Die umfassende Vergaberechtsmodernisierung, die durch die reformierten europäischen Vergaberechtsrichtlinien aus dem Jahr 2014 in vielen europäischen Ländern eingeleitet wurde, kann als Meilenstein in der Politisierung der öffentlichen Auftragsvergabe bezeichnet werden. Wie bei keiner anderen Vergaberechtsreform zuvor waren die Entscheidungsprozesse sowohl auf europäischer Ebene als auch in Deutschland durch hohe öffentliche Aufmerksamkeit und eine breite Beteiligung von politischen und gesellschaftlichen Akteuren begleitet. Das Ergebnis der Vergaberechtsmodernisierung wird allerdings von den beteiligten Akteuren wie auch in der Literatur recht unterschiedlich gewürdigt. Dokumentiert die Reform einen ‚Paradigmenwechsel‘ zugunsten der sozial verantwortlichen Auftragsvergabe? Oder dominiert auch hier letzten Endes der „lange Schatten“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Schmidt 2018), der im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe mit dem sogenannten ‚Rüffert‘-Urteil von 2008 der Berücksichtigung sozialer Kriterien bei der Auftragsvergabe deutliche Grenzen setzte?

Um dies zu klären, bedarf es im Folgenden eines Rückblicks, der deutlich vor der jüngsten Vergaberechtsmodernisierung einsetzt. Dabei sind nicht nur die Entwicklungen im neu entstandenen Politikfeld der Vergabepolitik zu beleuchten. Diese stehen vielmehr in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Lohnsetzung und der Vielzahl von Akteuren und Entscheidungsprozessen, die darauf Einfluss nehmen. Dazu zählen allen voran die tarifpolitischen Auseinandersetzungen, aber auch die politische Regulierung der transnationalen Arbeitsmigration innerhalb der EU (Entsendungen) und schließlich die Ausweitung staatlicher Mindestlöhne in Deutschland. Dieser erste Teil des Buchs beleuchtet daher diese Verschränkungen der Vergabepolitik mit dem System der industriellen Beziehungen und der Regulierung von Arbeitsmärkten.

Die Analyse verdeutlicht, dass die Gesetzesentwicklung auf europäischer und nationaler Ebene in Deutschland sich als Doppelbewegung aus „Sozialpolitisierung“ (Sack und Sarter 2016) und Vermarktlichung kennzeichnen lässt. Die beiden Entwicklungslinien lösen einander nicht ab, sondern überlagern sich eher und bestehen bis heute nebeneinander her. Die Entwicklungsdynamik entspricht insofern überwiegend der Variante institutionellen Wandels, die vom historisch-institutionalistischen Ansatz als „institutional layering“ (Schickler 2001; Thelen 2004) bezeichnet worden ist. Der historisch-institutionalistische Ansatz erklärt institutionellen Wandel generell zum erheblichen Teil damit, dass Akteure mit widerstreitenden Interessen selbst in Phasen vermeintlicher Stabilität beständig um die Ausgestaltung von Regeln ringen und sich dabei je nach Kräfteverhältnissen über die Zeit auch kleinere, inkrementelle Anpassungen zu einem grundlegenden Bruch mit vorherigen Zielen und Verteilungswirkungen summieren können. Neben den Konflikten um Erhalt und Modifizierung der Regelungen selbst misst der Ansatz auch den Konflikten um die Auslegung und Durchsetzung von Regeln hohe Bedeutung zu (Streeck und Thelen 2005; Mahoney und Thelen 2010); auch diese haben für sich genommen wichtige Verteilungswirkungen und können für die Weiterentwicklung von Institutionen folgenreich sein. Bei der Variante des ‚institutional layering‘ münden diese beständigen Konflikte um Regeln und Regelauslegung in ein Nebeneinander zum Teil widersprüchlicher Logiken. Den widerstreitenden Interessen gelingt es zwar im Zeitverlauf, bestehenden Regeln ihren Stempel aufzudrücken. Sie besitzen aber jeweils nicht genügend Einfluss, um die bestehenden Regeln umfassend zu ersetzen oder umgekehrt gegen substantielle Anpassungen zu verteidigen.

In Einklang mit dieser diese Perspektive liegt der Blick im Folgenden nicht nur auf den Regelungsinhalten, sondern auch auf den Macht- und Interessen-Konstellationen, die im Falle der Vergabepolitik zur Doppelbewegung von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung geführt haben – welchen Einfluss hatten dabei verschiedene Akteure auf europäischer und nationaler Ebene. Darüberhinaus lenkt diese Perspektive den Blick auf die Auslegung von Regelungen; im Falle der öffentlichen Auftragsvergabe ist dabei die einschlägige Rechtsprechung von hoher Bedeutung, also die autoritative Ausdeutung der Gesetze (s. v. a. Kap. 3 und 4). Die nicht-verbindlichen Deutungsangebote, die durch das begleitende Soft law transportiert werden, werden hingegen im zweiten Teil des Buchs beleuchtet (s. Kap. 6).