1 Doppelbewegung: ‚Tiefe‘ Vermarktlichung und Repolitisierung

Die Entwicklungen in der öffentlichen Auftragsvergabe lassen sich, wie dieses Buch zeigt, einerseits als Lehrstück für den übergreifenden Trend der Vermarktlichung begreifen, der selbst in bereits marktförmig organisierten gesellschaftlichen Teilbereichen wie der öffentlichen Auftragsvergabe eine Intensivierung von Wettbewerbsprinzipien befördert hat. Nur stichwortartig sei hier daran erinnert, wie die öffentliche Auftragsvergabe ab dem Beginn der 1990er-Jahre einer Neuausrichtung unterzogen wurde, die wir als ‚Vermarktlichung im Modus der Verrechtlichung‘ bezeichnet haben (s. Kap. 3): durch die gesetzliche Verankerung der öffentlichen Auftragsvergabe im Wettbewerbsrecht anstelle des Haushaltsrechts; durch die Einführung des Bieterschutzes und, damit verbunden, neuer verrechtlichter Verfahren des Konfliktaustrags; schließlich durch eine Expansion und Verdichtung des europäischen Regelwerks, welche die Spielräume in Gesetzgebung und Vergabepraxis der europäischen Mitgliedstaaten zugunsten der Förderung des ‚Wettbewerbs als Institution‘ eingeschränkt haben.

Dieser Wandel ging wohlgemerkt nicht allein auf vergabespezifische Impulse der europäischen Institutionen zurück, sondern verband sich mit einem Wandel übergreifender wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen – die Rezession der 1970er-Jahre; Sparzwänge infolge des globalen Steuersenkungswettbewerbs; die europäische Binnenmarktstrategie; schließlich die Transformation in Osteuropa. All dies hat in Deutschland wie auch in anderen Mitgliedstaaten seit Langem die wettbewerbliche Ausschreibung und Vergabe nach dem niedrigsten Preis legitimiert und ließ sie zu einem viel genutzten Instrument werden, gerade im Bereich wenig komplexer Dienstleistungen. Die europäische Gesetzgebung und Rechtsprechung fiel hier insofern auf fruchtbaren Boden und fand zumindest in Teilen von Politik, Rechtsprechung und Wirtschaft Alliierte, die diesen Wandel auch aktiv unterstützten und vorantrieben.

Der grundlegende Unterschied zwischen aktuellem Status quo und der Situation vor den 1990er-Jahren besteht daher in erster Linie in einer starken Verrechtlichung der Auftragsvergabe und den daraus erwachsenden institutionellen Restriktionen für eine Vergabepolitik und -praxis, die neue Wege jenseits der Niedrigpreisvergabe beschreiten will. Sie gesellen sich zu den bereits zuvor bestehenden budgetären Restriktionen und der weitverbreiteten Praxis sparsamer Auftragsvergabe hinzu. Just in dem Moment, als in Deutschland im Laufe der 1990er-Jahre mit den ersten Tariftreueregelungen für das Baugewerbe eine andere Richtung eingeschlagen werden sollte, wurden vergabespezifische Regeln ausbuchstabiert und ein dichteres Netz von Instanzen zu ihrer Kontrolle und Durchsetzung geschaffen, die solchen und weiteren Ansätzen zur sozialverantwortlichen Auftragsvergabe enge Grenzen setzten. Mit feinmaschigen Vorschriften zur Verfahrenswahl, zur Zulässigkeit von Eignungs- und Zuschlagskriterien und Ausführungsbedingungen; zur Frage, wie man Qualität misst, ob und wie man zweifelhafte Angebote ausschließen oder den Einsatz von Subunternehmen beschränken darf, ist hier ein dichtes Korsett an Regeln entstanden, das staatliche Einkäufer größeren Beschränkungen unterwirft als privatwirtschaftliche Einkäufer. Eben aufgrund seiner hohen Marktmacht wurde der Staat auf diese Weise in die Pflicht genommen, den Wettbewerb um öffentliche Aufträge in perfektionistischer Weise zu organisieren und die ‚öffentlichen Märkte‘ so vielen interessierten Bietern wie möglich zu öffnen.

Diese Analyse verdeutlicht auch den Wert einer Forschungsperspektive, die wir als politische Mikroökonomie der Vermarktlichung bezeichnet haben (s. Kap. 1). Sie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie dem ‚engineering‘ von Märkten, also der Feinsteuerung marktförmiger Prozesse – beispielsweise der Ausgestaltung von Vergabeverfahren – hohe Aufmerksamkeit widmet. Auch innerhalb der neuen Regelungsarchitektur gibt es durchaus noch nennenswerte Gestaltungsspielräume für Vergabeverfahren, die den Preisdruck für Anbieter unterschiedlich stark akzentuieren können; dies belegen unsere Fallstudien. Wettbewerb ist also nicht gleich Wettbewerb. Im Falle der öffentlichen Auftragsvergabe hat die marktliberale Feinsteuerung die Gestaltungsspielräume jedoch stark bürokratisiert. Diese Variante der ‚neoliberalen Bürokratisierung‘ (Hibou 2015) wirft wie gesehen erhebliche Hürden für eine Vergabepraxis auf, die sich von der Strategie der Billigpreisvergabe zu entfernen versucht.

All dies erscheint daher in erster Linie als weiterer Beleg für eine Entwicklung seit den 1990er-Jahren, die Brenner et al. (2010) als Phase der ‚tiefen Neoliberalisierung‘ („deep neoliberalization“) bezeichnet haben. Im Unterschied zur vorhergehenden Phase („disarticulated neoliberalization“) ist ihr Kennzeichen eine Konsolidierung neoliberaler Konzepte durch supranationale, multilaterale, aber auch (sub-)nationale rechtlich-institutionelle Arrangements. Dieses weltumspannende marktliberale Regelwerk orchestriert die weiterhin vielfältige „regulatory experimentation“ über Ländergrenzen hinweg und setzt starke Anreize zugunsten kontextspezifischer Adaptionen und Ausbuchstabierungen neoliberaler Ideen. Die beschriebene ‚Konstitutionalisierung‘ des Wettbewerbsprinzips in der Vergabepolitik und seine institutionelle Befestigung durch eine Vielzahl an Detailregeln und neuen rechtlichen Kontrollinstanzen lässt sich als vergabespezifische Variante einer solchen ‚tiefen Neoliberalisierung‘ einordnen.

Und doch ist dies nur ein Teil des Bildes. Denn der rote Faden, der sich durch unsere Befunde zieht, ist trotz allem eine Doppelbewegung von Vermarktlichung und ‚Einbettung‘ (Polanyi) zugunsten gesellschaftlicher Ziele jenseits bloßer ökonomischer Freiheitsrechte. So setzte in Gesetzesentwicklung und Rechtsprechung nahezu zeitgleich zur Vermarktlichung auch eine ‚Sozialpolitisierung‘ der Auftragsvergabe ein (Kap. 4). Zum Teil erfolgte dies in direkter Reaktion auf europäische Gesetzgebung und ‚juridische Europäisierung‘, also auf die Vermarktlichung mithilfe des europäischen Fallrechts; zum Teil war dies gespeist aus einem davon weitgehend unabhängigen, übergreifenden Trend zur ‚Hybridisierung‘ des Systems industrieller Beziehungen, also zur Anreicherung und Stützung kollektivvertraglicher Standards durch staatliche Interventionen. In der Vergabepraxis kommen sich insbesondere die durch die ‚neoliberale Bürokratisierung‘ erzeugten rechtlichen Detailvorschriften auf der einen Seite und die qualitative Wende auch beim Einkauf einfacher Dienstleistungen auf der anderen Seite in die Quere. Diese qualitative Re-Orientierung besitzt Schnittmengen zu den Bemühungen seitens politischer Akteure, Gewerkschaften und auch Arbeitgeberverbände, die öffentliche Auftragsvergabe zur Stärkung von Tarifnormen und Gewährleistung guter Arbeitsbedingungen zu nutzen.

Hier greifen also verschiedene, partiell voneinander unabhängige Trends ineinander, die quer zu Vermarktlichungstendenzen liegen. Sie unterstreichen den einleitend konstatierten Bedarf nach einer ‚Dezentrierung‘ (Leitner et al. 2007; Bevir 2016) der Analyse vom Neoliberalismus, welche Ursachen und Effekte von eigendynamischen Trends quer zur neoliberalen Marktregulierung stärker berücksichtigt.

Dass sich im Falle der öffentlichen Auftragsvergabe solche Trends querstellen, ist keineswegs selbstverständlich. Denn viele vergabespezifische Entscheidungen sind von den üblichen demokratischen Beteiligungsverfahren und öffentlicher Aufmerksamkeit weitgehend abgeschirmt. Dies gilt bereits für die gesetzlichen Reformen der Vergabepolitik, die aufgrund ihrer eher verdeckten verteilungspolitischen Implikationen und der sperrigen wettbewerbsrechtlichen Materie nicht unbedingt zu den Kernthemen des politischen Parteienwettbewerbs und der medialen Berichterstattung zählen. Dies gilt noch mehr für Entscheidungen in der Vergabepraxis und der Rechtsprechung, welche zwar durch formale Verfahren unter Beteiligung staatlicher Akteure (Gerichte, Verwaltungen), aber typischerweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit gekennzeichnet sind. Und dies gilt erst recht für die informellen Normen des vergabespezifischen ‚Soft Law‘ in Form von Leitfäden und Best-Practice-Sammlungen, die zum Teil auch von nicht-staatlichen Akteuren produziert werden. Diese Rahmenbedingungen sollten diskrete ‚quiet politics‘ (Culpepper 2011) zugunsten einer marktliberalen Ordnung eigentlich erleichtern (Greer und Doellgast 2017; Greer und Umney 2022).

Die Befunde unserer Untersuchung verdeutlichen jedoch, dass die Annahme einer durchgehenden Intensivierung von Marktprinzipien mithilfe de-politisierter, technokratischer und (halb-)privatisierter Entscheidungsprozesse zu kurz greift. Das liegt zum einen daran, dass die Interessen ‚der‘ Wirtschaft heterogener sind als diese Annahme unterstellt und keineswegs unisono dem Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen gelten, sondern sich jedenfalls teilweise im wohlverstandenen Eigeninteresse an der Absicherung des eigenen Geschäftsmodells (s.a. Fligstein 2011) auf die Unterbindung eines ruinösen Preiswettbewerbs richten können, wie der Fall der Sicherheitsdienstleistungen illustriert. Und es liegt zum anderen daran – und dies ist der zweite rote Faden, der sich durch unsere Befunde zieht – dass es über alle Schauplätze der Entscheidungsfindung hinweg zu einer Politisierung – im Sinne einer Infragestellung, Pluralisierung und Konkurrenz der dort produzierten Normen durch politische und zivilgesellschaftliche Akteure – kommt. Der Weg zur De-Intensivierung des Preismechanismus und damit zu Korrekturen der neoliberalen Marktordnung führt offensichtlich auch und wesentlich über eine solche Repolitisierung von Entscheidungen zur Marktsteuerung.

Dieser Politisierung an den verschiedenen Schauplätzen der vergabespezifischen Entscheidungsfindung gilt daher für den Rest dieser Zusammenfassung das Hauptaugenmerk.

2 ‚Variegated de-marketization‘: Erscheinungsformen und Entwicklungsdynamiken nicht-neoliberaler Politik und Praxis

Zahlreiche Studien thematisieren mittlerweile, dass und wie neoliberale Konzepte in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen mit alternativen Entwürfen sozialer Ordnung kollidieren und (re-)politisiert werden (u. a. Schmalz und Dörre 2013; Larner 2014; Sternberg und Anderson 2014; Beveridge und Naumann 2014; Doellgast et al. 2018; Blühdorn und Deflorian 2021). Sie richten den Blick dabei allerdings überwiegend auf Gewerkschaften, andere zivilgesellschaftliche Organisationen, soziale Bewegungen und lokale Bündnisse als Träger solcher Strategien der Gegenmobilisierung; mithin auf Akteure, die typischerweise nicht die politischen Machtzentren besetzen, sondern sich ‚von unten‘ und ‚außen‘ gegen die Zumutungen neoliberaler (Post-)Politik zur Wehr setzen. Es steht außer Frage, dass diese Akteure wichtige Veränderungsimpulse an das politische System herantragen, wie auch unsere Studie belegt – etwa mithilfe des vergabespezifischen ‚Soft Laws‘, mit dem auch nicht-staatliche Akteure die Vergabepraxis zugunsten verschiedener ‚strategischer‘ Ziele zu beeinflussen suchen; oder über öffentlichkeitswirksame Proteste gegen negative Effekte des intensiven Preiswettbewerbs (schlechte Essensqualität, Übergriffe gegen Flüchtlinge durch Sicherheitskräfte).

Wenig Aufmerksamkeit kommt in diesem Zusammenhang hingegen bislang der Repolitisierung verteilungspolitischer Fragen in den politischen Machtzentren zu – also in der Gesetzgebung, im Regierungs- und Verwaltungshandeln, in der Rechtsprechung, mithin an wichtigen Schauplätzen, an denen formelle und informelle Normen zur Marktsteuerung gesetzt werden. Diese Leerstelle adressiert unsere Studie. Sie beleuchtet die vielfältigen Formen der Politisierung vergabespezifischer Entscheidungen und zeigt dabei, wie äußerer Druck sowie Konflikte und Lernprozesse innerhalb des politischen Systems ineinandergreifen und Vergabepolitik und -praxis aus dem einseitigen Zugriff der verrechtlichten Vermarktlichung lösen.

Für diese Veränderungsprozesse schlagen wir hier daher den Begriff ‚variegated de-marketization‘Footnote 1 vor. So paradox dies auf den ersten Blick erscheinen mag, baut dieser Begriff in zentralen Punkten auf das von Neil Brenner et al. (2010) ausgearbeitet Konzept der „variegated neoliberalization“ auf. Mit ihm wenden sich die Autoren gegen die Vorstellung einer Konvergenz weltweiter Markt- und Gesellschaftsordnungen in einer wie immer gearteten ‚reinen‘ Form des Neoliberalismus und unterstreichen stattdessen den „incomplete, experimental and ultimately polymorphic character of neoliberalization processes, as well as their endemically path-dependent character during each successive wave of regulatory restructuring“ (Brenner et al. 2010, S. 217).

Mit der Betonung der Pfadabhängigkeit und der historisch kontingenten, kontextspezifischen und kumulativen EntwicklungsdynamikenFootnote 2 und den daraus resultierenden ‚buntgemusterten‘ („variegated“) Entwicklungsverläufen und Erscheinungsformen des „actually existing Neoliberalism“ (Peck et al. 2018), geht es den Autoren dabei weniger darum, unterschiedliche Varianten zu identifizieren und damit die begrenzte Prägekraft des Neoliberalismus zu belegen. Im Gegenteil: Das Konzept zielt darauf, die Resilienz des Neoliberalismus, seine weltweite Expansion und kontinuierliche Vertiefung durch seine Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit zu erklären. Gewissermaßen ‚verunreinigende‘ Konzessionen an je kontextspezifische bestehende Ordnungen und alternative Entwürfe sind damit konstitutiv für real existierende Manifestationen neoliberaler Konzepte. Die in der Phase der ‚tiefen Neoliberalisierung‘ entstandenen Regelwerke und die dichten Netzwerke, die die transnationale Diffusion neoliberaler Konzepte erleichtern, sorgen dabei dafür, dass das Ergebnis der kontinuierlichen „regulatory experimentation“ bei aller Unvollständigkeit, Instabilität und Widersprüche („intensely contradictory blending of neoliberal and extra-neoliberal elements“, Brenner et al. 2010, S. 2016) dominant neoliberal bleibt.

Mehrere Fragen bleiben dabei aber weitgehend ausgeklammert: zum einen, woher die „extra-neoliberal elements“ stammen und wie genau sie Eingang in die buntgemusterte regulatorische Wirklichkeit finden – ob durch machtbasierte Aushandlungsprozesse oder auch durch andere Lern-, Sozialisations- und Nachahmungsprozesse, wie sie die Autoren als Kennzeichen der ‚variegated neoliberalization‘ beschreiben. Und zum anderen, ob und unter welchen Bedingungen die neoliberale Hegemonie dadurch auch gebrochen werden kann. Die Autoren beantworten diese Fragen gewissermaßen ex negativo: Ebenso wenig wie sich der Neoliberalismus mit einem Schlag durchgesetzt habe, gelte selbst nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, dass „no big-bang failure of neoliberal rule is imminently expected“ (Peck 2013, S. 153). Wenn überhaupt, würde eine solche Umkehr der Entwicklung ähnliche Formen und Dynamiken annehmen wie die ‚variegated neoliberalization‘: „On the contrary, if the current ‘great crash’ does indeed herald any alternatives to deep neoliberalization, we may likewise expect them to assume intensely variegated, unevenly developed forms“ (Brenner et al. 2010, S. 219).

Eben diese hypothetischen Überlegungen sollen hier mit dem Begriff der ‚variegated de-marketization‘ aufgegriffen werden. In Analogie zum Konzept der ‚variegated neoliberalization‘ umreißt dieser Begriff eine Forschungsagenda, die sich für die Entwicklungsdynamiken und Erscheinungsformen real existierender Ansätze einer nicht-neoliberalen Politik und Praxis interessiert, – ohne zugleich die Effekte der ‚tiefen Neoliberalisierung‘ oder auch 'tiefen Vermarktlichung' außer Acht zu lassen. Dem Begriff eingelagert sind auch die Annahmen zu den mannigfaltigen Diffusionswegen (nicht-)neoliberaler Konzepte, auf die sich die Autoren stützen (institutionelle Anreize von supranationaler Ebene; horizontale Lern- und Nachahmungsprozesse; aufwärts verlaufende Impulse in politischen Mehrebenensystemen); ebenso ihre Thesen zum historisch kontingenten und kumulativen, auf verschiedene Schauplätze verteilten und zeitlich gestreckten Charakter von Veränderungsprozessen; schließlich auch ihre Absage an die Vorstellung eines Entwicklungsendpunkts (Konvergenz in einer ‚Reinform‘) und stattdessen die Betonung der Prozesshaftigkeit des Neoliberalismus – bzw. hier: die Prozesshaftigkeit seiner Alternativen. Der Begriff der ‚variegated de-marketization‘ unterscheidet sich also in erster Linie durch einen anderen Analyse-Fluchtpunkt vom Begriff der ‚variegated neoliberalization‘: Im Fokus stehen nicht die Prozesse, die die Verdichtung und Perpetuierung des Neoliberalismus bewirken, sondern diejenigen Prozesse, die alternativen Entwürfen zur Geltung verhelfen, mögen diese auch partiell, für sich genommen unscheinbar, widersprüchlich und allenfalls durch den kumulativen Effekt verschiedener regulativer Experimente an verteilten Orten und über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer substanziellen Modifikation von neoliberalen Konzepten führen.

Die folgenden Ausführungen sollen diesen Begriff anhand unserer Befunde empirisch unterfüttern. Sie verdeutlichen zugleich, dass ein elementarer Bestandteil eben dieser Prozesse der ‚variegated de-marketization‘ – und damit schließt sich der Kreis zum Beginn dieses Abschnitts – eine Repolitisierung verteilungspolitischer Entscheidungen ist, die sich nicht nur auf Protestbewegungen und Nischenexperimente mit alternativen Lebens- und Wirtschaftsformen stützt, sondern auch auf Aushandlungs- und Lernprozesse an den zentralen Schauplätzen der Entscheidungsfindung. Am Beispiel der Auftragsvergabe wollen wir damit den Blick schärfen für eine andere Rolle von Politik und Recht im demokratischen Kapitalismus, jenseits ihrer Verstärkerfunktion für Marktzwänge, die viele Studien bereits ausführlich und zutreffend beschrieben haben. Dies dient dazu, das endemische Veränderungspotential heutiger demokratisch verfasster Gesellschaften aufzuspüren, anstatt das aktuelle Geschehen vorwiegend im Zeichen eines baldigen ‚big bang‘ zu interpretieren.

3 Gesetzgebung: Regulative Experimente und Lernprozesse

3.1 Entwicklungsdynamiken: Kumulativ, kontingent, verteilt und ‚variegated‘

Auch für die Gesetzesentwicklung in der öffentlichen Auftragsvergabe gilt, dass einzelne Krisen und Reformpakete für sich genommen keine Richtungsumkehr bewirkt haben – nicht die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und auch nicht die Vergaberechtsreform von 2014, die oftmals als Paradigmenwechsel zugunsten der Verankerung sozialer Ziele porträtiert worden ist. So wie die ‚variegated neoliberalization‘ gestützt auf die langjährige, sukzessive Konstitutionalisierung der ökonomischen Grundfreiheiten allgemein und über verschiedene Etappen der vergabespezifischen ‚Vermarktlichung im Modus der Verrechtlichung‘ zur Entfaltung kam, haben auch die gegenläufigen Bemühungen über einen langen Zeitraum an vielen verteilten, interdependenten Schauplätzen zu Konflikten und Konfliktlösungen geführt, die sich erst kumulativ und aufeinander aufbauend zum Muster einer ‚variegated de-marketization‘ fügen. Jeder einzelne dieser Konflikte ist durch ein kontingentes Zusammenspiel verschiedener Faktoren gekennzeichnet und mündet in ‚buntgemusterten‘ Konfliktlösungen, die ihrerseits wieder Anknüpfungspunkte für die nachfolgenden Runden bieten, über die der Konflikt ausgetragen wird.

  • Verteilte, interdependente Schauplätze: Relevante Entscheidungen werden nicht nur im engeren Politikfeld der Vergabepolitik getroffen; die Auseinandersetzungen um die Sozialpolitisierung der Vergabe waren und sind vielmehr Teil eines mehrere Politikfelder und politische Ebenen übergreifenden Konflikts um die Frage, wie mit der nachlassenden Kraft des traditionellen Repertoires zur kollektiven Selbstregulierung des Arbeitsmarktes, mit dem daraus resultierenden Lohndruck innerhalb der Mitgliedsländer und auch den Interessenkonflikten zwischen den Marktteilnehmern aus ‚Hochlohn-‘ und ‚Niedriglohn‘-Ländern im europäischen Binnenmarkt umzugehen ist. Entscheidungen und Rechtsauslegungen zur Entsenderichtlinie haben sich damit wie gesehen ebenfalls auf die Vergabegesetzgebung ausgewirkt. Von größter Bedeutung in Deutschland sind zudem bis heute die Wechselwirkungen zwischen Vergabepolitik und den Auseinandersetzungen zum staatlichen Mindestlohn sowie zur Stärkung der Tarifbindung. So wurden die neuen vergabespezifischen Mindestlöhne in Deutschland nicht nur wegen ihrer unmittelbaren Schutzwirkung für den begrenzten Bereich der öffentlichen Aufträge eingeführt, sondern auch um ihrer symbolischen Dimension willen zunächst als Wegbereiter eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes, und nach dessen Einführung 2015 als Vorreiter eines armutsfeste(re)n allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, wie er derzeit auf der politischen Tagesordnung in Deutschland wie auch auf europäischer Ebene steht.

  • Historisch kontingentes Zusammenspiel: Neben dem europäischen Krisenmanagement im Gefolge der Staatsschuldenkrise haben weitere, davon unabhängige Entwicklungen (Flüchtlingskrise und ihr politisches Echo in euroskeptischen Parteien und Regierungen) letztlich eine Revitalisierung des ‚Sozialen Europas‘ begünstigt; und dies hat seinerseits wiederum die Reform der Entsenderichtlinie grundiert und der Kritik am marktliberalen Fallrecht des EuGHs zusätzliche Legitimation verliehen.

  • Rekursiv, kumulativ und aufeinander aufbauend: Parallel zu seiner vermarktlichenden Ausdeutung von Primär- und Sekundärrecht hat der EuGH mit einigen Urteilen bereits früh erste Grundsteine für eine Korrektur der asymmetrischen Integrationslogik gelegt – gegen noch weitergehende marktliberale Vorstellungen der Europäischen Kommission. Diese wurden in der ersten Vergaberichtlinie von 2004 kodifiziert. Das erleichterte wiederum expansive regulative Experimente auf nationaler Ebene, welche ihrerseits Impulse für die erneuten Revisionen der europäischen Vergaberichtlinie im Jahr 2014 gaben (Sack und Sarter 2018a). Diese Revisionen haben den asymmetrischen Kompromiss von 2004 ein Stück weiter zugunsten sozialer Kriterien geöffnet.

  • ‚Buntgemusterte‘ Konfliktlösungen: Die europäische Vergaberechtsreform von 2014 war einerseits durch die Programmatik von Europa2020 grundiert, in der als (paradoxe) Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ein gesteigertes Grundvertrauen in die allokative Effizienz des Marktes zum Ausdruck kam, sodass hier zum Schutz des Wettbewerbsprinzips gewissermaßen alte Zäune befestigt wurden (v. a. der ‚Bezug zum Auftragsgegenstand‘). Zugleich ist es einer breiten Allianz von politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen gelungen, gegen den Widerstand großer Mitgliedstaaten wie Deutschland und der Europäischen Kommission wichtige Pflöcke zugunsten einer (auch sozial) nachhaltigen Auftragsvergabe einzuschlagen.

Insgesamt summieren sich die Vergaberichtlinien von 2004 und 2014, die nationalen regulatorischen Experimente, die revidierte Rechtsprechung des EuGHs seit 2016 und schließlich die neue Entsenderichtlinie (2018) samt ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene zu einem Paradigmenwechsel, oder vielleicht eher: zu einer Art ‚breiten Kipp-Punkt‘. Denn auch im aktuellen Stand der Gesetzgebung quo liegt schließlich kein ‚reiner‘ Gegenentwurf zur vermarktlichten Auftragsvergabe vor. Die Konkurrenz unterschiedlicher Integrationslogiken des europäischen Projekts ist damit also nicht beendet. Aber diese Konkurrenz ist nun auch institutionell stärker abgesichert als zuvor und eröffnet dadurch mehr Gestaltungsspielräume. In diesem Sinne sprechen wir von einer ‚Institutionalisierung der Gleichzeitigkeit von Vermarktlichung und Sozialpolitisierung‘.

3.2 Politisierung von ‚innen‘ und ‚außen‘

Während sich die Vermarktlichung wesentlich gestützt auf Akteure, Verfahren, Strategien und Doktrinen des Rechtssystems vollzog, spielen für die einzelnen Etappen und Verbreitungswege der ‚variegated de-marketization‘ die Akteure, Verfahren, Strategien und Programme des politisch-administrativen Systems eine große Rolle. Durch sie ist es gelungen, vergabepolitische Entscheidungen, die lange Zeit im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit und zum guten Teil auch jenseits demokratisch-partizipativer Verfahren verhandelt wurden, zu repolitisieren, also einer Neuverhandlung unter Beteiligung eines breiteren Kreises von Akteuren und unter Berücksichtigung eines heterogeneren Zielspektrums zuzuführen.

Dies schließt klassische Strategien wie das politische Lobbying von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen ein – zu erinnern ist hier an ihr aktives Lobbying auf supranationaler Ebene bei der Vergaberechtsreform 2014; oder an die transnationale Koordination nationaler gewerkschaftlicher Lobbying-Strategien, die das Abstimmungserhalten der jeweiligen Mitgliedsländer rund um die jüngste Reform der Entsenderichtlinie 2018 zu beeinflussen suchten; oder schließlich die Kampagnen auf nationaler Ebene zur Einführung staatlicher Lohnvorgaben, die auch den Rahmen für die Praxis der Auftragsvergabe neu abstecken. Diese externen Akteure nutzen also aktiv die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ihre Interessen in den politischen Prozess einzuspeisen und darüber auf eine Veränderung des vermarktlichten Regelwerks hinzuwirken.

Ihre Impulse entfalten aber erst in Verbindung mit Eigendynamiken und Lernprozessen in den Zentren der Entscheidungsfindung ihre Wirkung. Hier schlägt sich zum einen der Parteienwettbewerb nieder: Treibende Kraft bei der Sozialpolitisierung waren insbesondere Parteien des linken politischen Spektrums – sowohl bei der Vergaberechtsreform auf europäischer Ebene als auch, bis zum heutigen Tag, bei den regulativen Experimenten zu Vergabemindestlohn und Tariftreue auf (sub)nationaler Ebene. Diesbezüglich bestätigt, ergänzt und aktualisiert unsere Analyse andere Arbeiten (Sack 2010; Sack und Sarter 2018b). Die Rolle der SPD – und damit vom Parteienwettbewerb insgesamt – erscheint hier in einem deutlich anderen Licht als etwa bei Greer und Umney (2022), die unter dem Eindruck der tragenden Rolle sozialdemokratischer Parteien in Europa bei vermarktlichenden Reformen (u. a. aktivierende Arbeitsmarktpolitik) die Träger für neue „non-market orders“ weniger im Parteiensystem verorten (parteiinterne Lernprozesse, neue politische Mehrheiten), sondern außerhalb dessen, etwa auf Seiten der Gewerkschaften.

Während Parteienwettbewerb und Lobbying klassische Bestandteile politischer Willensbildungsprozesses sind, in denen das bestehende Regelwerk in offene Konkurrenz zu alternativen Entwürfen gerät, kommen in der Vergabepolitik auch Formen der verdeckten Gegenwehr zum Tragen, die in der jüngeren politik- und rechtswissenschaftliche Debatte zum Einfluss der europäischen Rechtsprechung auf die Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten thematisiert worden ist: Dabei geht es um verschiedene Ausweichbewegungen in Reaktion auf Entscheidungen des EuGHs, die sich im Zwischenraum von offener ‚Non-Compliance‘ und ‚Eins-zu-eins‘-Umsetzung bewegen. Sie zielen darauf, die realen Auswirkungen kontroverser EuGH-Urteile einzudämmen (Martinsen 2015; Hofmann 2018). Während in der Literatur Uneinigkeit darüber besteht, inwieweit es den Mitgliedstaaten dadurch effektiv gelingt, den Status quo ante gegen den ‚langen Schatten‘ (Schmidt 2018) des marktliberalen europäischen Fallrechts zu verteidigen, veranschaulichen unsere Befunde, dass die regulativen Experimente in diesem Schatten auch neuartige Kombinationen hervorbringen können. Dies illustriert das Beispiel der Gesetzesinnovation der vergabespezifischen Mindestlöhne in Deutschland in Reaktion auf das Rüffert-Urteil von 2008, die zum Gegenstand einer erneuten rechtlichen Verhandlung wurde (RegioPost-Urteil von 2016) und darüber zu einem von mehreren Schritten in der allmählichen Revision des europäischen Fallrechts. So wie das europäische Fallrecht nicht nur auf direktem, sondern auch auf verschiedenen indirekten Wegen Einfluss auf die mitgliedstaatliche Gesetzgebung nimmt (Schmidt 2018), führt auch der umgekehrte Weg nicht immer über eine direkte parlamentarische Abänderung der gesetzlichen Grundlagen, auf die sie die Rechtsprechung stützen muss, sondern kann auch zunächst als (sub-)national begrenztes Experiment in rechtlichen Grauzonen und ‚unter dem Radar‘ der Hüter der asymmetrischen Integrationslogik ihren Anfang nehmen und erst über weitere Etappen im europäischen Mehrebenensystem zu weitreichenderen Änderungen führen.

Eine zentrale Voraussetzung dafür ist dabei, wie das Beispiel veranschaulicht, erstens eben der unvollständige, partiell widersprüchliche Charakter der ‚variegated neoliberalization‘: Selbst in der Hochphase der marktliberalen juridischen Europäisierung, in die auch das Rüffert-Urteil fiel, verkörperte das europäische Fallrecht wie auch die Gesetzgebung eben nicht die ‚reine neoliberale Lehre‘, sondern beinhaltete auch nicht-neoliberale Ablagerungen, welche Anknüpfungspunkte für andersartige, ‚eigensinnige‘ Auslegungen des bestehenden Regelwerks boten. Zweitens setzt dies Akteure voraus, die auch willens und in der Lage sind, bereits im nationalstaatlichen Rahmen bestehende Spielräume eigensinnig zu nutzen bzw. sie auch in Abweichung von der dominant marktliberalen Ausdeutung zu dehnen.

Im Falle der Vergabepolitik gehen derzeit entsprechende Impulse auch von den sozialdemokratischen Regierungen auf Landesebene aus. Diese waren nach den aktivierenden Arbeitsmarktreformen (‚Hartz-Reformen‘) um Wiedergewinnung des verlorenen Wählervertrauens und Schärfung ihres sozialen Profils in Abgrenzung zur CDU-geführten Bundesregierung bemüht. Auch dies sind Lernprozesse und Eigendynamiken des politischen Systems. Zu diesen Lernprozessen zählt zudem auch die Aneignung von rechtlicher Expertise: Um die europarechtlichen Spielräume bei der erzwungenen Überarbeitung ihrer Tariftreue-Regelungen auszuloten, holten die SPD-geführten Länder zum Teil umfassende Rechtsgutachten ein. Die Re-Politisierung führt also auch über eine Verrechtlichung der politischen Auseinandersetzungen.

3.3 Politisierung der Rechtsprechung

Umgekehrt kann aber auch die Normsetzung in der rechtlichen Arena sich den Dynamiken des politischen Konfliktaustrags nicht dauerhaft entziehen. Es bleibt nämlich nicht bei einer mehr oder weniger verdeckten Infragestellung der marktliberalen Prinzipien ‚unter dem Radar‘ der EuGH-Rechtsprechung; vielmehr ist es auch zu einer Politisierung der Rechtsprechung selbst gekommen, und zwar über mehrere Wege.

Zum einen über normativen Druck, der den EuGH zu einer revidierten Rechtsauslegung bewogen hat. Solche Prozesse inkrementeller Anpassungen des Fallrechts, die sich über einen längeren Zeitraum durchaus zu grundlegenden Revisionen summieren können, wurden bereits für den Übergang zu einer strikter ordoliberalen Auslegung des Wettbewerbsrechts beschrieben (u. a. Ergen und Kohl 2019; Foster 2021). Die vergaberelevanten Entscheidungen belegen, dass diese Prozesse sich auch in Richtung einer ‚Sozialpolitisierung‘ der europäischen Politik bewegen können. Der normative Druck in diese Richtung wurde dabei sowohl von außen als auch von innen an den EuGH herangetragen: über kritische Stellungnahmen der Mitgliedstaaten im Rahmen der EuGH-Urteilsfindung; über die kritische juristische Kommentierung des Laval-Quartetts durch die eigene Zunft, die ganze Bibliotheken gefüllt hat (Garben 2017, S. 33); und schließlich über eine kritischere mediale Berichterstattung zur Rechtsprechung des EuGHs, die auch in wichtigen vergaberelevanten Fällen (‚RegioPost‘, ‚Elektrobudowa‘) ihre Wirkung auf die Richter entfaltet hat (Blauberger und Martinsen 2020). Letzteres bestätigt somit auch die von Culpepper (2021) unterstrichene wichtige Rolle der ‚vierten Gewalt‘ bei der Repolitisierung von ‚quiet politics‘ (s.a. Blauberger et al. 2018). Das Beispiel belegt, dass normativer Druck zu einem allmählichen Gesinnungswandel unter den Richtern führen kann – wenn auch über interne Debatten und Lernprozesse „behind closed doors“ und „over many years and subsequent cases“ (Semple 2018, S. 169).

Neben diesen langsamen Lernprozessen unter normativem Druck haben aber auch politisch induzierte Änderungen des supranationalen Regelwerks selbst, also institutionelle Zwänge, eine Revision der Rechtsprechung begünstigt. Denn mit der 2009 in Kraft getretenen EU-Grundrechtecharta haben nach langjährigem Streit auch soziale Rechte von Arbeitnehmer*innen einen verfassungsähnlichen Stellenwert erhalten und müssen vom EuGH zusätzlich zu den konstitutionalisierten ökononomischen Grundfreiheiten herangezogen werden. Auch wenn diese Pluralisierung der Rechtsquellen unvollständig (im Sinne von asymmetrisch) blieb (Robin-Olivier 2018), schlug sie sich wie gesehen auch in den Urteilen des EuGHs zur Entsenderichtlinie (‚Elektrobudowa‘ (2016); ‚Polen vs. Parlament und Rat‘ (2020)) nieder.

Darüber hinaus hat sich schließlich auch das Rechtssystem selbst zu einem Vehikel für die Politisierung entwickelt, und zwar in Verbindung mit den ‚eigensinnigen‘ Interpretationen des europäischen Rechtsrahmens auf (sub-)nationaler Ebene. Denn diese veranlassten klagende Unternehmen und nationale Gerichte, die Experimente dem EuGH vorzulegen und das Gericht damit erneut mit dem Grundsatzkonflikt zu befassen, der bereits beim Laval-Quartett im Zentrum stand. Das gilt für die Gesetzesinnovation der vergabespezifischen Mindestlöhne (‚RegioPost‘ (2015)), als auch für die finnische Praxis der Ausweitung des Geltungsbereichs tariflicher Lohnvorgaben (‚Elektrobudowa‘ (2016)). Unter dem Einfluss von normativem Druck und verändertem institutionellen Rahmen erwies sich die Rechtsprechung des EuGHs als unberechenbarer und weniger konsistent marktliberal als von den Klägern vermutlich antizipiert; jedenfalls haben beide Urteile die asymmetrische Integrationslogik, die im 'Laval'-Quartett ihren Ausdruck fand, nicht einfach bestätigt, sondern wichtige Korrekturen daran vorgenommen. Die „strategic litigation“ (Kelemen 2011), mithilfe derer Kläger unter Berufung auf europäisches Recht bestehende wettbewerbsbeschränkende Regeln und Praktiken in den Mitgliedstaaten zu Fall bringen wollten, erwies sich so als Bumerang. Es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, dass die rechtlichen Verfahren, die von der Europäischen Kommission zwecks Durchsetzung einer stärker wettbewerblichen Auftragsvergabe ins Leben gerufen wurden, auch zum Einfallstor für die stärkere Verankerung von Arbeitnehmerrechten auf europäischer Ebene wurden. So wie die marktliberale Rechtsprechung des EuGHs selbst maßgeblich davon abhängt, dass sie auf nationaler Ebene Alliierte findet, ist umgekehrt auch die korrigierte Rechtsprechung ein Produkt des Zusammenspiels über mehrere Ebenen.

Auch diese Befunde belegen die hohe Bedeutung des Rechtssystems bei der Marktregulierung, unterstreichen jedoch seinen polyvalenten Charakter: Auch die Durchsetzung von Alternativen zur Vermarktlichung führt durch das Rechtsystem hindurch – nicht an ihm vorbei.

4 Vergabepraxis: Praktische Experimente beim ‚Street-level Market Making‘

Der widersprüchliche Charakter des rechtlichen Regelwerks bedeutet, dass auch bei der Anwendung dieses Regelwerks wesentlich mit entschieden wird über die genaue Ausgestaltung von Märkten. Denn dies versetzt die ausführende Politikebene in die Position, bis zu einem gewissen Grad nach eigenem Ermessen zwischen konkurrierenden Zielen abwägen zu können und zu müssen. Ausgehend von der Annahme, dass das traditionelle professionelle Ethos von ‚Staatsdienern‘ aller Art eher in Distanz steht zur Ökonomisierung des öffentlichen Dienstes, ist die ‚street level bureaucracy‘ von der Forschung vielfach als potenzieller Ort für eine widerspenstige Praxis in den Blick genommen worden, welche die vermarktlichenden Organisationsvorgaben so weit als möglich im Geiste eines (nicht-ökonomisch definierten) Gemeinwohls unterläuft oder dehnt. Auch wenn sie lokal begrenzt bleiben und sich nicht in Modifikationen des Regelwerks auf übergeordneter Ebene niederschlagen, können solche Korrekturen auf der Ebene der ‚street-level-operations‘ einen wesentlichen Unterschied für die Adressat*innen politischer Steuerung machen, wie etwa Clarke et al. (2020) betonen. Die Reichweite solcher praktischen Experimente muss auch nicht unbedingt lokal begrenzt bleiben, wenn es vermittelt über eine ähnliche professionelle Sozialisation und weitere Austausch- und Lernprozesse in der jeweiligen professionellen Gemeinschaft zur horizontalen Diffusion ‚eigensinniger‘ Praktiken kommt. Auch Brenner et al. (2010, S. 219) halten in ihren hypothetischen Überlegungen zur schrittweisen Unterspülung der neoliberalen Hegemonie die „crystallization of relatively disarticulated, locally embedded forms of opposition“ für eines von mehreren möglichen Szenarien.

Die vorliegenden empirischen Befunde ergeben allerdings ein gemischtes Bild. Denn auch die praktischen Experimente finden unter relativ engmaschiger Anleitung und Aufsicht statt – nicht zuletzt infolge der ‚tiefen Neoliberalisierung‘. Die Anreize für ‚manageriales‘ Handeln im Bereich der sozialen Dienstleistungen (über direkte Weisungen, Kennziffernsteuerung und Controlling-Instrumente) finden im Bereich der Auftragsvergabe ihr Pendant im stark gewachsenen Korpus von vergaberechtlichen Detailvorschriften und neuen Kontrollinstanzen (Vergabekammern und Oberlandesgerichte), deren Aufgabe es ist, für die Einhaltung der Detailvorschriften zu sorgen. Auch die praktischen Experimente der Vergabeverwaltung stehen also grundsätzlich unter Beobachtung und können von Bietern angefochten werden, wenn sie in ihren Augen einem transparenten und offenen Wettbewerb schaden. Entscheidend ist dabei nicht nur, wie klagefreudig die bietenden Unternehmen tatsächlich sind, sondern auch, wie stark die Verwaltung solche Klagen antizipiert und durch Verzicht auf neue, bislang unerprobte Verfahren der ‚strategischen‘ Vergabe zu vermeiden versucht.

Es erscheint dabei überaus plausibel, dass das bürokratische Grundprinzip des rechtskonformen Handelns als Türöffner für eine Vermarktlichung wirkt, welche im Gewand von Rechtsvorschriften daherkommt. Zu den neuen institutionalisierten Restriktionen kommen zudem hergebrachte normative Vorbehalte gegen eine Vergabe nach ‚politischen‘ oder ‚vergabefremden‘ Kriterien, die zumindest teilweise auch noch in unseren Interviews mit Verwaltungskräften zum Ausdruck gebracht wurden. Nicht nur der neue Schatten des marktliberalen Rechts kann also die Bereitschaft der Verwaltungskräfte zu praktischen Experimenten zugunsten der sozialen Auftragsvergabe hemmen, sondern auch die Nachwirkungen des traditionellen Leitbilds der apolitischen und sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln, das bereits im prä-neoliberalen Haushaltsrecht verankert war.

Und doch tragen auch hier wie gesehen verschiedene politisierende Impulse zu einer partiellen Re-Orientierung in der Vergabepraxis bei:

  • Eine geringe Rolle spielen bislang explizite politische Mandate von kommunaler oder Landesebene in Form von Leitbildern oder konkreten Vorgaben zugunsten sozialer Kriterien. Hier klafft nach Wahrnehmung mancher Vergabepraktiker*innen eine deutliche Lücke zwischen gesetzlicher ‚Theorie‘ und praktikablen Konzepten zur Umsetzung der heterogenen gesetzlichen Zielvorgaben – eine Lücke, die nach ihrer Auffassung stärker durch die Politik gefüllt werden müsste.

  • Gefüllt wird die Lücke einstweilen stärker durch die ‚politische Professionalisierung‘ (s. Kap. 6). Sowohl politische Akteure (Europäische Kommission, Ministerien) als auch Verbände und Interessenorganisationen produzieren hier Versatzstücke eines neuen Leitbildes des ‚Guten Dienstleisters‘, das sich im Wesentlichen aus branchenspezifischen Standards guter Dienstleistungen und dem neuen Standard der strategischen Beschaffung zusammensetzt. Dies trägt neue Erwartungen an die Verwaltungspraxis heran; in erster Linie in Bezug auf ökologische Kriterien und Dienstleistungsqualität, in Verbindung damit zum Teil aber auch in Bezug auf die Arbeitsqualität. Was die Eigendynamiken innerhalb des politischen Systems anbelangt, sind hier insbesondere die Prozesse hervorzuheben, die dazu geführt haben, dass soziale Kriterien sich auch im ‚Soft Law‘ der Europäischen Kommission einen Platz gebahnt haben – obwohl dies ursprünglich von der Kommission konzipiert worden war, um ihre marktliberale Sichtweise ergänzend zu den rechtlichen Interventionen durch Überzeugungsarbeit in der Vergabepraxis zu verankern (s. Abschn. 6.2.1). Das ‚Soft Law‘ geriet hier in den Sog der starken Politisierung der gesetzlichen Entscheidungsprozesse bei der Vergaberechtsreform; sie hatte zur Folge, dass auch in dieser Arena der ‚quiet politics‘ nun zivilgesellschaftliche Akteure eingebunden wurden, die das neue europäische Recht in Bezug auf die Berücksichtigung sozialer Kriterien expansiver ausdeuteten als die Kommission.

  • Unterstützt wird die Reorientierung der Verwaltungspraxis auch durch die konsultativ-partizipative Öffnung der Verwaltungsverfahren, die ganz im Einklang mit NPM-Prinzipien den Bürger*innen oder ‚Kund*innen‘ des öffentlichen Dienstes mehr Mitwirkung einräumen. Dabei finden in den beiden Branchen bislang in erster Linie solche Stimmen Gehör, die im Namen der Adressat*innen öffentlicher Dienstleistungen die Dienstleistungsqualität (einschl. ökologischer Kriterien) in den Vordergrund rücken; gelegentlich aber auch solche, die im Namen der produzierenden Unternehmen und Beschäftigten sprechen. Entwicklungspolitische Organisationen, die die Berücksichtigung von Arbeitsstandards in internationalen Lieferketten einfordern, sind hier nach unserem Eindruck bereits etwas stärker eingebunden als Vertreter*innen von Unternehmen und Beschäftigten der beiden lokal erbrachten Dienstleistungen (Schulverpflegung und Sicherheitsdienstleistungen). Auch diese Akteure ‚experimentieren‘ zwar mit Strategien der politischen Einflussnahme in diesem neuen Handlungsfeld (s. Kap. 8 und 9). Am ehesten ist es dem Arbeitgeberverband in der Sicherheitswirtschaft gelungen, hier gewissermaßen einen Fuß in die Tür zu bekommen und sich als Ansprechpartner für die Verwaltung zu positionieren. Mit der Bereitstellung vergaberechtlicher und marktspezifischer Expertise unterstützt er Kommunen im verbandlichen Eigeninteresse, die kollektivvertraglichen Tarifnormen bei der Auftragsvergabe effektiv anzuwenden und durchzusetzen. Auch die Gewerkschaften beider Branchen bemühen sich vereinzelt um Gehör in den verwaltungsseitigen Entscheidungsprozessen, ihre begrenzten infrastrukturellen Ressourcen setzen ihnen jedoch dafür enge Grenzen. Zudem strahlen die antagonistischen und von Misstrauen geprägten Beziehungen in den Kernarenen des Interessenausgleichs (Tarifverhandlungen und betriebliche Mitbestimmung) auch auf diesen neuen ‚Experimentierraum‘ aus und verhindern trotz partieller objektiver Interessenüberschneidungen zwischen Arbeitgeber- und Beschäftigtenseite, dass sie ihre Ressourcen in vergabespezifischen Belangen bündeln.

  • Hinzu kommt schließlich ein partieller Wandel des vergabespezifischen Ethos von Vergabepraktiker*innen, der die bislang dominanten Prinzipien der Sparsamkeit und Wettbewerblichkeit der Vergabe zugunsten von Dienstleistungsqualität und anderen strategischen Zielen relativiert. Neben der politischen Professionalisierung wird dies zum Teil auch durch eigene politische Orientierungen von Verwaltungsmitarbeiter*innen gestützt, die sie beim ‚street-level market making‘ zu einer Suche nach Lösungen für eine qualitätsorientierte und sozialverträgliche Auftragsvergabe motivieren. Die in den Fallstudien zutage getretenen unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem vermarktlichten Recht belegen dabei, dass die Orientierung am Prinzip der Rechtskonformität Experimente zugunsten einer Eindämmung des Preiswettbewerbs nicht unterbinden müssen. Denn die Verrechtlichung der Auftragsvergabe weckt auf Seiten mancher Verwaltungskräfte offenbar auch den Ehrgeiz, sich gewissermaßen nicht mit den eigenen Waffen schlagen zu lassen, also sich mit ihrer Verpflichtung auf rechtskonformes Handeln nicht auf ein Handeln festlegen zu lassen, dass nur noch eine Richtung, nämlich ‚mehr Wettbewerb‘ kennt. Wer zum vergaberechtlichen ‚Perfektionismus‘ tendiert und sich in das neue Recht tief einarbeitet, der wagt es mit dieser Expertise auch zugunsten politisch gebotener Ziele die Grenzen des vergaberechtlich Möglichen stärker auszuschöpfen. Ebenfalls experimentierfreudig sind aber auch andere Verwaltungskräfte mit ‚pragmatischen‘ Haltungen, die auf eine eingehende rechtliche Vorabprüfung ihrer Handlungsspielräume verzichten und eher auf ‚trial and error‘ setzen.

In gewisser Weise handelt es sich bei diesen verschiedenen politisierenden Momenten um eine ‚leise Politisierung‘: Im Unterschied zu den ‚noisy politics‘ von Protestbewegungen oder Kampagnen populistischer Parteien kommen diese Politisierungsprozesse abseits der Gesetzgebung weniger lautstark daher und gewinnen auch erst über einen längeren Zeitraum an Dynamik. Sie sind jedoch wichtige verdichtende Elemente, die den Veränderungsimpulsen der gesetzlichen Reformen erst zur Geltung verhelfen – ohne sie bleiben die neuen gesetzlichen Kompromisse fragil und oberflächlich.

5 Sozialpolitisierung der Auftragsvergabe: Defizite und Gestaltungsoptionen

Gemessen am Ziel einer sozialverantwortlichen Auftragsvergabe, die effektiv Standards ‚guter Arbeit‘ bei den beauftragten Firmen gewährleistet, gibt es sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch in der Praxis noch erhebliche Defizite und Gestaltungsbedarfe. Sechs dieser Defizite und Vorschläge zur ihrer Behebung möchten wir hier ansprechen. Eine siebte, sehr fundamentale und über die Auftragsvergabe hinausgehende Grundbedingung sei hier in aller Kürze vorweggenommen: Ohne eine Steuer- und Haushaltpolitik, die den öffentlichen Auftraggebern die nötigen finanziellen Freiräume verschafft, drohen alle noch so gut gestalteten vergabespezifischen Regelungen zur Makulatur zu werden. Insbesondere nach der Covid-19 Pandemie und zuletzt den absehbaren Belastungen auch öffentlicher Haushalte durch den Krieg in der Ukraine gehören Steuererhöhungen für das obere Einkommensdrittel und einmalige oder dauerhafte Vermögensabgaben, wie sie zu Beginn der Pandemie diskutiert wurden, auf die politische Tagesordnung.

Nun zu den vergabespezifischen Hürden und Gestaltungsoptionen:

  1. 1.

    Zu den Hürden für die Vergabepraxis zählt zum einen eine Rechtsprechung, die die bestehenden Optionen zum Teil recht restriktiv auslegt – das gilt etwa für die europäische und auch deutsche Rechtsprechung zum Nachunternehmereinsatz (s. Abschn. 9.5.2); oder die Rechtsprechung zum Ausschluss von Angeboten aufgrund früherer Schlechtleistungen (s. Abschn. 7.1.2). Während die Rechtsprechung auf europäischer Ebene jedenfalls teilweise politisiert wurde, gilt dies für den Alltag der vergaberechtlich relevanten Entscheidungen auf nationaler Ebene kaum. Diese Rechtsprechung engt den gesetzlichen Korridor nicht nur weiter ein, sondern bürdet den Vergabestellen auch umfassende Aufklärungs- und Begründungspflichten auf, wenn sie von den optionalen Regelungen zugunsten einer sozialverantwortlichen Auftragsvergabe Gebrauch machen wollen. Der dadurch verursachte zeitliche Zusatzaufwand dürfte die Experimentierneigung in der Vergabepraxis nicht stärken. Die Rechtsprechung ist dabei durchaus heterogen; es gibt umgekehrt auch Urteile, die Vergabestellen verpflichten, die wenigen obligatorischen Bestimmungen zur Begrenzung des Kostenwettbewerbs (wie der Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote) auch anzuwenden, anstatt sie zugunsten des Sparsamkeitsprinzips oder zugunsten einer schnellen Vergabeentscheidung zu ignorieren.

    Will man die Rolle der Rechtsprechung in diesem letztgenannten Sinne stärken, also als Instanz, die die effektive Umsetzung von Bestimmungen zur sozialverantwortlichen Auftragsvergabe nicht ausbremst, sondern unterstützt, erscheinen zwei Dinge hilfreich: Erstens die Einführung von mehr Soll- und Muss-Regelungen zugunsten einer fairen Auftragsvergabe, von denen Vergabestellen, wenn überhaupt, nur in gut begründeten Fällen abweichen können. Dies würde nicht nur die Angriffsfläche für die Rechtsprechung minimieren, sondern auch den bürokratischen Aufwand verringern bzw. nach umgekehrten Vorzeichen anordnen: begründungspflichtig und damit zeitaufwendig wäre nun die Außerachtlassung von sozialen Kriterien. Zweitens wäre ein Verbandsklagerecht sinnvoll, das auch den kollektiven Interessenorganisationen von Unternehmen und Beschäftigten und weiteren Verbänden Einspruchsmöglichkeiten in Vergabeverfahren gibt (siehe auch Punkt 3 unten). Dies wäre zugleich ein erster Schritt, der die einseitige Stärkung individueller Bieterrechte im Zuge der Vermarktlichung korrigiert.

  2. 2.

    Ein weiteres Defizit, das die Experimentierneigung in der Vergabepraxis hemmt, ist das Fehlen eines klaren politischen Mandats zugunsten guter Arbeitsbedingungen als eigenständigem und gleichwertigem Ziel neben der Dienstleistungsqualität. Zwar hat sich auch ohne dies in der Vergabepraxis wie gesehen zum Teil ein Aufgabenverständnis herausgebildet, welches Bemühungen um eine gute Arbeitsqualität funktional rechtfertigt, also als Voraussetzung für eine gute Dienstleistungsqualität erachtet. Nicht alles lässt sich aber funktional rechtfertigen, im Gegenteil: Zum Teil stehen die Interessen von Beschäftigten und ‚Kund*innen‘ öffentlicher Dienstleistungen auch in Konflikt zueinander – beispielsweise, wenn es um Service-Zeiten geht, oder um das Preisniveau (s. das Beispiel Schulessen). Die Suche nach fairen Kompromissen im Umgang mit diesen Dilemmata setzt voraus, dass auch die Interessen der Beschäftigten als gleichberechtigt anerkannt werden. Grundlegend bedarf es daher einer Revitalisierung des Leitbildes vom öffentlichen Dienst als ‚guter Arbeitgeber‘ oder vielmehr als ‚guter Auftraggeber‘. Gute Arbeitsbedingungen sind in diesem Verständnis kein Mittel zum Zweck, sondern ein fairer Gegenwert für die Erbringung wichtiger Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Das Bewusstsein, dass auch einfache Dienstleistungen dazu einen wichtigen Beitrag leisten, ist mit Covid-19 sicherlich gestiegen, muss aber gesichert und in konkrete politische Mandate übersetzt werden, um wirksam zu werden. Während es auf kommunaler Ebene mittlerweile zahlreiche Richtlinien, Ratsbeschlüsse und Dienstanweisungen zugunsten der Berücksichtigung von ökologischen Kriterien und fair gehandelten Produkten gibt, fehlt es an entsprechenden klaren Vorgaben zugunsten guter Arbeit in lokal erbrachten Dienstleistungen. Um dies durch Vernetzung lokaler Initiativen, Schulungen und Handlungshilfen zu unterstützen, wäre die Einrichtung eines nationalen Kompetenzzentrums für einen sozial nachhaltigen Dienstleistungseinkauf sinnvoll – analog zu den drei bereits existierenden Kompetenzzentren, die schwerpunktmäßig dem ökologischen Einkauf (KNB), dem Einkauf fair gehandelter Produkte (Kompass Nachhaltigkeit) und der innovativen Auftragsvergabe (KOINNO) gewidmet sind.

  3. 3.

    Ausbaubedürftig ist auch die Einbeziehung der kollektiven Akteure industrieller Beziehungen. Unsere Analyse zeigt an verschiedenen Stellen, dass ihre Mitwirkung an der Ausgestaltung und Umsetzung der sozialverantwortlichen Auftragsvergabe nützlich sein kann und legitim ist– wenn es um Ideen für die realitätstaugliche und vergaberechtskonforme Definition von Dienstleistungsqualität und Arbeitsqualität geht, um Wissen über branchenspezifische Schwachstellen bei Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, um Wissen zu geltenden Tarifnormen. Bislang fließe diese Expertise aber allenfalls punktuell und auf Initiative der Verbände in die Ausgestaltung der Vergabepraxis ein. Hier ist eine systematischere Einbeziehung ratsam, die den Verbänden mindestens eine beratende Rolle bei der Ausgestaltung exemplarischer Vergabeverfahren und der Erarbeitung von Musterausschreibungsunterlagen zugesteht. Voraussetzung hierfür ist zum einen die Bereitschaft auf Seiten von Politik und Verwaltung, eine solche Einführung (schwacher) korporatistischer Elemente nicht als Einfallstor für Korruption und ‚state capture‘ zu begreifen, sondern als logische Ergänzung einer Politik, die die Adressaten von Politik und Verwaltung bei der Entscheidungsfindung beteiligen will – und dazu gehören eben nicht nur die Konsument*innen öffentlicher Dienstleistungen, sondern auch die Leistungserbringer, also Unternehmen und ihre Beschäftigten sowie deren Interessenorganisationen. Eine zweite Voraussetzung ist, dass die entsprechenden Kapazitäten auf Seiten der Verbände vorhanden sind. Das stellt wie gesehen insbesondere für die Gewerkschaften ein Problem dar, angesichts ihrer geringen infrastrukturellen Ressourcen gerade in den Branchen mit hohem Anteil prekärer Beschäftigung und entsprechend schwacher Mitgliederbasis. Da es aber gerade hier im öffentlichen Interesse liegt, auch gewerkschaftliche Expertise einzubeziehen, um die Schwächen kollektiver Selbstregulierung zu kompensieren und perspektivisch zu mindern, lässt es sich rechtfertigen, hier auch mit öffentlichen Mitteln den Aufbau und Betrieb einer solchen arbeitnehmerorientierten Expertise-Infrastruktur zu unterstützen. Eine Vorlage dafür bieten die Büros des DGB-Projekts ‚Faire Mobilität‘, die finanziert aus öffentlichen Mitteln Arbeitsmigrant*innen beraten und bei der Durchsetzung ihrer Arbeitnehmerrechte unterstützen. Analog dazu ließen sich öffentlich ko-finanzierte Beratungskapazitäten bei den Einzelgewerkschaften oder dem DGB ansiedeln, deren Aufgabe in der Beratung und Schulung von Vergabestellen bestünde.

  4. 4.

    Es fehlt allerdings nicht nur an Wissens-Infrastrukturen sondern auch an Kontrollkapazitäten und einem aktiven ‚Ko-Management‘ von öffentlichen Verträgen nach der Zuschlagsentscheidung. Sicherlich lassen sich durch die bislang genannten Maßnahmen bessere Vertragspartner auswählen und bessere Verträge mit den beauftragten Unternehmen formulieren. Es bleibt gleichwohl so, dass in mittlerweile fast allen Branchen auf Unternehmensebene sehr häufig die Akteure fehlen, die aus Beschäftigtenperspektive über die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen wachen (Betriebsräte, gewerkschaftliche Vertrauensleute). Und selbst wo sie vorhanden sind, gibt es keinerlei etablierte Verfahren, durch die Informationen von Betriebsräten, Gewerkschaften oder einzelnen Beschäftigten zu konkreten Normverstößen auch bei den Verantwortlichen in den Vergabestellen landen und dort konsequent nachverfolgt werden. Viel wäre hier vermutlich gewonnen mit einem Ausbau der Kommunikationskanäle zwischen Verwaltung und Gewerkschaften, wie oben vorgeschlagen. Es mangelt aber verwaltungsseitig in manchen Kommunen bereits an Kenntnis darüber, wer für die Kontrolle der sozialen Auflagen eigentlich formal zuständig wäre, geschweige denn, wer praktisch in der Pflicht ist. Hier müssen erstens verwaltungsintern klare Zuständigkeiten geschaffen werden, die auch nach außen kommuniziert werden und so allen Beteiligten Gelegenheit geben, Missstände an die richtige Adresse zu melden. Denkbar wären hier auch Ombudsstellen und Meldeportale auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene, die entsprechende Meldungen entgegennehmen und intern weiterleiten. Voraussetzung ist zweitens, dass es klare Verfahren und eine ausreichende Kontrollinfrastruktur gibt, die stichprobenartig sowie anlassbezogen (auf Basis entsprechender Meldungen oder Verdachtsmomente) die Einhaltung sozialer Kriterien überprüft. Nur wenige Kommunen haben sich hier bereits auf den Weg gemacht und eine entsprechende Kontrollinfrastruktur aufgebaut, die die Arbeit der Zollbehörden (Kontrolle von Schwarzarbeit und Mindestlöhnen) unterstützt und ergänzt. Weil der Auftrag des Zolls nur in der Kontrolle gesetzlicher (Branchen-)Mindestlöhne besteht, nicht aber beispielsweise in der Kontrolle von Vergabemindestlöhnen, oder neuerdings auch konstitutiven Tariftreuebestimmungen (Bestandteil von nicht-allgemeinverbindlichen Tarifverträgen, die durch Vergabegesetze der Länder zur Auflage gemacht werden), führt an dieser Ergänzung kein Weg vorbei, wenn diese Auflagen nicht ins Leere laufen sollen.

  5. 5.

    Darüber hinaus bedarf es auch in der Gesetzgebung weiterer Reformen. Im Zusammenhang mit der Rechtsprechung oben bereits angesprochen wurde die Umwandlung von Kann- in Soll-oder Muss-Vorschriften, wie dies von Seiten der Gewerkschaften und zum Teil auch der Arbeitgeberverbände (vgl. zuletzt BDSW 2021) mehrfach gefordert worden ist. Dies ist bereits innerhalb des geltenden europäischen Rechtsrahmens möglich – etwa die Umwandlung der Kann-Vorschrift in eine Muss-Vorschrift zum Ausschluss eines Angebots aufgrund eines vorhergehenden nachweislichen Verstoßes gegen geltende sozial- oder arbeitsrechtliche Verpflichtungen (§ 124 GWB). Auch allgemeine gesetzliche Vorschriften, die nicht auf das öffentliche Auftragswesen beschränkt sind, können die Situation von Beschäftigten verbessern und sind innerhalb des bestehenden europäischen Regelwerks möglich. Dazu zählen nicht nur höhere gesetzliche Mindestlöhne und für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge, sondern etwa auch eine gesetzliche Präzisierung und Verschärfung der gesetzlichen Regelungen zum Betriebsübergang, die bei einem Auftragswechsel infolge einer Neuausschreibung das neu beauftragte Unternehmen zur Übernahme der Beschäftigten vom vorhergehenden Auftragnehmer verpflichtet – auch dann, wenn keine Betriebsmittel im wesentlichen Umfang übernommen werden.

    Für weitere Änderungen sind aber auch Reformen im europäischen Regelwerk nötig. Dazu zählt insbesondere eine Klarstellung durch die europäischen Vergaberichtlinien, dass öffentliche Aufträge nur an tariftreue Firmen gehen dürfen und dies keine fakultative Regelung bleibt. Dies ist Kern einer gewerkschaftlichen Kampagne der europäischen Dienstleistungsgewerkschaft UNI Europa (UNI Europa 2021; de Spiegelaere 2021), die mittlerweile von einer breiten überparteilichen Gruppe von Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterstützt wirdFootnote 3. Noch grundsätzlicher wäre eine Aufhebung der Restriktionen, die mit dem Kriterium ‚Bezug zum Auftragsgegenstand‘ verbunden sind. Dies unterbindet bislang Ausführungsbedingungen oder Auswahlkriterien, die an die allgemeine Unternehmenspolitik anknüpfen. Die Existenz eines Betriebsrates, betriebliche Zusatzversorgungssysteme, Betriebsvereinbarungen zum Einsatz von Subunternehmen, oder eine im Branchenvergleich geringe Quote geringfügiger Beschäftigung im Unternehmen – all das darf nicht positiv bei der Auswahl gewichtet werden, weil es die ‚allgemeine Unternehmenspolitik‘ betrifft und sich nicht auf die Vertragslaufzeit und das mit der Ausführung beauftragte Personal beschränkt. Dies begünstigt systematisch, dass Bieter im Wesentlichen mit Versprechen in Form von Konzepten für die künftige Vertragslaufzeit konkurrieren und erschwert den Einbezug bereits etablierter und in der Vergangenheit unter Beweis gestellter Unternehmensstrukturen und -praktiken zur Gewährleistung guter Arbeit. Selbst gute Referenzen bei vorhergehenden Aufträgen dürfen lediglich die Teilnahme am Bieterwettbewerb eröffnen, aber nicht in die Wertung der Angebote einfließen. Das sind widersinnige Einschränkungen, denen private Auftraggeber nicht unterliegen.

    Wenn der ‚Gewährleistungsstaat‘ auch aktive Verantwortung für die Arbeitsbedingungen im externalisierten Teil des öffentlichen Dienstes übernehmen will, dann kann das Bestreben, öffentliche Aufträge möglichst offen für die Wettbewerbsteilnahme ausländischer Unternehmen sowie einheimischer KMU zu halten, keine Denkverbote und Regelungen rechtfertigen, die öffentliche Auftraggeber daran hindern mit ihrer Einkaufsmacht Inseln kollektiver Selbstregulierung zu stärken und entsprechende Lücken zu kompensieren.

  6. 6.

    Schließlich ist auch die Rekommunalisierung externalisierter Dienstleistungen eine Option, die mancherorts auch faktisch auf der politischen Tagesordnung steht – wie im Fall der Gebäudereinigung in DüsseldorfFootnote 4 oder der Schulverpflegung in RostockFootnote 5, oft aus Unzufriedenheit mit mangelnder Dienstleistungsqualität. Die hohen Bürokratiekosten, die das vermarktlichte Recht gerade für solche Ausschreibungen erzeugt, die sich vom Preis als zentralem Auswahlkriterium entfernen möchte, verleihen solchen Überlegungen und Ansätzen zusätzliche Plausibilität. Auch dies erfordert allerdings mehrjährige Planungs- und Umsetzungsprozesse, wie die beiden zitierten Beispiele zeigen (s. u. a. Ver.di Berlin-Brandenburg 2020), sowie die Begleitung durch Vertreter*innen der Beschäftigtenseite, um in tatsächliche Verbesserungen der Arbeitsqualität im Vergleich zur Privatwirtschaft zu münden. Wo dies gelingt, könnten solche Rekommunalisierungs-Projekte in Zukunft auch jenseits ihres engeren Einflussbereichs normativen Anpassungsdruck erzeugen und für die verbleibenden öffentlichen Aufträge Maßstäbe setzen.

6 Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt? Lehren für die Reichweite real existierender, nicht-neoliberaler Politik und Praxis

Es bleibt die Frage, wie verallgemeinerbar die Entwicklungen im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sind. War hier dank eines sehr kontingenten Zusammenspiels verschiedener Faktoren eine „exceptional politicisation“ am Werk, ähnlich wie sie Höpner und Schmidt (2020) in der jüngsten Reform der Entsenderichtlinie erkennen? Haben wir es hier also nur mit einer von wenigen Ausnahmen zu tun, die die Regel bestätigen, nämlich dass „the ‚natural‘ tendency of institutional change in capitalism seems to be disorganization, whereas organization seems to require rare “political moments”“ (Streeck 2009, S. 241). Ist die ‚Sozialpolitisierung‘ der Vergabepolitik also möglicherweise bloß ein Ausstellungsstück im Schaufenster für die ‚Sozialisierung‘ der europäischen Politik nach 2015, mit der gegenläufige Entwicklungen in viel entscheidenderen Fragen – etwa die ‚New Economic Governance‘ der EU – nur unzureichend kompensiert oder gar verdeckt werden (in diese Richtung Streeck 2018; Jordan et al. 2021)?

Noch grundsätzlicher lässt sich zudem fragen, inwieweit die Entwicklungen in der öffentlichen Auftragsvergabe überhaupt als Ausnahme zu qualifizieren sind und sich damit als Ausstellungstück für eine nicht-neoliberale Politik und Praxis eignen. Die Antwort auf beide Fragen hängt davon ab, welchen Maßstab man anlegt: Wenn man als Ausnahme lediglich die Verwirklichung eines kohärenten Gegenentwurfs zur neoliberalen Gesellschaftsordnung gelten lässt, dann ist auch die Politik und Praxis der öffentlichen Auftragsvergabe davon weit entfernt; und dann ist auch irrelevant, ob es in anderen Politikbereichen ähnliche Entwicklungen gibt. Damit würde man allerdings nach unserem Dafürhalten relevante und ergebnisoffene Dynamiken übersehen, die sich auch nicht auf die öffentliche Auftragsvergabe beschränken – wie die Politisierung der europäischen Rechtsprechung, die staatlichen Interventionen zur Stützung und Ergänzung der kollektiven Selbstregulierung des Arbeitsmarktes, oder die eigensinnigen Praktiken der ‚street-level-bureaucrats‘ im Umgang mit ‚vermarktlichenden‘ Organisationszielen.

Für sich genommen mögen die in diesem Buch geschilderten regulativen und praktischen Experimente in der öffentlichen Auftragsvergabe also unscheinbar, punktuell, unverbunden und halbherzig erscheinen. Sie sind aber in all ihrer Unvollkommenheit Manifestationen einer real existierenden, nicht-neoliberalen Politik und Praxis, die sich in der Zusammenschau auch nicht mehr als bloß marginale Korrekturen eines hegemonialen neoliberalen Projekts verstehen lassen. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht am ehesten darin, dass sie dem Primat des freien und unbeschränkten Bieterwettbewerbs andere, nicht-ökonomische Zielsetzungen zur Seite stellen. Dieses ‚Zur Seite stellen‘ ist gewissermaßen konstitutiv für das Muster einer ‚variegated de-marketization‘: Die Experimente bleiben wie gesehen eingeschrieben in das vermarktlichte Regelwerk und machen daher auch Konzessionen, die die Reichweite und Effektivität der nicht-ökonomischen Zielsetzungen beschränken. Letztere dominieren also keinesfalls mittlerweile das öffentliche Auftragswesen. Am ehestens lässt sich von einem Patt oder einem dauerhaften, institutionalisierten Nebeneinander widersprüchlicher Ziele sprechen.

Bis zu einem gewissen Punkt bestätigt und konkretisiert unsere Analyse zur öffentlichen Auftragsvergabe damit die Diagnose von Wolfgang Streeck (2021), dass das Projekt eines globalistischen Neoliberalismus „steckengeblieben“ ist, bislang aber auch Bestrebungen zur sozialen Zähmung kapitalistischer Marktkräfte nicht die Oberhand gewonnen haben. Unsere Befunde zeichnen aber ein etwas anderes Bild von diesem „postneoliberale(n) Interregnum“ (Streeck 2021, S. 16), von den Akteuren und Interessenkonstellationen, die es aktuell bespielen, und damit auch von den möglichen Auswegen aus dieser Pattsituation. (Spätestens) die Krise von 2008 hat nicht nur zu Formen des Widerstands „von unten“ und zur Stärkung von Parteien an den linken und rechten Rändern des Parteienspektrums geführt, welche von den Parteien der Mitte „auf das härteste bekämpft“ werden (ebd., S. 142). Sie hat eben auch ihre Spuren in Gesetzgebung, Verwaltungspraxis und Rechtsprechung, also in den Zentren der Entscheidungsfindung, hinterlassen. Das gilt nicht nur in Bezug auf die öffentliche Auftragsvergabe, sondern auch auf weitere Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland (etwa die Einführung und jüngst beschlossene starke Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, das Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie), und lässt sich auch am Umgang der EU mit der COVID-19-Pandemie ablesen. Die Aufnahme gemeinsamer Schulden und die Ergänzung von Krediten durch Zuschüsse im Rahmen des im Juli 2020 beschlossenen 750 Mrd. EUR schweren Wiederaufbaufonds ‚NextGenerationEU‘ ist zurecht von vielen als Tabubruch eingestuft worden, der durch die enorme Dimension dieses ökonomischen Schocks sowie seinen ‚unverschuldeten‘ Charakter begünstigt wurde, aber eben auch durch Lehren aus dem europäischen Management der vorhergehenden Wirtschafts- und Finanzkrise (Alcidi und Corti 2022). Zurecht sind zugleich auch hier der temporäre und halbherzige Charakter (zu geringe Ausstattung, hoher Anteil rückzahlbarer Darlehen anstelle von Zuschüssen) und weitere Schlagseiten beleuchtet worden, die verdeutlichen, dass dieser Schritt allein noch keine Zeitenwende markiert (Howarth und Quaglia 2021; Verdun und Vanhercke 2022). Die wenigsten sehen darin jedoch wie Streeck wieder nur das Werk eines „imperialen Elitenmanagements (…) dem es darum geht, in den Ländern der Peripherie dem Zentrum freundlich gesinnte oder von ihm abhängige Regierungen und politische Fraktionen im Sattel zu halten“ (Streeck 2021, S. 382) – übersetzt: ein Projekt zur Stabilisierung der Währungsunion im Interesse der deutschen Exportindustrie mithilfe der Stützung europafreundlicher Eliten in Ländern wie Italien durch billige Darlehen und Zuschüsse.

Auf eine kurze Formel gebracht enthält unsere eigene Analyse, wie auch andere Analysen zu den Geschehnissen in anderen Politikbereichen, viele Grautöne, die gerade zum jüngeren Rand hin an Bedeutung gewonnen haben und die im Schwarz-Weiß-Bild von StreeckFootnote 6 fehlen. Wer diese Grautöne nicht zur Kenntnis nimmt, übersieht auch Auswege jenseits des von Streeck skizzierten Vorschlags einer neuen „demokratischen Kleinstaaterei“ (ebd, S. 387 ff.), also einer Renationalisierung von Wirtschaft und Politik. Hier kann und soll keineswegs die Summe seiner Vorschläge infrage gestellt werden. Sie greifen zum Teil ja auch seit längerem bestehende Forderungen auf, mit denen auch die oben aufgeführten Gestaltungsvorschläge übereinstimmen, etwa wenn es um den Einbezug der kollektiven Interessenorganisationen von Unternehmen und Beschäftigten geht und damit um die Anerkennung ihres Beitrags für eine echte Wirtschaftsdemokratie; um Ansätze zur Rekommunalisierung, oder um nötige Lockerungen im wettbewerbsrechtlichen Korsett. Die Frage ist aber, ob es für all dies den von Streeck vorgeschlagenen Verzicht auf supranationale Regime, allen voran die Auflösung der europäischen Währungsunion und des europäischen Binnenmarktes, benötigt oder ob dies nicht sogar kontraproduktiv ist.

Denn erstens bleibt offen, wie Biebricher (2021) zu Recht vermerkt, wie im und nach dem Übergang zu den wirtschaftlich und politisch entflochtenen ‚Kleinstaaten’ die Flucht des global „reisefreudigen“ Kapitals (Streeck, 2021, S. 388) aus allzu lästigen nationalen Bindungen und damit ein Steuersenkungswettbewerb sowie wirtschafts- und sozialpolitischer ‚race to the bottom‘ besser verhindert werden könnte als durch supranationale Integrationsschritte, so lückenhaft sie noch sein mögen – etwa in Gestalt der 2021 beschlossenen globalen Mindestunternehmenssteuer in Höhe von 15 %.

Und zweitens lässt, wie am Beispiel der Auftragsvergabe zu sehen, der europäische „Zentralstaat“ im postneoliberalen Interregnum mittlerweile durchaus mehr von jener „dezentralen Krisenbewältigungspolitik von unten“ (Streeck 2021, S. 464) zu, die Streeck vorschwebt. Denn das institutionalisierte vergabepolitische Patt äußert sich in der europäischen Gesetzgebung in einem hohen Maß an fakultativen Regeln, die den Mitgliedsstaaten im Vergleich zur vorhergehenden Phase der Konstitutionalisierung von wirtschaftlichen Freiheitsrechten relativ weitreichende Freiräume lassen, marktgestaltende, den Preiswettbewerb beschränkende Regeln zu erlassen. Dies kommt zwar keiner positiven Integration ‚von oben‘ im Sinne europäisch harmonisierter und ambitionierter Arbeits- und Sozialstandards gleich. Es lässt aber Schritte in Richtung einer solchen positiven Integration ‚von unten‘, also von Seiten der Mitgliedstaaten, zu. Nennenswerte und bislang unausgeschöpfte Spielräume gibt es dort auch in Bezug auf zahlreiche andere Bausteine des von Streeck skizzierten „Auswegs nach unten“, etwa wenn es um die Rückabwicklung der Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen geht, oder um eine stärkere Orientierung speziell der deutschen Politik auf die Förderung von Binnenwachstum anstelle exportgetriebenen Wachstums (ebd., S. 468). Die Rückkehr zu nationalen Währungen mit Aufwertungsmöglichkeit ist dafür nicht das einzige Instrument; auch eine Art ‚innere Aufwertung‘ durch höhere Löhne, gestützt etwa durch Erleichterungen bei der Allgemeinverbindlichkeits-Erklärung von Tarifverträgen, könnten einen Beitrag zur Korrektur des asymmetrischen export-getriebenen deutschen Wachstumsmodells leisten (Günther und Höpner 2022).

Entscheidend ist, dass für solche dezentralen Lösungen auf nationaler Ebene Mehrheiten gefunden werden müssen, die keineswegs naturwüchsig vorhanden sind; darin liegt mit die größte Herausforderung. Dies ist nicht nur wichtig, um bestehende Spielräume auszuschöpfen, sondern den Ball auch wieder auf die europäische Ebene zu spielen, um die dort nötigen Reformen weiter voranzubringen. Denn Impulse für eine neue supranationale Politik im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müssen auch von nationaler Ebene ausgehen; und zwar insbesondere von den Regierungen der wirtschaftlichen Schwergewichte und traditionellen Motoren der Integration, zu denen Deutschland zählt.