Vermarktlichung charakterisieren lässt, bedarf es zunächst eines Blicks auf die Ausgangssituation in Deutschland. Hier gab es bis 1998 so gut wie keine eigene gesetzliche Grundlage für die öffentliche Auftragsvergabe. Vielmehr hatte in Grundzügen die Regelungs-Architektur Bestand, die bereits in der Weimarer Republik entstanden war (ausführlich Grau 2004). Diese verortete die öffentliche Auftragsvergabe im Haushaltsrecht und sah zudem starke korporatistische Elemente vor. Die zwei wichtigsten gesetzlichen Normen für die Auftragsvergabe waren dabei der Vorrang der öffentlichen Ausschreibung (seit 1969: § 30 Haushaltsgrundsätzegesetz (HhGrG))Footnote 2, sowie der Grundsatz der „Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit“ (§ 6 HhGrG). Das Wettbewerbsprinzip war damit auch vor der Europäisierung des Vergaberechts im deutschen Haushaltsrecht verankert; es besaß aber keinen Selbstzweck. Vielmehr diente es vorrangig dazu, das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit umzusetzen, also die öffentlichen Bedarfe durch das Einholen konkurrierender Angebote möglichst kostengünstig zu decken (Grau 2004, S. 202).

Ein starkes korporatistisches Element bestand – und besteht in abgeschwächter Form bis heute – in Gestalt der „Verdingungsordnungen“ (bzw. später der „Vergabe- und Vertragsordnungen“ für Bauleistungen (VOB) und für Leistungen (VOL),Footnote 3 die bereits seit den 1920er Jahren die genaue Art und Weise regelten, wie die haushaltsrechtlichen Grundprinzipien bei der Auftragsvergabe umzusetzen waren. Diese wurden von zwei dazugehörigen Ausschüssen verabschiedet und in der Folgezeit regelmäßig überarbeitet – dem Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA) und dem Vergabe- und Vertragsausschuss für Lieferungen und Dienstleistungen (DVAL). Damit wurde die konkrete Ausgestaltung der Vergabeverfahren der unilateralen Steuerung durch Verwaltungsakte wie auch der parlamentarischen Gesetzgebung weitgehend entzogen und stattdessen in hohem Maße den organisierten Interessen der Wirtschaft übertragen.Footnote 4 Die Ausschüsse setzten sich im Wesentlichen aus Vertreter*innen der öffentlichen Auftraggeber und der betroffenen Wirtschafts- und Berufsverbände sowie einzelner Gewerkschaften zusammen. Begründet wurde dies seinerzeit mit dem Ziel, den Sachverstand der Akteure aus der Wirtschaft einzubinden, aber auch deren Interessen zu berücksichtigen – insbesondere die Interessen des Handwerks und der Arbeitnehmerseite (Grau 2004, S. 160).Footnote 5

Die darin zum Ausdruck kommende Auffassung zur Zweckmäßigkeit und Legitimität organisierter Interessen (oder ‚Kartelle‘) und ihrer Einbindung in die Regulierung des Wettbewerbs, die seinerzeit auch von führenden Wirtschaftswissenschaftlern geteilt wurde (Schmoller 1906), unterschied die Wirtschaftspolitik in Deutschland und anderen korporatistisch geprägten Ländern grundlegend von der in anderen Ländern; insbesondere den Vereinigten Staaten mit ihrer starken Antitrust-Gesetzgebung (Lehmbruch 1977; Quack und Djelic 2005; Thelen 2020). Im Bereich des Vergaberechts war die Forderung nach einer Beteiligung der Verbände stark motiviert durch deren Kritik an Verwaltungsbestimmungen, die eine Vergabe an den „Mindestfordernden“, also an den Bieter mit dem niedrigsten Preis, vorsahen (Grau 2004, S. 156). Dagegen hatte sich schon zum Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Kritik insbesondere von Seiten kleiner Gewerbetreibender und Handwerksbetriebe gerichtet.

Bereits in dieser haushaltsrechtlichen Grundarchitektur der Auftragsvergabe war damit ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der Bedarfsdeckung zu möglichst niedrigen Kosten und Maßnahmen zur Beschränkung des reinen Preiswettbewerbs angelegt. Dieses Spannungsverhältnis zog sich im weiteren Verlauf auch durch die konkrete Ausgestaltung der einschlägigen Vergabeordnungen. So wurde einerseits mit der ersten Verdingungsordnung zwar die unbedingte Pflicht zur Bezuschlagung des niedrigsten Preises aufgegeben; stattdessen sollte der Zuschlag auf das Angebot erteilt werden, „das unter Berücksichtigung aller wirtschaftlichen und technischen Gesichtspunkte als das annehmbarste erscheint“ (§ 26, Nr. 2 VOB in der Fassung von 1926, zitiert nach Grau 2004, S. 168). Diese Formulierung enthält damit im Kern die Definition des Wirtschaftlichkeits-Prinzips, das bis heute als eines der zentralen Prinzipien im deutschen Vergaberecht verankert ist (s. § 97, Abs. 1 GWB und § 7 Abs. 1 Satz 1 BHO). Andererseits ist diese Definition so weit gefasst, dass sie auch die Bezuschlagung des niedrigsten Preises ermöglicht. Denn als ‚wirtschaftlich‘ gelten sowohl Beschaffungen nach dem sogenannten Minimalprinzip oder ‚Sparsamkeitsprinzip‘, nach dem ein festgelegtes Beschaffungsergebnis mit dem geringsten Einsatz von Mitteln erreicht wird, als auch Beschaffungen nach dem Maximalprinzip oder ‚Ergiebigkeitsprinzip‘, wonach mit einem festgelegten Einsatz von Mitteln das bestmögliche Ergebnis erzielt wird.Footnote 6 Je nach kommunaler Haushaltslage und weiteren Faktoren konnte in der Vergabepraxis daher die Wahl häufig zugunsten des Sparsamkeitsprinzips ausfallen. Dass die Orientierung am Sparsamkeitsprinzip in der Vergabepraxis jedenfalls stark ausgeprägt war, bemängelte bereits 1984 ein Vertreter der Bauindustrie: Er kritisierte einen „permanenten Missbrauch der öffentlichen Nachfragemacht“; es sei „ständige Praxis der Auftraggeberseite (…) den Auftrag nicht zu angemessenen, sondern zu niedrigsten Preisen zu vergeben“ (Vizepräsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, zitiert nach FIW 1984, S. 64).

Eine weitere Ergänzung des Vergaberechts, die eine einseitige Ausrichtung an den Prinzipien von Wettbewerb und Sparsamkeit durchbrach, war die Mittelstandsförderung, die ebenfalls bereits in der Weimarer Republik Einzug hielt und damals etwa die Bevorzugung einheimischer und ortsansässiger Bieter vorsah (Grau 2004, S. 168). Bis heute ist die Mittelstandsförderung vor allem durch das Gebot zur Aufteilung von Aufträgen in Teil- und Fachlose (§ 97 Abs. 4 GWB) im Vergaberecht verankert. Mit der Einbettung in das Haushaltsrecht fiel die Auftragsvergabe zudem auch unter die konjunkturpolitische Wende des Haushaltsrechts, die mit dem Stabilitäts- und Wachstums-Gesetz (StWG) von 1967 eingeleitet wurde. In Reaktion auf die Rezession der Jahre 1966/1967 sollten Wirtschafts- und Finanzpolitik zum Erhalt des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ (§ 1 StWG) beitragen. Auch die Aufstellung und Ausführung öffentlicher Haushalte sollte nicht mehr nur dem Ziel dienen, die Bedarfsdeckung des Staates zu gewährleisten, sondern auch eine konjunkturstützende Funktion übernehmen. Diese konjunkturpolitischen Zwecke legitimierten auch Verordnungen und Praktiken, die den Wettbewerb einzuschränken suchten, beispielsweise zugunsten heimischer Betriebe.Footnote 7

Bereits solche wirtschaftspolitischen Ziele wurden im juristischen Schrifttum als ‚vergabefremde‘ und damit allenfalls begrenzt zulässige Zwecke bezeichnet. Denn die Auftragsvergabe diente dadurch nicht rein der Bedarfsdeckung unter Beachtung betriebswirtschaftlicher Gesichtspunkte, sondern erfolgte nach übergeordneten, gesamt- oder strukturpolitischen Gesichtspunkten (Grau 2004, S. 315; Riese 1998, S. 201 ff.). Umso mehr galten andere soziale und arbeitsmarktpolitische Zwecke als ‚vergabefremd‘, die im Laufe der 1980er und 1990er Jahre in den Regelungen und Richtlinien von Bund und Ländern hinzugekommen waren (für einen Überblick Riese 1998, S. 201–259).

Sowohl die haushaltsrechtliche Verankerung und der damit verbundene fehlende Rechtsschutz für Bieter, als auch das starke korporatistische Element, und schließlich der zunehmende Umfang ‚vergabefremder‘ Ziele waren also auch auf nationaler Ebene bereits seit der Nachkriegszeit Gegenstand von Reformansätzen und Kritik in politischen und rechtswissenschaftlichen Debatten (Grau 2004, S. 197 ff.). Zunehmend geriet all dies aber auch in Konflikt mit der sich herausbildenden europäischen Vergabepolitik.

2 Paradigmenwechsel: Wettbewerbsrecht und Bieterschutz als Meilensteine der Vermarktlichung

Auf europäischer Ebene bildete sich ein vergabespezifisches Sekundärrecht, das die Regelungen zur öffentlichen Auftragsvergabe in den Mitgliedstaaten zunächst „koordinieren“ sollte, erst mit Beginn der 1970er Jahre heraus. Die erste „Koordinierungsrichtlinie“ zu Bauleistungen (71/304/EWG)Footnote 8 hatte zum Ziel, „den Ermessensspielraum der öffentlichen Auftraggeber durch eine Vielzahl konkreter Verfahrensregeln rechtlich zu umgrenzen.“ (Frank 2000, S. 71). Diese Vorstöße dienten also dem übergeordneten Ziel, die nationalen Beschaffungsmärkte für Anbieter aus anderen EG-Mitgliedstaaten zu öffnen und damit die im EG-Vertrag von 1957 verankerten Verbote der Beschränkung des Warenverkehrs, der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu verwirklichen. Damit sollten nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Auftragsvergabe beseitigt werden, welche ausländische Anbieter direkt oder indirekt von der Bewerbung um öffentliche Aufträge ausschlossen – etwa in Form von technischen Spezifikationen mit faktisch diskriminierender Wirkung oder durch die fehlende Bekanntgabe einer Auftragsvergabe.

Einen zentralen Stellenwert erhielt diese Zielsetzung allerdings erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, im Zuge der Vorarbeiten zum Vertrag über die Europäische Union. Wichtige Impulse gingen dabei von der Europäischen Kommission aus. In ihrem ‚Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes‘ von 1985 wurde die Vergabepolitik der Mitgliedsstaaten als ein zentrales nicht-tarifäres Handelshemmnis identifiziert: Öffentliche Aufträge, heißt es dort, „werden immer noch von der Neigung der zuständigen Behörden bestimmt, die Aufträge im Inland zu halten. Die fortdauernde Aufsplitterung in einzelne Vergabemärkte ist eine der augenfälligsten Schranken auf dem Weg zur Vollendung des Binnenmarktes“ (KOM (85) 310 endg., S. 23). Das Weißbuch, wie auch die auf ihm basierende Einheitliche Europäische Akte von 1986 gelten als das konzeptionelle Fundament des Europäischen Vergaberechts (Bovis 2007, S. 4). Das europäische Vergaberecht war also, anders als das deutsche, von vornherein Bestandteil des Wettbewerbsrecht und verfolgte zunächst in erster Linie das Ziel, protektionistische Maßnahmen auch im Bereich der öffentlichen Beschaffungsmärkte abzubauen.

Im Zuge der Weiterentwicklung der Vergaberichtlinien und der einschlägigen Rechtsprechung durch das EuGH ist die Europäische Vergabepolitik jedoch mittlerweile über die bloße Marktöffnung für ausländische Bieter hinausgegangen und hat so wesentlich dazu beigetragen, die Zielsetzung wie auch die Verfahrensregeln in den Mitgliedsstaaten tiefgreifend zugunsten des Wettbewerbsschutzes umzugestalten.

Einen besonders wichtigen Meilenstein hat die Kommission mit der sogenannten Überwachungsrichtlinie (89/665/EWG) aus dem Jahr 1989 eingeführt. Die Richtlinie forderte die Mitgliedsstaaten zur Einführung von Nachprüfungsverfahren auf und versetzte potenzielle Bieter damit in die Lage, die in den Richtlinien verankerten zentralen Vergabegrundsätze – allen voran Wettbewerb, Transparenz und Gleichbehandlung, in der Praxis auch durchzusetzen. Die Kommission holte sich damit intendiertermaßen die Unternehmen als Alliierte im Ringen um den Abbau protektionistischer Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedsstaaten zur Seite. Mit den Interessen der heimischen Wirtschaft in Deutschland deckte sich dieser Vorstoß allerdings nur bedingt, denn die Stoßrichtung war eine deutlich andere als die ähnlich gelagerter, früherer Forderungen nach einem Bieterschutz von Seiten der Wirtschaftsverbände in Deutschland selbst: Diese sahen im Bieterschutz kein Mittel zur Marktöffnung, sondern in erster Linie einen Schutz vor einem zu intensiven Preiswettbewerb, mit dem der Staat unter Ausnutzung seiner marktbeherrschenden Stellung das Ziel einer möglichst sparsamen Auftragsvergabe verfolgen konnte (Grau 2004, S. 107 ff.)Footnote 9. Ihre Forderung richtete sich also gegen die Willkür des Staates, seine Einkaufsmacht als Kunde für eine Preisdämpfung zu nutzen. Demgegenüber entsprach die Einführung des subjektiven Bieterschutzes durch die EU, so Kunzlik (2013, S. 314), der neoliberalen Programmatik private Rechte zu stärken, um damit ‚willkürliche‘ staatliche Eingriffe zugunsten bestimmter regulatorischer Absichten einzuschränken (ähnlich Frank 2000, S. 73). Er zielt also darauf, den Staat in seiner Rolle als Regulierer zu beschränken.

Die Bundesregierung hatte zur Umsetzung der sogenannten Überwachungsrichtlinie zunächst Nachprüfungsverfahren im Rahmen einer ‚haushaltsrechtlichen Lösung‘ eingeführt, also unter Beibehaltung der Verdingungsordnungen und ohne subjektive Bieterrechte.Footnote 10 Dies wurde jedoch von der Europäischen Kommission wie auch vom Europäischen Gerichtshof als unzureichend bewertet. Dies führte zu mehreren Vertragsverletzungsverfahren, die die Bundesregierung schließlich dazu veranlassten, das Vergaberecht neu zu ordnen und zum 1.1.1999 in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) einzugliedern. Zahlreiche Aspekte, die zuvor allein in den Verdingungsordnungen festgelegt waren, werden seitdem durch den 4. Teil des GWB geregelt.Footnote 11

Diese Entwicklung wurde in den einschlägigen deutschen Rechtskommentaren weithin begrüßt – nicht zuletzt, weil die starke Stellung der Vergabeausschüsse manchen als Verletzung demokratischer Prinzipien galt, wie dies etwa in der rückblickenden Würdigung von Dörr zum Ausdruck kommt: „Hier schufen sich also die Betroffenen im Rahmen diffuser, intransparenter Aushandlungsprozesse, vor allem aber jenseits parlamentarischer Legitimation und Kontrolle die für sie geltenden Regeln selbst“ (Dörr 2017, RN 14). Übereinstimmend wird in den Kommentaren darüber hinaus betont, dass mit dieser Eingliederung des Vergaberechts in das GWB nicht nur der subjektive Bieterschutz eingeführt wurde, sondern auch „die wettbewerbliche Bedeutung des Vergaberechts betont werden“ sollte (Frank 2000, S. 296). Dies kommt auch in § 97 Abs. 1 GWB zum Ausdruck,Footnote 12 der als „Überschrift des modernen Vergaberechts“ (Müller-Wrede 2016, S. 5, RN 9) gelten kann, „denn in Abkehr von der früheren, rein haushaltsrechtlich dominierten und damit häufig wenig wettbewerblichen Vergabe sind öffentliche Aufträge (…) im Wettbewerb und im Wege transparenter Vergabeverfahren zu vergeben.“ Erst mit dieser „Verrechtlichung“, so Dörr „ist das primär haushaltswirtschaftlich determinierte Vergabewesen zum wettbewerbsorientierten, rechtsstaatlich eingebundenen Vergaberecht geworden“ (Dörr 2017, RN 15, Hervorhebung im Original).

Diese Einschätzungen lassen es als gerechtfertigt erscheinen, die Einführung des subjektiven Bieterschutzes und die Eingliederung ins Wettbewerbsrecht nicht nur als einen „Quantensprung“ (Burgi 2018, § 6, RN 8)) oder einen „Meilenstein“ (Matthey 1998, S. 41) in der Entwicklung des Vergaberechts, sondern auch als Meilensteine der Vermarktlichung und als ersten grundlegenden Paradigmenwechsel im Vergaberecht zu bezeichnen. Die Eingliederung in das Wettbewerbsrecht hat auch die Weiterentwicklung des Vergaberechts unter den Einfluss der spezifischen wettbewerbsrechtlichen Rechtsdoktrine gebracht (s. Abschn. 3.4 und 3.5).

3 Neue Akteure und Verfahren: Die Verrechtlichung des Konfliktaustrags

Zur Umsetzung des Bieterschutzes wurden in der Folge Vergabeprüfstellen sowie Vergabekammern (vorgerichtliche, verwaltungsinterne Prüf-Instanzen) eingerichtet, sowie ein rechtlicher Beschwerdeweg (vor den Oberlandesgerichten) aufgebaut. Erst dadurch hat sich hier eine vergabespezifische Rechtsprechung entwickelt, zuvor gab es zu dieser Rechtsmaterie kaum Gerichtsentscheidungen (Grau 2004, S. 207). Nach 1998 hingegen verzeichnete das Vergaberecht, so Burgi (2018, § 1, RN 3), eine „stürmische Entwicklung“, insbesondere durch eine „Flut von Nachprüfungsverfahren“. Ihre Anzahl überstieg schon ab dem Jahr 2003 die Schwelle von jährlich 1000 Fällen, ging dann ab 2011 wieder leicht zurück. Insgesamt sind in den 20 Jahren nach Einführung des Bieterschutzes über 21.000 Nachprüfungsanträge bei den Vergabekammern von Bund und Ländern eingegangen. Knapp jeder fünfte davon ging weiter an die Oberlandesgerichte (s. Tab. 3.1).

Tab. 3.1 Vergabenachprüfungsverfahren bei den Vergabekammern und Oberlandesgerichten 1999–2020

Es ist davon auszugehen, dass die Auswirkungen dieser Nachprüfungsverfahren nicht auf die Korrekturen einzelner Fälle ex-post beschränkt war, sondern dass diese „Flut von Nachprüfungsverfahren gleichsam prospektiv bei den Auftraggebern das Bewusstsein für die Bedeutung des Vergaberechts geschärft“ hat, so Burgi (2018, § 1, RN 3). Entsprechend hat sich auch die Rechtswissenschaft des Themas angenommen: Es gibt eine Vielzahl von Kommentaren und Handbüchern zum Vergaberecht und mehrere neue Fachzeitschriften. Mit der Entwicklung des Vergaberechts zu einem eigenständigen Rechtsgebiet ist zudem eine fachliche Spezialisierung innerhalb der juristischen Profession einhergegangen. Der Fachanwalt für Vergaberecht wurde 2015 auf Beschluss der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) eingeführt.Footnote 13 Zahlreiche auf das Vergaberecht spezialisierte Kanzleien bieten sowohl Bietern als auch öffentlichen Auftraggebern ihre Unterstützung an.Footnote 14 Ihre Dienstleistung erstreckt sich dabei nicht nur auf die Vertretung der beiden Parteien bei den Nachprüfungsverfahren, sondern schließt auch die Beratung öffentlicher Auftraggeber bei der rechtssicheren Erstellung von Vergabeunterlagen ein. Mitunter lagern öffentliche Auftraggeber die Vorbereitung eines Vergabeverfahrens sehr weitgehend auf Kanzleien und andere ‚Beschaffungsdienstleister‘ aus (Burgi 2019). Die Kanzleien zählen damit zu der stark gewachsenen Infrastruktur an Beratungsangeboten, die sich an die öffentliche Vergabe-Verwaltung richtet (s. Kap. 6).

Diese neuen Verfahren und Instanzen auf nationaler Ebene haben im weiteren Verlauf wiederum dem EuGH erhöhte Mitsprachemöglichkeiten eingeräumt, da darüber mehrere Fälle an das EuGH zur Vorabentscheidung herangetragen wurden, in denen sich unterlegene Bieter zur Wehr setzten – allen voran das ‚Rüffert‘-Urteil von 2008, das den damals geltenden Landestariftreuegesetzen einen Riegel vorschob (s. Abschn. 3.5 und Kap. 4). Die Anzahl der Vorlagen aus Deutschland beim EuGH blieb insgesamt zwar sehr gering (s. Tab. 3.1), ihre Folgen waren aber zum Teil sehr weitreichend (s. nächster Absatz). Auch die Europäische Kommission besitzt die Möglichkeit, über das EuGH gegen vergaberechtliche Gesetze und Verordnungen oder auch Praktiken einzelner Vergabestellen in den Mitgliedsstaaten durch Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens (nach Art. 258 AEUV) zu intervenieren und hat dies auch häufig genutzt.

Durch die Institutionalisierung des Wettbewerbsprinzips und des Bieterschutzes sind also zugleich zusätzliche Akteure involviert worden, die Mitspracherechte bei der Ausgestaltung von Vergabepolitik und -praxis besitzen. Die gerichtlichen Verfahren wirkten sich dabei weit über das einzelne Verfahren hinaus auch auf die nationale Gesetzgebung aus, sowohl in dem jeweiligen Land als auch in anderen, von dem Urteil nicht direkt betroffenen Ländern. Die europäische Überwachungsrichtlinie trug insofern dazu bei, den Einfluss der europäischen Vergaberichtlinien auf das materielle Vergaberecht in den Mitgliedsstaaten zu vertiefen (Kunzlik 2013, S. 315).

4 Regulative Expansion und ‚Kolonialisierung‘ des Unterschwellenrechts

Die Weiterentwicklung des europäischen Vergaberechts lässt sich als Expansion und Intensivierung beschreiben, also als sukzessive Ausdehnung ihres Geltungsbereichs und stärkere Detailsteuerung der Vergabeverfahren (Kunzlik 2013, S. 315). Dazu trug nicht nur eine „sukzessive sekundärrechtliche Durchnormierung der Materie“ (Riese 1998, S. 3) durch die Europäische Kommission bei, sondern auch die Rechtsprechung des EuGHs und der nationalen Gerichte. So wurden neben den anfänglichen Bau- und Lieferleistungen ab Beginn der 1990er Jahren mit weiteren Richtlinien der Kommission auch Dienstleistungsaufträge (92/50/EWG), Aufträge in den Bereichen der Wasser-, Energie und Verkehrsversorgung sowie im Sektor Telekommunikation (‚Sektorenrichtlinie‘, 90/531/EWG), im Verteidigungsbereich (2009/81/EG), im Bereich der sozialen DienstleistungenFootnote 15 und zuletzt auch Konzessionen (2014/23/EU) einbezogen. Für manche dieser Bereiche wurden innerhalb des Vergaberechts Sonderrechte verankert. Der Bereich der Aufträge, die vom Vergaberecht grundsätzlich ausgenommen sind, ist aber stark verringert worden.

Zudem ist auch der persönliche Geltungsbereich ausgeweitet worden: Zunächst war er auf die „klassischen institutionellen“ Auftraggeber beschränkt, eine Formulierung, die im Wesentlichen die geltenden Definitionen von ‚öffentlichen Auftraggebern‘ in den Mitgliedstaaten unangetastet ließ und in Deutschland zur Folge hatte, dass nur Gebietskörperschaften (Bund/Länder/Kommunen) sowie bundesunmittelbare Einrichtungen des öffentlichen Rechts einbezogen wurden. Schon mit der ersten großen Überarbeitung der Baurichtlinie im Jahr 1989 vollzog die Kommission jedoch einen Wandel vom institutionellen zum „funktionellen Auftraggeberbegriff“ und erweiterte damit den Kreis der öffentlichen Auftraggeber stark. Dadurch wurden zahlreiche Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen (etwa öffentliche Unternehmen, Universitäten, Kammern, Berufsgenossenschaften, privatwirtschaftliche Betriebe), unabhängig von ihrer Rechtsform zu öffentlichen Auftraggebern bestimmt. Begründet wurde diese Expansion mit dem Ziel zu verhindern, dass sich eine Gebietskörperschaft durch Ausgliederung ihrer Aufgaben, etwa Gründung einer privatrechtlichen Eigengesellschaft, dem Anwendungsbereich des Vergaberechts entziehen kann (sog. „Flucht ins Privatrecht“) (Pünder 2019). Im weiteren Verlauf ist diese Expansion des persönlichen Anwendungsbereichs auch durch eine entsprechende Ausdeutung der Richtlinien durch die Rechtsprechung sowohl seitens des EuGH wie auch der nationalen Gerichte vorangetrieben worden (Roth 2013; Rechten 2014).

Neben diese Expansion des Geltungsbereichs hat eine expansive Interpretation des europäischen Primärrechts dazu geführt, dass auch solche Aufträge, die explizit von den Vergabe-Richtlinien ausgenommen wurden, in den Geltungsbereich einbezogen wurden – man kann hier insofern von einer sukzessiven ‚Kolonialisierung‘ der öffentlichen Beschaffung durch das EU-Recht sprechen. Das galt für die Vergabe von Dienstleistungskonzessionen, bevor diese im Jahr 2014 dann zum Gegenstand einer eigenen sekundärrechtlichen Richtlinie wurden. Vor allem aber gilt es für den Bereich der Unterschwellenvergabe, also Aufträge, deren finanzieller Wert die Schwellen unterschreitet, ab der die europäischen Vergaberichtlinien greifen. Zentraler Angelpunkt ist dabei der Begriff der ‚Binnenmarktrelevanz‘ bzw. des ‚grenzüberschreitenden Interesses‘. Ein Auftrag kann demnach auch dann für Wettbewerber aus anderen Ländern von Interesse sein, wenn der Auftragswert unterhalb der Schwellenwerte liegt; etwa aufgrund der Grenznähe, des (dennoch beträchtlichen) Auftragswertes, oder der besonderen Beschaffenheit des jeweiligen Marktes. Die ‚Binnenmarktrelevanz‘ ist daher im Einzelfall von den Vergabestellen ex ante zu prüfen.

Für die Unterschwellenvergabe von Aufträgen mit Binnenmarkrelevanz gelten die sekundärrechtlichen Richtlinien nicht unmittelbar, sondern Grundsätze, die der EuGH erstmals in der Rechtssache ‚Teleaustria‘ (Rechtssache C-324/98 Teleaustria [2000] ECR I-10745) aus den im Primärrecht verankerten GrundfreiheitenFootnote 16 abgeleitet hat: Nämlich Diskriminierungsverbot (also Gleichbehandlung aller Bieter unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit bzw. Ortsansässigkeit), Transparenzgebot, Verhältnismäßigkeit und Nachprüfbarkeit (Burgi 2018: § 3, RN 25,26). Aus diesen Grundsätzen wiederum hat der EuGH eine Reihe von Detailregeln abgeleitet, in Analogie zu den entsprechenden sekundärrechtlichen Regeln der Vergaberichtlinien (Treumer und Werlauff 2003).

Nicht nur in diesem Punkt glich die Weiterentwicklung des Vergaberechts einer Art Staffellauf zwischen Kommission und Gerichtshof – und damit zwischen Primär- und Sekundärrecht: Einerseits wurden bei der Überarbeitung der europäischen Vergaberichtlinien explizit Ergänzungen und Änderungen zwecks Anpassung an die Rechtsprechung des EuGHs vorgenommen (Kunzlik 2013, S. 315). Andererseits hat die Europäische Kommission die Rechtsprechung des EuGHs zum Anlass für ihre ‚Mitteilung zu Auslegungsfragen‘ (Europäische Kommission 2006) genommen und deren Geltungsanspruch damit noch einmal untermauert und um eigene Auslegungen ergänzt. Den Mitgliedsstaaten wird darin eine Reihe von detaillierten „Grundanforderungen“ an Vergabeverfahren im Unterschwellenbereich kommuniziert; etwa zu erforderlichen Inhalten und Wegen der Bekanntmachung von Ausschreibungen, zur diskriminierungsfreien Beschreibung des Auftragsgegenstandes oder zur gegenseitigen Anerkennung von Befähigungsnachweisen. Diesen Grundanforderungen verleiht die Kommission im gleichen Dokument Nachdruck, indem sie daran erinnert, dass sie im Falle von Verstößen dagegen ihrerseits den EuGH anrufen kann. Zudem greift die Kommission die Rechtsprechung des EuGH auf, nach der es Aufgabe der Mitgliedsstaaten sei, auch im Unterschwellenbereich Verfahren zu etablieren, die einen „effektiven“ Rechtsschutz gewährleisten.Footnote 17

Kunzlik (2013, S. 316) konstatiert daher zu Recht ein „blurring of the lines that had once been believed to demarcate the scope of the EU public procurement regime“. Dieses Verschwimmen der Grenzen zwischen Ober- und Unterschwellenbereich durch die expansive Ausdeutung des Primärrechts bedeutet wiederum, so Burgi, dass die Praxis „mit erheblicher Rechtsunsicherheit konfrontiert [ist]: Müssen Aufträge beispielsweise unterhalb der Schwellenwerte nun europaweit ausgeschrieben werden bzw. genügt eine Verlautbarung im Internet oder in einer Zeitung, die auch jenseits der Grenze des Kreises gelesen wird, in dem sich der Auftraggeber befindet? Welche Anstrengungen sind auf judizieller Ebene notwendig, um dem Gebot der Nachprüfung entsprechen zu können etc.?“ (Burgi 2018, § 3, RN 26). Auf Ebene der Gesetze und Verordnungen hat man sich in Deutschland allerdings bemüht, diese Unsicherheit durch eine weitgehende Angleichung von Detailregelungen im Unterschwellenbereich an das Oberschwellenrecht zu verringern. So orientiert sich nach ausdrücklicher Zielsetzung des zuständigen Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (Burgi 2018, § 25, RN 13a) die neue Unterschwellen-Vergabeordnung (UVgO), die nach der Umsetzung der neuen Vergaberichtlinien der EU aus dem Jahr 2014 verabschiedet wurde, an der für öffentliche Aufträge oberhalb der EU-Schwellenwerte geltenden Vergabeverordnung (VgV).

Formal besteht damit zwar die seit 1999 bestehende Zweiteilung des deutschen Vergaberechts in ein wettbewerbsrechtliches „GWB-Vergaberecht“ (Burgi 2018) oder „Kartellvergaberecht“ (Dreher 2021) oberhalb der Schwellenwerte und ein „Haushaltsvergaberecht“ unterhalb der Schwellenwerte fort, insofern hier jeweils unterschiedliche Regelwerke gelten, und zudem im Unterschwellenbereich nicht der gleiche Bieterschutz gilt wie im Oberschwellenbereich (s. Fußnote 17). Faktisch hat sich hier jedoch durch die – vom EuGH erzwungene und vom deutschen Gesetzgeber zum Teil auch freiwillig darüber hinausschießende ÜbertragungFootnote 18 – von Regelungen aus dem Oberschwellen- in das Unterschwellenrecht eine deutliche Angleichung ergeben. Diese halb freiwillige, halb erzwungene ‚Kolonialisierung‘ des Unterschwellenbereichs ist deswegen so wichtig, weil dadurch auf das gesamte Beschaffungswesen die Rechtsdoktrine des europäischen Vergaberechts Anwendung findet – auch wenn in der Beschaffungspraxis nur ein Bruchteil der Vergabeverfahren eine grenzüberschreitende Dimension hat.Footnote 19

5 Regulative Verdichtung und Konstitutionalisierung des Wettbewerbsprinzips

Neben der Expansion des wettbewerbsrechtlichen Vergaberechts auf weite Bereiche der öffentlichen Beschaffung ist es insbesondere seit Vollendung des europäischen Binnenmarktes mit dem Vertrag von Maastricht auch zu einer sukzessiven Verdichtung des Regelwerks gekommen. Diese zielt auf eine Einschränkung der Ermessensspielräume der Verwaltung in jedem Stadium des Vergabeprozesses (Arrowsmith 2006; Kunzlik 2013): von der Wahl des Verfahrens, über die Beschreibung des Auftragsgegenstandes, die zulässigen Ausschlussgründe und Kriterien zur Bewertung der Bietereignung, die Bekanntmachung, die zulässigen Auswahlkriterien und Verfahren zur Bewertung der Angebote.

Damit vollzog das europäische Vergaberecht einen Wandel vom lose koordinierenden Rahmenwerk zu einem immer feinmaschigeren System gemeinsamer Regelungen (Arrowsmith 2006). Ein guter Teil dieser Detailregelungen wurde erneut durch die Rechtsprechung des EuGHs unter Rückgriff auf die primärrechtlichen Grundfreiheiten entwickelt und hat dann später Eingang in die sekundärrechtlichen Richtlinien gefunden. Bovis (2016) sieht daher in dem „judicial activism“ des EuGHs einen zentralen Motor der regulativen Nachverdichtung, die ihrerseits stark der neoliberalen Programmatik verpflichtet sei (ähnlich Kunzlik 2013). Das Vergaberecht werde von den Europäischen Institutionen wie auch den Mitgliedsstaaten zusehends als Instrument zur Herstellung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit betrachtet, und diese Sichtweise gehe wesentlich auf entsprechende Interpretationen durch den EuGH zurück (Bovis 2016, S. 325).

Diese Entwicklung in der Europäischen Vergabepolitik entspricht damit einem übergreifenden Trend, der in der Europäisierungsforschung unter den Schlagworten der ‚juridischen Europäisierung‘ oder der ‚Integration durch Recht‘ beschrieben wurde (u. a. Weiler 1991; Gill 1998; Alter 2001; Scharpf 2010; Stone-Sweet 2004; Kelemen 2011; Grimm 2015; Schmidt 2018). Diese identifiziert den Europäischen Gerichtshof als treibende Kraft hinter einer ‚Konstitutionalisierung‘ der EU-Verträge. Gemäß der in den 1960er Jahren entwickelten Doktrin der unmittelbaren und vorrangigen Geltung (‚direct effect and supremacy‘) wird den Gründungsverträgen demnach der Rang einer Verfassung zuerkannt (Konstitutionalisierung) und auf diesem Wege eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung durch die europäische Rechtsprechung erzwungen (‚juridische Europäisierung‘).

Die Kritik an dieser Entwicklung entzündet sich nicht nur an der damit verbundenen Entdemokratisierung und Depolitisierung der Entscheidungsprozesse, da auf diese Weise die Befugnisse von Judikative und der sich als ‚Hüterin der Verträge‘ verstehenden Europäischen Kommission zulasten gewählter Regierungen und Parlamente gestärkt werden. Problematisiert wird vielmehr auch, dass diese Entwicklung mit einer einseitigen, marktliberalen Ausdeutung der EU-Verträge zusammenfällt und damit die Förderung von Wettbewerb Oberhand über andere politische Ziele gewonnen hat – dass also insbesondere solche Rechte Verfassungsrang erhalten, die der neoliberalen Programmatik folgend die Freiheitsrechte privater Unternehmen und Investoren sichern und sie gegen den Zugriff durch politische und zivilgesellschaftliche Akteure abschirmen.Footnote 20 Die juridische Europäisierung fällt mithin mit einem „juridical neoliberalism“ (Biebricher 2017; s. auch Gill 2002Footnote 21) zusammen. Wie Scharpf (2010) herausarbeitet, habe die ‚Integration durch Recht‘ eine deregulatorische Wirkung, da sie nur solchen Klägern die Tür öffne, die gemäß der neuen Doktrin ihre individuellen Rechte auf Verwirklichung des freien Wettbewerbs im Binnenmarkt gegenüber den Mitgliedsstaaten einzuklagen suchen. Die juridische Europäisierung unterstütze so die negative Integrationslogik (d. h. den Abbau von Wettbewerbsbarrieren), während positive Integrationsschritte, also die Schaffung gemeinsamer marktregulierender Standards, an der zunehmenden politisch-ökonomischen Heterogenität der Mitgliedsstaaten und den Mehrheitserfordernissen für europäische Richtlinien scheitere.

Vielbeachtete Beispiele dieser marktliberalen Ausdeutung der EU-Verträge sind insbesondere die Entscheidungen des EuGH zu den Rechtssachen des sogenannten ‚Laval-Quartetts‘.Footnote 22 Zu ihnen zählt auch das sogenannte ‚Rüffert‘-Urteil aus dem Jahr 2008, welches das Tariftreuegesetz des Landes Niedersachsen für unvereinbar mit europäischem Recht befand. Das Landesgesetz schrieb, ähnlich wie die Vergabegesetze anderer deutscher Bundesländer zu diesem Zeitpunkt, auch ausländischen Unternehmen (in diesem Fall einem polnischen Subunternehmen eines deutschen Bauunternehmens) die Zahlung von am Ort der Ausführung üblichen Tariflöhnen vor. Das EuGH stützte sich in seinem Urteil auf eine restriktive Auslegung der Entsenderichtlinie im Lichte der im Primärrecht verankerten Dienstleistungsfreiheit. Die Entsenderichtlinie (96/71/EG) hatte zwar die Vorgabe von gesetzlichen oder für allgemeinverbindlich erklärten tariflichen Mindestlohnsätzen auch für grenzübergreifend tätige Dienstleister zugelassen. Nach dem Verständnis des EuGHs schloss dies aber nicht gesetzliche Tariftreuevorgaben für repräsentative Tarifverträge ein, da diese nicht für alle Unternehmen gälten. Die damit verbundene Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit entspreche daher nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Im ‚Rüffert‘-Urteil deutete der EuGH wie zuvor schon im ‚Laval‘-Urteil die in der Entsenderichtlinie aufgelisteten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die auch auf ausländische Unternehmen erstreckt werden durften, nicht als Mindestbedingungen, sondern als maximales Schutzniveau um.

In der politik- und rechtswissenschaftlichen Literatur ist allerdings umstritten, inwieweit die supranationalen Institutionen, also Europäischer Gerichtshof und Europäische Kommission, bei der marktliberalen Konstitutionalisierung eine autonome Agenda verfolgt haben oder dies eher durch andere Akteure vorangetrieben wurde und wird. Tatsächlich entspricht die Entwicklung im Falle des Vergaberechts an vielen Punkten der u. a. von Kelemen (2011) beschriebenen strategischen Prozessführung („strategic litigation“), bei der Akteure aus den Mitgliedsstaaten das europäische Recht für ihre Interessen mobilisieren, welche sie ohne diesen Umweg auf nationaler Ebene so nicht durchsetzen könnten (Kelemen 2011; Graser 2019). Im Fall ‚Rüffert‘ war es immerhin ein deutsches Unternehmen, das geklagt hatte und ein deutsches Gericht (OLG Celle), das entschieden hatte, den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen. Das Gericht schloss sich in seiner Begründung dafür unter Verweis auf die vorherrschende Sichtweise im deutschen juristischen Schrifttum der Auffassung an, dass die Verpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen eine zu starke Einschränkung der grenzüberschreitenden Dienstleistungsfreiheit darstelle (OLG Celle, Beschluss vom 03.08.2006, 13 U 72/06).. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel für die Mobilisierung europäischen Rechts ‚von unten‘, ist das ‚Bundesdruckerei‘-Urteil des EuGHs (Rechtssache C 549/13 [2013]. Hier hatte mit der Bundesdruckerei sogar ein öffentliches Unternehmen erfolgreich gegen die Anwendung einer Tariftreue-Vorgabe auf sein Sub-Unternehmen mit Sitz in Polen geklagt. Die zuständige Vergabekammer teilte die Auffassung des Unternehmens, dass dies die Wettbewerbsfreiheit zu stark beschränke und legte die Entscheidung dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

Diese und weitere Beispiele verdeutlichen, dass die marktliberale Rechtsprechung des EuGHs selbst wie auch seine Wirkung maßgeblich davon abhängen, dass sie auf nationaler Ebene gewissermaßen Alliierte finden, die eine ‚juridische Neoliberalisierung‘, also marktliberale Anpassungszwänge ‚von oben‘ anhand konkreter Fälle aktiv einfordern. Neben den Bietern selbst kommt es hier auch auf die nationalen Gerichte an; hier lassen sich ebenfalls deutliche Unterschiede nach Ländern und Rechtsgebieten feststellen (u. a. Schmidt 2018, S. 2019 ff.). Anders als Gerichte in den skandinavischen Ländern, die mit der Vorlage nationaler Verfahren beim europäischen Gerichtshof eher zurückhaltend umgingen (Wind 2010), haben die für das Vergaberecht zuständigen deutschen Oberlandesgerichte diese Möglichkeit zur Vorlage beim EuGH eher intensiv genutzt. Auch wenn diese Annahme weitgehend spekulativ bleiben muss, dürfte diese Bereitschaft der Gerichte auch durch die Rechtswissenschaft, genauer durch die entsprechende Mehrheitsmeinung in der einschlägigen Teildisziplin des Wettbewerbsrechts, begünstigt worden sein. In jedem Fall haben die Gerichte damit sehr weitreichende Urteile des EuGHs herbeigeführt, die die nationale Gesetzgebung nicht nur in Deutschland stark beeinflusst haben.

Dass nationale Akteure treibende Kräfte sowohl bei der Generierung von ‚vermarktlichenden‘ Urteilen wie auch bei ihrer späteren Umsetzung und Anwendung auf nationaler Ebene sind, widerspricht allerdings für sich genommen nicht dem starken Einfluss des EuGHs oder der supranationalen Ebene insgesamt: Denn genau dies war ja durch die Einführung des subjektiven Bieterschutzes von der Europäischen Kommission beabsichtig worden. Die ‚Mobilisierung ‚von unten‘ ist also gewissermaßen ‚von oben‘ eingefädelt worden. Die Errichtung von Instanzen auf nationaler Ebene, die die Anwendung europäischen Rechts durchsetzen, ist ein wichtiger, bislang wenig beachteter Mechanismus, mit dem das europäische Fallrecht einen „langen Schatten“ (Schmidt 2018) auf die nationale Gesetzgebung wirft.

Allerdings ist in der Debatte auch umstritten, wie kohärent marktliberal die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs war und heute noch ist, und wie effektiv die juridische Europäisierung eine Angleichung von Gesetzen und Verwaltungspraxis in den Mitgliedsstaaten erzwingt – oder aber infolge von Nichtbeachtung (‚non-compliance‘) und Gegenmobilisierung politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte auf nationalstaatlicher Ebene in ihren Folgen abgeschwächt wird (u. a. Brenner et al. 2014; Martinsen 2015; Freedland und Prassl 2016; Blauberger und Schmidt 2017; Conant et al. 2018).

Diese Fragen werden im nächsten Kapitel noch weiter vertieft. Weitgehende Einigkeit besteht in der Literatur allerdings darüber, dass es im Bereich des Vergaberechts im Zuge der regulativen Nachverdichtung zu einer Zielverschiebung gekommen ist, durch die dem Wettbewerbsprinzip ein höheres Gewicht und eine andere Funktion zugesprochen wurde, als dies in den Anfängen der europäischen Vergabepolitik angelegt war (Sanchez-Graells 2011; Arrowsmith 2012; Kunzlik 2013). Wettbewerbsbeschränkende Vorgaben sollen nun selbst dann so weit als möglich unterbunden werden, wenn sie, wie im Falle einer Tariftreueklausel, für inländische und ausländische Bieter gleichermaßen gelten. Denn dies beschränkt gemäß der neuen Lesart die Freiheit einzelner Bieter, ihre Wettbewerbsvorteile auszunutzen, die sich auch aus einer niedrigeren Entlohnung, oder – im Falle von Auflagen zu umweltfreundlichen Produkten – aus kostengünstigeren Produktionsfaktoren ergeben können. Entsprechende ‚vergabefremde‘ (nun: weil freiheitsbeschränkende) Vorgaben sind daher nur in engen Grenzen zulässig. Über den Schutz der Freiheitsrechte des einzelnen Bieters hinaus wird der freie Wettbewerb dabei, wie Kunzlik (2013) herausarbeitet,.in Übereinstimmung mit neoliberalen Dogmen als Garant für eine höhere allokative Effizienz betrachtet: Nur er gewährleistet ‚value for money‘, also den effizienten Einsatz öffentlicher Gelder.Footnote 23

Umstritten ist in der rechtswissenschaftlichen Debatte allerdings, inwiefern diese Zielverschiebung, die auch in zahlreichen EuGH-UrteilenFootnote 24 zum Ausdruck kam, von den Vergaberichtlinien gedeckt sind und ob dies überhaupt in die Kompetenz der Europäischen Union fällt. So sehen manche Autoren im „Schutz des Vergabewettbewerbs als Institution“ (Dreher 2007, RN 2) eine eigenständige Funktion des europäischen Vergaberechts, die über die bloße Sicherung des Marktzugangs für interessierte Bieter hinausgehe (s. auch Sanchez-Graells 2016). Es soll also weder nur den Interessen der Wirtschaft (Bieter) oder aber des Staates in seiner Position als Käufer dienen, sondern dem Schutz des Wettbewerbsprinzips selbst.

Demgegenüber sieht Arrowsmith weder in den europäischen Verträgen noch in den Vergaberichtlinien eine gesetzliche Grundlage, die es den europäischen Institutionen erlauben würde, den Mitgliedsstaaten die Organisation maximal wettbewerblicher Verfahren zur Effizienzsteigerung vorzuschreiben. Das Wettbewerbsprinzip besäße nachgeordnete Bedeutung und sei lediglich Mittel zum Zweck, nämlich die Diskriminierung von Bietern im europäischen Binnenmarkt zu verhindern. Die Priorisierung des Wettbewerbsprinzips “puts the cart before the horse (…), the purpose of the competitive procedures is to secure transparency to prevent discrimination, rather than transparency being required to secure competition in general.“ (Arrowsmith 2012, S. 26) (ähnlich Burgi 2018, § 6, RN 8–9). Eine weitere Position nimmt schließlich Kunzlik (2013) ein, der mit der regulativen Nachverdichtung ebenfalls eine stärkere Ausrichtung des europäischen Vergaberechts an neoliberalen Theoremen einhergehen sieht, zugleich aber auf die diesbezügliche Inkohärenz in den bestehenden Richtlinien und Rechtsprechung verweist. In einer Reihe von Urteilen habe der EuGH im Laufe der 1990er und 2000er Jahre deutlich restriktivere Interpretationen der Europäischen Kommission im Hinblick auf die Zulässigkeit wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen zugunsten ‚vergabefremder‘ Ziele zurückgewiesen (s. Kap. 4).

Auf diese Konflikte um den Einzug ‚vergabefremder‘ Ziele – im Englischen auch ‚horizontal policies‘ oder ‚strategic goals‘ genannt – geht das folgende Kapitel noch näher ein. Hier ist zunächst festzuhalten, dass mit der regulativen Verdichtung nicht allein das ursprüngliche Ziel der Marktzugangsöffnung für ausländische Bieter konsequenter durchgesetzt wurde, sondern dabei zugleich weitergehende marktliberale Ausdeutungen Eingang in die Rechtsprechung und die Detailregeln fanden. Dies hat wiederum Auslegungskonflikte sowohl in der rechtswissenschaftlichen Debatte wie auch zwischen den Akteuren auf supranationaler Ebene hervorgerufen. Diese Auslegungskonflikte erstrecken sich auch auf die Zeit nach der jüngsten Reform der Vergaberichtlinien im Jahr 2014. Bezüglich des künftigen Stellenwerts des Wettbewerbsprinzips sehen die oben zitierten Kontrahenten in den neuen Vergaberichtlinien jeweils eine Bestätigung ihrer jeweiligen Auslegung: So leisten die neuen Vergaberichtlinien nach Auffassung von Burgi einen Beitrag zur „Wiederentdeckung des Zwecks der erfolgreichen Aufgabenerfüllung als Basiszweck des GWB-Vergaberechts“ (Burgi 2018, § 6, RN 7). Demgegenüber hält Sanchez-Graells daran fest, “that competition remains the main consideration in public procurement and that the pursuit [of] any horizontal policies (…) need to respect the requirements of undistorted competitive tendering.” (Sanchez-Graells 2016, S. 377).Footnote 25

Damit stehen sich recht unterschiedliche Einschätzungen gegenüber: Hat die letzte Reform die Ausrichtung am „Basiszweck“ der Vergabe gestärkt, oder das Ziel, einen unverzerrten Wettbewerb zu gewährleisten, oder hat sie vor allem die Tür für soziale und andere ‚horizontale‘ Ziele geöffnet, wie ein guter Teil der Literatur betont (s. das folgende Kapitel)? Aus soziologischer Perspektive lässt sich dieser rechtswissenschaftliche Dissens zunächst als Indiz dafür interpretieren, dass das europäische Vergaberecht offenbar erheblichen Raum für widerstreitende Deutungen lässt, auch nach der Reform der jüngsten Vergaberichtlinien. Die oben zitierten vereindeutigenden Interpretationen sind insofern auch als diskursive strategische Handlungen zu verstehen, die die Deutungshoheit für die Rechtsauslegung in der Vergabepraxis und bei der gesetzlichen Umsetzung und Weiterentwicklung zu erlangen suchen. Der rechtliche Rahmen für diese Deutungskonflikte ist aber ganz offensichtlich durch eine Gleichzeitigkeit von Vermarktlichung und gegenläufigen Entwicklungen geprägt. Die Institutionalisierung des Wettbewerbsprinzips ist insofern ein wichtiger, aber nicht der einzige Trend, der die Rahmenbedingungen der Auftragsvergabe prägt.

6 Fazit: Vermarktlichung im Modus der Verrechtlichung

Insgesamt wurde die öffentliche Auftragsvergabe auf gesetzlicher Ebene seit dem Ende der 1980er Jahre stärker verrechtlicht und auf diesem Wege zugleich vermarktlicht, also stärker als zuvor am Ziel ausgerichtet, den Bieterwettbewerb von Beschränkungen zu befreien – je nach Sichtweise als Selbstzweck („Wettbewerb als Institution“) oder als Mittel zum Zweck für die Gleichbehandlung ausländischer Bieter, oder für die kostengünstigere Beschaffung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Dass sich die Vermarktlichung im Modus der Verrechtlichung vollzog, unterstreicht die in jüngerer Zeit vermehrt thematisierte Rolle von Akteuren, Doktrinen und Verfahren des Rechtssystems bei der marktliberalen Ausrichtung von nationaler, europäischer und internationaler Politik ( u. a. die Beiträge in Golder und McLoughlin 2017; Brabazon 2018). Zugleich bestätigt diese Entwicklung, dass die Vermarktlichung keineswegs eine regulative Verschlankung, sondern im Gegenteil mit einer erheblichen regulativen Verdichtung und Erweiterung um Akteure einhergeht, die über die Einhaltung des verdichteten Regelungswerks wachen. Erneut unterstreicht dies, dass Vermarktlichung „institutionally thick“ (Greer und Doellgast 2017, S. 195) ist. Sie führt dadurch paradoxerweise auch nicht zur Entbürokratisierung, sondern im Gegenteil zu erheblich höheren Transaktionskosten; insbesondere zu einem höheren Planungsaufwand für die Verwaltungspraxis, wie noch im zweiten Teil des Buches zu sehen sein wird.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, die stärkere Vermarktlichung von Vergaberecht und -praxis allein auf Impulse von europäischer Ebene zurückzuführen – ganz abgesehen davon, dass diese Impulse ‚von oben‘ zum Teil, wie gesehen, auch ‚von unten‘ mobilisiert wurden. Denn weitgehend unabhängig von den spezifischen europäischen Vergaberichtlinien hatte sich die Auftragsvergabe zum niedrigsten Preis in vielen Mitgliedsstaaten zu einem wichtigen Mittel entwickelt, um knapper werdende Haushaltsmittel einzusparen. So führte die britische Regierung, die in vielen Feldern als Vorreiterin der neoliberalen Wende agierte, ab 1980 in mehreren Schritten für ihre Kommunen das „Compulsory Competitive Tendering“, also die Ausschreibungspflicht für kommunal verantwortete Dienstleistungen ein. In Deutschland bestand zwar keine Ausschreibungspflicht, sondern nur ein Vorrang der öffentlichen Ausschreibung im Falle einer externen Vergabe. Auch hier griffen Kommunen und andere öffentliche Auftraggeber jedoch seit den 1970er Jahren zunehmend zum Outsourcing, und zwar mit dem primären Ziel der Einsparung von Haushaltsmitteln, beginnend insbesondere mit Dienstleistungen, die nicht zu Kernfunktionen des öffentlichen Sektors gezählt wurden, wie Reinigungsdienstleistungen, Großküchen oder Sicherheitsdienstleistungen (u. a. Mayer-Ahuja 2003; Stienen 2011). Auch wenn in Deutschland das Wirtschaftlichkeitsprinzip keineswegs zur Wahl des billigsten Anbieters verpflichtete, konnte es im Bereich dieser wenig komplexen Dienstleistungen die Wahl des niedrigsten Preises sehr wohl legitimieren. Dies umso mehr, als die finanziellen Handlungsspielräume der Kommunen ab den 1980er Jahren durch Verschuldung und sinkende Steuereinnahmen zusehends eingeschränkt wurden und das Ziel der Haushaltskonsolidierung vielerorts in den Vordergrund trat. Sinkende Einnahmen gingen ihrerseits auch auf die Steuersenkungen ab Mitte der 1980er Jahre zurück, mit denen die Regierung Kohl in den „weltweiten Steuersenkungswettbewerb“ (Ganghof 2004, S. 69 ff.; s. auch Uhl 2008) eintrat. Unterstützt und legitimiert wurde ein kostenbewussteres Ausgabeverhalten der Kommunen ab den 1990er Jahren zudem durch die betriebswirtschaftlich geprägte Reorganisation der öffentlichen Verwaltung gemäß den Prinzipien des New Public Management beziehungsweise des Neuen Steuerungsmodells (NSM) (u. a. Bogumil 2014; Schedler und Pröller 2009). Schließlich haben sich die Rahmenbedingungen auch ganz wesentlich mit dem Umbruch in Osteuropa und der nachfolgenden Marktöffnung für Unternehmen aus den Transformationsländern verändert. Diese haben den Bieterwettbewerb um neue Unternehmen mit deutlich kostengünstigeren Lohnstrukturen erweitert – in Deutschland zunächst durch neue Unternehmen in den ostdeutschen Bundesländern, die entweder nicht tarifgebunden waren oder an einen Tarifvertrag mit niedrigeren Entgelten.

Ein Teil des Wandels ist also gar nicht durch veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen und durch neue Einschränkungen der Ermessensspielräume zu erklären, sondern durch (auch politisch induzierte) Sparzwänge, die zu einer vermehrten Nutzung bestehender Spielräume zur Vergabe nach dem niedrigsten Preis führte – die es wie gesehen auch im alten Haushaltsrecht gab – sowie durch veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die die Vergabe nach dem niedrigsten Preis erleichtert und in ihren Auswirkungen intensiviert haben.

Dennoch stellt die vermarktlichende Verrechtlichung einen folgenreichen Richtungswechsel dar. Für einen Teil des juristischen Schrifttums verband sich mit der Einbettung des Vergaberechts in das Wettbewerbsrecht zugleich die Erwartung, damit einem anderen Trend Einhalt gebieten zu können, nämlich dem ‚Wildwuchs‘ vergabefremder Zwecke, der in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Deutschland unter anderem bereits zahlreiche Tariftreuebestimmungen in den Vergabeordnungen von Bund und Ländern hervorgebracht hatte (ausführlich Riese 1998, S. 235–243). Das neue Vergaberecht, so Dörr (2017, RN 12), setze der Verfolgung wirtschafts-, struktur-, umwelt- oder sozialpolitischer Ziele bei der öffentlichen Auftragsvergabe, kurz „dieser Instrumentalisierung, die heute gern als ‚strategische Beschaffung‘ bezeichnet wird, Grenzen und lenkt das staatliche Steuerungsverhalten in rechtsstaatliche Bahnen.“ Ähnlich weist Rittner (1999, S. 677) darauf hin, dass es bei der Ausgestaltung des neuen Teils des GWB der Intention des deutschen Gesetzgebers entsprach, „den Wildwuchs der ‚sozialen Belange‘ namentlich auf Landesebene zu steuern“.

Wie die nachstehende Analyse zeigt, war und ist diese Erwartung berechtigt – wenn auch nur teilweise: Die Verrechtlichung hat den Einzug ‚vergabefremder‘ Zwecke ins Vergaberecht überlagert und geprägt, aber nicht verhindert – mit dem Ergebnis eines ‚institutional layering‘.