In dem nachfolgenden qualitativen Untersuchungsteil werden die Ergebnisse von vier holistischen Fallstudien und einer Pilotfallstudie über duale Schriftnutzung vorgestellt. Dazu wurden fünf Lernende unterschiedlichen Alters ausgewählt und über einen längeren Zeitraum im Unterricht und im Elternhaus begleitet. Anknüpfend an die erste quantitative Untersuchung sollen die Erkenntnisse aus den qualitativen Fallstudien die Ergebnisse aus der quantitativen Kompetenzerhebung erklären und erweitern. Zusätzlich werden sich von den Fallanalysen weitere Einsichten für die praktische Förderung dual Schriftnutzender erhofft. Im ersten Teil 5.1 dieses Kapitels wird zunächst das methodische Vorgehen in den Fallstudien vorgestellt respektive Forschungsfragen, Fallstudiendesign, Sampling der Teilnehmenden, die verwendeten Erhebungsinstrumente und Analysestrategien. In dem Unterkapitel 5.2 werden anschließend die Ergebnisse der vier Fälle und der Pilotfallstudie präsentiert. Bestandteil jeder Fallbeschreibung ist eine Analyse mit Förderempfehlungen und der Vorstellung von Fördermaterialien. Abschließend werden in dem Bereich 5.3 Limitierungen und Stärken des qualitativen Untersuchungsteils diskutiert.

5.1 Methoden

Bei Fallstudien handelt es sich um einen empirischen Forschungsansatz, bei dem ein Einzelfall oder eine geringe Anzahl von Fällen intensiv über einen längeren Zeitraum im Detail und in einem realweltlichen Kontext analysiert werden (Gerring, 2019, 27 ff.; Harrison et al., 2017; Yin, 2014, 16 f.).

Die meisten Forschungsmethoden lassen sich auf eine bestimmte philosophische bzw. wissenschaftstheoretische Grundannahme zurückführen. Im Gegensatz dazu sind Fallstudien aufgrund ihrer praktischen Vielseitigkeit und ihrer Anwendung in sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten schwer ontologisch und epistemologisch zu bestimmen (Harrison et al., 2017; Rosenberg & Yates, 2007, S. 447). Meistens werden sie dem qualitativen Forschungsparadigma zugeschrieben (Creswell & Poth, 2018, S. 97; Harrison et al., 2017; Lamnek & Krell, 2016; Mayring, 2016, S. 41; Merriam, 2014, S. 234). Nichtsdestotrotz sind Fallstudien bei der Auswahl der Erhebungsmethoden paradigmatisch nicht festgelegt. Dementsprechend kann in Fallstudien das gesamte Spektrum sozialwissenschaftlicher Methoden genutzt werden (z. B. Beobachtungen, Interviews, Fragebögen, Kompetenztests usw.) (Lamnek & Krell, 2016, S. 272). Überdies können in Fallstudien auch qualitative und quantitative Daten miteinander kombiniert werden (Eisenhardt, 1989, S. 538; Yin, 1981, S. 99). Für ein besseres Verständnis von Fallstudien bezeichnen viele Autorinnen und Autoren diese deshalb als „approach“ [Ansatz] und nicht als Methode (Eisenhardt, 1989, S. 532; Harrison et al., 2017; Lamnek & Krell, 2016, S. 272; Rosenberg & Yates, 2007, S. 448; Tight, 2017).

Im Mittelpunkt einer Fallstudie steht normalerweise ein Fall oder mehrere Fälle (z. B. eine Schülerin oder ein Schüler), die intensiv im Detail und in einem realweltlichen Kontext (z. B. der Schule oder dem Elternhaus) analysiert werden. Fallanalysen folgen dem Prinzip: Wenige Fälle – aber viele Informationen (Lamnek & Krell, 2016, S. 290). Besonders charakteristisch ist das Nutzen von multiplen Datenquellen (Creswell & Poth, 2018, S. 97; Rosenberg & Yates, 2007, S. 448; Yin, 2014, 16 f.), was hohe Anforderungen an den Forschenden in der Datenerhebung und Auswertung mit sich bringt (Yin, 2014, S. 122). Somit sind Fallstudien einerseits sehr flexibel und vielseitig, andererseits aber auch komplex in der konkreten Umsetzung (Rosenberg & Yates, 2007, S. 447). Harrison et al. beschreiben diese deshalb als „Simple in theory yet complex in nature“ (Harrison et al., 2017).

Der Einsatz von Fallstudien sollte deshalb wohlüberlegt sein. Besonders gut eignen sie sich zur Illustration von speziellen oder besonderen Fällen (Döring & Bortz, 2016, S. 28), um innere Logiken und somit auch Kausalzusammenhänge aufzuzeigen (Lamnek & Krell, 2016, S. 273), um zu einem vertieften Verständnis eines Problems beizutragen (Yin, 2006, S. 111, 2013, S. 321), zur Erkundung neuer Forschungsfelder (Eisenhardt, 1989, S. 532), aber auch um ein realistisches, ganzheitliches Bild eines Falles zu zeichnen (Lamnek & Krell, 2016, S. 273).

An Fallstudien als wissenschaftlichem Untersuchungsansatz wurde in der Vergangenheit auch Kritik geübt. Ein häufiger Vorwurf bezieht sich auf die mangelnde Generalisierbarkeit. Dabei wird die Übertragbarkeit der Erkenntnisse in Zweifel gezogen. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Exaktheit der Messungen (Harrison et al., 2017; Lamnek & Krell, 2016, S. 284–285; Yin, 2014, S. 20). Um der Kritik entgegenzuwirken, ist es deshalb sehr wichtig, systematisch vorzugehen und ein nachvollziehbares, robustes Fallstudiendesign zu wählen und zu begründen (ausführlich in 5.1.2 Fallstudiendesign). Zudem sollten Ziele und Grenzen von Fallstudien klar kommuniziert werden. Je nach Fachdisziplin können diese unterschiedlich verlaufen, weshalb nachfolgend das Potenzial von Fallstudien in der Sonderpädagogik diskutiert wird. Ein Fokus wird dabei auf den Punkt der Übertragbarkeit, sprich der Generalisierung von Erkenntnissen, gelegt.

Fallstudien in der Sonderpädagogik.

Speziell in der Sonderpädagogik scheinen Fallstudien ein geeignetes Forschungsinstrument zu sein, um Erkenntnisse zu gewinnen. Dafür sprechen (1) die Zielsetzung der Sonderpädagogik, (2) die besondere Population, (3) die Erhebung des Kontextes und (4) die Möglichkeit analytische Generalisierung aus Fallstudien abzuleiten. Alle vier Punkte hängen miteinander zusammen und bedingen sich teilweise gegenseitig. Im Folgenden werden sie erläutert:

  1. (1)

    Zielsetzung. Im Zentrum des Interesses der Sonderpädagogik und ebenso von pädagogischen Fallstudien steht das Individuum (Horner et al. 2005, S. 173). Aufgrund der Parallelität der Zielsetzung ist die Sonderpädagogik prädestiniert für die Durchführung von Fallstudien.

  2. (2)

    Kleine Population. Eine weitere Besonderheit der Sonderpädagogik, die sie von vielen anderen Fachbereichen unterscheidet, ist die teils sehr kleine und heterogene Grundpopulation. Viele Fälle sind äußerst spezifisch und nur schwer zugänglich. Dies macht die Bildung homogener, repräsentativer Stichproben schwerer und kann die Aussagekraft von Ergebnissen einschränken (Horner et al. 2005, S. 173). Die Schwierigkeit, eine repräsentative Stichprobe mit Braille Lesenden zu bilden, wird sehr anschaulich bei Wright (2010) beschrieben. In einem Rechenbeispiel zeigt sie, dass um ausreichend statistische Testpower zu erreichen, 76 % der geschätzten Grundpopulation an Braille Lesenden eines Jahrganges in den USA nötig wären (Wright (McCarthy) 2010, S. 777). Wie schwierig es ist, in einem „low-incidence“ (Musgrove und Yudin 2013, S. 2) Fach wie der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik die Grundpopulation zu bestimmen, verdeutlichte bereits Abschnitt 2.1.3. Dazu schlussfolgern Skiba und Deno (1984, S. 81) bereits sehr früh, dass die Anforderungen klassischer Testtheorie übertragen auf die Sonderpädagogik mehr ein Ideal als Realität ist. Die genannten Gründe schließen den Gebrauch von Inferenzstatistik in kleinen Fächern nicht aus, dabei müssen jedoch die fachspezifischen Grenzen berücksichtigt werden. Demgegenüber können mit Fallstudien auch schwer zugängliche Phänomene, Gruppen oder Einzelpersonen wissenschaftlich untersucht werden, weshalb der Ansatz für die Sonderpädagogik besonders gewinnbringend erscheint.

  3. (3)

    Einbezug des Kontexts. Als Kontext können beispielsweise Lehrpersonen, Eltern, Assistenzen, Schulort und Hilfsmittel angesehen werden. Diese sind oftmals Teil der Förderung und können deshalb nur schwer isoliert von Schülerinnen und Schülern betrachtet werden. Bei einem holistischen Fallstudiendesign werden diese Faktoren berücksichtigt, indem der Kontext einbezogen wird (Patton, 2002, S. 448; Yin, 2013, S. 322). Dazu lassen sich die so gewonnenen Daten im schulischen Bereich leicht auf die Schulpraxis übertragen (Horner et al. 2005, S. 173).

  4. (4)

    Analytische Generalisierungen. Diese folgen in pädagogischen Fallstudien dem Prinzip case-to-case oder case-to-theory und weniger der klassischen sample-to-population Logik (Yin, 2013, S. 325). Yin beschreibt diese Art der Generalisierung als „analytic generalization“ (Yin, 2013, S. 325, 2014, S. 40) und meint damit den Transfer von abstrakten Ideen und Erkenntnissen aus einer Fallstudie auf ähnliche Fälle oder Situationen. Übertragen auf die Sonderpädagogik heißt das, dass aus der Tiefe der Analyse und der Vielzahl an Datenpunkten zu einem spezifischen Schüler oder zu einer spezifischen Schülerin manchmal mehr Schlussfolgerungen für die eigene Schulpraxis hervorgehen können als aus den Durchschnittswerten einer Stichprobe. Das kann beispielsweise eine Erkenntnis zur Förderung eines besonders seltenen, herausfordernden Falles sein. Fallstudien sind deshalb auch immer auf Generalisierung ausgelegt (Gerring, 2019, S. 30), folgen dabei aber einer anderen Logik.

5.1.1 Forschungsfragen und Ziele

Die Forschungsfragen und Ziele sind das Herzstück der Untersuchung und gleichzeitig ihr Ausgangspunkt (Maxwell, 2013, S. 78). Während die Zielsetzung naturgemäß offener und allgemeiner formuliert wird und darauf verweist, was praktisch erreicht werden soll, operationalisieren und konkretisieren die Forschungsfragen den Untersuchungsgegenstand weiter (Creswell & Poth, 2018). Aus diesem Grund sind sie zentral für das Untersuchungsdesign, weil sie (A) entscheidend für die Wahl der Methoden, weil (B) die Forschungsfragen alle Komponenten miteinander verbinden und weil sie (C) leitend für die Auswertung der Daten sind.

Zielformulierung.

Das Ziel des vorliegenden qualitativen Teils ist es, mehrere Lernende mit dualer Schriftnutzung in einer Pilotfallstudien und vier holistischen Fallstudien über mehrere Monate im Unterricht zu begleiten. Dabei soll der Erwerb der schriftsprachlichen Kompetenzen im Untersuchungszeitraum in beiden Schriftmedien dokumentiert werden. Auf Basis der Fallbeschreibungen werden für alle Teilnehmenden Empfehlungen und Fördermaterialien ausgearbeitet. Dadurch soll exemplarisch für jeden Fall die Frage beantwortet werden, wie dual Schriftnutzende gefördert werden können. Darüber hinaus werden sich von den Fallstudien weitere Erklärungen für das Abschneiden der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung in Kapitel 4 erhofft.

Forschungsfragen.

Am Anfang des Projektes stand die übergeordnete Fragestellung (F3) für den qualitativen Teil, wie sich die schriftsprachlichen Kompetenzen dual Schriftnutzender entwickeln und wie sie gefördert werden können (vgl. hierzu Abschnitt 3.3 Forschungsfragen). Im Laufe des Forschungsprozesses hat sich die Fragestellung weiter konkretisiert. Nachfolgend soll die übergeordnete Forschungsfrage F3 weiter präzisiert werden und noch weitere Unterfragen (F3.1, F3.2, F3.3, F3.4) aufgestellt werden. In Anlehnung an die Empfehlungen mehrerer Autorinnen und Autoren werden die Fragen für den qualitativen Teil (F3.1–F3.3) als „Wie-Fragen“ formuliert (Creswell & Poth, 2018; Denzin & Lincoln, 2018, S. 899; Yin, 2013, S. 328, 2014, S. 29). Unterschieden werden können F3.1–F3.3 hinsichtlich des Fokus auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alle drei Fragen geben Hinweise darauf, dass neben den Schülerinnen und Schülern auch die Eltern und Lehrpersonen Teil der Erhebung waren und Daten zur Diagnose, dem Verlauf der Augenerkrankung und der Entscheidungsfindung über das Schriftmedium einbezogen wurden. Ähnlich wie im quantitativen Untersuchungsteil (vgl. hierzu 4) sind die schriftsprachlichen Kompetenzen und die damit verbundenen Wahrnehmungsvoraussetzungen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand.

  1. F3

    Wie entwickeln sich die schriftsprachlichen Kompetenzen von dual Schriftnutzenden und wie können sie gefördert werden?

    1. F3.1

      Wie wurden die dual Schriftnutzenden bislang schulisch und im Elternhaus gefördert?

    2. F3.2

      Wie entwickeln sich die Lese- und Schreibkompetenzen der dual Schriftnutzenden im Untersuchungszeitraum?

    3. F3.3

      Wie können die dual Schriftnutzenden in Lese-, Schreib- und Hörkompetenzen gefördert werden?

Die Forschungsfrage F3.4 wurde aus der Kompetenzerhebung und somit dem ersten Teil der Arbeit abgeleitet. Aus diesem geht hervor, dass dual Schriftnutzende durchschnittlich signifikant weniger flüssig lesen als Schülerinnen und Schüler mit einem Schriftmedium. Es stellt sich deshalb die Frage:

  1. F3.1

    Warum zeigen viele dual Schriftnutzende niedrige Kompetenzen in der Leseflüssigkeit?

Aus den formulierten Fragen gehen die Untersuchungsbereiche schriftsprachliche Kompetenzen (Lese-, Schreib- und Hörkompetenzen), Bildungsbiografie, funktionales Sehvermögen, Förderangebote, Hilfsmittelkompetenz und Ausstattung hervor. Die Antworten auf die Fragestellungen werden individuell für jeden Fall und in narrativer Form in Abschnitt 5.2 dargestellt.

5.1.2 Fallstudiendesign

Bei der Konzeption von Fallstudien gibt es unterschiedliche Ansätze (Gerring, 2019; Stake, 1995; Tight, 2017; Yin, 2014). Für die vorliegende Arbeit wurde sich an den Empfehlungen von Robert Yin orientiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen und Autoren bezieht Yin neben qualitativen auch klassisch quantitative Elemente in sein Konzept von Fallstudien ein (Creswell & Poth, 2018, S. 97; Yin, 2006, S. 117). Sein Ansatz eignet sich deshalb sehr gut für die Integration in ein übergeordnetes Mixed-Methods-Projekt. Besonders charakteristisch ist der Fokus auf einem regelgeleiteten und systematischen Vorgehen. Dabei orientiert sich Yin an den klassischen Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) und strebt analytische Generalisierungen an (Yin, 2013, S. 325). In der Folge wird sein Ansatz der postpositivistischen DenkrichtungFootnote 1 zugeschrieben (Harrison et al., 2017).

In dem Fallstudiendesign nach Yin sind einige Elemente besonders charakteristisch. Dazu gehört die Verwendung eines Fallstudienprotokolls, das Erstellen einer Falldatenbank und die Durchführung einer Pilotfallstudie. Zudem betonen gleich mehrere Autorinnen und Autoren die Wichtigkeit einer klaren Identifikation von Fall und Kontext in einer Fallstudie (Creswell & Poth, 2018, S. 98; Rosenberg & Yates, 2007, S. 448; Yin, 2014, S. 30). Nachfolgend werden diese Elemente des Fallstudiendesigns erläutert und ihre Funktion im Forschungsprozess beschrieben.

Definition Fall und Kontext.

In der vorliegenden Studie ist der Fall (bzw. das Analyseobjekt) ganz klassisch ein Individuum. Im Mittelpunkt des Interesses steht eine Schülerin oder ein Schüler mit dualer Schriftnutzung (Brailleschrift und Schwarzschrift), die oder der in einem realweltlichen Kontext analysiert werden soll. Dabei ist der Kontext wesentlich schwerer zu definieren. Abhilfe liefert hier das educational ecosystem, das in Anlehnung an Bronfenbrenner (1996), von McLinden et al. (2016, S. 183) für die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik adaptiert wurde. Das Modell besteht aus konzentrischen Kreisen, bei denen das Individuum im Mittelpunkt steht. Der Kontext wird in vier Ebenen (Mikro-, Meso-, Exo-, und Makrosystem) hierarchisch unterteilt, wobei der größere den kleinen Kontext beeinflusst und somit auch den einzelnen Fall. Abbildung 5.1 illustriert die vier Ebenen und den Einfluss auf das Individuum.

Abbildung 5.1
figure 1

Modifiziertes ‚educational ecosystem‘ in Anlehnung an McLinden et al. 2016

Auf der Mikroebene findet wechselseitige unmittelbare Interaktion statt. Es ist die Beziehungsebene zwischen Individuum und Eltern, Lehrpersonen, Peers oder der Assistenz (McLinden et al. 2016, S. 185). Sie ist umgeben von der Mesoebene, die als Umfeld- oder Bereich definiert ist, dem das Individuum angehört. Das kann z. B. das Elternhaus, das Internat, aber auch die Schule sein. Im weiteren Sinne umfasst die Ebene außerdem die Interaktion der verschiedenen Bereiche miteinander (McLinden et al. 2016, S. 186). Auf der Exoebene ist das Individuum nicht direkt involviert, wird aber durch diese beeinflusst. Das kann beispielsweise der schulorganisatorische Rahmen in Form von Förderstunden, Ressourcen und Schulkonzept sein, aber auch die Zusammenarbeit des pädagogischen Personals (McLinden et al. 2016, S. 188). Umgeben ist diese von der Makroebene, die alle anderen Ebenen umschließt. Darunter kann die nationale und internationale Bildungspolitik gefasst werden, z. B. das Schulsystem, Bildungsstandards, das spezifische Curriculum (Degenhardt et al. 2016) und die UN-Behindertenrechtskonvention.

Übertragen auf die Fallstudien macht das ecological ecoystem in Abbildung 5.1 deutlich, wie das einzelne Individuum in einem komplexen sozialen Kontext eingebettet ist. Im Kern der Fallstudien steht der Fall und die Beziehungen auf der Mikroebene zu Eltern, Klassenlehrpersonen und sonderpädagogischem Team. Aus dem Modell geht ebenfalls hervor, dass man die Mikroebene nicht isoliert vom Rest des Modells betrachten kann. Individuum, Mikro-, Meso-, Exo- und Makroebene beeinflussen sich wechselseitig. In der Folge sind das Verhältnis zwischen Schule und Elternhaus, die Zusammenarbeit der Lehrkräfte untereinander, die Bereitstellung von Förderstunden, ein spezielles Schulkonzept ebenso wie spezifische Lehrpläne und Bildungsstandards Teile des erweiterten Kontextes und somit auch der Erhebung in den Fallstudien.

Fallstudienprotokoll.

Die Entwicklung eines Fallstudienprotokolls dient der Organisation und Dokumentation der Datenerhebungen und ist ein wichtiges Instrument zur Systematisierung und Nachvollziehbarkeit (Yin, 2014, 84 f.). Das Protokoll enthält allgemeine Regeln (z. B. zu ethischen Standards), die Präzisierung der Forschungsfragen, eine Übersicht über die Datenerhebung, die Erhebungsmethoden und die geplanten Analysetechniken. Demzufolge handelt es sich dabei um eine Art Konzeptskizze der Fallstudie, die den Forschenden zwingt, bereits im Vorfeld der Studie, Probleme zu antizipieren und sich früh Gedanken über die Auswertung zu machen. Dabei hilft das Protokoll, zielgerichtet zu arbeiten und den Forschungsprozess zu dokumentieren. Gemäß Yin (2014, S. 84) ist die Verwendung deshalb absolut notwendig. Im Vorfeld der Fallstudie wurde daher ein Protokoll für die vier Einzelfälle und die Pilotfallstudie konzipiert. Es besteht aus vier Teilen (A. Allgemeines, B. Instrumente und Fragestellungen, C. Erhebungsplan und D. Ergebnisdarstellung). Das komplette Protokoll kann im Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial eingesehen werden.

Falldatenbank.

Eine der größten Herausforderungen bei der praktischen Durchführung von Fallstudien ist die Verwaltung und Organisation der unterschiedlichen Datenquellen (z. B. Interviews, Beobachtungen, Testergebnisse, offizielle Dokumente usw.). Hierbei besteht ein gewisses Risiko, von der Masse an Rohdaten, Protokollen, Notizen und Zwischenergebnissen überfordert zu werden (Merriam, 2014, S. 236). Patton (2002, S. 450) und Yin (2014, S. 123) empfehlen deshalb das Erstellen einer Falldatenbank. Die Hauptfunktion dieser ist die Sicherung und der schnelle und leichte Abruf von Daten, was wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Nachvollziehbarkeit und die Analyse ist. Die Datenbank enthält somit alle Informationen, die den Forschenden zu seinen Schlussfolgerungen führen. Zudem erhöht die Datenbank die Reliabilität (Yin, 2014, S. 124).

Konkret erfolgten die Datensicherung und Dokumentation in den durchgeführten Fallstudien in Papierform und computergestützt. Für jeden Fall wurde dazu ein Ordner angelegt, indem alle handschriftlichen Notizen und Rohmaterialien nach Quellen sortiert und geordnet wurden. Zusätzlich wurden alle Materialien digitalisiert und in einem MAXQDA-Projekt gesichert. Im Gegensatz zur Papiervariante wurden in die computerbasierte Datenbank erste Zwischenergebnisse und Auswertungen integriert. Nach erfolgreichem Import wurde jeder Datei (z. B. Transkript, Beobachtungsbogen, Testergebnis usw.) eine Dokumentvariable zugewiesen. Dabei handelt es sich um standardisierte Informationen über jeden Fall (Rädiker & Kuckartz, 2019, S. 21), z. B. die Variable ‚Fall‘ (1,2,3,4,5), die Variable ‚Quelle‘ (Interview, Beobachtung, Akten, Test) oder die Variable ‚Person‘ (Eltern, Schüler, Sonderpädagogin, Regelschullehrkraft). Anhand der Variablenwerte lässt sich anschließend die Vielzahl der Dokumente organisieren, filtern und abrufen. Die Dokumentvariablen sind zudem wichtig für die weiterführenden Analysen und die Verbindung der unterschiedlichen Daten. Die MAXQDA-Projektdatei kann somit als eigentliche Falldatenbank angesehen werden.

Pilotfallstudie.

Eine Pilotstudie ist nach Mayring (2015, S. 23) eine ausgezeichnete Möglichkeit, den Untersuchungsgegenstand näher kennenzulernen und die Untersuchungsinstrumente zu verbessern. Aus diesem Grund empfiehlt Yin (2014, S. 122) auch die Durchführung einer verkürzten Pilotfallstudie im Vorfeld der eigentlichen Erhebung. Insbesondere in Fallstudien, in denen eine Vielzahl von Methoden eingesetzt wird, ist dieser Schritt sinnvoll, um sich mit den Erhebungsinstrumenten und unterschiedlichen Techniken vertraut zu machen (z. B. Interviews, Beobachtungen oder Testverfahren). Bei der Durchführung der Pilotfallstudie kann sich der Forschende somit größtenteils konzeptionellen, methodischen oder organisatorischen Fragen widmen, was dazu führt, dass während der eigentlichen Fallstudien der Fokus auf den inhaltliche Fragen liegt (Yin, 2014, 96 ff.).

Innerhalb der vorliegenden Studie wurde in Anlehnung an die Empfehlungen ebenfalls eine Pilotierung durchgeführt. Der Aufruf zur Teilnahme an der Pilotfallstudie erfolgte im Juli 2017. Die Dauer war dabei auf 6 Monate begrenzt. Das entspricht der Hälfte der geplanten Fallstudien. Gesucht wurde eine oder ein dual Schriftnutzender unabhängig von Alter, Geschlecht und Schulform. Zusätzlich wurden Hospitationsmöglichkeiten im Unterricht und die Bereitschaft zur Durchführung von Interviews mit Eltern und Lehrkräften vorausgesetzt. Die Suche nach Teilnehmenden gestaltete sich jedoch schwierig. Nach einem ersten Aufruf an zwei sonderpädagogische Bildungsinstitutionen dauerte es drei Monate, bis ein passender Fall gefunden werden konnte. Letztlich konnte die Pilotfallstudie im Herbst 2017 begonnen und im Frühjahr 2018 abgeschlossen werden. Der teilnehmende dual Schriftnutzende namens Luca (Pseudonym) war zu Beginn der Pilotierung 7 Jahre alt und besuchte die 2. Klasse einer allgemeinen Schule (weitere Informationen über den Schüler und inhaltliche Erkenntnisse aus der Pilotfallstudie finden sich in Abschnitt 5.2.1). Insgesamt wurden an elf unterschiedlichen Terminen Beobachtungen-, Interviews-, Kompetenztests- sowie Sehtests durchgeführt, Akten eingesehen und Förderangebote erprobt.

Die Pilotfallstudie war für die Vorbereitung der eigentlichen Erhebungen von zentraler Bedeutung. Innerhalb der Pilotierung wurde das Fallstudienprotokoll präzisiert (z. B. der Erhebungsplan und die damit verbundenen Forschungsfragen), die Falldatenbank erprobt (z. B. die Sicherung und der Wiederabruf von Daten in MAXQDA), Kompetenztests ausgewählt (z. B. zur Lesegeschwindigkeit und Leseausdauer), die Beobachtungsbögen und Interviewleitfäden verbessert, die Transkription der Interview-Audios mit MAXQDA eingeübt, der Codierleitfaden für die Auswertung der Interviews erweitert sowie erste Analysetechniken ausprobiert (z. B. die Triangulation von numerischen und narrativen Daten mit MAXQDA). Zusätzlich führte die Pilotierung dazu, dass Probleme in der Erhebung bereits vor der Durchführung der eigentlichen Untersuchung ersichtlich wurden. Ein Beispiel dafür ist die visuelle Diagnostik. Bei bestimmten Testverfahren (z. B. den LEA Contrast Flip Chart) waren die Protokollbögen nicht auf Schülerinnen und Schüler mit hochgradiger Sehbehinderung ausgerichtet. Deshalb mussten diese angepasst werden. Die Pilotfallstudie lieferte überdies auch praktische Einsichten über den Zeitaufwand der Datenerhebung und Auswertung.

5.1.3 Auswahl der Teilnehmenden

Vor der Auswahl der Teilnehmenden stellte sich die Frage nach der angemessenen Anzahl der Einzelfallstudien. Anders als in der quantitativen Forschung gibt es in der qualitativen Forschung keine Richtlinien zur Stichprobengröße (Patton, 2002, S. 240). Grundsätzlich gilt, dass mit steigender Zahl der Teilnehmenden der Zeitaufwand der Datenerhebung und Auswertung steigt und die Tiefe der Analyse abnimmt. Dem gegenüber steht der potenzielle höhere Erkenntnisgewinn aus mehreren Fallanalysen. Demzufolge ist die angemessene Anzahl an Teilnehmenden in Fallstudien auch eine Frage des Ermessens und Abwägens zwischen den unterschiedlichen Faktoren.

Die endgültige Festlegung, vier Fallstudien zur dualen Schriftnutzung durchzuführen, erfolgte während der Pilotfallstudie. Aufgrund der gemachten Erfahrungen in der Pilotierung erschienen vier Fälle einerseits als angemessen hinsichtlich der potenziellen Erkenntnisse und der Umsetzbarkeit. Zudem kann mit der gewählten Anzahl der Versuch von fallübergreifenden Analysen [cross-case-analyses] unternommen werden. Diese gelten als besonders vielversprechend hinsichtlich des Erkenntnisgewinns (Gerring, 2019, S. 29; Yin, 2014, S. 57).

In der Typologie von Robert Yin (2014, S. 50) wird das gewählte Design holistische Mehrfallanalyse [holistic muliple case-study] genannt. Darunter versteht er die Durchführung mehrerer, ganzheitlicher Einzelfallanalysen zu einem Thema unter Einbezug des Kontexts. Demzufolge verbirgt sich hinter dem Begriff Mehrfallanalyse [multiple-case-study] kein neuer methodischer Ansatz. Vielmehr beschreibt der Begriff die Durchführung mehrerer Einzelfallstudien zu einem Thema.

Nachdem die Anzahl der Teilnehmenden festgelegt war, erfolgte die Auswahl der Fallstudien Teilnehmenden. In der qualitativen und quantitativen Forschung wird dieser Prozess als Sampling bezeichnet und als fundamental erachtet (Tight, 2017). Je nach Forschungsansatz (z. B. qualitativ oder quantitativ) verbergen sich jedoch hinter dem Begriff sehr unterschiedliche Konzepte. Patton (2002, 243 f.) unterscheidet beispielsweise 18 verschiedene Sampling-Arten. Bei der Auswahl der vier Fallstudien-Teilnehmenden wurde ein zielgerichtetes Sampling [purposeful sampling] durchgeführt (Merriam, 2014, S. 77; Patton, 2002, 243 f.). Dabei handelt es sich um eine Auswahltechnik, die häufig in qualitativen Forschungsvorhaben angewendet wird. Im Auswahlprozess werden die Teilnehmenden nicht zufällig ausgewählt, sondern aufgrund der Intention der Fallstudien. Um beispielsweise das Ziel eines vertieften Verständnisses dual Schriftnutzender zu erreichen, wurde versucht, möglichst kontrastreiche und heterogene dual Schriftnutzende auszuwählen (z. B. hinsichtlich Alter und Klassenstufe, Beginn der Braillenutzung, Schulort, Hauptlesemedium usw.). Einerseits erschwert dies die fallübergreifende Analyse, andererseits wird so eine große Spannweite des Phänomens abgebildet.

Dauer und Umfang der Fallstudien.

Bei den durchgeführten Fallstudien handelt es sich um eine Langzeiterhebung über 12 Monate. Innerhalb dieses Zeitraums wurden die Studien-Teilnehmenden monatlich in der Schule oder im Elternhaus besucht. Insgesamt variierte die Anzahl der Erhebungstage geringfügig zwischen 18 und 20 Terminen pro Fall. An den Erhebungsterminen wurden, wenn möglich, mehrere Erhebungen miteinander kombiniert, z. B. Unterrichtshospitationen, Kompetenztests oder Interviews mit den Beteiligten.

Kriterien bei der Fallauswahl.

Teilnahmeberechtigt waren alle Schülerinnen und Schüler im schulpflichtigen Alter, die sowohl Brailleschrift als auch Schwarzschrift nutzen, unabhängig vom Erwerbszeitpunkt und Form des Schriftspracherwerbs (parallel oder nicht-parallel). Hinsichtlich des Geschlechtes, der Klassenstufe oder der Schulform gab es keine Einschränkungen. Weitere Voraussetzungen für die Teilnahme waren Hospitationsmöglichkeiten im Unterricht und die Bereitschaft von Eltern, Lehrpersonen und Sonderpädagoginnen und -pädagogen an Interviews teilzunehmen.

Aufruf zur Teilnahme und Rückmeldungen.

Der Aufruf zur Teilnahme erfolgte im Februar 2018 an vier sonderpädagogischen Bildungs- und BeratungszentrenFootnote 2 im Förderschwerpunkt Sehen. Ein Interesse an der Studie bekundeten alle kontaktierten Einrichtungen. Der Rückmeldezeitraum war auf einen Monat festgelegt. Innerhalb dieses Zeitraumes erfolgten Meldungen aus drei Einrichtungen. Insgesamt wurden sechs Teilnehmende gemeldet.

Alle sechs Kandidaten waren männlich, weshalb nachfolgend auch die maskuline Pluralform genutzt wird. Dabei handelt es sich vermutlich um einen Zufall. Darauf deutet zumindest die annähernd gleiche Geschlechterverteilung in der Kompetenzerhebung hin (vgl. hierzu Abschnitt 4.1.5).

Die Auswahl der Teilnehmenden.

Durch die Pilotfallstudie war bereits klar, dass es aufgrund der geringen Population und den hohen Anforderungen an die Teilnehmenden und ihr Umfeld wenig Auswahl im Sampling geben würde. Von den insgesamt sechs Zusagen wurde ein Teilnehmer abgelehnt, weil bei ihm aufgrund eines Schulabschlusses nur 6 Monate der angestrebten 12 Erhebungsmonate sicher gewährleistet waren. Ein zweiter Schüler wurde nicht in die Studie aufgenommen, obwohl er den Auswahlkriterien entsprach, weil die Meldung zur Teilnahme an der Studie zu spät erfolgte. Aufgenommen wurden Ismael, Aziz, Tarik und Shehan. Bei den Namen handelt es sich um Pseudonyme. Tabelle 5.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Kennwerte der vier Fallstudienteilnehmer. Zusätzlich werden in der Tabelle auch die Daten von Luca aus der Pilotfallstudie aufgeführt.

Tabelle 5.1 Kennwerte Fallstudien-Teilnehmende

Alle Fälle wurden anhand der zuvor festgelegten Kriterien ausgewählt. Eine Ausnahme wurde bei Tarik gemacht. Er erblindete wenige Monate vor dem Start der Fallstudie und hat die Brailleschrift erst danach erlernt. Ihm stellen sich jedoch viele Herausforderungen, die sich ebenfalls dual Schriftnutzenden stellen. Dazu ist das Phänomen plötzlicher Erblindung im Schulalter bislang nur selten Teil wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Deshalb wird dem Fall von Tarik auch ein besonders hoher Informationsgehalt zugerechnet. Hinzu kommt, dass es in Fallstudien eine gewisse Tradition gibt, besonders extreme Fälle auszuwählen (Eisenhardt, 1989, S. 537; Patton, 2002, S. 234; Yin, 1981, S. 101). Diese werden von den meisten Autorinnen und Autoren als lohnend angesehen hinsichtlich möglicher Erkenntnisse.

Nach erfolgreicher Auswahl der Teilnehmenden wurde in den Monaten März und April 2018 mit der Fallarbeit begonnen.

5.1.4 Datenerhebungen und Analyse

In dem nachfolgenden Abschnitt sollen die Untersuchungsbereiche, die verwendeten Materialien und Erhebungsinstrumente genauer beschrieben werden. Abbildung 5.2 veranschaulicht die unterschiedlichen Datenquellen, aus denen in den Fallstudien Erkenntnisse gewonnen wurden.

Abbildung 5.2
figure 2

Multiple Datenquellen in der Fallstudie

Dokumentation der Lesegeschwindigkeit.

Erhoben wurde der Mittelwert aus drei Minuten lautem Lesen bei einfachen Texten in der Brailleschrift und in der Schwarzschrift. Das gewählte Vorgehen steht im Einklang mit den Empfehlungen von Vacca et al. (2015, S. 237), wonach die Kontrolle der Textschwierigkeit und das Ermitteln eines Durchschnittswerts aus mehreren Minuten empfohlen wird. Um den Einfluss der Textschwierigkeit auf die Lesegeschwindigkeit möglichst gering zu halten, wurde der Lesbarkeitsindex (LIX) für alle Lesetexte ermittelt und nur Texte verwendet mit einem Index unter 35 %, die somit als einfach bewertet werden können. In den Erhebungen wurden neben den gelesenen Wörtern pro Minute (WpM) auch die Lesefehler protokolliert und der prozentuale Anteil an Verlesungen gemessen. In der Brailleschrift wurde auf Papier im bevorzugten Brailleschriftsystem gelesen (Vollschrift, Kurzschrift, Computerbraille). In der Schwarzschrift wurde im Vorfeld der SZB-Test zum Messen des Vergrößerungsbedarfs durchgeführt, um den individuellen Vergrößerungsbedarf jedes Teilnehmenden zu ermitteln. Anschließend konnten die Schüler ihren bevorzugten Schrifttyp (serifenlose Schrift, z. B. Verdana oder eine Schrift mit Serifen, z. B. Times New Roman) und das bevorzugte Hilfsmittel wählen (z. B. Bildschirmlesegerät, Computer oder Großdruck). Die Erhebungen erfolgten in regelmäßigen Abständen von etwa vier Wochen im Untersuchungszeitraum von zwölf Monaten. Ein Auswertungsprotokoll sowie Beispieltexte befinden sich im Anhang B (vgl. siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial). Die Ergebnisse der Langzeiterhebung wurden als „time-series“ (Yin, 2014, S. 150) ähnlich wie in experimentellen Einzelfallstudien in einem Graph dargestellt und einer systematischen, visuellen Analyse unterzogen. Auf Basis einer solchen Messung kann nach Koenig und Holbrook (2010, S. 462) die Wirksamkeit der Förderangebote im Untersuchungszeitraum beurteilt werden ebenso wie die Lernentwicklung. Die Ergebnisse werden fallweise in Abschnitt 5.2 dargestellt.

Leseausdauer.

Bei der Erhebung der Leseausdauer lieferte das Basic Reading-Inventory wertvolle Orientierung. In diesem werden mit steigender Klassenstufe altersangemessene Texte in 15, 20, 30 oder 45 Minuten gelesen. Anschließend werden die Wörter gezählt und mit einer Normierungsstichprobe verglichen (Johns 2010).

Für die dual Schriftnutzenden wurde die Lesezeit auf 15 Minuten pro Schriftmedium begrenzt. Die Festlegung erfolgte aufgrund der starken Sehbeeinträchtigung und damit verbundenen Einschränkungen beim visuellen Lesen, aber auch unter Berücksichtigung des Entwicklungsniveaus der Teilnehmenden im Lesen. Dieses wurde aufgrund der Testergebnisse zur Leseflüssigkeit (SLRT-II) beurteilt. Demnach befand sich unabhängig vom Alter und der Klassenstufe kein Teilnehmer über dem Leseniveau der 2. Klasse. Die gewählten 15 Minuten entsprechen folglich dem, was Johns (2010) für den Entwicklungsstand empfiehlt. Außer Frage steht dabei, dass es Leseanlässe gibt, die eine höhere Lesezeit auch bei Sehbeeinträchtigung erfordern. Es liegt nur die Vermutung nahe, dass Betroffene hierzu ggf. auch auditive Technologien nutzen oder verstärkt periodisch lesen.

Die Textauswahl erfolgte vor dem Hintergrund individueller Leseinteressen und des Lesebarkeitsindex (LIX). Analog zur Lesegeschwindigkeit wurden die gleichen Testbedingungen ermöglicht. D. h., den Teilnehmenden standen ihre gewohnten Hilfsmittel zur Verfügung. In der Schwarzschrift konnte Schrifttyp und Vergrößerung gewählt werden und in der Brailleschrift das bevorzugte Punktschriftsystem. Um faire Messbedingungen zwischen den Schriftsystemen herzustellen, wurden die Lesetestungen in Schwarzschrift und Brailleschrift an unterschiedlichen Tagen durchgeführt. Die Ergebnisse zur Leseausdauer werden für jeden Teilnehmenden in einem Graphen dargestellt und einer visuellen Analyse unterzogen.

Informeller Vergleich der Lesemedien (visuell, haptisch, auditiv).

Eine Besonderheit dual Schriftnutzender besteht darin, dass sie beim Lesemedium erweiterte Wahlmöglichkeiten haben (z. B. vergrößerte Schwarzschrift, Brailleschrift und Sprachausgabe). Mit zunehmendem Alter spielt insbesondere auch der auditive Zugang eine wichtige Rolle. Aus mehreren Studien geht hervor, dass viele dual Schriftnutzende auditive Hilfsmittel bevorzugen (Herzberg et al. 2017, S. 56; Vik und Fellenius 2007, S. 551; Goudiras et al. 2009, S. 123).

Um die Lesemedien untereinander vergleichen zu können, wurde ein informeller Lesetest konstruiert. Dieser besteht aus drei Textpassagen, die jeweils 100 Wörter umfassen und nacheinander in vergrößerter Schwarzschrift, Brailleschrift und mit der Sprachausgabe gelesen wurden. Die Textschwierigkeit wurde zuvor mittels Lesbarkeitsindex (LIX) für alle Textteile angeglichen. Gelesen wurde leise, weshalb nach jedem Textabschnitt drei einfache Fragen zur Lesekontrolle gestellt wurden. Ein Erhebungsprotokoll mit Beispielen befindet sich im Anhang B (siehe hierzu das elektronische Zusatzmaterial).

Der informelle Test wurde in der Schule am Arbeitsplatz der Teilnehmenden und unter Verwendung der persönlichen Hilfsmittel durchgeführt. Die Präsentationsform (digital oder Papier), die Vergrößerungsstufe in der Schwarzschrift sowie das bevorzugte Brailleschriftsystem konnte durch die Teilnehmenden individuell gewählt bzw. eingestellt werden. Das Verfahren wurde nur mit den Schülern durchgeführt, die bereits Erfahrung im Umgang mit der Sprachausgabe aufwiesen.

Im Anschluss an die Durchführung wurde die Lese- und Hörgeschwindigkeiten für die drei unterschiedlichen Zugangsweisen (Brailleschrift, Schwarzschrift und Sprachausgabe) berechnet. Die Ergebnisse sind in Tabellenform in Abschnitt 5.2 für jeden Fall einzeln dargestellt.

Schreibgeschwindigkeit.

Um die Schreibgeschwindigkeit zu erheben, wurde der Mittelwert aus drei Minuten Schreiben ermittelt. Dazu wurde ein Text mit einheitlicher Textschwierigkeit diktiert und nach drei Minuten das Schreibmedium gewechselt. Geschrieben wurde mit allen verfügbaren Schreibmedien des Teilnehmenden (z. B. Handschrift, PC-Tastatur, Brailletastatur auf der Braillezeile und Punktschriftmaschine). Erhoben wurden die geschriebenen Zeichen pro Minute (ZpM) mit und ohne Leerzeichen. Zusätzlich wurden die falsch geschriebenen Zeichen erfasst und eine prozentuale Fehlerrate berechnet. Die Textvorlage und ein Erhebungsprotokoll können im Anhang B eingesehen werden (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

Leitfadengestützte Interviews.

Die Durchführung von Interviews mit den Schülern, Eltern und Lehrkräften wird übereinstimmend in allen Assessments zur Schriftentscheidung empfohlen (Sanford et al. 2008, S. 13; Koenig und Holbrook 1989, S. 299, 1995, S. 79; Bell et al. 2013; Caton 1991, S. 15). Generell eignen sich Interviews, um unterschiedliche Perspektiven (z. B. Meinungen und Überzeugungen hinsichtlich der Schriftnutzung) zugänglich zu machen und auch nichtbeobachtbare Ereignisse und Verhaltensweisen zu erfassen (z. B. zur Bildungsbiografie oder die Schriftnutzung im privaten Kontext der Familie) (Döring & Bortz, 2016, S. 356). Interviews können gleichfalls dazu verwendet werden, um Probleme zu identifizieren und Ereignisse zu evaluieren (Fisseni, 1990, S. 244).

In der Fallarbeit wurden halbstrukturierte, leitfadengestützte Interviews gewählt (Döring & Bortz, 2016, S. 372). Wie aus dem Namen bereits hervorgeht, basiert diese Form des Interviews auf einem Leitfaden, der für Vergleichbarkeit sorgt und flexibel an die jeweilige Interviewsituation angepasst werden kann. Bei der Erstellung des Leitfadens wurden acht Themenschwerpunkte theoriegeleitet gebildet (Schulbiografie, Beziehung und Kooperation, Wahrnehmungsvoraussetzungen, Schrift, Hilfsmittel, Zugang zu Lese- u. Schreibmaterial, Interessen und Freizeit, Schulleistung und Lernen). Die Schwerpunkte variierten je nach interviewter Person in Umfang und Art der Fragestellung. Die meisten Fragen wurden in Anlehnung an die Interviewleitfäden aus dem FVLMA und dem NRMA erstellt oder aus der Fachliteratur abgeleitet und in einem Kolloquium mit Expertinnen und Experten diskutiert (NFB 2012; Sanford et al. 2008). Die dabei verwendeten Fragen hatten unterschiedliche Funktion und Frageformat (Bogner et al., 2014, S. 63). Zum Einstieg wurden narrative, erzählungsgenerierende Formulierungen verwendet. Die Teilnehmenden wurden im Verlauf der Interviews aber auch immer wieder zu Stellungnahmen und konkreten Bewertungen sowie Sondierungen unterschiedlicher Themenkomplexe aufgefordert. Die Fragen waren dabei bewusst offen gestellt, um Ein-Wort-Antworten der interviewten Personen zu vermeiden. Einzig in den Interviews mit den Lehrpersonen wurde ein Kurzfragebogen eingefügt, um biografische Informationen zum Bildungshintergrund der Lehrpersonen schnell abzufragen (z. B. Studium, Berufsjahre, Erfahrung mit dual Schriftnutzenden). Anschließend wurden die Leitfäden praktisch in vier Interviewsituationen innerhalb der Pilotfallstudie erprobt. Dadurch konnte der Zeitbedarf für die Durchführung besser abgeschätzt werden und kleine Ergänzungen und Streichungen vorgenommen werden. Im Anhang B können beispielhafte Interviewleitfäden für Schülerinnen und Schüler, Eltern, allgemeine Lehrpersonen und sonderpädagogische Lehrpersonen eingesehen werden (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial). Ein Interview dauerte im Schnitt 45 Minuten. Je nach Beschulungsform wurden 3–4 Interviews pro Fallanalyse durchgeführt. Im inklusiven Kontext wurde neben der sonderpädagogischen Lehrkraft auch die allgemeine Lehrperson interviewt. An Förderzentren wurde das sonderpädagogische Interview mit der jeweiligen Klassenleitung geführt. In einem Fall wurden zwei sonderpädagogische Lehrkräfte interviewt, weil es zur Mitte der Fallanalyse einen Wechsel in der Verantwortlichkeit gab. In zwei Fällen musste das Schülerinterview aufgrund von Zeitgründen zweigeteilt werden. Die Interviews wurden in der Schule, im Elternhaus oder an der Hochschule durchgeführt. Einschließlich der Pilotfallstudie wurden insgesamt 18 Interviews geführt.

Alle Gespräche wurden als Audiodatei aufgenommen und zeitnah verschriftlicht. Bei der Übertragung wurde eine computergestützte Vorgehensweise mit MAXQDA gewählt, bei der Audio und Transkript direkt miteinander über Zeitmarken verbunden bleiben. Das hat den Vorteil, dass jederzeit auf den Originalton zurückgegriffen werden kann. Bei der Verschriftlichung lag die Priorität auf dem Inhalt und der Lesbarkeit. Der Text wurde in Schriftdeutsch geglättet und die Namen wurden durch Pseudonyme ersetzt und Orte anonymisiert. Leitend waren dabei die Regeln von Rädiker und Kuckartz (2019, S. 44), die in ähnlicher Form auch bei Kuckartz et al. (2008, 27 f.) und Dresing und Pehl (2013, S. 21) zu finden sind. Die Abbildung 5.3 zeigt ein beispielhaftes Transkript. Insgesamt wurden 819 Minuten transkribiert. Ein durchschnittliches Interview dauerte 45 Minuten.

Abbildung 5.3
figure 3

Ausschnitt aus einem Transkript

Nach Abschluss der Transkription wurden die Interviews inhaltsanalytisch und computergestützt mit der Software MAXQDA ausgewertet (Kuckartz, 2016; Mayring, 2015). Das bedeutet, dass Textstellen (z. B. Wörter, Sätze, Absätze) aus den Transkripten thematisch in Kategorien zusammengefasst wurden. In der Fachliteratur werden die dazu verwendeten Kategorien als Coding bezeichnet und der Zuordnungsprozess von Textstellen zu Kategorien als codieren. Mayring spricht deshalb häufig von „kategoriengeleiteter Textanalyse“ (Mayring, 2015, S. 13). Aus der Beschreibung der Vorgehensweise geht ebenfalls die Wichtigkeit des verwendeten Kategoriensystems hervor, das gemäß Kuckartz entscheidend für die Analyse ist (2016, S. 59). Die Kategorien können nach Schreier auf zwei verschiedene Arten gebildet werden, erstens „concept-driven“ [konzeptgesteuert], was häufig auch als deduktive Vorgehensweise bezeichnet wird, oder „data-driven“ [datengesteuert], was wiederum in der deutschen Fachliteratur als induktiv bezeichnet wird (Kuckartz, 2016, S. 59; Rädiker & Kuckartz, 2019, S. 98; Schreier, 2012, S. 89).

Abbildung 5.4
figure 4

Übergeordnete Kategorien (Codings) aus MAXQDA

Für die vorliegende Studie wurden die Kategorien a priori festgelegt (vgl. hierzu Abbildung 5.4 ohne Subcodes oder ausführlich mit Subcodes im Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Als Vorlage dienten die Sinnabschnitte aus dem Interviewleitfaden. Diese konzeptgesteuerte Vorgehensweise wurde ergänzt und modifiziert durch die praktische Erprobung des Codings innerhalb von vier Interviews im Verlauf der Pilotfallstudie. Dadurch konnte das Coding datenbasiert auf der Ebene der Subcodes ausdifferenziert werden. Die verwendete Kombination deduktiver und induktiver Vorgehensweisen in der Bildung eines Kategoriensystems sind dabei keineswegs ein Widerspruch (Schreier, 2012, S. 125) und wurden auch beispielsweise in ähnlicher Form in einem Evaluationsprojekt von Kuckartz angewendet (2008, S. 36). Als Ergebnis dieser Phase wurde ein erster Codierleitfaden mit Definitionen und Ankerbeispielen erstellt. Ziel dieses Leitfadens war eine möglichst prägnante und trennscharfe Bestimmung der Kategorien und Unterkategorien.

Abbildung 5.5
figure 5

Codierprozess der Interviews

Der sich anschließende Codierprozess gliederte sich in vier Phasen, die in Abbildung 5.5 vereinfacht dargestellt werden. In Schritt eins und zwei wurde das Interviewmaterial durch den Forschenden zeitversetzt codiert, um das Coding weiter zu schärfen, aber auch um Ungenauigkeiten und Probleme einzelner Kategorien aufzudecken. Im Zuge dieses Prozesses wurde der Codierleitfaden noch mehrmals geringfügig modifiziert. Anschließend wurde das gesamte Material inklusive Codierleitfaden an eine studentische Hilfskraft übergeben und erneut codiert. Dieser Schritt erfolgte zur Überprüfung und Validierung des Codings. Gemäß Rädiker und Kuckartz (2019, S. 287) stellt der Einbezug mehrerer Coder ein zentrales Qualitätsmerkmal der Inhaltsanalyse dar. Eng damit verbunden ist die Frage, inwiefern zwei verschiedene Coder bzw. Coderinnen zum selben Ergebnis kommen bei der Zuordnung von Kategorien und Textstellen. Als Übereinstimmungsmaß hat sich hierbei Kappa (κ) etabliert. Dabei handelt es sich um einen zufallskorrigierten Koeffizienten, der die Übereinstimmung zweier unabhängiger Coder misst. Für die Berechnung der Intercoder-Übereinstimmung in den Interviews wurde deshalb Kappa nach Brennan und Prediger (1981) berechnet und schließlich für jeden Fall gemittelt und in Tabelle 5.2 zusammengefasst.

Tabelle 5.2 Kennwerte Interviews und Intercoder-Übereinstimmung in Interviews

Demnach variierten die Kappa-Werte zwischen κn = .78 und κn = .84. Die meisten Interviews lagen in Anlehnung an Landis und Koch (1977) damit bereits nach dem dritten Codierschritt im Bereich „almost perfect (.81–1.0)“ und einige wenige im Bereich „substantial (0.61–0.8)“. Deshalb kann hier auch von einer guten bis sehr guten Codierübereinstimmung gesprochen werden. Rädiker und Kuckartz (2019, S. 298) machen jedoch darauf aufmerksam, dass man die Übereinstimmungswerte nicht überinterpretieren sollte, weil diese multikausal bedingt sein können (z. B. durch den Umfang des Codings, Schwierigkeit und Länge des Textmaterials; Grad der Toleranz bei der Codierüberlappung, Zählweise von Übereinstimmung und Nicht-Übereinstimmungen). In den Interviews erfolgte die Berechnung der Intercoder-Übereinstimmung deshalb weniger als Nachweis der Güte, sondern vielmehr als eine Methode zur systematischen Erhöhung der Codierqualität. Die Textstellen, bei denen es keine Übereinstimmung gab, wurden als Anlass genommen, um in einem vierten Schritt gemeinsam die Unstimmigkeiten zu diskutieren und daraus Konsequenzen für die Codieranweisungen abzuleiten. Schlussendlich konnte ein Konsens für alle Textstellen gefunden werden.

Unstimmigkeiten gab es vereinzelt bei der Vergabe von Subcodings, beispielsweise im Bereich ‚Augenerkrankung und visuelle Voraussetzungen‘ bei der Vergabe der Subcodings ‚medizinische Diagnose‘ und ‚funktionale Diagnose‘, aber auch im Bereich der Schrift gab es Unstimmigkeiten bei der Vergabe der Subcodings ‚Brailleschrift‘, ‚Schwarzschrift‘ und ‚dualer Schriftzugang‘. Andere Abweichungen entstanden schlicht durch Unaufmerksamkeiten und Übersehen von Textstellen, aber auch durch Unterschiede beim Einbezug des Kontextes in das Coding. In einer gemeinsamen Codiersituation konnte für alle Textstellen eine übereinstimmende Lösung gefunden werden. Teilweise wurden dazu nochmals die Codieranweisungen leicht angepasst. Der finale Codierleitfaden mit allen Definitionen und Ankerbeispielen kann im Anhang B eingesehen werden (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

Bei der anschließenden Auswertung der Daten wurde der Fokus auf Triangulation gelegt. Vereinfacht ausgedrückt geht es bei diesem Prozess um verschiedene Perspektiven auf denselben Untersuchungsgegenstand (Flick, 2011, S. 11). Übertragen auf die Interviews wäre das beispielsweise die Gegenüberstellung unterschiedlicher Aussagen der interviewten Personen zu denselben Untersuchungsbereichen, die aus dem Coding hervorgehen (z. B. zur Entscheidungsfindung, Einstellung zur Brailleschrift, Bewertung der Fördersituation, Bewertung der Zusammenarbeit usw.). Grafisch ist dies in Abbildung 5.6 dargestellt. Praktisch umgesetzt wurde die Triangulation in MAXQDA durch die Vergabe von Dokumentvariablen zur Kennzeichnung unterschiedlicher Interviewquellen (Schüler, Eltern, allgemeinen Lehrpersonen und sonderpädagogische Lehrkraft) und der Funktion interaktive, tabellarische Vergleiche (=Interaktive Segmentmatrix in MAXQDA). Dadurch war es möglich, Aussagen zu bestimmten Codings (z. B. zur Brailleschrift) von unterschiedlichen Personen tabellarisch gegenüberzustellen (vgl. hierzu auch Abbildung 5.11).

Abbildung 5.6
figure 6

Triangulation in den Interviews

Die Ergebnisse aus diesen Vergleichen wurden wiederum in Bezug zu den restlichen Datenerhebungen gesetzt und sind in Abschnitt 5.2 in narrativer Form dargestellt.

Teilnehmende Beobachtungen.

Bei dieser Form der Datenerhebung nimmt der Forschende in der sozialen Situation teil. D. h., die Daten werden in natürlichen, alltäglichen Unterrichtssituationen gesammelt (Mayring, 2016, S. 80). Für die Unterrichtshospitationen in der Fallstudie wurden dazu die wichtigsten Beobachtungsdimensionen vorab in einem Raster theoriegeleitet festgelegt. Als Vorlage diente eine Checkliste von Koenig und Holbrook (1995, S. 183) zur Einschätzung des bevorzugten Sinneskanals (visuell, haptisch, auditiv) in Unterrichtssituationen aus dem Learning Media Assessment. Die Autorin und der Autor merken jedoch an, dass die Wahrnehmungspräferenzen mithilfe der Beobachtungen nur oberflächig eingeschätzt werden können (Koenig & Holbrook, 1995, S. 21). Nach der Diskussion eines ersten Entwurfes mit Expertinnen und Experten in einem Kolloquium wurde der Beobachtungsbogen deshalb noch erweitert und eine dreistufige Effektivitätsskala hinzugefügt (effektiv, mehr oder weniger effektiv und nicht effektiv). Zusätzlich enthält der Beobachtungsbogen ein Feld zur Protokollierung der Lesezeiten, einen Bereich für die verwendeten Hilfsmittel sowie ein Textfeld, in dem Tätigkeiten der Mitschülerinnen und Mitschüler notiert werden können. Praktisch erprobt wurde das Beobachtungsraster im Zuge der Pilotfallstudie an vier Hospitationstagen. Nachfolgend ist ein beispielhaft ausgefüllter Beobachtungsbogen abgebildet. Eine Blankokopiervorlage des Beobachtungsrasters befindet sich im Anhang B (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial). Die Beurteilung der Effektivität erfolgte erst nach Abschluss aller Hospitationen.

Die Anzahl der durchgeführten Unterrichtsbeobachtungen variierte aufgrund unterschiedlicher Hospitationsmöglichkeiten zwischen minimal fünf und maximal dreizehn Tagen von Fall zu Fall. Eine Beobachtungseinheit dauerte für gewöhnlich den ganzen Schultag, vereinzelt aber auch mehrere Schulstunden. Notiert wurden Lese- und Schreibanlässe sowie explizite Hörsituationen.

Nach Abschluss der Fallarbeit wurden die handschriftlich ausgefüllten Beobachtungsbögen digitalisiert und inhaltsanalytisch mit MAXQDA ausgewertet (Kuckartz, 2016; Mayring, 2015). Dabei wurde eine ähnliche Vorgehensweise gewählt wie zuvor in den Interviews. Das Kategoriensystem bzw. die Codings wurden a priori festgelegt. Abbildung 5.7 gibt einen Überblick über das verwendete Coding.

Abbildung 5.7
figure 7figure 7

Coding Beobachtungen. (Anmerkung: Beobachtungsbogen Lese- und Schreibaufgaben Unterrichtshospitationen Fallstudien)

Insgesamt wurden alle beobachteten Unterrichtssituationen hinsichtlich Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch, auditiv) und Effektivität (effektiv, mehr oder weniger effektiv und nicht effektiv) beurteilt. Doppel- oder sogar Dreifachcodierungen von Situationen, in denen mehrere Sinne gleichzeitig eingesetzt wurden, waren möglich. Im Gegensatz zu den Interviews wurde das Kategoriensystem der Beobachtungen nicht mehr im Verlauf der Codierung angepasst.

  • Als ‚effektiv‘ wurden Situationen bewertet, die altersgemäß, selbstständig und ohne erhöhte Anstrengung im geforderten Zeitrahmen gelöst werden konnten.

  • Als ‚mehr oder weniger effektiv‘ wurden Situationen bewertet, die praktikabel mit Hilfestellung oder starker Adaptionen gelöst werden konnten. Das Coding wurde ebenfalls verwendet, wenn eine Kombination aus effektivem und uneffektivem Verhalten vorlag oder wenn sich die Effektivität anhand der protokollierten Beobachtung nicht zweifelsfrei beurteilen ließ.

  • Als ‚nicht effektiv‘ wurden Situationen bewertet, die abgebrochen werden mussten, in denen eine übermäßige Anstrengung ersichtlich wurde, bei starken Kompetenzlücken, einem erheblichen zeitlichen Mehraufwand oder wenn gesundheitliche Langzeitschäden (z. B. Haltungsschäden) durch das Verhalten vermutet werden konnten.

Die Definitionen der einzelnen Kategorien sind an dieser Stelle nur vereinfacht dargestellt und wurden innerhalb der Pilotfallstudie gebildet. Der ausführliche Codierleitfaden mit allen Definitionen, detaillierten Codieranweisungen und Ankerbeispielen kann im Anhang B eingesehen werden (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

Der gesamte Codierprozess in den Beobachtungen gliederte sich in drei Schritte (vgl. hierzu Abbildung 5.8). Als Erstes wurden alle Unterrichtsbeobachtungen durch den Forschenden codiert. Im Anschluss und zeitversetzt wurde das Material durch eine Hilfskraft codiert. Danach konnte die Intercoder Übereinstimmung berechnet werden.

Abbildung 5.8
figure 8

Codierprozess der Beobachtungen

Die Tabelle 5.3 gibt einen Überblick über die prozentuale und zufallskorrigierte Übereinstimmung nach Brennan und Prediger (1981). Bei letzterer handelt es sich um den zufallskorrigierten Koeffizienten Kappa (κn).

Tabelle 5.3 Kennwerte Beobachtungen und Intercoder Übereinstimmung

Folgt man der Einteilung von Landis und Koch (1977, S. 165), dann kann die Übereinstimmung im Fall von Aziz als „almost perfect“ [fast vollkommen] beurteilt werden und die in den Fällen von Luca, Ismael, Tarik und Shehan als „substantial“ [beachtlich]. Auf die schwierige Interpretierbarkeit dieser Übereinstimmungswerte wurde bereits zuvor im Kontext der Interviews hingewiesen. Dennoch kann die Intercoder-Übereinstimmung hier als Hinweis gedeutet werden, dass die zugrunde liegende Codierung und Regeln unabhängig vom Coder angewendet werden konnten. In einer sich anschließenden dritten gemeinsamen Codiersituation wurde der Fokus auf die Textstellen gelegt, bei denen es keine Übereinstimmung gab. Ursächlich für viele Nicht-Übereinstimmungen waren unterschiedliche Bewertungen des handschriftlichen Schreibens und des Schreibens mit der Computertastatur. In der gemeinsamen Codiersituation konnte aber ein Konsens für alle Situationen gefunden werden. Anschließend wurden die Codieranweisungen um weitere Beispiele erweitert und präzisiert.

Die Ergebnisse aus dem gemeinsamen Coding wurden danach nach Häufigkeit und Überschneidung in MAXQDA ausgewertet und in Tabellen fallweise zusammengefasst. Zusätzlich zu den Unterrichtssituationen wurden auch die Lesezeiten im Unterricht protokolliert und Mittelwerte für einen durchschnittlichen Hospitationstag gebildet.

Aufgrund der Erkenntnisse aus den Beobachtungen kann folglich auf Lesezeiten im Unterricht geschlossen werden, auf vorhandene oder fehlende Lernangebote, auf die bevorzugte Wahrnehmungsmodalität des Lernenden sowie genutzte und ungenutzte Potenziale in den Bereichen Sehen, Tasten und Hören. Die Erkenntnisse sind für jeden Fall in Abschnitt 5.2 zusammengefasst.

Kompetenzraster im Umgang mit dem E-Buch-Standard.

Zur Einschätzung der Computer- und Screenreaderkenntnisse der Fallstudien Teilnehmenden wurde auf das Raster der Schloss-Schule Ilvesheim zurückgegriffen (Schloss-Schule-Ilvesheim, 2013). Dabei handelt es sich um ein informelles Assessment, das sich in sechs Bereiche gliedert (1. Dateien und Ordner verwalten, 2. Navigieren in Word, 3. Arbeiten in Word, 4. Arbeiten in Tabellen, 5. Formatieren in Word und 6. LaTeX als Mathematikschrift). Zusätzlich wurde das Raster um einen siebten Bereich namens Lese- und Schreibfunktionen des Screenreaders erweitert. In dem Zusatz wurden einfache Funktionen des Screenreaders und der Sprachausgabe abgefragt (z. B. das Tastenkürzel für Text vorlesen, Absatz vorlesen, Überschriften vorlesen, Sprachausgabe stoppen). Die Durchführung erfolgte nur mit den drei Fallstudienteilnehmenden in der Sekundarstufe, die bereits über mehrere Jahre Erfahrung in der Arbeit mit digitalen Unterrichtsmedien aufwiesen. Aus Zeitgründen wurde von einer praktischen Demonstration der sieben Kompetenzbereiche abgesehen. Stattdessen beantworteten die Teilnehmenden die Fragen aus dem Raster mündlich und nannten die Tastaturkürzel zur Bewältigung der jeweiligen Aufgabe. Das komplette Raster mit Erweiterungen befindet sich im Anhang B (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial). Im Anschluss an die Durchführung wurde für jeden Fall der prozentuale Anteil bereits erlernter Kompetenzen in jedem der sieben Bereiche ermittelt.

Akten.

Die Datenerhebung umfasste neben Testverfahren ebenfalls die Dokumentanalyse von Zeugnissen, Augenarztberichten, Low-Vision-Gutachten und sonderpädagogischen Gutachten. Einbezogen wurden Unterlagen aus der jeweiligen Schülerakte aber auch Dokumente, die durch die Eltern zur Verfügung gestellt wurden. Folglich stammen die Akten aus unterschiedlichen Quellen. Analysiert wurden sie mit einem Fokus auf Angaben zur Bildungsbiografie und zum Verlauf der Augenerkrankungen ebenso wie Aussagen zur Schriftnutzung oder Schriftentscheidung. Alle Erkenntnisse wurden digitalisiert und in der Falldatenbank abgespeichert. Aus der Dokumentanalyse gingen wichtige Erkenntnisse zur Vergangenheit jedes einzelnen Falles hervor.

Testverfahren aus der Kompetenzerhebung.

Aus der Kompetenzerhebung (Kapitel 4) wurden nach Möglichkeiten der Fragebogen zu den Nutzungsgewohnheiten, die informellen, standardisierten Tests zum Leseverstehen (LVG) und die Parallelform zum Hörverstehen (HVG) sowie die normierten Verfahren zur Leseflüssigkeit SLRT-II (Moll, Landerl 2014) und der Rechtschreibung HSP (May et al. 2016) durchgeführt. Keiner der Fallstudien-Teilnehmenden hatte zuvor an der Kompetenzerhebung teilgenommen. Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Testverfahren befindet sich im Kapitel Kompetenzerhebung (vgl. hierzu Abschnitt 4.1.6).

Evaluation des funktionalen Sehvermögens

Unter funktionalem Sehvermögen versteht man „[…] an individual’s ability to use his or her vision in the everyday task of real life, such as reading, doing housework, getting around independently from place to place, or enjoying a television program“ (Flom & Roanne, 2004, S. 25). Die Einschätzung des funktionalen Sehvermögens umfasst Interviews, Beobachtungen, eine allgemeinverständliche Beschreibung der Diagnose und die Einschätzung der visuellen Funktionen nach ICF-CY:

  • Sehschärfe (ICF-CY b21001),

  • Gesichtsfeld (ICF-CY b2101),

  • Kontrastsehen (ICF-CY b21022),

  • Farbsehen (ICF-CY b21021),

  • Okulomotorik (ICF-CY b2152),

  • Vergrößerung (zusätzlicher Bereich)

    (vgl. hierzu Hollenweger & Kraus de Camargo, 2017).

Gemäß Garber & Huebner 2017 ist das Verständnis der medizinischen Diagnose und der funktionalen Implikationen für Alltag und Lernen grundlegend für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung (2017, S. 53). Zudem besteht ein breiter Konsens darüber, dass das funktionale Sehvermögen bei Wahl und zur Beurteilung des Lese- und Schreibmediums erhoben werden sollte (Bell et al., 2013; Caton, 1991, S. 11; Cheadle, 1999; Corn & Koenig, 2002, S. 319; Koenig & Holbrook, 1991, S. 65, 1995, S. 56; Lang, 2009, S. 59; Lang et al., 2018, S. 81; Mangold & Mangold, 1989, S. 294; Sanford et al., 2008, S. 33).

Das Potenzial und die Grenze sowie die Angemessenheit eines Schriftmediums hängen unmittelbar mit dem funktionalen Sehvermögen zusammen, weshalb dieses eine wichtige Voraussetzung darstellt zur Bewertung der schriftsprachlichen Kompetenzen in der Schwarzschrift und somit auch für die Beantwortung der übergeordneten Forschungsfragen F1 und F3 (vgl. hierzu Abschnitt 3.3).

In der Konsequenz wurde für alle dual Schriftnutzenden in den Fallstudien eine umfassende Einschätzung des funktionalen Sehvermögens ausgearbeitet. Leitend waren dabei die Empfehlungen von Flom & Roanne (2004), Henriksen & Laemers (2016), Hyvärinen & Jacob (2011) und Sanford & Burnett (2008). Die Ergebnisse aus der Überprüfung befinden sich in voller Länge im Anhang B (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial). In zusammengefasster Form werden diese in Abschnitt 5.2 für jeden Fall einzeln dargestellt.

5.1.5 Einzelfallanalyse

Folgt man Creswell und Poth (2018), dann besteht die Analyse in Fallstudien in einer detaillierten Beschreibung des Falles und der Umgebung. In Anlehnung daran wurde in der vorliegenden Arbeit ein typisches Vorgehen gewählt, bei dem jeder Einzelfall in der Tiefe beschrieben wird (within-case-analyses) (Creswell & Poth, 2018).

Von zentraler Bedeutung ist in diesem Prozess die Methoden- und Datentriangulation (Denzin, 2017, S. 308; Flick, 2018, S. 765). Darunter versteht man die systematische Verbindung und Verknüpfung unterschiedlicher Datenerhebungen zur Beantwortung der Forschungsfragen (Denzin & Lincoln, 2018, S. 552). Gemäß Yin sollte Triangulation ein integraler Bestandteil jeder Fallstudie sein (2014, S. 119).

Die Abbildung 5.9 veranschaulicht die Auswertungsschritte für jeden Einzelfall. In einem ersten Schritt wurden die unterschiedlichen Primärdaten (z. B. Testdaten, Beobachtungsdaten, Interviewdaten usw.) nach Quellen ausgewertet. Ausführlich wurden diese Schritte bereits in Abschnitt 5.1.4 beschreiben.

Abbildung 5.9
figure 9

Daten- und Methodentriangulation in den Einzelfallanalysen

In einem zweiten Schritt erfolgte die Integration der Ergebnisse und Erkenntnisse in eine MAXQDA Falldatenbank. Dazu wurden sogenannte Dokumentvariablen vergeben. Jede Datenquelle stellte dabei ein Dokument dar, dem bei der Integration Variablenwerte zugewiesen wurden. Als Dokumentvariablen wurden definiert:

  • Dokumenttyp (Test, Interview, Beobachtung, Akten usw.),

  • Person (Schüler, Eltern, Regelschullehrkraft, sonderpädagogische Lehrkraft, Forschender),

  • Fall (Luca, Ismael, Aziz, Tarik, Shehan) und

  • Fallnummer (1,2,3,4,5).

Anhand der Variablenwerte ließen sich die Dokumente anschließend für die Analyse auswählen und filtern. Nach Rädiker und Kuckartz (2019, S. 131) stellen die Dokumentvariablen die zentrale Verbindung zwischen den unterschiedlichen Datenquellen dar und ermöglichen so weiterführende Untersuchungen. Zusätzlich wurde das Coding aus den Interviews auf das gesamte Datenmaterial ausgeweitet. Dies war möglich, weil in MAXQDA neben Textmaterial auch Zahlenmaterial und ganze Grafiken codiert werden können. In der Folge konnten Interviewaussagen mit Testergebnissen und Beobachtungen in Verbindung gebracht werden.

In Abbildung 5.10 ist ein Beispiel dargestellt. Auf der linken Seite wurde der Fall ‚Ismael‘ mit allen Datenquellen aktiviert. Dazu wurde in der Codingliste der Code ‚Brailleschrift‘ aktiviert, woraufhin auf der rechten Seite im Programmfenster von MAXQDA unterschiedliche Quellen mit dem Coding Brailleschrift dargestellt werden, z. B. die Testergebnisse zur Brailleschrift im Untersuchungszeitraum, Notizen aus den Unterrichtsbeobachtungen, Aussagen von Ismaels Mutter und der Sonderpädagogin zur Brailleschrift. Dazu werden alle Quellen angezeigt. Diese können über eine Verlinkung direkt angesteuert werden (siehe hierzu Abbildung 5.10). Yin umschreibt dieses Vorgehen, bei dem immer auf die Ursprungsquellen zurückgegriffen werden kann, als „chain of evidence“ (2014, S. 127) und sieht darin einen wichtigen Schritt zu Erhöhung der Reliabilität in Fallstudien.

Abbildung 5.10
figure 10

Zusammenführung mehrerer Datenquellen in MAXQDA

Die Vorgehensweise ist ein Beispiel, wie die Triangulation in den Einzelfällen umgesetzt werden kann. Darüber hinaus wurden weitere Funktionen aus MAXQDA genutzt, um das Datenmaterial miteinander zu vergleichen, zu verknüpfen oder zu visualisieren. Über die Interaktive Segmentmatrix wurden tabellarische Vergleiche nach Quellen und Personen durchgeführt (vgl. hierzu Abbildung 5.11). Leitend waren in diesem Prozess die Empfehlungen von Guetterman (2019). Dabei wurden Aussagen und Ergebnisse nach den zuvor festgelegten Dokumentvariablen gefiltert und in Tabellen verglichen. Basierend auf diesem Prinzip war es möglich, beispielsweise Äußerungen unterschiedlicher Personen (Schüler, Eltern, Klassenlehrperson und Sonderpädagogin oder -pädagoge) zu einem Thema (z. B. der Brailleschrift) in einer Tabelle gegenüberzustellen (vgl. hierzu Abbildung 5.11). Ein weiteres Beispiel für die Verbindung der Daten sind die time series zur Lesegeschwindigkeit (Yin, 2014, S. 150). Dabei handelt es sich um eine grafische Darstellung der Ergebnisse zur Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum in Braille- und Schwarzschrift. Die parallel zur Geschwindigkeit erhobenen Daten aus Interviews und Unterrichtsbeobachtungen ergänzen in diesem Zusammenhang die Testdaten und bieten gleichzeitig Erklärungen für Schwankungen oder Anstiege in der Lernentwicklung. In diesem Beispiel führt die Triangulation folglich zu neuen Erkenntnissen und Einsichten, die eine einzelne Datenquelle nicht hätte liefern können.

Abbildung 5.11
figure 11

Interaktive Segmentmatrix in MAXQDA

In einem letzten Schritt vier erfolgt die Verschriftlichung der Erkenntnisse und somit die Präsentation. Für Fallstudien gibt es kein festgelegtes Darstellungsformat, weshalb Yin (2014, S. 177) eine klare Organisation empfiehlt. In der vorliegenden Arbeit werden deshalb die einzelnen Fälle in Abschnitt 5.2.1 bis 5.2.5 vorgestellt. Dabei wurde eine einheitliche Präsentationsform gewählt, die nach Datenquellen und Themen geordnet ist.

Zusätzlich zu den Einzelfallanalysen wurde eine Mehrfallanalyse durchgeführt. Die Unterschiede der Teilnehmenden in Alter und Klassenstufe erschwerten jedoch die fallübergreifenden Vergleiche und Schlussfolgerungen, weshalb die Mehrfallanalyse nur wenig zur Beantwortung der Forschungsfragen beitragen konnte. Aus diesem Grund befinden sich die fallübergreifenden Analysen im Anhang C (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

5.2 Erkenntnisse aus den Fallstudien

Im Folgenden sollen die Ergebnisse der vier Fallstudien und der durchgeführten Pilotfallstudie präsentiert werden. Dazu wurde eine weitestgehend narrative Präsentationsform gewählt, bei der jedem Fall ein Kapitel gewidmet wird. Im Mittelpunkt steht dabei die Beantwortung der qualitativen Forschungsfragen aus Abschnitt 5.1.1. Jede Fallstudie startet mit einer kurzen Fallvignette, gefolgt von einer Beschreibung der wichtigsten Ergebnisse aus den Datenerhebungen. Im Anschluss erfolgt die Fallanalyse, die sich in thematische Abschnitte gliedert. Daran anknüpfend werden exemplarische Fördervorschläge für jeden Fall formuliert und Materialbeispiele vorgestellt. Das gewählte Vorgehen orientiert sich dabei an den Empfehlungen von Creswell und Poth (2018) sowie Yin (2014, S. 177).

5.2.1 Luca (Pilotfallstudie)

Bild 5.1
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Luca (Name und Bild verfremdet)

Luca ist 7 Jahre alt und besucht die 2. Klasse einer allgemeinen Grundschule. Seine Erstsprache ist Deutsch. Er interessiert sich für Technik und Mathematik und kann sich für Abenteuer und Actiongeschichten begeistern. Er wurde mit einem grauen Star geborSituation und zeigt keine offenkundigen Anzeichen en und hat als Folge einer Linsenoperation einen erhöhten Augeninnendruck in beiden Augen sowie ein starkes Augenzittern. Sein Sehvermögen hat seit seiner frühen Kindheit von .08 auf derweil <.02 abgenommen, weshalb er inzwischen als gesetzlich blind gilt. Er bevorzugt die haptische Wahrnehmung zur Informationsaufnahme, wobei er sein Sehvermögen noch immer in vielen Situationen nutzt (z. B. zur Orientierung, am iPad oder beim Zeichnen). Ausgenommen von wenigen Situationen arbeitet er in der Schule und zu Hause mit der Brailleschrift. Für seine Eltern liest er jeden Tag vor dem Frühstück eine kleine Geschichte in der Punktschrift. Seine Lernmaterialien im Unterricht sind vorrangig auf Papier und in Braille, wobei er vermehrt auch mit Braillezeile und dem Computer arbeitet. Die vergrößerte Schwarzschrift nutzt er lediglich in Mathematik und wenn er dazu aufgefordert wird (Bild 5.1).

(Anmerkung: Die Fallarbeit mit Luca wurde als Pilotfallstudie durchgeführt, um das methodische und inhaltliche Vorgehen zu erproben. Die Dauer war auf sechs Monate begrenzt und die Datenerhebungen reduziert)

structure b

Diagnose und Prognose.

Luca wurde mit einer trüben Linse (grauer Star) und fehlender Regenbogenhaut in beiden Augen geboren (Aniridie). Ursächlich für seine Erkrankung war ein Gendefekt. Um das Risiko einer Amblyopie zu reduzieren, wurde ihm wenige Wochen nach seiner Geburt eine Kunstlinse im rechten Auge operativ eingesetzt. Als eine schwerwiegende Folge der Operation trat bei ihm ein Aphakieglaukom auf, das auch als Sekundärglaukom bezeichnet wird. Darunter versteht man einen erhöhten Augeninnendruck. Bei Luca liegt dieser häufig bei 30 mmHg, während ein Normalwert zwischen 10–21 mmHg liegt (Grehn, 2012, S. 316). Dadurch kann es zu einer Schädigung des Sehnervs und in der Folge zu irreversiblen Gesichtsfeldausfällen kommen. Mit der Diagnose geht ebenfalls ein erhöhtes Erblindungsrisiko einher.

Zudem wurde bei Luca im rechten Auge ein Mikrophthalmus diagnostiziert. Das ist eine ungewöhnliche Kleinheit der Augen (Lang, G. & Esser, 2014, S. 420). In der Konsequenz ist der Augapfel verkürzt und Luca stark weitsichtig (Hyperopie). Zusätzlich hat sich bei ihm ein Augenzittern (Nystagmus) manifestiert, das sich bei Fixationen verstärkt. Aufgrund der Vielzahl an Diagnosen wurde Luca bis zu seiner Einschulung bereits über 30-mal operiert und sein Visus hat sich in der frühen Kindheit von 0.08 auf 0.017 verringert. Eine Verbesserung seines Sehvermögens ist praktisch ausgeschlossen und eine weitere Abnahme möglich (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial).

Visuelle Funktionen.

Im Zuge der Fallanalyse wurde Lucas funktionales Sehvermögen erstmals erhoben. In den Bereichen Sehschärfe, Kontrast und Okulomotorik konnten starke Einschränkungen festgestellt werden, während er in der Farbwahrnehmung keine Auffälligkeiten zeigte (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Das Gesichtsfeld konnte aufgrund der Fixationsproblematik nicht erhoben werden. Luca ähnelt in Bezug auf Umwelterfahrung, Orientierung, Begriffsbildung und Personenerkennung vielen geburtsblinden Kindern. Im Gegensatz dazu gleicht er bei der Auge-Hand-Koordination und bei Bewegungen stärker einem Kind mit hochgradiger Sehbehinderung. In der Ferne erkennt er hauptsächlich Schatten und Umrisse, aber keine Details. Im Nahbereich verkürzt er häufig den Sehabstand auf 5 Zentimeter. Sein Vergrößerungsbedarf lag im SZB-Test bei einer 12.5-fach vergrößerter Schrift, was Arial 104 Pt. (Buchstabenhöhe 26 mm) in einer Distanz von 25 cm entspricht. In Lese- und Schreibsituationen zeigte sich eine klare Dominanz des linken Auges. Des Weiteren sind Lucas Augenbewegungen starken Beeinträchtigungen in den Bereichen Fixation, Sakkaden und Folgebewegungen unterworfen. In den Testungen reagierte er empfindlich auf leichte Kontraständerungen und Blendung. Bei Aufgaben, die ausdauerndes visuelles Arbeiten erforderten, beklagte er zudem eine erhöhte Anstrengung. Eine detaillierte Beschreibung der durchgeführten Testverfahren, Beobachtungen und Interviewaussagen zum funktionalen Sehvermögen von Luca finden sich im Anhang B (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

Bildungsbiografie.

Lucas Familie erhielt bereits in den ersten Monaten nach der Geburt Unterstützung durch eine Frühförderstelle. Mit drei Jahren besuchte er einen Regelkindergarten. Zu dieser Zeit reichte sein Sehvermögen noch zur Personenerkennung aus. Während seiner frühen Kindheit nahm sein Visus stetig ab. Bereits mehrere Jahre vor der Einschulung informierten sich die Eltern über Schuloptionen und äußerten den Wunsch, Luca wohnortnah in einer allgemeinen Grundschule anzumelden. Durch die Frühförderung wurde ein Kontakt zum zuständigen sonderpädagogischen Dienst aufgebaut, der wiederum die Familie bei der Schulanmeldung und Hilfsmittelausstattung unterstützte. Die Grundschule begegnete der Anfrage mit Offenheit, woraufhin Luca mit sechs Jahren in die erste Klasse eingeschult wurde.

Entscheidungsfindung Schriftmedium.

Die Frage nach dem geeigneten Schriftmedium stellte sich bei Luca bereits im Kindergarten. Für die Sonderpädagogin in der Frühförderung war lange Zeit keine klare Tendenz erkennbar. Nachdem eine abermalige Abnahme des Sehvermögens festgestellt wurde, empfahl sie bereits zwei Jahre vor der Einschulung die Brailleschrift als Schriftmedium. Die Eltern reagierten mit Wohlwollen auf den Vorschlag. Nach eigener Aussage hatten sie zu diesem Zeitpunkt bereits selbst festgestellt, dass Luca viele Dinge nur unter Anstrengung erkennt. Bei der Schriftentscheidung war es ihnen deshalb wichtig, dass ihrem Sohn durch die Schriftwahl keine Nachteile entstehen. In der Folge äußerten sie den Wunsch, dass Luca neben der Brailleschrift auch die Schwarzschrift lernen sollte. Durch die Frühförderstelle wurde der sonderpädagogische Dienst informiert, der sich wiederum um die Hilfsmittelausstattung und Schulanmeldung kümmerte. Durch die Initiative und das Engagement der Eltern und Lucas zukünftigem Sonderpädagogen begann die Brailleförderung schon vor dem offiziellen Start der Schulzeit. Mutter und Vater lernten zusammen mit Luca in den Wochen vor der Einschulung alle Braillebuchstaben, was ihm zu Beginn der ersten Klasse einen kleinen Vorsprung sicherte. Mit dem Start des Unterrichts wurden zusätzlich bei ihm die Schwarzschriftbuchstaben im Unterricht eingeführt.

Brailleschrift.

Luca begann den formalen Schriftspracherwerb mit Computerbraille (8-Punkt-Braille) und nutzte zum Start der Fallstudie die Punktschrift bereits seit knapp 1.5 Jahren. Bei der Entscheidung über das Brailleschriftsystem vertrauten die Eltern auf das sonderpädagogische Team. Für die Mutter und den Vater war es selbstverständlich, dass sie auch die Punktschrift lernen, um ihren Sohn besser unterstützen zu können. Von Beginn an akzeptierte Luca die Brailleschrift, wobei ihm Schreibaufgaben an der Punktschriftmaschine deutlich mehr Freude bereiteten als Leseaufgaben. Zum Start der Pilotfallstudie besuchte er die zweite Klasse. In der sechsmonatigen Erhebungsphase wurde seine Lesegeschwindigkeit in der Brailleschrift an vier Terminen erhoben. Durchschnittlich erreichte er eine Geschwindigkeit von 27.5 WpM bei einer Fehlerrate von 3.9 %. In der Schule nutzte er Braille hauptsächlich auf Papier mit zunehmender Häufigkeit aber auch auf der Braillezeile. Zusätzlich las er auf Anraten der Grundschullehrerin zu Hause jeden Morgen 15 Minuten vor dem Frühstück. Anschließend bekam er eine Unterschrift in einem Lesepass und am Ende der Woche eine kleine Belohnung. In dem Schülerinterview äußerte sich Luca sehr positiv über das Angebot. Aus seinen Aussagen geht jedoch eindeutig hervor, dass seine Lesemotivation hauptsächlich extrinsischer Natur ist und er vor allem dann liest, wenn er dazu aufgefordert wird oder er eine Belohnung bekommt.

Schwarzschrift.

Diese spielte nach übereinstimmenden Aussagen in Lucas Schriftspracherwerb eine untergeordnete Rolle. Er lernte die Schwarzschrift parallel zur Brailleschrift, nutzte diese dementsprechend zum Start der Erhebungen ebenfalls seit ungefähr 1.5 Jahren. Die Buchstaben lernte er im Klassenkontext mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ohne Sehbeeinträchtigung. Zum Schreiben nutzte er für gewöhnlich Filzstifte und Lineaturen. Dazu stand ihm ein höhenverstellbarer Tisch zur Verfügung. In den wenigen Lese- und Schreibsituationen, in denen er die Schwarzschrift nutzte, konnte beobachtet werden, dass er dabei einen Sehabstand von wenigen Zentimetern wählte und das linke Auge beim Lesen dominierte. Nach eigener Aussage liest er lieber mit den Händen als mit den Augen. Praktisch finde er das visuelle Lesen nur, wenn er in Mathematik mit dem Lineal unter dem Bildschirmlesegeräte arbeite. Im Durchschnitt von zwei Messungen lag seine Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift bei 7.5 WpM bei einer Fehlerrate von 36.4 % (Abbildung 5.12).

Abbildung 5.12
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Luca beim visuellen Lesen

Hilfsmittel.

Im Erhebungszeitraum standen Luca in der Schule eine elektronische Punktschriftmaschine, ein Laptop und eine Braillezeile zu Verfügung. Die Schreibmaschine bediente er sicher. Am Computer und der Braillezeile zeigte er nach Aussagen seines Sonderpädagogen ein außergewöhnliches Verständnis, weshalb er zunehmend mehr elektronisch arbeitete. Beispielsweise beherrschte er bereits viele elementare Bedienfunktionen, wie z. B. das selbstständige Öffnen und Suchen von Dokumenten. Auf den Einsatz der Sprachausgabe wurde zum Zeitpunkt der Erhebungen noch verzichtet. Im Bereich der sehbehindertenspezifischen Hilfsmittel fiel auf, dass Luca in der Schule keine vergrößernden Hilfen nutzte. Zusätzlich hatte er zu Hause ein Bildschirmlesegerät, das er nach eigener Aussage zum Zeichnen und für kleinere mathematische Aufgaben verwendete. Dazu standen ihm im Elternhaus Laptop, Braillezeile und eine Punktschriftmaschine zur Verfügung.

Unterrichtsbeobachtungen.

Innerhalb der Pilotfallstudie konnte bei Luca an vier verschiedenen Schultagen hospitiert werden. Die protokollierten Lese- und Schreibanlässe wurden anschließend durch zwei Coder/innen hinsichtlich der Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch oder auditiv) und der Effektivität (effektiv, mehr oder weniger effektiv, nicht effektiv) beurteilt. Die Einschätzung erfolgte nach zuvor festgelegten Kriterien, die im Codierleitfaden eingesehen werden können (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Die Intercoder-Übereinstimmung lag im ersten Codierdurchgang bei 70.13 %. Für die verbleibenden Unterschiede konnte in einer gemeinsamen Codiersituation ein Konsens beider Coder/innen gefunden werden.

Tabelle 5.4 veranschaulicht die Ergebnisse des Codings.

Insgesamt wurden 33 Situationen protokolliert und 40 Codings vergeben. Für sieben Textstellen wurden Doppelcodierungen zugewiesen. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um eine Mischung aus visuell-auditivem Verhalten (z. B. begleitende Verbalisierungen zu einer Grafik).

Aus den Beobachtungen geht hervor, dass Luca in der Schule hauptsächlich haptisch arbeitete (47.5 %) und dies meistens auch effektiv, z. B. beim Lesen und Schreiben der Brailleschrift. Trotzdem nutzte er sein Sehvermögen in vielen Situationen (37.5 %). Er erkannte Farben und seine Greifbewegungen waren visuell gesteuert. Jedoch zeigten die Beobachtungen auch deutliche Grenzen. Luca erkannte keine Beschriftungen, Raumnummern, Tafelbilder oder Personen. Beim Lesen und Schreiben der Schwarzschrift verkürzte er den Sehabstand so stark, dass er bereits mit der Nase das Papier berührte. Aus den genannten Gründen bevorzugte er häufig haptische oder auditive Angebote.

Tabelle 5.4 Lucas Wahrnehmungspräferenzen im Unterricht1

Letztere waren mit 15 % am seltensten zu beobachten, wobei auch nur Situationen protokolliert wurden, die explizit das Hörverstehen zum Ziel hatten. Diese waren verhältnismäßig selten, konnten aber überwiegend effektiv von Luca gelöst werden.

Neben den Lese- und Schreibsituationen wurde auch die Nettolesezeit an den Hospitationstagen protokolliert. An einem durchschnittlich BeobachtungstagFootnote 3 las Luca 54 Minuten Brailleschrift und acht Minuten die Schwarzschrift.

Das pädagogische Team.

Lucas Sonderpädagoge hatte Blinden- und Sehbehindertenpädagogik studiert und konnte auf drei Jahre Berufserfahrung zurückblicken. In dieser Zeit hatte er bereits Erfahrungen mit einem anderen dual Schriftnutzenden gesammelt. Mit Luca arbeitete er seit dessen Einschulung zusammen. Das pädagogische Team bestand zudem aus einer erfahrenen Grundschullehrerin, die zuvor mehrere Jahre an einer allgemeinen Schule mit einem inklusivem Schulkonzept gearbeitet hatte. Zusätzlich wurde Luca von einer UnterrichtsassistenzFootnote 4 in der Schule begleitet. Die Aufgaben im Team waren klar verteilt. Die Grundschullehrerin verantwortete den täglichen Unterricht, die Assistenz erstellte Arbeitsblätter in Braille und übersetzte Texte für die Klassenlehrerin, während sich der Sonderpädagoge verstärkt um die Hilfsmittelbeantragung, die Brailleförderung und die Einführung von neuen Hilfsmitteln wie Computer und Braillezeile kümmerte. Für die direkte Förderung war der Sonderpädagoge an 1–2 Tagen pro Woche für mehrere Stunden vor Ort. Darüber hinaus beriet er die Assistenz, die Grundschullehrerin und die Eltern in sonderpädagogischen Fragestellungen. Alle Beteiligten standen in einem engen Austausch und bewerteten die Zusammenarbeit unabhängig voneinander als sehr gut.

Das Elternhaus.

Lucas Eltern waren sehr an der Förderung ihres Sohnes interessiert, weshalb sie ihn unterstützen wollten. Sie äußerten dabei einen hohen Anspruch an das gesamte pädagogische Team, übertrugen diesen aber gleichermaßen auf sich selbst. Für Mutter und Vater war es deshalb auch selbstverständlich, die Punktschrift zu lernen. Beide Elternteile waren dabei überrascht, wie einfach und schnell ihnen dies gelang. Dazu äußerten sie die klare Erwartung, dass Luca flüssig lesen lernt. Das Schriftmedium spielte für sie dabei eine untergeordnete Rolle. Gemeinsame Lese- und Vorlesesituationen waren normaler Bestandteil des Familienlebens. Darüber hinaus erkundigten sich die Eltern über Lucas Lernfortschritte und liehen über den Sonderpädagogen Bücher in Punktschrift aus. Zusätzlich förderten sie die Vorliebe ihres Sohnes für Mathematik und Hörspiele. Hinsichtlich Lucas Schwarzschriftnutzung zeigten sie eine realistische Einschätzung. Ihnen war beispielsweise bewusst, dass ihr Sohn Schwierigkeiten mit dem visuellen Erkennen der Buchstaben und Zahlen hatte. In einem minimalen Schwarzschriftzugang sahen sie dennoch einen großen Gewinn, beispielsweise in der Kommunikation mit sehenden Personen oder in Situationen, in denen Braille nicht verfügbar ist.

Bezüge zur Kompetenzerhebung.

Mit Luca wurde der Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest aus dem SLRT-II durchgeführt, der ebenfalls in der Kompetenzerhebung (vgl. hierzu Kapitel 4) angewandt wurde. In Tabelle 5.5 sind seine Ergebnisse in beiden Schriftmedien dargestellt.

Tabelle 5.5 Lucas Ergebnisse zur Leseflüssigkeit

Er erreichte im Test 18 richtige Wörter pro Minute in der Brailleschrift. Das entspricht einem Prozentrang von 17–19. Damit lag er im unteren Drittel seines Jahrgangs. In der Schwarzschrift war er erwartungsgemäß langsamer und las acht richtige Wörter pro Minute, was einem Prozentrang 1–2 entspricht.

5.2.1.1 Fallanalyse

In dem folgenden Teil sollen die zuvor vorgestellten Ergebnisse aus der Fallstudie diskutiert und interpretiert werden. Im Mittelpunkt des Abschnittes steht die Frage, wie Luca gefördert werden kann. Der Abschnitt gliedert sich in die Bereiche Wahrnehmungsvoraussetzungen, zeitliche Ressourcen, Lesekompetenzen in beiden Schriftmedien und einer Bewertung der Fördersituation.

Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Die Beurteilung der visuellen, haptischen und auditiven Voraussetzungen von Luca basieren auf den Unterrichtsbeobachtungen, den Interviews und den durchgeführten Tests zum funktionalen Sehen.

Lucas bevorzugter Wahrnehmungskanal ist haptisch. In 47.5 % der beobachteten Situationen nutzte er sein Tastvermögen überwiegend sehr effektiv. Bereits in der Vorschulzeit war offensichtlich, dass er in Zukunft die Punktschrift brauchen wird, weshalb er auch früh haptisch gefördert wurde. Durch Angebote der Frühförderung und der Eltern konnte er so Vertrauen in seine haptischen Voraussetzungen gewinnen. Nach Catton (1991, S. 17) und Barraga (1986, S. 90) ist insbesondere die frühe Förderung sehr wirksam und prägend für die späteren Präferenzen. Für sein Alter zeigt er schon ausgeprägte Taststrategien, z. B. prototypische Handbewegungen beim Lesen der Brailleschrift oder beidhändiges Tasten bei Modellen. Ein weiterer Indikator für seine gute Haptik ist die Fehlerrate beim Lesen, die in der Brailleschrift bei lediglich 3.9 % lag. D. h., Luca ist ein ausgesprochen sicherer Punktschriftleser. Hinsichtlich des Tastens scheint er sein Potenzial demzufolge schon sehr gut auszuschöpfen. Übereinstimmend berichten dazu alle interviewten Personen, dass er im Tastvermögen keine Einschränkungen zeigt.

Sein Sehvermögen nutzte Luca gemäß den Beobachtungen mit 37.5 % noch häufig, allerdings in den wenigsten Fällen effektiv. Diese Einschätzung wird durch die Testergebnisse zum funktionalen Sehvermögen bestätigt (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Mit Ausnahme vom Farbsehen zeigten sich in praktisch allen visuellen Funktionen starke Beeinträchtigungen. Aufgrund der Testergebnisse erscheint eine effektive Schwarzschriftnutzung in der Zukunft nicht möglich. Dabei ist nicht ein einziger Wert entscheidend, sondern eine Vielzahl von Faktoren (Flom & Roanne, 2004, S. 33; Hyvärinen & Jacob, 2011, S. 40). In Lucas Fall sind es neben den bereits erwähnten visuellen Funktionen vermutete Einschränkungen im Gesichtsfeld und Probleme in der Okulomotorik (z. B. bei der Fixation, Sakkaden und der Akkommodation). Zusätzlich verdeutlicht seine augenärztliche Prognose, dass sein Sehvermögen von einer weiteren Abnahme bedroht ist. Dennoch kann auch ein stark reduziertes Sehvermögen, wie das von Luca, eine wichtige unterstützende Funktion beim Lernen einnehmen (Barraga, 1986, S. 90). Das zeigt sich beispielsweise bei Luca, wenn er seine Greif- und Tastbewegungen visuell steuert und Gegenstände und Modelle visuell exploriert. Dazu kann sein Sehvermögen die Begriffsbildung, den Erwerb von Raumkonzepten sowie die selbstständige Orientierung unterstützen.

Den auditiven Zugang nutzte Luca in 15 % der beobachteten Unterrichtssituationen zumeist effektiv (siehe hierzu Tabelle 5.4). In seinem Alltag spielt sein Hörvermögen jedoch eine wichtigere Rolle, als das die Prozentangabe vermuten lässt. Luca erkannte Personen an der Stimme, orientierte sich an Geräuschen, hörte Hörspiele in seiner Freizeit, spielte am Nachmittag mit der Sprachausgabe auf einem iPad, nutzte eine Sprachassistenz im Elternhaus ebenso wie einen Audio-Pen zum Beschriften von Etiketten. In der Schule verzichtete das pädagogische Team jedoch noch auf auditive Hilfsmittel, um das Lesen stärker zu gewichten. Diese Entscheidung erscheint sinnvoll und steht im Einklang mit den Empfehlungen von Lang, wonach auf die Sprachausgabe im Anfangsunterricht noch verzichtet werden sollte (Lang et al., 2011, S. 45). Dennoch zeigte Luca im Bereich Hören sehr gut entwickelte Wahrnehmungsvoraussetzungen. Es bietet sich deshalb an, ihn in diesem Bereich weiter zu fördern, z. B. durch den verstärkten Einsatz von Hörtexten im Unterricht, die mit Lesetexten kombiniert werden könnten. Zudem erscheint es sinnvoll, früh ein aktives Zuhören zu schulen, das Luca eine gezielte auditive Informationsaufnahme ermöglicht (vgl. hierzu Abschnitt 2.4.5).

Zeitliche Ressourcen für die Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen.

Die Unterrichtsbeobachtungen ergaben eine durchschnittliche Lese- und Schreibzeit in Braille von 54 Minuten und acht Minuten Schwarzschrift pro Hospitationstag. Dabei sind die Lesezeiten im Elternhaus allerdings noch nicht mit eingerechnet. Nach einer Empfehlung von mehreren Expertinnen und Experten aus dem Bereich Brailleschrift und Low Vision werden 1–2h täglich im Anfangsunterricht als sinnvoll erachtet (Corn & Koenig, 2002, S. 311; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686). Unter Berücksichtigung von Lucas Lese- und Schreibzeiten im Elternhaus liegt er knapp am unteren Ende der Empfehlung. Prinzipiell orientierten sich seine Lesezeiten stark an denen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Insbesondere die Brailleschrift erfordert aber mehr Übungszeit, weshalb eine leichte Erhöhung um weitere 15 Minuten täglich sinnvoll erscheint. Diese wird spätestens erforderlich werden, sobald die Einführung eines zusätzliches Brailleschriftsystems (Vollschrift oder Kurzschrift) ansteht.

Lesekompetenzen in der Brailleschrift.

Die Punktschrift ist Lucas primäres Lese- und Lernmedium, welches er in allen Unterrichtsfächern, ebenso wie zu Hause in seiner Freizeit nutzt. Das bestätigten auch alle interviewten Personen gleichermaßen. Wie bereits zuvor dargelegt, erfüllt er die haptischen Wahrnehmungsvoraussetzungen zum Erlesen der Punktschrift. Rückblickend erscheint deshalb die Entscheidung des pädagogischen Teams, frühzeitig einen Fokus auf die Brailleschrift zu legen, die richtige Wahl gewesen zu sein. Das scheint auch Luca so zu sehen. In dem Schülerinterview sagte er, dass er lieber mit der Punktschrift arbeitet als mit der Schwarzschrift. Im Einklang damit stehen auch die Beobachtungen, in denen er ein hohes Vertrauen in seine haptischen Fertigkeiten demonstrierte.

Bei der Bewertung von Lucas Braillelesekompetenzen spielt die Vergleichsgruppe eine entscheidende Rolle. Bell et al. (2013), Koenig (1992, S. 283) und Swenson in Blankenship (2008, S. 208) plädieren dafür, sich an den regulären Klassennormen zu orientieren. In Lucas Fall kann das anhand der SLRT-II-Ergebnisse umgesetzt werden. Vergleicht man seine Braille Leseflüssigkeit mit der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung, dann befindet er sich im unteren Drittel seiner Klassenstufe (Moll & Landerl, 2014, 66 ff.). Das passt auch zur Beobachtung der Grundschullehrerin, die im Interview schilderte, dass Luca in gemeinsamen Lesesituationen häufig mehr Zeit brauche.

Bei der Bewertung von Lucas Braille Leseflüssigkeit sollte jedoch berücksichtigt werden, dass die Punktschrift prinzipiell deutlich langsamer gelesen wird als die Schwarzschrift (Legge, 2007, S. 34; Stanfa & Johnson, 2015). Deshalb ist es wichtig, Lucas Braillekompetenzen ebenfalls in Bezug zu anderen Braille Lernenden zu setzen. Leider existieren diesbezüglich keine Normen. Eine Gegenüberstellung mit gleichaltrigen Braille Lesenden aus der ABC Braille Studie verdeutlicht jedoch, dass Luca sich sehr gut entwickelt (Emerson et al., 2009, S. 619). Nichtsdestotrotz muss Lucas Lesekompetenz weiterhin gefördert werden. Wie die Ergebnisse der ABC Braille Studie zeigen, vergrößert sich der Abstand zwischen Braille Lesenden und der Normierungsstichprobe mit steigender Klassenstufe (Emerson et al., 2009, S. 619). Ein Trend, der so ebenfalls für Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe in der Studie Zukunft der Brailleschrift Studie bestätigt werden konnte (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 10). Um diesem entgegenzuwirken und die Abstände nicht weiter anwachsen zu lassen, sollte auch bei Luca verstärkt der Fokus auf den Bereich Leseflüssigkeit gelegt werden. Umgesetzt werden könnte dies durch die Integration evidenzbasierter Methoden, wie z. B. durch die Anwendung wiederholenden Lesens (Savaiano & Hatton, 2013) oder verschiedener Formen von Lautlesetandems (Rosebrock et al., 2017). Dabei handelt es sich um kooperative Lernformen, die zusammen mit Mitschülerinnen und Mitschülern, Eltern oder Unterrichtsassistenzen eingeübt werden können. Eine genaue Beschreibung der Ansätze findet sich in Abschnitt 2.4.1.

Sucht man nach Ursachen für Lucas gute Lernentwicklung in Braille, dann scheinen sich gleich mehrere Faktoren positiv ausgewirkt zu haben. Übereinstimmend berichten mehrere Autorinnen und Autoren von positiven Effekten der Frühzeitigkeit des Brailleschriftspracherwerbs (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 23; Stanfa & Johnson, 2015). Bei Luca wurde die Schriftfrage bereits zwei Jahre vor Schuleintritt thematisiert, weshalb er in der Folge früh auf einen Brailleschriftspracherwerb vorbereitet wurde. Dazu wirkt nach Rogers (2007, S. 130) eine gute Kooperation aller Beteiligten positiv auf die Förderung. Diese war in Lucas Fall ebenfalls sehr ausgeprägt. Zu guter Letzt spielen aber auch die Eltern eine Schlüsselrolle, die selbst die Brailleschrift gelernt haben und diese mit ihrem Sohn täglich üben. Nach Holbrook und Koenig (1992, S. 44) tragen Punktschriftkenntnisse der Eltern zu einer positiven Lernentwicklung bei, weil sich dadurch häufiger gemeinsame Lesesituationen ergeben. Darüber hinaus können diese zu einer höheren Akzeptanz des Schriftmediums bei den Lernenden beitragen.

Lesekompetenzen in der Schwarzschrift.

Die Schwarzschrift ist Lucas Zweitmedium, das seine alltäglichen schriftsprachlichen Möglichkeiten erweitern soll. Sie wurde bei ihm parallel zur Brailleschrift seit Schulbeginn eingeführt. Nach übereinstimmenden Aussagen der Grundschullehrerin und des Sonderpädagogen ist die Förderung nach Abschluss der ersten Klasse jedoch ins Stocken geraten. Das verdeutlichen auch die Unterrichtsbeobachtungen sowie die protokollierten Lese- und Schreibzeiten. Aufgrund der visuellen Wahrnehmungsvoraussetzungen (s. o.) kann zudem an der Eignung der Schwarzschrift als Lesemedium gezweifelt werden.

Seine aktuellen Lesekompetenzen in der Schwarzschrift können anhand der durchgeführten Lesetests nachvollzogen werden. Im Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest des SLRT-II erreichte er acht richtig gelesene Wörter pro Minute. Vor dem Hintergrund seiner visuellen Wahrnehmungsvoraussetzung und Lesesozialisation in der Schwarzschrift ist der Wert gut, erwartungsgemäß liegt er jedoch weit unter der Normierungsstichprobe (Moll & Landerl, 2014, S. 76). In der Brailleschrift waren seine Werte mehr als doppelt so hoch wie in der Schwarzschrift.

Im Textlesen erzielte er im Untersuchungszeitraum einen Durchschnitt von sieben Wörtern pro Minute, wobei er eine auffallend hohe Fehlerquote zeigte. Diese war beim Wortlesen im SLRT-II deutlich geringer. Die Unterschiede können ein Hinweis darauf sein, dass Luca Schwierigkeiten mit den horizontalen Augenbewegungen beim Textlesen hat. Folglich kann er zwar einzelne Buchstaben und auch Wörter erkennen, insgesamt erscheint das Textlesen jedoch nur unter starker Anstrengung möglich zu sein. Aus diesem Grund sollte das pädagogische Team die Entscheidung, bei Luca die Brailleschrift und Schwarzschrift einzuführen, überdenken und gegebenenfalls die Förderung ausschließlich in der Brailleschrift fortsetzen.

Fördersituation.

Die sonderpädagogische Förderzeit bei Luca wird nach Aussagen des Sonderpädagogen flexibel und nach Bedarf angepasst. Deshalb lässt sich keine genaue Stundenzahl beziffern. Im Untersuchungszeitraum war der Sonderpädagoge einmal pro Woche vor Ort. Eltern und Grundschullehrerin stimmten überein, dass die Zeit bislang ausreichend ist. Die Ergebnisse der Fallstudie machen jedoch deutlich, dass in naher Zukunft mehr Förderzeit erforderlich sein wird, z. B. für die Einführung neuer Hilfsmittel, zur Leseförderung oder Diagnostik. Aus diesem Grund muss das Deputat gegebenenfalls angepasst werden. Für eine Erhöhung der sonderpädagogischen Förderzeit spricht auch, dass sich die Brailleförderung nur bedingt delegieren lässt. Hierzu braucht es methodisch-didaktisch ausgebildete Fachpersonen mit guten Braillekenntnissen (Holbrook in Blankenship 2008, S. 204).

Ein weiterer Punkt, der in der zukünftigen Förderung noch ausbaufähig erscheint, ist die Versorgung mit spannenden Lesegeschichten in der Punktschrift. Im Untersuchungszeitraum lieh sich die Familie Texte und Bücher über den sonderpädagogischen Dienst aus. Die Auswahl war jedoch nicht zuletzt aufgrund von Lucas Brailleschriftsystem begrenzt. Lucas Mutter bedauerte es in den Interviews, dass sie bislang noch keine spannenden Bücher und Lesegeschichten für ihren Sohn finden konnten. Vielfach wurde auf die wichtige Rolle der Motivation beim Erlernen der Punktschrift hingewiesen (Blankenship, 2008, S. 207; Herzberg et al., 2017, S. 50; Holbrook & Koenig, 1992, S. 45; Hudelmayer, 1985, S. 138). Die Lesemotivation erfolgte in Lucas Fall hauptsächlich extrinsisch über Eltern oder Lehrpersonen, die Lucas Leseverhalten durch Lob und Belohnungen positiv verstärkten. Die Grundschullehrerin hatte beispielsweise einen Lesepass eingeführt. Für 15 gelesene Minuten bekam Luca jeweils eine Unterschrift und für sieben Signaturen durfte er sich Bastelmaterial als Belohnung aussuchen. Auf dieses Angebot reagierte er sehr positiv. Nichtsdestotrotz sollte das pädagogische Team versuchen, Luca auch intrinsisch für das Lesen zu motivieren. Dafür benötigt er eine Auswahl an Büchern, die sich an seinen Leseinteressen orientiert (z. B. über Technik, Erfindungen oder Mathematik). Falls notwendig sollten diese auch in sein Punktschriftsystem übertragen werden. Zusätzlich sollte die Familie über die Angebote von Punktschriftbibliotheken und deren Ausleihmöglichkeiten informiert werden.

Kritisch hinterfragt werden sollte bei Luca der bisherige Verzicht auf vergrößernde Hilfsmittel im Unterricht. Aus der Evaluation seines funktionalen Sehvermögens ging hervor, dass er von diesen profitieren würde. Im Untersuchungszeitraum nutzte er diese jedoch nicht im Unterricht. Zudem wurde bei Luca bis zum Ende der Fallstudie noch keine Evaluation seines funktionalen Sehvermögens durch den sonderpädagogischen Dienst durchgeführt. Aufgrund der Entscheidung des pädagogischen Teams, ihm die Schwarzschrift beizubringen, aber auch zur Verbesserung von Lucas visuellen Wahrnehmungsvoraussetzungen beim Lernen, wird dies dringend empfohlen.

In Lucas Fall ist die Förderung inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem sein Schriftmedium erneut überprüft werden sollte. Im Mittelpunkt dieses Assessments sollte die Frage stehen, ob eine weitere Fortführung der Schwarzschriftförderung für Luca gewinnbringend ist.

Anhand der erhobenen Daten lassen sich sowohl Gründe dafür als auch dagegen finden, die Lehrkräfte und Eltern diskutieren sollten. Für eine Weiterführung spricht, dass Luca bereits basale Kompetenzen in der Schwarzschrift erworben hat. Um diese für ihn nutzbar zu machen, muss er seine Fehlerrate beim Lesen noch deutlich reduzieren. Zudem sollten Anwendungsgebiete gesucht werden, in denen er seine Kompetenzen auch funktional einsetzen kann. In diesem Zusammenhang sollte erprobt werden, ob die Einführung eines Bildschirmlesegeräts im Schulkontext ihm die Buchstabenerkennung in der Schwarzschrift erleichtert. Da er dies bereits im Elternhaus nutzt, z. B. für Abbildungen in Mathematik, erscheint ein Gebrauch im Schulkontext sinnvoll. Wichtig erscheint überdies die Formulierung einer klaren Zielsetzung für das Zweitmedium. Aus den geführten Interviews ging diese nicht hervor, weshalb die Schwarzschrift immer weiter in den Hintergrund zu rücken droht.

Im Anbetracht der Ergebnisse erscheint es wahrscheinlich, dass Luca langfristig hauptsächlich die Brailleschrift nutzten wird. Ungeachtet dessen muss hervorgehoben werden, dass auch ein minimaler Zugang zur Schwarzschrift die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im Alltag stark verbessern kann (Koenig & Holbrook, 1989, S. 301). Zudem sollte die Schriftentscheidung als kontinuierlicher Prozess betrachtet werden. Eine Veränderung im Sehvermögen, aber auch in den Anforderungen oder den Präferenzen des Nutzenden kann eine erneute Überprüfung erfordern. Insbesondere bei einem parallelen Erwerb wie bei Luca kann sich nach Abschluss von Klasse eins oder zwei schon ein deutlich klareres Bild ergeben als vor Schulbeginn (Koenig & Holbrook, 2010, S. 453). Es ist deshalb gut möglich, dass eine erneute Evaluation des Schriftmediums bei Luca dazu führt, dass die Förderung nur in der Brailleschrift fortgeführt wird.

5.2.1.2 Förderempfehlungen und Schlussfolgerungen

Insgesamt ist Luca ein positives Beispiel. Seine Braille Kompetenzen entwickeln sich gut, Eltern und Lehrpersonen kooperieren im hohen Maße, bei der Schriftentscheidung wurde ein Lernweg gewählt, der viele Optionen offenhält. Zudem kommt er bislang in der Brailleschrift in den meisten Lese- und Schreibsituationen ohne Zeitverlängerung aus. Ungeklärt erscheint die Funktion und die zukünftige Rolle der Schwarzschrift.

Aus der Analyse gehen mehrere Schlussfolgerungen hervor, die für seine zukünftige Förderung als wichtig erachtet werden. Nachfolgend werden diese skizziert:

  1. 1.

    Erhöhung der Lese- und Schreibzeiten. Diese sollten in der Brailleschrift um weitere 15 Minuten täglich erhöht werden mindestens bis zum Ende der Grundschulzeit. Dazu könnte durch die Integration evidenzbasierter und kooperativer Lesemethoden die Leseflüssigkeit in Braille noch weiter gesteigert werden.

  2. 2.

    Berücksichtigung der Leseinteressen. Die Auswahl des Lesestoffs sollte auf Lucas Wünschen und Interessen beruhen. Das Angebot kann durch gezielte Textumsetzung, aber auch durch die Information und Kontaktaufnahme mit einer Punktschriftbücherei noch erweitert werden.

  3. 3.

    Überdenken der Schriftentscheidung. Bis zum Ende der zweiten Klassenstufe wird eine erneute Überprüfung der Schriftentscheidung empfohlen (z. B. mit einem Learning Media Assessment). Falls sich das pädagogische Team für eine Fortsetzung der Schwarzschriftnutzung entscheidet, sollten klare Ziele für das weitere Vorgehen formuliert werden und auch die verstärkte Nutzung vergrößernder Hilfsmittel diskutiert werden.

  4. 4.

    Evaluation des funktionalen Sehvermögens. Eine erneute Überprüfung des Schriftmediums sollte durchgeführt werden, um zu klären, ob die Förderung nur in der Brailleschrift fortgesetzt werden sollte.

  5. 5.

    Förderung der Hörkompetenzen. Es wird empfohlen, das Hörverstehen durch gezielte Übungen zu fördern und somit einen reflektierten Gebrauch bereits anzubahnen (vgl. hierzu Abschnitt 2.4.5).

5.2.1.3 Fördermaterial

Die Erkenntnisse aus der Fallanalyse waren die Grundlage für die Konzeption von ausgewählten individualisierten Lernangeboten für Luca (z. B. hinsichtlich Interessen, Schriftauswahl und Schriftvergrößerung). Diese wurden im Unterricht, in exklusiven Fördersitzungen oder bei Besuchen im Elternhaus mit ihm erprobt. Nachfolgend wird eine Auswahl an Materialien und Methoden beispielhaft beschrieben. In abgewandelter Form können diese Angebote auch bei anderen dual Schriftnutzenden angewendet werden.

Visu-taktile Angebote.

Darunter versteht man Angebote, die das Sehvermögen und den Tastsinn gleichermaßen ansprechen. Umgesetzt werden können diese durch die Kombination von Brailleschrift und Schwarzschrift, aber auch, indem vereinfachte Grafiken mit taktilen Modellen kombiniert werden. Das nachfolgende Material (vgl. Abbildung 5.13) über Haifische wurde zusammen mit einem Punktschrifttext bei Luca eingeführt. Die Überschrift wurde in vergrößerter Schrift gedruckt und der restliche Text in Lucas Hauptlesemedium der Brailleschrift. Daran anknüpfend bearbeitete Luca das Arbeitsblatt mit der Zielsetzung, den Haifischkörperteilen in der vergrößerten Schwarzschrift die richtige Bezeichnung in Braille zuzuordnen. Dazu wurden Luca die Beschriftungen in der Punktschrift auf Karteikarten gereicht. Die Aufgabe erforderte somit mehrfaches Lesen der Wörter in unterschiedlichen Schriftmedien. In Lucas Fall hatte dies einen förderlichen Lerneffekt, weil er sich die Fachbegriffe durch die Wiederholung schneller merken konnte. Anschließend wurde er noch dazu aufgefordert, die Körperteile an einem dreidimensionalen Haifischmodell zu zeigen. Luca gelang dieser Transfer mit Hilfestellung. Durch gezielte Fragen (z. B. Wie fühlt sich der Hai an? Welche Farbe hat er?) konnte er noch weiter animiert werden, sein Sehvermögen und sein Tastvermögen einzusetzen.

Abbildung 5.13
figure 13

Die Körperteile des Haifisches

Ein weiteres Beispiel für visu-taktiles Material ist die Adaption des Kinderbuches Familie Monster brüllt los (vgl. Abbildung 5.14). Der Text wurde mit der Intention erstellt, Lucas intaktes Farbsehvermögen mit einer motivierenden Lese- und Schreibaufgabe in beiden Schriftmedien zu kombinieren. Die Geschichte beginnt mit der Vorstellung von Familie Monster. Auf einem DIN-A4 Blatt wurden die Namen aller Familienmitglieder in vergrößerter Schwarzschrift geschrieben. Dazu erhielt Luca die Monster als Spielfiguren. Jedes Monster konnte eindeutig anhand der Farbe, aber auch anhand der taktilen Merkmale unterschieden werden. Zu Beginn der Übung ordnete er jeder Figur den passenden Namen in der Schwarzschrift zu und verschriftlichte diese zusätzlich handschriftlich auf Lineaturen. Anschließend las er das erste Kapitel des adaptierten Buches in Punktschrift. Eine Besonderheit stellten dabei die farbigen Markierungen am Rand dar. Diese dienten der Zuordnung der Monsterfiguren zu bestimmten Textstellen. Luca pausierte bei den Markierungen mit dem Lesen, ordnete der Textstelle die richtige Monsterfigur zu und beantwortete anschließend mündlich Fragen zu dem Abschnitt. In der Folge demonstrierte er bei der Aufgabe eine sichere Farberkennung, eine gute Auge-Hand-Koordination und gutes Textverständnis. Die Monsterfiguren konnte er schon nach kurzer Zeit haptisch und visuell unterscheiden. Bereits nach der ersten Geschichte wünschte er sich weitere Kapitel mit Monstergeschichten.

Abbildung 5.14
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Adaption Familie Monster brüllt los

Schriftmedien verknüpfen.

In Lucas Fall ließ sich sein Wissensvorsprung in der Brailleschrift nutzen, um Lücken in der Schwarzschrift zu schließen. Abbildung 5.15 zeigt ein Arbeitsblatt, das bei ihm eingesetzt wurde, um verstärkt Verknüpfungen zwischen beiden Schriftmedien herzustellen. Über den Spalten in vergrößerter Schwarzschrift steht in Computerbraille geschrieben: „Wie heißen die roten Buchstaben?“. Durch gezieltes Vergleichen und Übersetzen konnte Luca sich die Umlaute ä, ö und ü selbstständig in der Schwarzschrift erschließen. Sein Sehvermögen nutzte er in diesem Zusammenhang zum Erkennen der vergrößerten farbigen Schrift. Sein Tastvermögen diente somit der Kontrolle. Im Anschluss an die Übung entwickelte sich ein Unterrichtsgespräch über Umlaute. Luca wurde dazu aufgefordert, weitere Wörter mit den Buchstaben ä, ü und ö zu nennen. Danach verschriftlichte er diese an der Punktschriftmaschine.

Abbildung 5.15
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Arbeitsblatt zu den Umlauten in Brailleschrift und Schwarzschrift

Duale Medien erstellen.

Abbildung 5.16 zeigt einen Ausdruck in Schwarzschrift und Brailleschrift. Der Text wurde zunächst mit einem handelsüblichen Tintenstrahldrucker gedruckt und danach mit einem Brailledrucker bedruckt. Punktschrifttexte können aber auch nachträglich handschriftlich beschriftet werden. Zudem können auch Schwarzschrifttexte in eine Punktschriftmaschine eingespannt werden und somit Braille hinzugefügt werden. Alternativ können sogenannte Tigerdrucker Punktschrift und Schwarzschrift in einem Arbeitsschritt prägen und drucken. Unabhängig von der Herstellung bietet das Endprodukt vielseitige Einsatzmöglichkeiten in gemeinsamen Lesesituationen mit Mitschülerinnen und Mitschülern, im Elternhaus oder als Hilfestellung für Lehrpersonen. Insbesondere in einem Lernumfeld, das keine Brailleschrift beherrscht oder bei Akzeptanzproblemen der Eltern, ermöglichen Medien mit zweifacher Beschriftung einen einfachen Zugang. In Lucas Fall wurden die Materialien als eine willkommene Hilfestellung von den Eltern angenommen, obwohl beide Elternteile über basale Braillekenntnisse verfügten. Für Luca selbst hatte die Schwarzschrift auf den Ausdrucken keine Funktion. Er ignorierte diese und nutze stattdessen die Brailleschrift.

Abbildung 5.16
figure 16

Brailleschrift und Schwarzschrift

Leseanlässe für das Zweitmedium schaffen.

Eine weitere Möglichkeit, Schwarzschrift und Brailleschrift miteinander zu kombinieren, bieten Stöpselbretter (vgl. Abbildung 5.17). Auf einer DIN-A5 großen Karteikarte können Multiple-Choice Fragen und Antworten zu einem Text gedruckt oder geprägt werden. Zur Lernkontrolle wird die Karte anschließend in das Stöpselbrett eingelegt. Danach liest der Lernende die Fragestellung und entscheidet sich für eine Antwortmöglichkeit, indem er oder sie den Stöpsel in die Apparatur steckt. Im Falle einer richtigen Antwort lässt sich die Karte einfach entnehmen. Ist die Antwort falsch, hält der Stöpsel sie in der Apparatur. Geübte Lernende können so ihr Textverständnis auf eine motivierende Art und Weise selbstbestimmt kontrollieren. Für dual Schriftnutzende wie Luca bieten Stöpselbretter zudem eine gute Möglichkeit, beide Schriftmedien miteinander zu kombinieren. Je nach Schülerin oder Schüler kann der Anteil an Schwarzschrift oder Brailleschrift angepasst werden. Luca wurde beispielsweise zuerst ein Text in seinem Hauptlesemedium Braille angeboten. Im Anschluss erhielt er die Stöpselkarten mit den Fragen in Punktschrift und den Antwortmöglichkeiten in seinem Zweitmedium der Schwarzschrift. Je nach Schwerpunkt sind aber auch andere Variationsmöglichkeiten der beiden Schriftmedien denkbar.

Abbildung 5.17
figure 17

Stöpselbretter mit Fragen in Braille und Antworten in der Schwarzschrift

Motivierende Leseanlässe schaffen.

Eine weitere Möglichkeit, das Zweitmedium zu stärken, besteht darin, einen Sichtwortschatz mit besonders motivierenden Wörtern aufzubauen und diese auf Karteikarten zu notieren. Dieser Ansatz wurde ursprünglich von Diane Wormsley (2016) entwickelt, um Schülerinnen und Schülern mit zusätzlichen Beeinträchtigungen im Schriftspracherwerb zu unterstützen. Das Material ist hochgradig individualisiert und setzt an den Interessen des Lernenden an und kann auch auf dual Schriftnutzende übertragen werden. Wormsley beschreibt die Methode wie folgt: „The secret to success in using this approach is to be able to tell which words elicit true engagement and emotional responses from the child.“ (2016, S. 37). Im Fall von Luca erwies sich sein Name, aber auch sein Lieblingsfach oder seine Interessen als besonders motivierend. Mit zunehmender Förderdauer wuchs die Anzahl an Karteikarten und Wörtern (vgl. Abbildung 5.18). Diese wurden direkt in der Fördersituation erstellt und mit Schwarzschrift und in Braille beschriftet. Zur Unterstützung der taktilen Lesebewegung wurden mit den Punkten 2, 5 taktile Führungslinien geprägt. Zusätzlich wurde die rechte obere Ecke als Orientierungshilfe entfernt. Die fertigen Karteikarten lassen sich in verschiedenen Fördersituationen flexibel einsetzen. Sie können ritualisiert am Anfang oder Ende einer Fördereinheit genutzt werden oder als Ausgangspunkt für kreative Schreibangebote genutzt werden. Die Karten können aber auch gut in bestehende Lerntheken integriert werden.

Abbildung 5.18
figure 18

Karteikarten mit bedeutsamen Wörtern in Braille und Schwarzschrift

Fördermaterial für das Bildschirmlesegerät.

Die Medien in Abbildung 5.19 wurden mit der Intention erstellt, das Bildschirmlesegerät in Lucas Elternhaus mit ihm zusammen zu erproben. Dazu wurden DIN-A5 Karten mit unterschiedlichen Inhalten angefertigt, z. B. Text, Zahlen, Formen, Farben und BilderFootnote 5. Die Inhalte sind bewusst sehr einfach gehalten, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, in welchen Bereichen Luca das Bildschirmlesegerät potenziell nutzen kann. Prinzipiell braucht dazu jede Schülerin und jeder Schüler eine Einführung in die Gerätebedienung. Eine wichtige Voraussetzung sind grob- und feinmotorische Fähigkeiten ebenso wie Richtungsbegriffe. In Lucas Fall waren diese bereits vorhanden. Dazu erfordern die abgebildeten Materialien auch unterschiedliche Vorkenntnisse. Bei den quadratischen Bildkarten steht die Bilderkennung im Vordergrund. Diese lassen sich spielerisch einführen, z. B. mit der Frage „Was ist das?“. Gleiches gilt für die geometrischen Formen. Diese erfordern demzufolge nur sehr wenig Bedienkompetenzen, dafür aber Begriffswissen. Anders verhält es sich bei den Text-, Zahlen- und Farbkarten, die eine Bedienung des Kreuztisches am BLG erfordern. Dabei handelt es sich um eine Apparatur, auf der die Textvorlage bewegt wird. D. h., am Bildschirmlesegerät wird für gewöhnlich der Text bewegt und nicht die Augen. Das ist ein Vorteil für Schüler wie Luca, die Probleme mit der Okulomotorik haben, weil sie nur eine einzige Stelle auf dem Bildschirm fixieren müssen. Dafür erfordert die Bedienung Übung, weshalb gerade bei einer ersten Erprobung die Lehrperson Unterstützung anbieten sollte. Dabei können die Linien auf den Karten eine Hilfestellung und Orientierung sein. Leider konnte die Nutzung des Bildschirmlesegerätes mit Luca nicht mehr vor Ende der Pilotfallstudie erprobt werden.

Abbildung 5.19
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Materialbeispiele für das Bildschirmlesegerät

5.2.2 Ismael

Bild 5.2
figure 2

Ismael (Name und Bild verfremdet)

Ismael ist sechs Jahre alt und besucht zum Start der Fallstudie die erste Klasse einer Regelschule. Seine Erstsprache ist Türkisch. Die deutsche Sprache lernte er mit drei Jahren, weshalb er manchmal noch Probleme mit dem Wortschatz hat. In seinem Elternhaus werden beide Sprachen gesprochen. Er ist ein fröhlicher Junge, der gerne Geschichten schreibt, sich für Themen wie Polizei und Feuerwehr begeistern kann und sich viel bewegt. Ismael wurde mit einem kongenitalen Glaukom (erhöhter Augeninnendruck) geboren. Dies führte in der frühen Kindheit zu einer Netzhautablösung in seinem linken Auge und in der Folge zu mehreren Operationen und längeren Krankenhausaufenthalten. Inzwischen trägt er eine Prothese (Glasauge) im betroffenen Auge. Sein Visus im rechten Auge beträgt im Nahbereich .04 (20/500). Sein Sehvermögen ist Schwankungen unterworfen und die Augenärzte können keine weitere Verschlechterung ausschließen. Ismael bevorzugt den visuellen Zugang beim Lernen. An der Schwarzschrift zeigte er bereits vor der Einschulung großes Interesse. Die Schulanmeldung erfolgte mit sechs Jahren in einer wohnortnahen Grundschule. Im inklusiven Setting begleitet ihn eine Sonderpädagogin aus dem Förderschwerpunkt Sehen und eine Unterrichtsassistenz. Er ist ein guter Schüler, der gerne rechnet und sich Dinge leicht merken kann. Hilfe nimmt er vor allem bei unbekannten Aufgabenstellungen in Anspruch, mit denen er allein meistens überfordert ist. In der Schule lernt er Schwarzschrift und Brailleschrift parallel. In Lesesituationen bevorzugt er vergrößerte Schwarzschrift, während er beim Schreiben die Punktschriftmaschine favorisiert (Bild 5.2).

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Diagnose und Prognose.

Kurz nach seiner Geburt wurde bei Ismael ein erhöhter Augeninnendruck festgestellt (kongenitales Glaukom). Dieser hat zu einer Vergrößerung seines Augapfels (Buphthalmus) geführt und in der Folge zu einer sehr starken Kurzsichtigkeit (Myopie Magna). Mit zweieinhalb Jahren kam es aufgrund des Glaukoms zu einer kompletten Netzhautablösung im linken Auge. Nach Grehn (2012, S. 318) sind Menschen mit einem Glaukom einem sehr hohen Erblindungsrisiko ausgesetzt. Ismaels Prognose ist deshalb unsicher. Es kann jederzeit zu weiteren Netzhautablösungen kommen.

Visuelle Funktionen.

Eine Überprüfung des funktionalen Sehvermögens fand letztmalig 10 Monate vor dem Start der Fallstudie durch die Frühförderung statt. Eine umfangreiche Evaluation von Ismaels funktionalem Sehvermögen im Schulkontext wurde erstmals innerhalb der Fallstudie durchgeführt. Diesbezüglich zeigte sich, dass die diagnostizierten Augenerkrankungen mit einer ganzen Reihe von funktionalen Einschränkungen einhergehen. Nachfolgend werden die Testergebnisse kurz skizziert. Eine ausführliche Beschreibung von Ismaels visuellen Funktionen inklusive Testprotokollen, Implikationen für das Lernen und den Unterricht findet sich im Anhang B (siehe hierzu elektronisches Zusatzmaterial).

Der Nahvisus wurde bei Ismael mit dem LEA Near Vision Chart im Untersuchungszeitraum mehrmals erhoben. Die Normdistanz von 30 cm musste zur Testdurchführung auf 7 cm angepasst werden. Die Werte wurden anschließend umgerechnet. Sein Nahvisus lag im Mittel der Testungen bei 0.04. Er braucht deshalb eine starke Vergrößerung, die er durch eine Kombination aus Schriftvergrößerung und Annäherung meistens selbst wählt. Diesbezüglich ist seine Kurzsichtigkeit −22 Dioptrien vorteilhaft, weil sie zu einer natürlichen Vergrößerung im Nahbereich beiträgt (Flom & Roanne, 2004, S. 50). Das erklärt auch, warum Ismael im Unterricht die Brille zum Arbeiten im Nahbereich absetzt und für gewöhnlich einen Sehabstand von wenigen Zentimetern wählt.

Ismaels Vergrößerungsbedarf wurde mit dem SZB-Test zur Vergrößerung eingeschätzt. Aus diesem geht hervor, dass Ismael in einer Distanz von 15 cm von einer 12.5 Schriftvergrößerung profitiert. In der Testung reduzierte der Einsatz einer Arbeitsbeleuchtung den Vergrößerungsbedarf zudem deutlich. Als vorteilhaft erwies sich überdies die Verwendung eines Lesepults, wodurch Ismaels Körperhaltung beim Lesen deutlich verbessert werden konnte (vgl. hierzu Abbildung 5.20 und 5.21).

Abbildung 5.20
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Lesen mit Lesepult und Beleuchtung

Abbildung 5.21
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Lesen ohne Lesepult und ohne Beleuchtung

Hinsichtlich des Fernvisus war bereits aufgrund der Diagnose eine starke Beeinträchtigung erwartet worden. Zur Einschätzung des Fernvisus wurde der LEA Distance Screener verwendet. Die Normdistanz von 3 m musste für Ismael auf 26 cm angepasst und anschließend umgerechnet werden. Sein Wert von 0.02 lag nur knapp über der Grenze der gesetzlichen Blindheit. Das Ergebnis ist zudem ein Hinweis, dass sich viele Dinge seiner visuellen Wahrnehmung in der Ferne entziehen (z. B. Mimik und Gestik, Objekte außerhalb des Handtastraums, Tafelanschriebe, Schilder oder Ampeln im Straßenverkehr usw.). In vielen Lebensbereichen wird er deshalb auf Blindentechniken angewiesen sein. Ein verstärkter Förderbedarf besteht zudem in den Bereichen Begriffsbildung, Orientierung und Mobilität sowie lebenspraktische Fähigkeiten.

Das Kontrastsehen wurde mit dem LEA Low Contrast Flip Chart eingeschätzt. In der Testung reagierte Ismael empfindlich auf eine Kontrastminderung. Die Kontrastgrenze lag bei 10 %. Im Anschluss an die Testungen wurden Bemühungen unternommen, die Kontraste in seinem Lernumfeld zu verbessern, z. B. durch eine dimmbare Arbeitsbeleuchtung, Markierungen und Arbeitsunterlagen. Aufgrund der Schwierigkeiten im Kontrastsehen sollte zudem mit Ismael eine Brille mit Kantenfiltergläsern erprobt werden.

Abbildung 5.22
figure 22

Ismaels Sehvermögen vereinfacht illustriert. (Anmerkung: Der Verlauf stellt die zunehmende Abnahme des Sehvermögens in der Ferne dar)

Das Gesichtsfeld wurde bei Ismael mit dem SZB NEF-Trichter (Perimetrie) und den LEA Campimeter Sticks (Campimetrie) getestet. Aus den Testungen geht hervor, dass Ismaels Gesichtsfeld im horizontalen Bereich auf ca. 110° begrenzt ist und vertikal auf 112°. Einschränkend muss erwähnt werden, dass es sich bei Ismaels Gesichtsfeld aufgrund der Netzhautablösung im linken Auge inzwischen um ein monokulares Gesichtsfeld handelt. In den zentralen 30° wurden keine Ausfälle gemessen, worauf auch das weitgehend intakte Farbsehen hindeutet. Die Abbildung 5.22 illustriert Ismaels vereinfachtes Gesichtsfeld in Rot in Relation zu einem Gesichtsfeld ohne Beeinträchtigung in Blau. Der Verlauf stellt dabei die Abnahme der Sehschärfe in der Distanz dar. Aus der Illustration geht hervor, dass Lernmaterialien in Ismaels rechten Gesichtsfeld im Nahbereich platziert werden sollten.

Im Bereich der Okulomotorik konnten bei ihm zentrale Fixationen, genaue Sakkaden und sakkadierte Folgebewegungen mit Einschränkungen beobachtet werden. Daraus folgt, dass wichtige okulomotorische Voraussetzungen für das visuelle Lesen prinzipiell bei ihm gegeben sind. Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass er durch die starke Vergrößerung mehr Fixation und Sakkaden beim Lesen machen muss als Kinder ohne Sehbeeinträchtigung. Auf Dauer kann das zu Ermüdungseffekten führen, die ein ausdauerndes Arbeiten erschweren.

Bildungsbiografie.

Nach der Diagnose von Ismaels Sehbehinderung wurde die Familie durch das Klinikum an eine Frühförderstelle vermittelt und fortan durch eine sonderpädagogische Frühförderin beratend unterstützt. Mit zwei Jahren besuchte er einen allgemeinen Kindergarten mit der Unterstützung einer Assistenzperson. Im Verlauf der Kindergartenzeit löste sich im linken Auge die Netzhaut. Nach mehreren erfolglosen Operationen und der Erblindung des linken Auges erhielt Ismael eine Prothese. Im Alter von vier Jahren wurde die Brailleschrift als ein mögliches Schriftmedium erstmals von der Sonderpädagogin in der Frühförderung in Erwägung gezogen. Erste Angebote zur taktilen Wahrnehmung lehnte Ismael jedoch ab. Dafür zeigte er großes Interesse an Buchstaben und Zahlen in vergrößerter Form auf einer Lightbox. Seine Vorliebe für die Schwarzschrift wurde in der Folge von Eltern, Assistenz und Frühförderung unterstützt. Ein Jahr vor der Einschulung entstand ein erster Kontakt mit der zukünftigen Blinden- und Sehbehindertenpädagogin. Die Eltern favorisierten einen wohnortnahen Schulbesuch in einer allgemeinen Grundschule und wurden bei der Schulanmeldung durch die Sonderpädagogin unterstützt.

Schriftentscheidung.

Mit den Vorbereitungen der Schulanmeldung wurde auch die Frage nach dem passenden Schriftmedium aktuell. Für die schulische Sonderpädagogin war nach eigener Aussage bereits nach den ersten Besuchen bei der Familie klar, dass Ismael aufgrund seines Vergrößerungsbedarfs die Brailleschrift brauchen wird. Nach Rücksprache mit ihrem sonderpädagogischen Team entschied sie sich, Braille als alleiniges Schriftmedium einzuführen. Die Eltern reagierten mit Offenheit auf den Vorschlag. Einzig die Grundschullehrerin offenbarte in den geführten Interviews ihre anfängliche Skepsis gegenüber der Punktschrift, willigte aber ebenfalls ein. Im Anschluss startete die Sonderpädagogin mit der Hilfsmittelbeantragung. Wenige Monate später wurde Ismael mit sechs Jahren in eine wohnortnahe Grundschule eingeschult. Die Blinden- und Sehbehindertenpädagogin begann die Einführung in die Punktschrift mit einfachen Tastaufgaben. Ismael reagierte mit Irritation und Ablehnung. Selbst einfachste haptische Übungen aus der Taststraße zur Punktschrift (Lang, 2005) konnte er anfänglich nicht lösen. Daraufhin revidierte die zuständige Sonderpädagogin die Schriftentscheidung und beschloss, den Schriftspracherwerb in Brailleschrift und Schwarzschrift fortzuführen. Eltern und sonderpädagogisches Team willigten erneut ein, woraufhin der duale Erwerb startete.

Entwicklung der Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum.

Die Entwicklung der Lesegeschwindigkeit verlief im Untersuchungszeitraum in Ismaels Fall nahezu parallel in beiden Schriftmedien (vgl. hierzu Abbildung 5.23). Zum Start der Fallanalyse las er in der Schwarzschrift 11 Wörter pro Minute (WpM). Innerhalb eines Jahres steigerte er seine Geschwindigkeit auf 28 WpM. In der Brailleschrift begann er mit weniger Vorerfahrung. Im ersten Monat las er noch 5 WpM, konnte sein Lesetempo aber nach neun Monaten vervierfachen auf 20 WpM. Den Vorsprung in der Schwarzschrift holte er jedoch im Untersuchungszeitraum nicht mehr auf. Am Ende der ersten Klasse erreichte er in beiden Schriftmedien ein basales Niveau. Auf Basis der Ergebnisse kann man einen weiteren Lernzuwachs in einem ähnlichen Tempo prognostizieren.

Abbildung 5.23
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Ismaels Entwicklung der Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum

Schwarzschrift.

Bereits vor dem Start der Schulzeit hatte Ismael ein umfassendes Buchstabenwissen. Aufgrund seiner Vorerfahrungen zeigte er auch zu Beginn der Fallstudie noch einen deutlichen Vorsprung in der Lesegeschwindigkeit und eine Präferenz für das visuelle Lesen. Bei allen Messungen lag die Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift über der in Punktschrift. Seine Lesegeschwindigkeit konnte er dabei kontinuierlich steigern und seine Lernentwicklung zeigt einen positiven Trend (vgl. Abbildung 5.23). Übereinstimmend berichteten alle interviewten Personen, dass Ismael die Schwarzschrift bevorzugt zum Lesen verwendet. Allerdings merkten die Sonderpädagogin und die Grundschulpädagogin an, dass Ismaels Lesegeschwindigkeit stark von Umweltbedingungen und Schwankungen in seinem Sehvermögen abhängig ist. Dazu fehle es ihm häufig an Übersicht in der Schwarzschrift.

Überdies zeigten die Tests zur Leseausdauer, dass er seine höhere Geschwindigkeit in der Schwarzschrift nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten kann. Bei Leseaufgaben in einer Länge von elf Minuten reduzierte sich seine Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift stetig (vgl. hierzu Tabelle 4.4).

Aus den Beobachtungen geht zudem hervor, dass er im Unterricht in Lesesituationen meistens ein höhenverstellbares Lesepult nutzte. Die Lesetexte wurden ihm in starker Vergrößerung auf Papier angeboten. Ansonsten verzichtete er auf Hilfen. Im Elternhaus stand ihm zudem ein Bildschirmlesegerät zur Verfügung. In der Schule wurde nach Angaben der Sonderpädagogin aus Platzgründen auf dieses verzichtet.

Abbildung 5.24
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Ismaels Leseausdauer in Brailleschrift und Schwarzschrift

Brailleschrift.

Den ersten bewussten Kontakt mit der Punktschrift hatte Ismael mit dem Beginn der Schulzeit. Zum Start der Buchstabeneinführung verfügte er über wenige taktile Erfahrungen, weshalb er zunächst mit einfachen Tastaufgaben überfordert war und die Brailleschrift ablehnte. Erst mit zunehmender Tasterfahrung und dem Zugeständnis, auch die Schwarzschrift in der Schule zu nutzen, konnte er motiviert werden, auch die Punktschrift anzunehmen. Von Beginn an lernte Ismael Computerbraille (auch Eurobraille oder 8-Punkt-Braille genannt). Die Entscheidung wurde durch seine Sonderpädagogin getroffen und mit der Einfachheit des Systems (keine Ankündigungszeichen oder Doppelbelegungen) begründet. Dazu nannte die Lehrerin die geplante Einführung von ersten elektronischen Hilfsmitteln in Klasse zwei als Grund für die Einführung.

Die Punktschriftzeichen lernte Ismael parallel zu den Schwarzschriftbuchstaben. Aus den Beobachtungen geht jedoch hervor, dass er noch nicht alle Zeichen des Braillecodes verinnerlicht hat. Probleme zeigte er bei Umlauten, Rechen- und Satzzeichen.

Das Schreiben an der elektronischen Punktschriftmaschine bereitete ihm von Anfang an große Freude und er bevorzugte diese bei Schreibaufgaben. In Lesesituationen brauchte er jedoch gezielte Motivation und Aufforderungen. In der Punktschrift startete er mit weniger Vorerfahrung, lernte diese aber praktisch in einer ähnlichen Geschwindigkeit wie die Schwarzschrift (vgl. hierzu Abbildung 5.23). Im Gegensatz zum visuellen Lesen las er die Brailleschrift dazu ausdauernder (vgl. Abbildung 5.24).

Schreiben.

Ismael war bereits zum Zeitpunkt der Testung ein außergewöhnlich sicherer und guter Schreiber. Für einen Schüler der zweiten Klasse zeigte er bereits erstaunlich viel orthografisches Regelwissen. An der Punktschriftmaschine tippte er 75 Zeichen pro Minute (ZpM) bei einer Fehlerrate von lediglich 2 % und in der Handschrift schrieb er mit 53 Zeichen pro Minute bei einer Fehlerrate von 1 % (vgl. Tabelle 5.6). In der Handschrift hatten die Buchstaben eine Größe von ca. 2 cm. Dabei bevorzugte er dicke, schwarze Filzstifte. Seine eigene Handschrift und die von anderen Personen konnte er lesen, wenn diese größer als 1 cm waren und er den Sehabstand frei wählen konnte.

Bei Schreibaufgaben präferierte er die Brailleschrift auf der Punktschriftmaschine. In den Interviews berichteten seine Eltern, dass er in seiner Freizeit gerne kleine Geschichten an der Punktschriftmaschine tippt.

Im Untersuchungszeitraum waren der Computer und die PC-Tastatur noch nicht als Hilfsmittel eingeführt, weshalb Ismaels Spektrum an Schreibwerkzeugen noch überschaubar war (vgl. hierzu Tabelle 5.6).

Tabelle 5.6 Ismaels Schreibmedien im Vergleich

Das pädagogische Team.

Das Kernteam um Ismael bestand aus der Grundschullehrerin, einer Unterrichtsassistenz und der Sonderpädagogin. Die Grundschullehrerin verfügte über zwei Jahre Berufserfahrung und hatte im Studium ein Praktikum an einer Schule mit Förderschwerpunkt Sehen absolviert. Die Sonderpädagogin hatte Blinden- und Sehbehindertenpädagogik studiert und konnte auf 16 Jahre Berufserfahrung zurückblicken, in denen sie bereits mit einem anderen dual Schriftnutzenden gearbeitet hatte. Für die Förderung von Ismael standen ihr 10–12 Stunden pro Woche zur Verfügung, inklusive einer Stunde für Teambesprechungen. Zusätzlich hatte die Unterrichtsassistenz 20 Stunden pro Woche zur individuellen Begleitung von Ismael. In den Interviews wurde die Zusammenarbeit von allen übereinstimmend als ‚optimal‘ beschrieben. Untereinander wurde viel kommuniziert und es herrschte ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung und des Vertrauens. Die Aufgaben im Team waren klar verteilt: Die Sonderpädagogin fokussierte größtenteils auf die Punktschrift, die Regelschullehrerin stärker auf die Schwarzschrift, die Assistenz hauptsächlich auf das Aufarbeiten von Materialien und die Unterstützung der Eltern.

Das Elternhaus.

Ismael wächst zusammen mit einer Zwillingsschwester ohne Sehbeeinträchtigung und einer jüngeren Schwester mit Sehbeeinträchtigung auf. Seine Eltern stammen aus der Türkei, weshalb es ihnen wichtig war, dass er zunächst Türkisch lernt. Mit drei Jahren erwarb er die deutsche Sprache. Er spricht diese fließend und fast akzentfrei, hat aber mitunter Probleme mit dem Wortschatz. Ismaels Eltern wurden von allen Beteiligten als freundlich, engagiert und offen beschrieben. Auf die Nachricht, dass ihr Sohn die Punktschrift lernen solle, reagierten sie mit Wohlwollen. Die Braille-Förderung unterstützen sie jedoch nicht aktiv. Die Eltern begründeten ihre Zurückhaltung damit, dass sie die Punktschrift weder lesen noch schreiben können. Zu Hause hat Ismael deshalb auch keine Bücher in Braille und nur wenige Tastmaterialien. Deshalb nutzt er außerhalb der Schule hauptsächlich visuelle Angebote und die vergrößerte Schwarzschrift.

Hilfsmittelnutzung.

Ismael stehen zu Hause eine elektronische Punktschriftmaschine (Elotype), ein Bildschirmlesegerät (BLG) und eine Visolettlupe zur Verfügung. Zusätzlich benutzt er gelegentlich zum Schreiben einen Computer, bislang allerdings ohne spezialisierte Software wie JAWS oder Zoomtext. An seiner Schule hatten er und seine Lehrpersonen Zugang zu einem Punktschriftdrucker, einem Fuser für Schwellkopien, einer weiteren elektronischen Punktschriftmaschine und einem höhenverstellbaren Lesepult. Die Brailleschreibmaschine konnte Ismael seinem Alter entsprechend angemessen und ohne Hilfe bedienen. Für das nächste Schuljahr ist eine Einführung in die Computernutzung mit Braillezeile und Screenreader geplant. Eine Beratung durch ein Medienberatungszentrum hatte bereits im Untersuchungszeitraum stattgefunden. Zusätzlich standen ihm eine Vielzahl von unterstützenden Materialien zur Verfügung, z. B. Hefte mit adaptierten Lineaturen, Filzstifte, eine rutschfeste Unterlage und taktile Markierungen. Auf vergrößernde Hilfsmittel wurde bislang im Unterricht verzichtet.

Beobachtungen.

In Ismaels Fall konnte in einem Zeitraum von zwölf Monaten an 13 Schultagen in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachkunde hospitiert werden. Dabei wurden 75 Unterrichtssituationen protokolliert und hinsichtlich Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch, auditiv) und Effektivität (effektiv, mehr oder weniger effektiv, nicht effektiv) durch zwei unterschiedliche Coder/innen beurteilt. Die Bewertung erfolgte auf Grundlage von festgelegten Definitionen für jede Kategorie. Ausführlich wurde das Vorgehen bereits in Abschnitt 5.1.4 beschrieben. Doppelcodierungen waren möglich, wenn zwei Wahrnehmungskanäle in einer Beobachtung miteinander kombiniert wurden. Die Intercoder-Übereinstimmung der beiden Coder/innen lag im ersten Durchgang bei 72.92 %. Für die verbleibenden Textstellen ohne Übereinstimmung konnte in einer gemeinsamen Codiersituation ein Konsens gefunden werden. Die Ergebnisse sind nachfolgend in Tabelle 5.7 dargestellt.

Tabelle 5.7 Ismaels Wahrnehmungspräferenzen im Unterricht

Insgesamt wurden in 75 beobachteten Situationen 90 Codierungen vergeben. Dabei wurden 15 Doppelcodierungen zugeteilt. Bei diesen Situationen handelte es sich zumeist um eine Mischung aus visuell-haptischem Verhalten (z. B. Markierungen mit Buntstiften in Brailletexten, Schreiben der Punktschrift an der Elotype bei gleichzeitiger visueller Kontrolle des Geschriebenen in der Schwarzschrift auf einem Display, Übersetzungsaufgaben von der Schwarzschrift in die Brailleschrift etc.).

Die Beobachtungen verdeutlichen, dass Ismael im schulischen Kontext überwiegend visuell arbeitet (55.6 %). Als visuell und effektiv wurden Situationen bewertet, in denen er Mathematikaufgaben in der Schwarzschrift löste, handschriftlich mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern kommunizierte und farbige Markierungen erkannte. Die Grenzen der effektiven Nutzung seines Sehvermögens wurden jedoch auch in vielen Beobachtungen deutlich sichtbar. In Schwarzschrifttexten fehlte es ihm häufig an Übersicht, der Sehabstand zur Schrift betrug oft nur wenige Zentimeter und Dinge außerhalb des Handtastraums konnte er nur schwer visuell erkennen. Etwa ein Drittel der beobachteten Unterrichtssituationen (33.3 %) waren haptische Lern- und Arbeitsaufträge. Als effektiv wurden diesbezüglich seine Schreibgeschwindigkeit an der Punktschriftmaschine, das beidhändige Tasten bei Leseaufgaben und das Arbeiten mit taktilen Markierungen in Brailletexten beurteilt. Dennoch zeigte sich in diesem Bereich, dass er noch nicht sein ganzes Potenzial ausschöpft. Mit dem Erkennen einzelner Zeichen (z. B. Satzzeichen, Umlaute und Zahlen) hatte er Probleme und auch im Umgang mit taktilen Modellen zeigte sich, dass er das systematische Tasten noch erlernen muss. Mit zunehmender Übung wird sich dies vermutlich ändern. Im auditiven Bereich konnten die wenigsten Lernsituationen beobachtet werden (11.1 %). In Hörsituationen arbeitete Ismael nur teilweise effektiv. Insbesondere beim Zusammenfassen von Hörtexten und dem Wiedergeben von verbalen Arbeitsanweisungen hatte er noch Probleme.

Zusätzlich zu den Unterrichtssituationen wurde auch die Lesezeit in den unterschiedlichen Schriftmedien protokolliert. Dabei ergab sich ein ausgeglichenes Bild. An einem gewöhnlichen HospitationstagFootnote 6 las Ismael 28 Minuten die Schwarzschrift und 26 Minuten die Brailleschrift.

Bezüge zur Kompetenzerhebung.

In Tabelle 5.8 werden Ismaels Lesekompetenzen in Bezug zur Normierungsstichprobe aus dem SLRT-II und den Testergebnissen der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung gesetzt (vgl. hierzu Kapitel 4). Aufgrund von Unterschieden im Alter und der Braille Nutzungsdauer ist die Vergleichbarkeit mit den dual Schriftnutzenden starken Einschränkungen unterworfen. In Ermangelung von Normwerten von gleichaltrigen dual Schriftnutzenden werden sie nachfolgend dennoch aufgeführt.

Tabelle 5.8 Ismaels Leseflüssigkeit im SLRT-II im Vergleich

In der Brailleschrift erreichte Ismael im Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest 15 korrekte WpM, was einem Prozentrang von 17 entspricht. In der Schwarzschrift erreichte er durchschnittlich 23 korrekte WpM, was einem Prozentrang von 23 gleichkommt. In anderen Worten, 17 % bzw. 23 % des Jahrganges lesen gleich schnell oder langsamer als Ismael.

Mit dem zweiten Testverfahren in Tabelle 5.8 aus der Kompetenzerhebung wurde Ismaels Lesegeschwindigkeit im Textlesen mit dem Leseverstehen und Geschwindigkeitstest (LVG) erhoben. In der Punktschrift las er im Mittel 20 WpM und in der Schwarzschrift 28 WpM.

5.2.2.1 Fallanalyse

Auf die Darstellung von Ismaels Ergebnissen aus der Fallstudie folgt in diesem Teil die Diskussion seiner schriftsprachlichen Kompetenzen. Dazu werden die Erkenntnisse zu seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen, den zeitlichen Ressourcen, den Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien sowie seiner Fördersituation diskutiert und Förderempfehlungen abgeleitet.

Beurteilung der Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Die visuellen, haptischen und auditiven Voraussetzungen von Ismael wurden in mehreren Datenerhebungen erhoben. Aus den Ergebnissen können wertvolle Erkenntnisse über das Lern- und Schriftmedium gewonnen werden (Koenig & Holbrook, 1989, S. 298).

Nach übereinstimmenden Aussagen aus den Interviews präferiert Ismael die visuelle Wahrnehmung im Alltag und beim Lernen. Diese Feststellung steht im Einklang mit der Beobachtung, wonach er in 55.6 % der protokollierten Unterrichtssituationen visuell arbeitete (vgl. hierzu Tabelle 5.7). Die Dominanz ist angesichts der Beeinträchtigungen in den Bereichen Visus, Gesichtsfeld, Kontrastsehen und Okulomotorik erstaunlich (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Seine Sonderpädagogin erklärt seine Vorliebe mit einer einseitig visuell ausgerichteten Förderung in der Vorschulzeit. Nach Barraga (1986, S. 85) sind frühe sensorische Erfahrungen maßgeblich und vorbestimmend für spätere Präferenzen, weshalb die These der Lehrerin plausibel erscheint. Nach Koenig und Holbrook (1995, S. 37) ist ein stärkerer Fokus auf visuelle Angebote nicht ungewöhnlich. Sie warnen jedoch davor, daraus eine prinzipielle Überlegenheit der visuellen Wahrnehmung für alle Lernprozesse abzuleiten. Entscheidend für die Beurteilung von Lese- und Schreibprozess ist vielmehr die Effektivität im Nahbereich (Koenig & Holbrook, 1989, S. 299). Aus übereinstimmenden Erkenntnissen aus Unterrichtsbeobachtungen und zum funktionalen Sehvermögen geht hervor, dass dies bei Ismael nur teilweise der Fall ist. Er erkennt nur stark vergrößerte Schriftzeichen, nutzt einen sehr kurzen Sehabstand, ist sensibel für Kontraständerungen und zeigt eine erhöhte Anstrengung bei ausdauernden visuellen Tätigkeiten (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Um sein Sehvermögen möglichst effektiv zu nutzen, braucht er in der Konsequenz Anpassungen in mehreren Bereichen. Laut Testung sollte die Schriftgröße mindestens 1.5 cm betragen. Dazu lassen sich der Sehkomfort, die Vergrößerungsreserve und die Kontraste durch eine Arbeitsplatzbeleuchtung deutlich verbessern (vgl. hierzu Abbildung 5.20 und Abbildung 5.21).

Zusätzlich sollte er sein Lese- und Schreibpult regelmäßig nutzen, um seine Körperhaltung beim Arbeiten im Nahbereich zu verbessern und somit einer übermäßigen Anstrengung vorzubeugen. Die Ausführungen machen deutlich, dass Ismael eine professionelle Anleitung braucht, um sein beeinträchtigtes Sehvermögen möglichst effektiv zu nutzen. In diesem Kontext ist eine jährliche Evaluation seines funktionalen Sehvermögens grundlegend für seine weitere visuelle Förderung, die Ableitung von pädagogischen Maßnahmen und zur Verlaufsdokumentation der Augenerkrankung (Winter et al., 2019, S. 105). Zudem ist aus einer ressourcenorientierten Perspektive selbst ein beeinträchtigtes Sehvermögen, wie das von Ismael, eine wertvolle Unterstützung beim Lernen, bei der Begriffsbildung oder der Orientierung (Barraga, 1986, S. 90; Koenig & Holbrook, 1989, S. 301). Deshalb sollte er auch weiterhin dazu ermutig werden, sein Sehvermögen zu nutzen.

Nichtsdestotrotz müssen bei der Bewertung Ismaels perzeptiver visueller Voraussetzungen auch die vergangene und zukünftige Entwicklung berücksichtigt werden. Rückblickend zeigt sich, dass sein Sehvermögen bislang stetig abgenommen hat. Eine weitere Verschlechterung ebenso wie ein plötzlicher Abfall des Sehvermögens können daher nicht ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund muss langfristig und graduell an Ismaels haptischen und auditiven Voraussetzungen gearbeitet werden (Barraga, 1986, S. 90).

Hinsichtlich Ismaels haptischer Wahrnehmungsvoraussetzungen berichten alle interviewten Personen, dass er in der frühen Kindheit wenige Gelegenheiten hatte, spielerisch Tasterfahrungen zu sammeln. Prinzipiell werden reichhaltige und bedeutsame multisensorische Angebote für alle Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung empfohlen (Barraga, 1986, S. 85; Caton, 1991, S. 17; Koenig & Holbrook, 1995, S. 16; Tanni, 2017, S. 296). Folgt man Lang (2003, S. 123), dann ermöglicht die haptische Wahrnehmungsförderung eine vielfältige Informationsaufnahme, handwerklich-ästhetische Bildung, Begriffsbildung und die Nutzung taktiler Schriftmedien. Ismael hatte diesbezüglich zum Zeitpunkt seiner Einschulung wenige Vorerfahrungen, weshalb es nicht erstaunt, dass er die Punktschrift zunächst ablehnt. Durch niedrigschwellige und vielfältige Tastangebote sowie durch konsequente Motivation durch die Sonderpädagogin hat er seither kontinuierlich Vertrauen in seine haptische Wahrnehmung entwickelt. Demnach bestätigt sich, dass sich die Wahrnehmungsvoraussetzungen durch gezielte Angebote und Übungen verbessern lassen (Lang, 2003, S. 83; Legge, 2007, S. 88). Um das Potenzial einer Schülerin oder eines Schülers einschätzen zu können, müssen deshalb oftmals erst Angebote über einen längeren Zeitraum geschaffen werden, weshalb auch nicht vorschnell von einer Wahrnehmungspräferenz auf das Schriftmedium geschlossen werden sollte (Koenig & Holbrook, 1995, S. 41). In Ismaels Fall geht aus den Beobachtungen hervor, dass er etwa ein Drittel der Unterrichtsangebote haptisch und effektiv bearbeitete (vgl. hierzu Tabelle 5.7). Er hatte keine Probleme mit dem Erkennen von unterschiedlichen Oberflächen, er tastete überwiegend mit zwei Händen und erkannte den Großteil aller Punktschriftzeichen sicher. Das Klassenzimmer kann als tastfreundliche Lernumgebung mit Braillebeschriftungen, Punktschriftbüchern, taktilen Bildern und Modellen bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu fehlten diese Erfahrungsmöglichkeiten im Elternhaus, was es Ismael erschwerte, außerhalb des Klassenzimmers taktile Erfahrungen zu sammeln. Nach Vacca et al. (2015, S. 235) ist eine anregende Lernumgebung in der Schule ebenso wie zu Hause eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Lernprozess. Deshalb wird empfohlen, dass das pädagogische Team die Eltern diesbezüglich beratend unterstützt und Materialien zur Verfügung stellt, damit Ismael auch zu Hause Tasterfahrungen sammeln kann. Im Gegensatz zum Sehvermögen ist sein Tastvermögen von keiner Abnahme bedroht, weshalb diesem Zugang hinsichtlich zukünftiger Lese- und Schreibmöglichkeiten ein größeres Potenzial zugeschrieben wird.

Hinsichtlich der auditiven Wahrnehmungsvoraussetzungen zeigt sich wie schon zuvor in dem Bereich der Haptik, dass Ismael diesbezüglich bislang über wenige Erfahrungen verfügt. Im Gegensatz zum haptischen Zugang wurden die auditiven Voraussetzungen bisher auch noch nicht gezielt gefördert. Das ist nicht erstaunlich, denn Hörkompetenzen werden häufig vorausgesetzt, aber selten eingeübt (Koenig & Holbrook, 2000, S. 690). Darüber hinaus sind Hörkompetenzen grundlegend im Schriftspracherwerb, weshalb viele Autorinnen und Autoren die Förderung empfehlen (Barclay, 2012, S. 17; Koenig, 1992, S. 278; Koenig & Holbrook, 2000, S. 690). Ismael nutzte in ungefähr 11 % der beobachteten Unterrichtssituation sein Hörvermögen. Diese Zahl gibt aber nicht annähernd die Bedeutung des Hörens im Unterricht wieder, weil dieses grundsätzlich in fast allen Situationen eine Rolle spielt. Nach den Beobachtungen setzt Ismael sein Hörvermögen bislang nur teilweise effektiv ein (vgl. hierzu Tabelle 5.7). Erschwerend wirkt dabei, dass er die deutsche Sprache erst mit drei Jahren gelernt hat und zu Hause wenig Deutsch spricht. Dennoch ist sein Sprachausdruck bereits sehr gut, man sollte aber nicht den Fehler machen, davon auf sein Sprachverstehen zu schließen (Grimm, 2012, S. 108). Gerade bei mündlichen Arbeitsanweisungen ist er schnell überfordert. Nach Aussagen der Mutter und der Sonderpädagogin zeigt er zudem bislang wenig Interesse an auditiven Angeboten wie Hörspielen. Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass er hinsichtlich des Hörens speziell gefördert werden sollte. Nicht zuletzt deshalb, weil auditives Lernen in den unterschiedlichsten Formen für Menschen mit Sehbeeinträchtigung eine wichtige Unterstützung darstellt (Barraga, 1986, S. 94). Vorschläge und Ideen, wie diese Förderung konkret ausgestaltet werden kann, finden sich im theoretischen Teil der Arbeit (vgl. hierzu Abschnitt 2.4.5). Zusätzlich werden im nachfolgenden Abschnitt Fördermaterialien vorgestellt, die speziell für Ismael zur Verbesserung seiner Hörkompetenz entwickelt wurden (vgl. hierzu Abschnitt 5.2.2.3).

Zeitliche Ressourcen für die Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen.

Hinsichtlich der Förderzeit gab es in der Schule bei den beobachteten Lese- und Schreibzeiten fast ein Gleichgewicht. In der Schwarzschrift lag die durchschnittliche Lesezeit bei 28 Minuten und in der Brailleschrift bei 26 Minuten. Im Gegensatz zur Punktschrift kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Ismael zu Hause noch weitere Leseanlässe in der Schwarzschrift hat. Aber auch unter Berücksichtigung aller protokollierten Zeiten liegt er bei der Förderzeit am unteren Ende der Empfehlung aus zwei Studien, wonach dual Schriftnutzende am Anfang des Schriftspracherwerbs ein bis zwei Stunden täglich lesen und schreiben sollten (Corn & Koenig, 2002, S. 315, 2002, S. 315; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686). Summiert man Ismaels Lese- und Schreibzeiten in beiden Schriftmedien, kommt man auf ungefähr eine Stunde täglich. Damit unterscheidet er sich nicht von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Der einzige Unterschied besteht darin, dass sich in seinem Fall die Förderzeit auf zwei Schriftmedien aufteilt. Es wird deshalb dafür plädiert, seine Lese- und Schreibzeiten in der Brailleschrift und Schwarzschrift zu erhöhen. Dies erscheint sinnvoll, denn aus der Forschung ist bekannt, dass sich eine frühe und möglichst intensive Förderung bei dual Schriftnutzenden auszahlt (Winter et al., 2019, S. 103). Dazu erfordert der Erwerb der Brailleschrift immer einen zeitlichen Mehraufwand (Jennings, 1999, S. 15). Holbrook und Koenig (1992, S. 45) schätzen, dass die parallele Aneignung, wie in Ismaels Fall, ungefähr 25 % mehr Förderzeit verlangt als der Erwerb eines einzigen Schriftmediums. Dementsprechend wird eine Erhöhung der täglichen Lese- und Schreibzeiten um 15–30 Minuten empfohlen. Davon könnte die Hälfte am Vormittag und die andere Hälfte am Nachmittag oder Abend in der Familie angesetzt werden. Bereits während der Fallstudie wurde deshalb verstärkt nach Möglichkeiten gesucht, Ismaels Lesezeiten in der Punktschrift außerhalb der Schule zu erhöhen. Einige Ideen werden nachfolgend im Bereich Fördermaterialien vorgestellt (vgl. hierzu Abschnitt 5.2.2.3).

Lesekompetenz in der Schwarzschrift.

Nach übereinstimmenden Aussagen ist die Schwarzschrift aktuell das präferierte Lesemedium von Ismael. Diese Feststellung steht im Einklang mit der Beobachtung, dass er in der Schule überwiegend visuell arbeitet.

Seine aktuellen Lesekompetenzen in der Schwarzschrift können am besten anhand der Ergebnisse aus dem Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest mit Gleichaltrigen verglichen werden (vgl. hierzu Tabelle 5.8). Diesbezüglich zeigt sich, dass Ismael sich im unteren Drittel seines Jahrganges befindet (Moll & Landerl, 2014, S. 75–80). Nach den Aussagen seiner Grundschullehrerin fällt er bislang im Klassenkontext aber noch nicht auf, weil die Spanne zwischen guten und weniger guten Leserinnen und Lesern sehr groß ist.

Eine zusätzliche Orientierung liefern seine erzielte Lesegeschwindigkeit im Leseverstehen und Geschwindigkeitstest (LVG) und der Vergleich mit den Daten aus der Kompetenzerhebung (vgl. hierzu Tabelle 5.8). Im Schnitt las Ismael die Schwarzschrift im Test mit 28 WpM, während die dual Lesenden der Untersuchung einen Mittelwert von 72.42 WpM erzielten (vgl. hierzu Tabelle 5.8). Die Werte sind aufgrund des sehr unterschiedlichen Alters und der Nutzungsdauer nur bedingt vergleichbar. Im Mittel waren die dual Schriftnutzenden in der Kompetenzerhebung 16.5 Jahre alt (vgl. hierzu Tabelle 4.1), während Ismael erst sieben Jahre alt war. Die Daten aus der Kompetenzerhebung können dennoch hilfreich sein, um Ismaels potenzielle weitere Entwicklung zu schätzen. Gesetzt den Fall, dass er den positiven Trend in der Schwarzschrift fortsetzt, sollte er in zwei bis drei Jahren in der Schwarzschrift ebenfalls mit etwa 70 WpM lesen. Er wäre dann immer noch deutlich jünger als die meisten Studienteilnehmenden der Kompetenzerhebung. Einschränkend muss jedoch hervorgehoben werden, dass niemand wissen kann, wie sich Ismaels visuelle Wahrnehmungsvoraussetzungen weiterentwickeln und wie stark sie sein Lernen beeinflussen werden.

Bezieht man ebenfalls die Entwicklung aus den vergangenen zwölf Monaten in der Schwarzschrift ein, dann zeigt sich ein sehr positiver Trend (vgl. hierzu Abbildung 5.23). Im Untersuchungszeitraum stieg seine Lesegeschwindigkeit kontinuierlich von 11 auf fast 29 Wörter an. Das entspricht einem monatlichen Zuwachs von 1.5 Wörtern. Im Untersuchungszeitraum wurde dazu noch die Lesefehlerrate erhoben. Diese gibt den prozentualen Anteil an Verlesungen wieder und sollte nach Krug und Nix (2017, S. 62) unter 5 % liegen, damit sinnentnehmendes Lesen möglich ist. Bei Ismael lag diese in der Schwarzschrift bei 1.3 %. Daraus folgt, dass er diese trotz Sehbeeinträchtigung sicher liest.

Darüber hinaus ermöglicht eine Gegenüberstellung von Ismaels Lernzuwachs mit den Normen von Hasbrouck und Tindal (2017, S. 10) eine Prognose, wie sich die Lesegeschwindigkeit im Vergleich zu den Mitschülerinnen und Mitschülern in Zukunft weiterentwickeln wird. Folgt man den beiden Autoren, dann steigern Schülerinnen und Schüler der 2. Klasse ohne Sehbeeinträchtigung ihre Geschwindigkeit im Durchschnitt um 6.4 Wörter pro Monat (Hasbrouck & Tindal, 2017, S. 10). D. h., dass trotz einer guten Lernentwicklung von Ismael die Unterschiede zu den Mitschülerinnen und Mitschülern anwachsen werden (vgl. hierzu auch Abschnitt 2.4.1).

Neben der Leseflüssigkeit und Lesegeschwindigkeit wird auch immer wieder die Leseausdauer als ein Grund genannt, weshalb Schülerinnen und Schüler ein zweites Schriftmedium lernen sollen (Herzberg et al., 2017, S. 49; Lusk & Corn, 2006a, S. 615). In Abbildung 5.24 wurde bereits im Ergebnisteil Ismaels Leseausdauer innerhalb von elf Minuten dargestellt. Die Daten wurden im ersten Drittel des Untersuchungszeitraumes erhoben. Aus diesem Grund fallen die durchschnittlichen Lesegeschwindigkeiten in beiden Schriftmedien niedriger aus als bei anderen Messungen. Ebenso zeigte sich bei der Leseausdauer, dass Ismael die Schwarzschrift aktuell noch schneller liest als die Brailleschrift. Mit zunehmender Lesedauer werden die Unterschiede jedoch geringer. Dazu verdeutlicht die Messung, dass Ismaels Geschwindigkeit in der Schwarzschrift großen Schwankungen unterworfen ist. Die Trendlinie veranschaulicht zudem, dass die Leseleistung mit zunehmender Zeit abnimmt. Damit bestätigt sich die Vermutung aus der Testung zum funktionalen Sehen, wonach Einschränkungen bei visuell ausdauernden Aufgaben bei Ismael aufgrund seiner Okulomotorik angenommen wurden (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial).

Aus der Gesamtschau von Ismaels Schwarzschriftkompetenzen geht hervor, dass er diese schneller lernt und liest als die Brailleschrift und weniger Lesefehler macht. Dazu ist er sehr motiviert, diese zu nutzen. Nachteilig wirkt, dass seine Leseleistung bei längeren Texten stark schwankt und mit zunehmender Dauer abnimmt. Dazu erschwert die starke Schriftvergrößerung seinen Textüberblick, weshalb die Brailleschrift schon jetzt in vielen Lese- und Schreibsituation eine gute Alternative bietet. Gleichzeitig könnte die Einführung eines Bildschirmlesegeräts im schulischen Kontext für Entlastung sorgen und Ismael neue Zugänge eröffnen.

Lesekompetenz in der Brailleschrift.

Die Bewertung von Ismaels Lesekompetenzen in der Brailleschrift ist erschwert, weil es kaum Vergleichsdaten von dual Schriftnutzenden in der Grundschule gibt, die wie er zwei Schriftmedien parallel gelernt haben. Um seine Kompetenzen dennoch bewerten zu können, werden (1) Daten von nur Braille Lesenden aus der zweiten Klasse sowie (2) Daten von Schülerinnen und Schülern aus der zweiten Klasse ohne Sehbeeinträchtigung herangezogen. Darüber hinaus werden (3) seine Ergebnisse mit einer Gruppe von älteren dual Schriftnutzenden hinsichtlich der Lernentwicklung verglichen.

Im Vergleich mit den nur Braille Lesenden der 2. Klasse in der ABC Braille Studie liegen Ismaels Braille Lesekompetenzen im Durchschnitt (Emerson et al., 2009, S. 619). Berücksichtigt man dabei, dass er neben der Brailleschrift auch die Schwarzschrift erlernt hat, ist das eine sehr gute Leistung.

Dazu zeigen die Ergebnisse aus dem SLRT-II, dass er mit einem Prozentrang von 17 im Bereich Leseflüssigkeit noch knapp im Durchschnittsbereich der Normierungsstichprobe der 2. Klasse ohne Sehbeeinträchtigung liegt (Moll & Landerl, 2014, S. 75–80). Vor dem Hintergrund, dass visuelles Lesen etwa dreimal schneller ist als Braille-Lesen, ist das ebenfalls ein gutes Ergebnis (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 10; Hudelmayer, 1985, S. 131; Lang, 2003, S. 151).

Das gleiche Testverfahren wurde mit den dual Schriftnutzenden in der Kompetenzerhebung durchgeführt (vgl. hierzu Kapitel 4). Aufgrund der Teilnahmebestimmungen waren diese im Schnitt mit 16.5 Jahren deutlich älter. Dazu nutzten sie die Brailleschrift bereits seit 5.7 Jahren. Demgegenüber war Ismael erst sieben Jahre alt und lernte die Punktschrift seit 1.5 Jahren. Diese Unterschiede führen dazu, dass die Werte in Tabelle 5.8 nur mit Vorsicht interpretiert werden sollten. Bei der Betrachtung der Daten fällt auf, dass die Lücke zwischen Ismael (15 richtig gelesene WpM) und den wesentlich älteren dual Schriftnutzenden der Kompetenzerhebung (19.85 richtige WpM) beim Wortlesen im SLRT-II sehr gering ausfällt, was in Anbetracht von Ismaels Alter und Braillenutzungsdauer ein Anzeichen für eine sehr gute Lernentwicklung ist. Auf Basis der berichteten Werte im Textlesen (LVG) und unter Einbezug der Braillenutzungsdauer kann zudem der durchschnittliche Lernzuwachs pro Monat berechnet werden. Dieser lag für die dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung bei 0.56 Wörtern pro Monat und für Ismael bei 1.11 Wörtern pro Monat. Demzufolge lernt er die Brailleschrift fast doppelt so schnell wie die meisten dual Schriftnutzenden aus Kompetenzerhebung.

Vergleicht man hingegen Ismaels monatlichen Lernzuwachs mit den Werten von Schülerinnen und Schülern der 2. Klasse ohne Sehbeeinträchtigung, die nach Hasbrouck und Tindal (2017, S. 10) im Durchschnitt ihre Lesegeschwindigkeit in der zweiten Klasse um 6.4 Wörter pro Monat steigern, dann fällt auf, dass diese wesentlich schneller eine hohe Lesegeschwindigkeit aufbauen (vgl. hierzu auch Abschnitt 2.4.1). Daraus folgt, dass Ismael zwar bislang mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern noch knapp mithalten konnte, dies aber in Zukunft schwerer werden wird. Das geht gleichermaßen aus der ABC Braille Studie hervor (Emerson et al., 2009, S. 619), in der die Abstände zwischen Braille Lesenden und Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung ab Klasse zwei deutlich anstiegen.

Folglich fällt die Bewertung der Lesekompetenzen je nach Bezugsgruppe unterschiedlich aus. Die Differenz zu den Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung in der Stichprobe bei Moll und Landerl (2014, 66 ff.) oder Hasbrouck und Tindal (2017, S. 10) sollte dabei nicht überbewertet werden. Für einen Schüler mit Sehbeeinträchtigung sind die Abstände zu den Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung normal. Vor dem Hintergrund von Ismaels individuellen Lernvoraussetzungen und der Tatsache, dass er zwei Schriftmedien parallel lernt, kann seine bisherige Lernentwicklung als sehr gut beurteilt werden.

Besonders anschaulich wird dies in der Langzeiterhebung zur Lesegeschwindigkeit über zwölf Monate (vgl. hierzu Abbildung 5.23). Allein im Untersuchungszeitraum steigerte er seine Lesegeschwindigkeit von 5 WpM auf 20 WpM. Das ist ein sehr positiver Trend, der maßgeblich vom pädagogischen Team vorangetrieben wurde.

Im Unterschied zur Schwarzschrift lag seine Fehlerrate in der Brailleschrift im Untersuchungszeitraum bei 6.5 %. Dieser Wert deutet darauf hin, dass er noch vereinzelt Probleme hat, Braillezeichen zu erkennen. Er liegt aber nur knapp über der von Krug und Nix empfohlenen Grenze von 5 % (Krug & Nix, 2017, S. 62). Eine detaillierte Analyse seiner Lesefehler in Braille verdeutlicht jedoch, dass er diese im Untersuchungszeitraum kontinuierlich senken konnte. Mit steigender Lesepraxis in der Punktschrift kann deshalb davon ausgegangen werden, dass er seine Fehler noch weiter minimieren wird.

Jeder Monat zusätzliche Lernzeit erscheint kostbar. Speziell für Ismael verdeutlicht die Gegenüberstellung, dass trotz einer positiven Lernentwicklung der Abstand zu den Mitschülerinnen und Mitschülern anwachsen wird. Folglich muss auch die Erwartungshaltung angepasst und bald über einen Nachteilsausgleich in Form von Zeitzugaben bei Lese- und Schreibaufgaben diskutiert werden. Zudem sollten Anstrengungen unternommen werden, seine Leseförderung zu intensivieren, z. B. mithilfe von evidenzbasierten Methoden. Eine Auswahl möglicher Ansätze wurde bereits im theoretischen Teil vorgestellt (vgl. hierzu Abschnitt 2.4.1).

Neben der Lesegeschwindigkeit, der Fehlerrate und dem Lerntempo ist auch die Leseausdauer ein wesentlicher Faktor bei der Beurteilung der Lesekompetenz. Die Ergebnisse zur Leseausdauer veranschaulichen, dass die Schwankungen in der Geschwindigkeit in Braille niedriger ausfallen als in der Schwarzschrift (vgl. hierzu Abbildung 5.24). Dazu sinkt die Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift mit zunehmender Lesedauer, während sie in der Brailleschrift stabil bleibt. Ermüdungseffekte treten bei Ismael folglich zuerst beim visuellen Lesen auf. Prinzipiell scheint sich deshalb auch die Brailleschrift für längere Leseanlässe besser zu eignen. Dadurch hat sie bereits jetzt eine wichtige Funktion, weil sie zum Aufbau einer funktionalen Lesekompetenz beiträgt (Hiebert, 2015b, S. 7).

Hinsichtlich der Brailleschrift wird sich bei Ismael in naher Zukunft die Frage nach dem Erwerb weiterer Systeme stellen (z. B. Vollschrift und Kurzschrift). Wie die Erhebungen gezeigt haben, hat er noch Lücken im Braillecode in den Bereichen Satzzeichen, Rechenzeichen und vereinzelt auch bei den Zahlen. Dazu sollten weitere Faktoren, wie seine sprachliche Entwicklung (Deutsch als Zweitsprache), die parallele Nutzung der Schwarzschrift und die begrenzten zeitlichen Ressourcen, in der Förderung berücksichtigt werden. Insgesamt spricht deshalb viel dafür, von einem vorschnellen Erwerb eines neuen Brailleschriftsystems abzusehen. In begründeten Einzelfällen wird das auch von anderen Autorinnen und Autoren empfohlen (Koenig & Holbrook, 2010, S. 474; Troughton, 1992, S. 22). Das heißt aber nicht, dass Ismael diese vorenthalten werden sollten. Im Laufe der Schulzeit und in Abhängigkeit von Ismaels weiterer Schriftnutzung sollte die Einführung zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert werden.

Insgesamt zeigen Ismaels Braille-Kompetenzen, dass er durchaus das Potenzial hat, ein sicherer und schneller Braille Leser zu werden. Insbesondere bei längeren Leseaufgaben scheint die Punktschrift bereits jetzt besser geeignet zu sein als die Schwarzschrift. Dazu bietet diese eine langfristige Perspektive. Nachteilig wirkt, dass die Lern- und Lesegeschwindigkeit in der Brailleschrift nicht ganz so hoch ausfällt wie in der Schwarzschrift und die Förderung mehr Lernzeit beansprucht. Aus diesem Grund hängt Ismaels zukünftiges Kompetenzniveau in der Brailleschrift entscheidend von seiner weiteren Förderung ab. Vor diesem Hintergrund scheint es gerechtfertigt, mehr Förderzeit für die Punktschrift aufzuwenden.

Schreibkompetenzen.

Betrachtet man Ismaels Schreibkompetenzen, dann fällt auf, dass die Punktschriftmaschine sein schnellstes Schreibmedium ist (vgl. hierzu Tabelle 5.6). Nach Aussagen der Sonderpädagogin übersteigt seine Schreibgeschwindigkeit auch die seiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Nach Swenson (2016, 197 f.) ist das häufig der Fall, weil die Einübung der Buchstabenformen und der Schreibmotorik in der Schwarzschrift mehr Zeit erfordert. Dagegen verinnerlichen die meisten Schülerinnen und Schüler die Tastenkombinationen für die Buchstaben an der Punktschriftmaschine sehr schnell. Dieser Geschwindigkeitsvorteil hat Ismael die Akzeptanz der Brailleschrift erleichtert. Nach Aussagen seiner Eltern schreibt er auch im Elternhaus sehr gerne an der Punktschriftmaschine. Die Beobachtungen konnten jedoch zeigen, dass er das Lesen der eigenen Texte in Brailleschrift meidet und stattdessen das Schwarzschriftdisplay der elektronischen Punktschriftmaschine nutzt. Seine Sonderpädagogin hat deshalb die Anzeige bereits überklebt und mit ihm geübt, die Texte tastend zu kontrollieren und im Anschluss an Schreibsituationen zu lesen. Generell zeigt Ismaels Beispiel, dass die Verbindung zwischen Lesen und Schreiben bei dual Schriftnutzenden eine besondere Beachtung verdient. Prinzipiell geht man davon aus, dass sich Lesen und Schreiben gegenseitig bedingen und verstärken (Wormsley, 2016, S. 83). Diese Beziehung ist bei dual Schriftnutzenden aufgrund ihrer vielfältigen Wahlmöglichkeiten schwächer. Aus diesem Grund sollte bei ihnen auf eine ausgewogene Nutzung geachtet werden, damit sich Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien entwickeln können. Ismaels Vorliebe für die Punktschriftmaschine ist beispielsweise ein guter Anknüpfungspunkt, seine Lesekompetenzen in der Punktschrift zu verbessern. Dies lässt sich einfach umsetzen, indem man ihn konsequent auffordert, selbstgeschriebene Texte immer zu lesen (McNear & Farrenkopf, 2014, S. 208; Swenson, 2016, S. 206).

Zusätzlich zur Punktschriftmaschine nutzt Ismael auch seine Handschrift. Diese schreibt er deutlich langsamer als die Punktschrift (vgl. hierzu Tabelle 5.6), was durch die erhöhte Buchstabengröße (1.5–2.5 cm) und die verstärkte visuomotorische Koordination bedingt sein kann. Nach Aussagen der Sonderpädagogin hat die Förderung einer leserlichen Handschrift bei Ismael zwar keine Priorität, jedoch zeigen die Beobachtungen, dass diese seine schriftsprachlichen Möglichkeiten enorm erweitert. Insbesondere in der Kommunikation mit Mitschülerinnen und Mitschülern oder Eltern (z. B. Hausaufgaben oder bei Gruppenarbeiten), in Mathematik, zur Markierung in Texten, im Zusammenhang mit Abbildungen oder beim Ausfüllen von Textfeldern ist das Schreiben von Hand ein großer Gewinn für ihn (vgl. hierzu Tabelle 5.7). Gleichfalls zeigte sich dies in den Auswertungen der 36 dual Schriftnutzenden in der Kompetenzerhebung, dass diese häufig ihre Handschrift nutzen (vgl. hierzu Abbildung 4.8). Zudem wird Ismael auch durch seine Mitschülerinnen und Mitschüler, die nur von Hand schreiben, animiert. Nichtsdestotrotz stellt das Schreiben von Hand eine anspruchsvolle visuomotorische Aufgabe dar, bei der Ismael seine Augen und Handbewegungen koordinieren muss. Dies wiederum kann die visuellen Wahrnehmungsvoraussetzungen positiv beeinflussen und schulen (Holbrook et al., 2010, S. 514).

Überdies demonstrierte Ismael in beiden Schriftmedien eine sehr sichere Schreibung mit einer Fehlerrate von lediglich 1–2 %. Mit der geplanten Einführung von Computer und Braillezeile werden sich seine Wahlmöglichkeiten bei den Schreibwerkzeugen noch deutlich erweitern.

Fördersituation

Die Förderung steht und fällt mit den zeitlichen Ressourcen der Sonderpädagoginnen und -pädagogen (Lang et al., 2021, S. 12). Insbesondere der Brailleschriftspracherwerb erfordert ausgebildete, motivierte Fachpersonen vor Ort (Holbrook in Blankenship 2008, S. 205). Nach übereinstimmenden Interviewaussagen war bei Ismael beides vorhanden. Die Sonderpädagogin begleitete ihn häufig an drei Tagen pro Woche vor Ort. Mit zehn bis zwölf Förderstunden und einer Stunde für Teambesprechung war das Deputat vergleichsweise hoch. Bedingt wurde diese Zahl dadurch, dass Ismael von der beratenden sonderpädagogischen Einrichtung die gleiche Förderzeit zugestanden wurde wie anderen Braille-Lernenden im Anfangsunterricht auch. Diese Einordnung scheint gerechtfertigt, denn die Planung und Durchführung von Lese- und Schreibaufgaben in zwei Schriftmedien ist zeitintensiv, ebenso wie die damit verbundene Einführung in Hilfsmittel und die Materialerstellung. Weitere Argumente für eine solide zeitliche Ausstattung mit Förderstunden finden sich in Abschnitt 2.3.7.

Ein weiterer Gelingensfaktor ist die Zusammenarbeit zwischen Sonderpädagogin, Grundschullehrerin und Eltern. Übereinstimmend bewerteten alle interviewten Personen diese als sehr gut. Nach Rogers (2007, S. 130) ist die Kooperation ein Schlüsselfaktor für eine gelingende Förderung von dual Schriftnutzenden. Sie zeichnete sich bei Ismael durch gemeinsame Ziele, eine klare Aufgabenverteilung, viel Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung aus. Diese Form der Zusammenarbeit ist sehr wichtig und wird auch von McCarthy und Holbrook (2017, S. 370) empfohlen, weil sich dadurch die Verantwortung für den Fortschritt beim Lesen und Schreiben auf mehrere Schultern verteilt. Ismaels Sonderpädagogin brachte diesbezüglich viel Fachwissen aus dem Bereich der Brailleschrift mit, während die Grundschullehrerin über eine sehr gute deutschdidaktische Expertise verfügte. Durch die Zusammenarbeit entstanden so viele kreative Lernangebote für Ismael, aber auch für die ganze Klasse. Speziell bei dual Schriftnutzenden kann es sich zudem lohnen, punktuell eine zweite Sonderpädagogin oder einen zweiten Sonderpädagogen zur Fallberatung hinzuziehen, ebenso wie andere Fachpersonen, z. B. aus den Bereichen Low Vision, Orientierung und Mobilität sowie lebenspraktische Fähigkeiten (Lang et al., 2018, S. 83).

Trotz sehr guter Kooperation ging aus den Beobachtungen hervor, dass speziell die Brailleförderung bislang stark im Aufgabenbereich der Sonderpädagogin verortet ist. Dies hat zur Folge, dass Ismael außerhalb des Unterrichts nur wenig Kontakt mit der Punktschrift hat. Eine Möglichkeit, die Förderung noch auszuweiten, ist deshalb der verstärkte Einbezug der Eltern. Prinzipiell betonen viele Expertinnen und Experten die Wichtigkeit der Familie im Schriftspracherwerb allgemein (Vacca et al., 2015, S. 235) und im Speziellen beim Erwerb der Punktschrift (Blankenship, 2008, S. 204; Holbrook & Koenig, 1992, S. 45; Stanfa & Johnson, 2015). Einer Studie von Argyroupoulos et al. (2008, S. 229) zufolge ist das Wissen der Eltern über die Brailleschrift ein maßgeblicher Prädiktor für den Erfolg der Kinder im Schriftspracherwerb. Wenn möglich, sollten deshalb auch die Eltern dazu animiert werden, die Punktschrift zumindest auf einem basalen Level zu erlernen (Holbrook & Koenig, 1992, S. 44). In Ismaels Fall geht aus den Interviewaussagen von Mutter und Vater hervor, dass diese die Brailleschrift als schwierig erachten und selbst nicht gelernt haben. Dem kann entgegengesetzt werden: „Braille ist keine Hexerei“ (Lang & Thiele, 2020, S. 44), vorausgesetzt, man bekommt eine Einführung. Umsetzbar wäre dies beispielsweise durch Elternkurse oder durch das Verschenken einer Selbstlernlektüre. Eine gute Möglichkeit bietet das Buch „Knack den Code“ (Theiss-Klee, 2016). Häufig baut die Begegnung mit der Punktschrift Vorurteile ab und ermutigt die Bezugspersonen, sich weiter mit dem Schriftmedium zu beschäftigen. In Ismaels Fall zeigten die Eltern in den Gesprächen eine prinzipielle Offenheit, mehr über die Brailleschrift zu lernen. Ihre Passivität in der Brailleförderung sollte deshalb nicht als Desinteresse fehlinterpretiert werden, weshalb auch die Chance eines stärkeren Einbezugs als hoch bewertet werden kann. Wichtig wäre es, in diesem Zusammenhang eine punktschriftfreundliche Lernumgebung im Elternhaus aufzubauen, welche motivierende Bücher, Braillebeschriftungen, Tastangebote und gemeinsame Leseroutinen beinhaltet.

Positiv hinsichtlich Lernentwicklung und Motivation wirkten in Ismaels Fall zahlreiche individualisierte Lernmaterialien. Die Sonderpädagogin konzipierte häufig Lese- und Schreibaufgaben, bei denen er seine Kompetenzen in Brailleschrift und Schwarzschrift zusammen nutzen konnte. Die Notwendigkeit bestand auch deshalb, weil bislang kaum Materialien speziell für dual Schriftnutzende existieren (Lang et al., 2018, S. 84). In den individualisierten Lernmaterialien kombinierte die Sonderpädagogin häufig einen Sachtext in Punktschrift mit einer Abbildung, die Ismael in Schwarzschrift beschriftete. Der Wechsel zwischen den Schriftmedien irritierte ihn dabei nicht. Bei den unterschiedlichsten Lernangeboten machte sich die Lehrerin zudem Ismaels Vorliebe für die Schwarzschrift zunutze, indem sie kurze Leseanlässe, z. B. von Überschriften, zur Motivation nutzte und bei längeren Leseanlässen verstärkt auf die Brailleschrift setzte. Dazu variierte der Anteil der beiden Schriftmedien je nach Unterrichtsfach. Folglich brauchte keine Unterrichtszeit für die Förderung unterschiedlicher Schriftmedien reserviert werden, weil diese immer geschickt miteinander kombiniert wurden. Diese Form der Mischung von Brailleschrift und Schwarzschriftförderung wird ebenfalls bei Holbrook und Koenig (1992, S. 46) beschrieben und empfohlen. Einige der Materialien werden in Abschnitt 5.2.2.3 ausführlich beschrieben.

5.2.2.2 Förderempfehlungen und Schlussfolgerungen

Resümierend lässt sich sagen, dass Ismael sich hinsichtlich der schriftsprachlichen Kompetenzen in beiden Schriftmedien sehr gut entwickelt. Sein Fall zeigt, dass ein paralleler Schriftzugang gelingen kann. Nachweislich vorteilhaft erscheint, dass im Anfangsunterricht viel Unterrichtszeit für die Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen vorgesehen ist. Dazu zeigt sich in Ismaels Schriftspracherwerb, dass es zwischen Brailleschrift und Schwarzschrift mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt (Emerson et al., 2009, S. 611; Holbrook & Koenig, 1992, S. 45; Trent & Truan, 1997, S. 494).

Zudem verdeutlicht die Fallanalyse, dass die Ursachen für seine gute Lernentwicklung vielfältig sind. Als förderlich werden seine visuellen Wahrnehmungsvoraussetzungen angesehen, die täglichen Lese- und Schreibzeiten in beiden Schriftmedien, die personellen und zeitlichen Ressourcen für die Förderung, der Grad an Kooperation im Team ebenso wie eine lernförderliche Umgebung mit vielen individualisierten schriftsprachlichen Angeboten in der Schule. Diese wirkten sich auch positiv auf seine Motivation aus. Durch die Kombination von beiden Schriftmedien bei unterschiedlichen Lese- und Schreibaufgaben ist zudem gewährleistet, dass er ausreichend Kontakt mit beiden Schriftmedien hat.

Aus der Analyse geht jedoch auch hervor, dass eine frühzeitige Vorbereitung auf den Brailleschriftspracherwerb bei ihm nicht unternommen wurde. Ursächlich dafür war Ismaels Interesse an Buchstaben in der Schwarzschrift. Dies macht sich nach wie vor in seinen Wahrnehmungspräferenzen bemerkbar.

Dazu fehlte es an einem professionellen Assessment in der Entscheidungsfindung ebenso wie an einer diagnostischen Abklärung seines funktionalen Sehens im Schulkontext. Hinzu kommt, dass er die Brailleschrift bislang vorwiegend im Unterricht nutzt und nur wenig im Elternhaus.

In der Gesamtschau überwiegen jedoch klar die positiven Aspekte. Für die zukünftige schriftsprachliche Förderung werden auf Basis der Fallanalyse folgende Punkte empfohlen:

  1. 1)

    Erhöhung der Lese- und Schreibzeiten. Diese sollte täglich um 15 Minuten in der Schule und um weitere 15 Minuten im Elternhaus erhöht werden. Das Hauptaugenmerk sollte dabei auf der Brailleschrift liegen.

  2. 2)

    Intensivierung der Leseförderung. Ismaels positive Lernentwicklung ließe sich noch weiter durch evidenzbasierte Methoden zur Steigerung der Leseflüssigkeit (z. B. wiederholendes Lesen), einen verstärkten Einbezug der Eltern in die Brailleförderung, durch Wortschatztraining und eine bewusste Förderung von Ismaels Schreibinteresse steigern.

  3. 3)

    Funktionales Sehvermögen. Dieses sollte jährlich evaluiert werden. Auf Basis der Ergebnisse können die Umweltbedingungen (z. B. Schriftvergrößerung, Beleuchtung, Reduzierung von Komplexität usw.) und die Hilfsmittelversorgung den individuellen Bedürfnissen angepasst werden.

  4. 4)

    Gezieltes Hörtraining. Ismaels auditive Wahrnehmungsvoraussetzungen sollten durch gezielte Hörangebote gefördert werden, z. B. durch Geräuscherkennung, die Kombination von Lesetexten mit Hörtexten, den Einsatz unterschiedlicher Hörformate (z. B. Hörspiel, Radiobeitrag, Hörtext usw.) und die Anbahnung von Hörstrategien (z. B. Anfertigen von Notizen auf der Punktschriftmaschine, wiederholtes Hören usw.).

Auf Grundlage der gewonnenen Daten wird eine positive Entwicklung von Ismael prognostiziert und optimistisch auf die weitere Lernentwicklung geblickt.

5.2.2.3 Fördermaterial

Aufgrund der vielfachen Hospitationsmöglichkeiten und der großen Offenheit des pädagogischen Teams konnte bei Ismael eine Reihe von Lernmaterialien erprobt werden. Nachfolgend werden die Materialien zur Leseanimation, der Kombination von mehreren Schriftmedien, der Erhöhung der Lese- und Schreibzeiten und der Hörkompetenz vorgestellt. Zunächst sollen jedoch einige ausgewählte Lernmaterialien aus dem Schulalltag von Ismael präsentiert werden, die entweder von der Sonderpädagogin oder der Assistenz erstellt wurden. Diese verdeutlichen sehr gut, wie zwei Schriftmedien sinnvoll miteinander verknüpft werden können.

Adaptiertes Deutschbuch.

Abbildung 5.25 zeigt eine typische Schulbuchseite von Ismael. Mehrfach äußerte dieser den Wunsch, im gleichen Buch wie seine Mitschülerinnen und Mitschüler arbeiten zu wollen. Allerdings konnte er ohne Hilfsmittel nicht alles erkennen. Daraufhin gestaltete die Sonderpädagogin sein Buch um, indem sie Aufgabenstellungen mit vergrößerter Schwarzschrift oder Punktschrift überklebte. Auf der abgebildeten Schulbuchseite in Abbildung 5.25 ist beides der Fall. Die genaue Präzisierung der Arbeitsanweisung, ebenso wie der Lückentext und die Papierschnipsel für die Lücken sind in Braille beschriftet. Bei den Wortschnipseln ist zudem die obere rechte Ecke zur Orientierung abgeschnitten. Ismael klebte diese auf die Lücken im Text, die mit Vollzeichen markiert sind.

Abbildung 5.25
figure 25

Adaptierte Schulbuchseite

Unter dem Lückentext in Punktschrift sind eine Decke, eine Jacke und eine Schnecke und die dazugehörigen Buchstabenverbindungen abgebildet. Letztere wurden durch die Lehrerin vergrößert und unter die Textfelder geklebt. Ismael erkannte die kleinen Abbildungen mit Hilfestellung durch die Assistenz. Im Anschluss verschriftlichte er diese handschriftlich in den dafür vorgesehenen Textfeldern.

Arbeitsblatt Sachkundeunterricht.

Der Sachkundeunterricht bietet viele Möglichkeiten für visu-taktile Angebote. In diesem Beispiel wurde ein Sachtext zum Löwenzahn in Punktschrift mit einer Abbildung kombiniert. Damit Ismael diese besser erkennen kann, wurden die Konturen durch die Assistenz mit einem dicken Filzstift verstärkt. In der Unterrichtssituation wählte er die Farben für Blätter, Blüten und Wurzeln anhand einer echten Pflanze und beschriftete die Grafik handschriftlich mit den Fachwörtern aus dem Punktschrifttext. In Abbildung 5.26 sind die Zeichnung und der Punktschrifttext abgebildet.

Abbildung 5.26
figure 26

Arbeitsblatt in Punktschrift mit Abbildung

10er Bündelung.

Die Abbildung 5.27 zeigt ein Arbeitsblatt zur 10er Bündelung, welches für eine Lerntheke angefertigt wurde. Dabei sollten einfache zweistellige Zahlen in eine Additionsaufgabe mit 10 übertragen werden, z. B. 11 = 10 + 1. Ursprünglich war geplant, dass Ismael diese in Punktschrift bearbeitet. Um Zeit zu sparen, verschriftlichte er die Antworten aber lieber handschriftlich.

Abbildung 5.27
figure 27

Arbeitsblatt Mathematik 10er Bündelung

Die nachfolgenden Materialien wurden im Rahmen der Fallarbeit für spezielle Fördereinheiten und die Familie von Ismael konzipiert.

Lesemotivation und Lesehausaufgaben.

Abbildung 5.28 zeigt individualisierte Lesegeschichten für Ismael in Brailleschrift und Schwarzschrift. In zwei Arbeitsschritten wurden die Lesetexte für ihn mit einem Tintenstrahldrucker und einem Brailledrucker hergestellt. Die Geschichten sind aus Erstlesebüchern für Grundschülerinnen und Grundschüler entnommen und wurden der Familie geschenkt. Mithilfe der Texte sollten verstärkt Braille Lesesituationen im Elternhaus initiiert werden. Die Schwarzschrift diente in diesem Kontext den Eltern als Hilfestellung und Orientierung. Die Bilder und Icons stammen aus der DOB Lernsoftware zur Förderung der visuellen und visuomotorischen Grundfähigkeiten (DOB).

Abbildung 5.28
figure 28

Duale Medien in Braille und Schwarzschrift

Die Textauswahl erfolgte anhand von Ismaels Interessen. Zudem wurden die Geschichten, wann immer möglich, mit weiteren Tastmaterialien kombiniert. Im Unterricht wurde beispielsweise eine Kriminalgeschichte eingeführt. Dazu gab es eine Quellkopie mit den taktilen Fingerabdrücken der verdächtigten Personen (siehe hierzu Abbildung 5.29). Durch den Vergleich der Abdrücke konnte er den Fall lösen und den Täter identifizieren. Dazu wurden die Quellkopien auf seiner Arbeitsunterlage befestigt, damit er mit beiden Händen tasten konnte. Zusätzlich wurden ihm Fragen zu den Fingerabdrücken gestellt, z. B. In welche Richtung gehen die Linien? Fühlen sich die Abdrücke unterschiedlich an? Gibt es ein kleines Merkmal, woran du den Fingerabdruck schnell erkennen kannst? Die Fragen dienten der Anleitung sowie der Fokussierung auf globale Merkmale ebenso wie auf Details.

Abbildung 5.29
figure 29

Quellkopien mit Tastaufgaben

Motivierende visu-taktile Angebote

Die Geschichte handelt von einem Piraten, der eine Schatzkarte in Braille gefunden hat, diese aber nicht lesen kann und deshalb Ismael um Hilfe bittet. Dazu gibt es einen zweiseitigen Text in Brailleschrift mit einer Überschrift in vergrößerter Schwarzschrift sowie eine Playmobilfigur des Seeräubers. Durch das Lesen der Geschichte und das Übersetzen der Schatzkarte konnte Ismael das Rätsel um den verborgenen Schatz lösen. Dabei nutzte er sein Wissen über die Punktschrift, um die Namen der Inseln handschriftlich auf die Karte zu schreiben. Darüber hinaus kontrollierte er die Schreibung der Inselnamen, indem er diese mit der Punktschriftbeschriftung verglich. Schlussendlich zeichnete er die Route für den Piraten auf die Schatzkarte (vgl. hierzu Abbildung 5.30).

Abbildung 5.30
figure 30

Der Pirat Rotbart und die Schatzinsel

Klapptexte.

Für den Sachkundeunterricht wurden Materialien mit einem Fokus auf Leseverstehen erstellt. Dabei wurde Ismaels Wissen in beiden Schriftmedien berücksichtigt. Der Klapptext in Abbildung 5.31 besteht aus einer zusammengeklebten Doppelseite. Die blauen Streifen sind eine Art Fenster wie bei einem Adventskalender. Auf ihrer Vorderseite steht eine Frage. Die Antwort verbirgt sich wiederum hinter dem Fenster, sodass Ismael diese eigenaktiv kontrollieren konnte. Der dazugehörige Sachtext war in Brailleschrift mit hinterlegter Schwarzschrift gedruckt. Die Schwarzschrift hinter den Antwortfenstern hatte wiederum eine Größe von 1.5 cm. Durch den Wechsel zwischen den Schriftmedien gestaltete sich die Aufgabe abwechslungsreich und motivierend. Bei der anschließenden Exploration eines realen Schneckengehäuses wurde Ismael ebenfalls dazu aufgefordert, haptisch und visuell vorzugehen. Dazu wurden ihm erneut verschiedene Fragen gestellt, z. B. Wie fühlt sich das Gehäuse an? Welche Farbe hat es? Wie ist das Schneckenhaus aufgebaut? Ist das Haus stabil?

Abbildung 5.31
figure 31

Klapptexte für den Sachkundeunterricht

Taktiler Lesepass.

Dieser besteht aus einem kurzen Text und sieben Abreißzetteln mit Motivationssprüchen. Das Material wurde mit der Intention eingeführt, die außerschulische Lesezeit zu erhöhen. Für zehn freiwillig gelesene Minuten durfte Ismael jeweils einen Zettel mit einem Motivationsspruch abreißen. Bezüglich des Schriftmediums wurden ihm keine Vorgaben gemacht. Der Lesepass war gleichzeitig ein Indikator für Ismaels außerschulische Lesezeit (vgl. hierzu Abbildung 5.32).

Abbildung 5.32
figure 32

Lesepass mit Motivationsbotschaften

Hörtexte.

Diese spielten bislang in Ismaels Förderung eine untergeordnete Rolle, weshalb auch speziell hierzu Fördermaterialien erstellt wurden. Dazu wurde ein Hörtext ausgewählt und es wurden drei sehr einfache Fragen formuliert. Diese wurden als Klappkarten wie zuvor in Sachkunde, erstellt und gemeinsam mit Ismael gelesen und besprochen. Anschließend wurde die erste Sequenz mithilfe eines MP3-Players über Lautsprecher abgespielt. Diese hatte eine Dauer von lediglich 45 Sekunden. Sie handelt von drei Freunden, die auf dem Weg zu einer Verabredung einen Brand in einem Wohnhaus bemerken. Nach dem ersten Durchgang konnte Ismael keine einzige der drei Fragen beantworten. Vermutlich hat ihn die neue Aufgabenstellung verunsichert. Nach weiteren zwei Hördurchgängen und mit Unterstützung konnte er schließlich die Aufgabe bewältigen. Zusätzlich wurde auch noch der Hörtext mit ihm gelesen. Dabei waren die Sprecherwechsel farblich markiert. Die Übung verdeutlichte aber eindringlich, dass Ismael im Hörverstehen noch Förderbedarf hat. Aufgrund der Förderung wurden noch weitere, wesentlich einfachere Angebote zum Hören konzipiert (Abbildung 5.33).

Abbildung 5.33
figure 33

Textgrundlage zur Höraufgabe Feuerwehr

Die nachfolgenden Materialien konnten nicht mehr mit Ismael erprobt werden, wurden aber dennoch im Zuge der Fallstudie erstellt.

Sound-Memory.

Auf der Vorderseite von Karteikarten stehen Begriffe in vergrößerter Schwarzschrift und Brailleschrift. Dazu befindet sich auf der Rückseite jeder Karte noch eine vereinfachte Grafik (vgl. hierzu Abbildung 5.34). Zuerst werden diese in Brailleschrift und Schwarzschrift gelesen. Anschließend wird ein Geräusch mithilfe eines Tablets abgespielt, das einer Karte zugeordnet werden muss. Wird der Ton erkannt, kann die Karte umgedreht und das Bild auf der Rückseite betrachtet werden. Dazu kann die Lehrperson noch weitere Fragen zu dem Gegenstand auf der Karte stellen. Nachdem alle Geräusche zugeordnet worden sind, kann die Schülerin oder der Schüler aufgefordert werden, die Karten in Gruppen zu sortieren. Beispielsweise lassen sich die Gruppen Fahrzeuge, Tiere und Wetter bilden. Somit können zusätzlich der Wortschatz und die Begriffsbildung gefördert werden. Zudem können auch noch weitere Spielkarten gemeinsam erstellt werden.

Die verwendeten Bilder auf den Spielkarten stammen aus der Lernsoftware zur Förderung der visuellen und visuomotorischen Grundfähigkeiten (DOB).

Abbildung 5.34
figure 34

Sound-Memory

Hörtexte im Sachunterricht.

Das komplette Material in Abbildung 5.35 besteht aus einem Hörtext, einer Verschriftlichung des Hörtextes, einem Aufgabenblatt und einer vereinfachten Skizze eines Vulkans zum Ausmalen und Beschriften. Die Fragen auf dem abgebildeten Aufgabenblatt können handschriftlich bearbeitet oder mithilfe von Knetgummis taktil markiert werden. Der Hörtext hat einen Umfang von einer Minute und kann einfach oder mehrfach mit einem Audio-Pen gehört werden. Zusätzlich kann die Aufgabenstellung erleichtert werden, indem das Thema vorbesprochen wird. Zudem kann auch der komplette Hörtext zuerst gelesen werden oder immer nur in kurzen Sequenzen gehört werden. Das Material bietet dazu noch viele Anknüpfungspunkte für die Wortschatzarbeit (z. B. Lava, Magma, Vulkan, Trichter, Kegel) ebenso wie für die Einführung von taktilen Grafiken oder Modellen.

Abbildung 5.35
figure 35

Hörtexte im Sachunterricht

Wortschatzkarten.

Zunächst muss ein übergeordnetes, motivierendes Thema ausgewählt werden, z. B. Polizei. Um den Wortschatz in diesem Feld zu erweitern, sollte die Lehrperson Wörter wählen, welche die oder der Lernende noch nicht kennt. Diese werden auf einer Karteikarte in beiden Schriftmedien notiert. Zusätzlich wird auf der Rückseite der Karte eine einfache Definition verschriftlicht. Die Karteikarten werden einzeln eingeführt, indem das neue Wort erklärt wird und gemeinsam Beispielsätze überlegt werden, z. B. Verbrecher sind kriminell ebenso wie Diebe und Räuber. Anschließend kann die Lehrperson weitere Fragen zu dem Begriff stellen, z. B. Ist es kriminell, wenn ich etwas stehle? Ist es kriminell, wenn ich jemandem wehtue? Ist es kriminell, wenn ich jemanden mit einem Geschenk überrasche? Die Fragen dienen dazu, das Konzept weiter zu verinnerlichen und auszudifferenzieren. Anschließend kann die Lehrperson die Schülerin oder den Schüler fragen, welche weiteren Wörter zu dem neuen Begriff passen. Im Fall von kriminell wären das beispielsweise Wörter wie ‚Strafe‘, ‚Verbrechen‘ oder ‚stehlen‘. Diese können in Punktschrift oder Schwarzschrift protokolliert und zu der Definition auf die Rückseite der Karte geklebt werden. In einer Vokabelbox lassen sich die neuen Begriffe thematisch einordnen und mit der Zeit erweitern. Zusätzlich können die Karteikarten als Unterstützung bei Schreibaufgaben ebenso wie in der Leseförderung eingesetzt warden (Abbildung 5.36).

Abbildung 5.36
figure 36

Wortschatzkarten

Zungenbrecher.

Die lustigen Zungenbrecher können als Aufwärmübung in der Leseförderung genutzt werden. Die Herausforderung besteht darin, diese schnell und fehlerfrei zu lesen. Dabei wiederholen sich die Laut- und Buchstabenabfolgen sehr häufig. Zudem wird durch die Reimstruktur das Sprachbewusstsein geschult. Folglich zielt das Material auf eine Verbesserung der Lesegenauigkeit, der Prosodie und damit der Leseflüssigkeit (Abbildung 5.37).

Abbildung 5.37
figure 37

Zungenbrecher in der Brailleschrift

Dazu eignen sich die Zungenbrecher zum Einführen und Einüben von evidenzbasierten Methoden der Leseförderung wie dem wiederholenden Lesen (Savaiano & Hatton, 2013).

5.2.3 Aziz

Bild 5.3
figure 3

Aziz (Name und Bild verfremdet)

Aziz ist zum Start der Fallanalyse 12 Jahre alt und besucht die 6. Klasse einer Blinden- und Sehbehindertenschule im Bildungsgang Realschule. Er wuchs zweisprachig in Türkisch und Deutsch auf. Interesse zeigt er für Meerestiere, das Weltall und Autos. Aziz ist ein Schüler, der mitdenkt, Ehrgeiz zeigt und Dinge kritisch hinterfragt. Er lässt sich aber auch leicht ablenken, tendiert zur Bequemlichkeit und hat ein niedriges Selbstwertgefühl. Seine Sehbehinderung blieb in seiner frühen Kindheit lange Zeit unentdeckt, bis bei ihm mit drei Jahren eine starke Kurzsichtigkeit diagnostiziert wurde. Seit der frühen Kindheit hat sein Sehvermögen kontinuierlich abgenommen. Eingeschult wurde er in eine Förderschule für Lernende mit Sehbehinderung. In den Folgejahren wechselte er häufig die Schule und den Wohnort und wurde überwiegend inklusiv unterrichtet. Mit steigender Klassenstufe konnte er im Unterricht nicht mehr mithalten. Zeitgleich wurde bei ihm die Brailleschrift eingeführt und ein Wechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule empfohlen, woraufhin ein erneuter Schulwechsel eingeleitet wurde. Kurz darauf wurde er nach einer Netzhautablösung als sozialrechtlich blind eingestuft (Visus ≤ 0.02). Der Brailleschrift stand er von Beginn an ablehnend gegenüber. An dieser Haltung hat sich auch nach mehr als zwei Jahren nichts geändert. In der Schule nutzt er heute vor allem die vergrößerte Schwarzschrift und ergänzend die Sprachausgabe (Bild 5.3).

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Diagnose und Prognose.

Im frühen Kindesalter blieb Aziz Sehbehinderung lange Zeit unentdeckt. Seine Mutter vermutete zwar eine Beeinträchtigung, aber mehrere Untersuchungen unter Narkose führten nicht zu einer Diagnose. Mit drei Jahren wurde schließlich eine starke Kurzsichtigkeit festgestellt (Myopie magna). Aziz bekam deshalb seine erste Brille mit−18 Dioptrien. Wenig später verschlechterte sich sein Sehvermögen durch eine Netzhautablösung im rechten Auge, die durch eine Ablösung des Glaskörpers verursacht wurde. Aziz wurde daraufhin operiert, wodurch Teile seiner Netzhaut im rechten Auge gerettet werden konnten. Zwei Jahre nach der Operation wurde er mit einem Sehvermögen von 0.4 an einer Schule für Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung eingeschult. Mit acht Jahren kam es zu einer zweiten Netzhautablösung im linken Auge. Aziz wurde ein weiteres Mal operiert, dieses Mal allerdings ohne Erfolg. Aufgrund einer Linsentrübung (Katarakt) wurde ihm zudem eine Kunstlinse im linken Auge eingesetzt. Daraufhin verschlechterte sich sein Sehvermögen deutlich. Nach der Operation nahm er im linken Auge nur noch Handbewegungen wahr und im rechten Auge schwankte sein Visus zwischen 0.16 und 0.06. In den Folgeuntersuchungen machten die Ärzte deutlich, dass sein Sehvermögen stark gefährdet ist. Sie beurteilten den Zustand der Netzhaut in beiden Augen als hoffnungslos und prognostizieren eine bevorstehende Erblindung. Dazu empfahlen sie die Kontaktaufnahme mit einer Blindenschule. Zu diesem Zeitpunkt war Aziz neun Jahre alt. Sein klinisch gemessener Visus schwankte in den Folgeuntersuchungen zwischen 0.02 und 0.04, weshalb er mit neun Jahren als sozialrechtlich blind (≤0.02) eingestuft wurde.

Visuelle Funktionen.

Die letzte schulische Low-Vision-Überprüfung war zu Beginn der Fallstudie bereits 14 Monate alt. Im Untersuchungszeitraum fand jedoch eine Aktualisierung durch eine speziell ausgebildete Lehrperson der Blinden- und Sehbehindertenschule statt. Zusätzlich finden jährliche Überprüfungen durch eine Augenärztin oder Augenarzt statt.

Im Zuge der Fallstudie wurde Aziz funktionales Sehvermögen ebenfalls erhoben. Die Ergebnisse sind in der Zusammenfassung Ergebnisse 3 dargestellt. Alle Testungen wurden im Klassenraum von Aziz durchgeführt oder in einem angrenzenden Förderraum, in dem er ebenfalls häufig arbeitete.

Zur Überprüfung des Fernvisus wurde der LEA Distance Screener ausgewählt. Die Testdistanz musste von drei Metern auf 40 cm angepasst werden. Zum Zeitpunkt der Durchführung nutzte Aziz bereits seit mehreren Jahren keine Brille mehr, weshalb die Testung ohne Korrektur durchgeführt wurde. Unter diesen Bedingungen lag sein Fernvisus binokular bei 0.04. Der gemessene Fernvisus bei Aziz impliziert Einschränkungen in der Personenerkennung, der Kommunikation (Gestik und Mimik) sowie der Orientierung. Aufgrund seiner starken Kurzsichtigkeit liegt jedoch die Vermutung nahe, dass er sein funktionales Sehvermögen mit einer Brille noch deutlich steigern könnte. Zum gleichen Ergebnis kommen auch die schulischen Low-Vision-Gutachten. Auf Rückfrage bestätigte Aziz Klassenlehrerin, dass sie bereits in der Vergangenheit mit Verantwortlichen im Internat und Aziz Mutter Kontakt aufgenommen hatte. Bis zum Ende der Fallstudie hatte sich an seiner Versorgung jedoch nichts geändert. Sein Nahvisus wurde im Untersuchungszeitraum mehrfach mithilfe der LEA Near Vision Card gemessen. Dazu musste der Testabstand von 40 cm auf 20 cm angepasst werden. Im Mittel lag der Nahvisus binokular ebenfalls bei 0.04. Crowdingeffekte wurden bei Aziz nicht festgestellt. Im letzten Monat der Fallstudie reduzierte sich jedoch sein Sehvermögen aufgrund von Problemen mit dem Augeninnendruck auf 0.03. Dazu verdeutlichten mehrere Beobachtungen, dass das Arbeiten in der Nähe für ihn nur unter erhöhter Anstrengung möglich ist.

Das Gesichtsfeld wurde sowohl in der Peripherie (Perimetrie) als auch im Inneren gemessen (Campimetrie). Dazu wurden die LEA Campimeter Sticks und ein NEF-Trichter genutzt. Die Messungen machten Ausfälle im äußeren Gesichtsfeld sichtbar ebenso wie mehrere Skotome, weshalb von Auswirkungen auf die Orientierung und das Arbeiten im Nahbereich ausgegangen werden kann. Zudem deuten die Ergebnisse in der Peripherie auf eine Nachtblindheit von Aziz hin.

Die nachfolgende Abbildung 5.38 stellt sein Gesichtsfeld vereinfacht dar. In Blau ist ein unbeeinträchtigtes Gesichtsfeld dargestellt, während in Rot sein Sehvermögen illustriert wird. Aziz zentrale Skotome sind dabei ebenfalls angedeutet.

Abbildung 5.38
figure 38

Aziz Sehvermögen vereinfacht illustriert

Die Kontrastempfindlichkeit wurde mithilfe der Lea Low Contrast Flip Charts überprüft. Das Ergebnis verdeutlicht, dass Aziz Sehvermögen insbesondere bei niedrigen Kontrasten stark beeinträchtigt ist. Das wiederum kann Auswirkungen auf die Bewegungswahrnehmung haben. Dazu können dadurch die Schwankungen im Sehvermögen in Abhängigkeit der Umweltbedingungen erklärt werden, z. B. in der Dämmerung oder an bewölkten Tagen mit niedrigen Kontrasten.

Zur Überprüfung der Farbwahrnehmung wurde der Panel-16 Color Vision Test durchgeführt. Hier zeigte Aziz kleine Verwechslungen und eine Auffälligkeit entlang der Tritan-Achse (violett und grün). Nach Hyvärinen und Jacob (2011, S. 90) kann die Farbwahrnehmung ein Indikator für die Beschaffenheit der Netzhaut sein. Die Gesamtzahl der Vertauschung von Aziz kann deshalb auch als Hinweis auf eine Schädigung der Netzhaut gedeutet werden, was bereits die Messungen zum Gesichtsfeld nahegelegt haben.

Die Schriftvergrößerung wurde bei Aziz mit dem SZB Test zum Vergrößerungsbedarf überprüft. Bei einem Abstand von 25 cm wurde ein 16-facher Vergrößerungsbedarf gemessen. Das entspricht einer Buchstabenhöhe von 3.4 cm bzw. Arial 131 (Pt.). Allerdings arbeitete er in keiner einzigen Unterrichtssituation mit einem Sehabstand von 25 cm. Stattdessen vergrößerte er die Schrift am Computer auf 1 cm und wählte für gewöhnlich einen sehr kurzen Sehabstand von 2–3 cm. Mehrfach konnte beobachtet werden, dass er dabei bereits mit der Nase den PC-Monitor berührte. Sein natürlicher Vergrößerungsbedarf übersteigt deshalb den gemessenen Vergrößerungsbedarf deutlich (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Hinzu kommt, dass sich Aziz Sehvermögen zum Ende der Fallstudie verschlechterte. Das zeigte sich auch im Unterricht. Bei den letzten beiden Hospitationsterminen konnte beobachtet werden, dass er die Schrift auf 2 cm am PC-Monitor vergrößerte. Der Sehabstand war dabei nach wie vor sehr kurz, was eine effektive Schriftnutzung erschwert.

Der Bereich der Okulomotorik wurde durch Beobachtungen und Videoanalysen eingeschätzt. Darunter versteht man die Beweglichkeit der Augen und die Steuerung der Blickrichtung. Diesbezüglich zeigte sich, dass Aziz exzentrisch fixiert und beim Lesen starke kompensatorische Kopfbewegungen macht. Die Blicksprünge (Sakkaden) waren schnell und das linke Auge schielte nach innen. Aufgrund der starken Unterschiede zwischen den beiden Augen wird eine Amblyopie vermutet. Darauf deutet gleichermaßen, dass bei Objektannäherung keine Konvergenz der Augen beobachtet werden konnte, ebenso wenig wie Stereosehen. Im Einklang mit dem Ergebnis steht die Beobachtung, dass bei Lese- und Schreibaufgaben Aziz rechtes Auge dominierte.

Insgesamt verdeutlicht der kurze Überblick, dass Aziz funktionales Sehvermögen stark limitiert ist. Eine ausführliche Evaluation seines funktionalen Sehvermögens inklusive Testprotokolle, Implikationen für das Lernen und den Unterricht finden sich im Anhang (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial).

Bildungsbiografie.

Aziz hat eine außergewöhnliche Schulbiografie. Er wechselte aufgrund der Sehbehinderung und familiärer Umstände in den ersten sechs Schuljahren insgesamt fünf Mal die Schule. Eingeschult wurde er an einer Sehbehindertenschule mit sechs Jahren. Kurz nach der Einschulung trennten sich seine Eltern. Aziz blieb bei seiner Mutter, die zusammen mit ihm in ihre alte Heimatstadt in ein anderes Bundesland zog. Dort wurde er vor Ort in der allgemeinen Grundschule angemeldet und durch eine Schule für Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung sonderpädagogisch begleitet. Aufgrund der Empfehlung der Sonderpädagogin wechselte Aziz im Laufe des 2. Schuljahres auf eine Sehbehindertenschule. Dort blieb er aber nur wenige Monate und zog kurze Zeit später zusammen mit seiner Mutter in ein anderes Bundesland. Dort besuchte er die 3. Klasse in einer allgemeinen Grundschule. Begleitet wurde er dabei durch den sonderpädagogischen Dienst einer Blinden- u. Sehbehindertenschule. Die Familie blieb aber nur wenige Monate, bevor sie in den Heimartort der Mutter zurückzog. Aziz besuchte daraufhin wieder seine alte Grundschulklasse. Im Gegensatz zum Vorjahr wechselte jedoch die sonderpädagogische Begleitung. Die neue Blinden- und Sehbehindertenpädagogin sah bei Aziz einen erhöhten Förderbedarf im Bereich Punktschrift. Bedingt durch die vielen Schulwechsel und ein Fortschreiten der Augenerkrankung zeigte er zudem zunehmend Probleme, dem Unterricht zu folgen. Die Sonderpädagogin empfahl daraufhin einen erneuten Schulwechsel auf eine Internatsschule. Aziz und seine Mutter lehnten den Vorschlag zunächst ab. Nachdem die schulischen Probleme jedoch weiter anwuchsen und der Handlungsdruck stieg, willigte Aziz Mutter ein, woraufhin ein erneuter Schulwechsel eingeleitet wurde. Inmitten des 4. Schuljahres wechselte er daraufhin nach den Osterferien von der 4. Klasse in die Übergangsstufe 4–5 einer Blinden- und Sehbehindertenschule. An der neuen Schule bekam er zwischen Frühjahr und Sommer eine intensive Brailleförderung im Klassenkontext der Grundschule. Danach wurde er in die 5. Klasse der angegliederten Realschule überwiesen. Mit dem Wechsel in die Sekundarstufe reduzierte sich die Brailleförderung. Dazu wurde bei ihm die Sprachausgabe als zusätzliches Hilfsmittel eingeführt. Seither besucht er ohne Unterbrechung die Blinden- und Sehbehindertenschule mit Internat und fühlt sich nach eigener Aussage inzwischen auch wohl dort.

Entwicklung der Lesegeschwindigkeit.

Diese wurde im Untersuchungszeitraum in beiden Schriftmedien zwölfmal erhoben (vgl. hierzu Abbildung 5.43). In der Brailleschrift schwankte die Lesegeschwindigkeit zwischen 9.3 WpM und 22 WpM und lag im Mittel bei 15.2 WpM. Über die zwölf Monate ist kein klarer Trend erkennbar und auch kein Lernfortschritt. Mit einer durchschnittlichen Fehlerrate von 6.3 % zeigte er zudem bereits bei einfachen Texten (LIX < 35 %) Schwierigkeiten.

In der Schwarzschrift ist eine große Varianz ersichtlich. Die Lesegeschwindigkeit schwankte zwischen 29.3 WpM und 61.7 WpM um den Mittelwert von 49.9 WpM. Innerhalb des Untersuchungszeitraums zeigte sich ein positiver Trend. Es ist allerdings fraglich, ob dieser tatsächlich auf eine Verbesserung der Lesekompetenzen zurückzuführen ist. Aziz Leseleistungen waren stark abhängig von seiner Motivation, seinem funktionalen Sehvermögen und Umweltbedingungen. Nachdem sein Visus im letzten Untersuchungsmonat merklich abgenommen hatte, wollte er dies unbedingt durch eine erhöhte Anstrengung kompensieren. Mit einer durchschnittlichen Fehlerrate von 0.9 % machte er zudem vergleichsweise wenig Lesefehler (Abbildung 5.39).

Abbildung 5.39
figure 39

Aziz Entwicklung in der Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum

Schwarzschrift.

Aziz hat mit sechs Jahren die Schwarzschrift gelernt und nach übereinstimmenden Aussagen ist diese aktuell sein Hauptlesemedium. Bei kurzen Leseanlässen (weniger als 3 Minuten) schaffte er Lesegeschwindigkeiten über 50 WpM. Bei einer Messung über 15 Minuten zeigte sich jedoch, dass er dieses Tempo nicht dauerhaft aufrechterhalten kann und seine Lesegeschwindigkeit starken Schwankungen unterworfen ist. Folglich reduzierte sich seine Lesegeschwindigkeit bei ausdauernden Leseaufgaben deutlich auf durchschnittlich 31.9 WpM (vgl. hierzu Abbildung 5.41).

Zum visuellen Lesen verwendete er im Untersuchungszeitraum ausschließlich den Computer mit einem Kontrastschema und individueller Vergrößerung. Der Sehabstand betrug dabei für gewöhnlich nur 3 cm. Im Klassenzimmer stand ihm zudem ein schwenkbarer Flachbildschirm zur Verfügung. Aufgrund seiner Einschränkungen in der Okulomotorik machte er beim Lesen kompensatorische Kopfbewegungen und bewegte dazu den gesamten Bildschirm (siehe hierzu Abbildung 5.40).

Abbildung 5.40
figure 40

Lesen am Computer

Zu Hause bei seiner Mutter stand ihm nur ein Laptop zur Verfügung. Durch die Bauform und die Größe des Bildschirmes fiel es ihm deutlich schwerer, an diesem zu lesen, weshalb seine Einschränkungen im Elternhaus stärker ersichtlich waren.

Nach eigener Aussage ist das Lesen der Schwarzschrift für ihn anstrengend. Aziz berichtete von gelegentlichen Kopfschmerzen. Aus den genannten Gründen liest er in der Schwarzschrift überwiegend kurze Passagen und Aufgabenstellungen. Für längere Leseaufgaben nutzt er die Sprachausgabe.

Abbildung 5.41
figure 41

Aziz Leseausdauer in Brailleschrift und Schwarzschrift

Brailleschrift.

Zum Start der Fallanalyse nutzte er die Brailleschrift seit 2.5 Jahren. Mit einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von 15.2 WpM bewegte er sich in der Punktschrift auf einem sehr basalen Niveau. Bei längeren Leseaufgaben konnte er, ähnlich wie in der Schwarzschrift, dieses Tempo nicht aufrechterhalten. Innerhalb von 15 Minuten lag seine durchschnittliche Braille Lesegeschwindigkeit bei 9.9 WpM. Allerdings war die Lesegeschwindigkeit in der Punktschrift deutlich weniger Schwankungen unterworfen als in der Schwarzschrift (vgl. Abbildung 5.41).

Mit ersten Tastübungen und Buchstaben in Computerbraille (8-Punkt-Braille) begann Aziz mit neun Jahren. Allerdings fiel die Einführung in eine Phase, in der er Probleme hatte, mit dem Lerntempo in seiner Klasse Schritt zu halten. Aus seiner Perspektive hat die Punktschrift nur dazu geführt, dass seine schulischen Schwierigkeiten noch größer wurden. Nach dem Wechsel an die Grundschule der Blinden- und Sehbehindertenschule nutzte er zwischen den Osterferien und Sommerferien für wenige Monate hauptsächlich die Punktschrift. Mit dem Beginn der Sekundarstufe stieg die Textlänge und er erhielt mehr Wahlfreiheiten. Die Brailleschrift nutzte er fortan nur noch, wenn er dazu aufgefordert wurde. In Klasse fünf gab es zudem ein spezielles, zweistündiges Fach zur Leseförderung, in dem er Braille lesen musste. Zusätzlich besuchte er den Leseklub seiner Schule, wo ihm ebenfalls eine Stunde pro Woche zum Lesen der Brailleschrift zur Verfügung stand. In Klasse sechs reduzierte sich seine Braille-Lesezeit auf den Leseklub. Dazu wurde Aziz alle zwei Wochen für eine Einzelförderstunde in der Punktschrift aus dem Unterricht genommen. In diesen Stunden wurde bei ihm die Vollschrift eingeführt. Nach einem Jahr endete die Förderung.

Im Interview machte Aziz deutlich, dass die Einführung der Vollschrift seine Ablehnung gegenüber Braille noch verstärkt hat. Diese begründete er damit, dass die Punktschrift ihm keine Vorteile bringe. Dazu störe ihn seine langsame Lesegeschwindigkeit und er glaube nicht, dass sich an diesem Zustand etwas ändern würde. Aziz Ablehnung bezog sich jedoch hauptsächlich auf das Lesen der Brailleschrift. Das Schreiben mit der Brailleeingabe seiner Braillezeile fand er wiederum gut.

Die Sprachausgabe.

In Unterrichtssituationen ist Aziz häufig auf die Sprachausgabe angewiesen. Er selbst sagte in den Interviews, dass die Schwarzschrift zu anstrengend sei und die Punktschrift zu langsam, weshalb ihm oft nichts anderes übrigbleibe, als die Sprachausgabe zu nutzen. Er äußerte sich in diesem Kontext auch sehr reflektiert über die Vor- und Nachteile von auditiven Hilfsmitteln. Ihm ist beispielsweise bewusst, dass er beim Lesen wesentlich mehr versteht, weshalb er nach eigener Aussage die Schwarzschrift trotz Anstrengung in einigen Situationen bevorzugt. Das bessere Verständnis ist auch der Grund, weshalb er zusammen mit seiner Klassenlehrerin die Standardhörgeschwindigkeit auf 107.1 WpM gestellt hat. Dieser Wert ist noch vergleichsweise gering, er ist aber immer noch fast doppelt so schnell wie seine Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift von 54.1 WpM (vgl. hierzu Tabelle 5.9). Im direkten Vergleich der drei Lesemedien wird auch deutlich, warum Aziz weitestgehend auf Braille im Unterricht verzichtete. Mit 15.2 WpM ist der Geschwindigkeitsunterschied sehr groß und nicht ausreichend, um im Fachunterricht seiner Klassenstufe mitzuhalten.

Mit Aziz wurde auch der Fragebogen aus der Kompetenzerhebung durchgeführt. Verglichen mit anderen Teilnehmenden aus der Untersuchung bewegt sich seine Nutzung von auditiven Hilfsmitteln im oberen Normalbereich.

Tabelle 5.9 Aziz Lese- und Hörmedien im Vergleich

Schreibmedien.

Aziz Schreibgeschwindigkeit wurde mit einer informellen Diktieraufgabe an unterschiedlichen Schreibmedien in der Einheit Zeichen pro Minute (ZpM) erhoben. An der Braillezeile schrieb er mit 132 Zeichen pro Minute (ZpM) mit Abstand am schnellsten. Seine starke Ablehnung von Braille bezog sich deshalb nur auf das Lesen (vgl. hierzu Tabelle 5.10). Am Computer schrieb er 96 ZpM, an der Punktschriftmaschine 75 ZpM und handschriftlich 53 ZpM. Nach übereinstimmenden Aussagen in den Interviews nutzte er im Unterricht überwiegend die Braillezeile und die PC-Tastatur. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Fehlerquote übergreifend bei 19 % lag, nur an der Punktschriftmaschine bei 12 %. Dazu zeigt die Erhebung, dass Aziz bei den Schreibwerkzeugen viele Wahlmöglichkeiten hat.

Tabelle 5.10 Aziz Schreibmedien im Vergleich

Bedienkompetenzen am Computer.

Aziz Kompetenzen am Computer wurden mit dem erweiterten Ilvesheimer Raster zum E-Buch-Standard erhoben. Beim Navigieren, Formatieren in Word und dem Arbeiten in Tabellen sowie in der Kontrolle des Screenreaders zeigte er Grundkenntnisse. Mit LaTex wurde in Aziz Klassenstufe noch nicht gearbeitet, weshalb folglich von ihm in diesem Bereich auch keine Kenntnisse erwartet wurden. Prinzipiell zeigen seine Ergebnisse, dass er das Verwalten von Dateien und Ordnern und das Arbeiten in einer Textverarbeitung bereits sehr gut beherrscht (Tabelle 5.11).

Tabelle 5.11 Aziz Ergebnisse im Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard

Hilfsmittel.

Durch die kontinuierliche Abnahme seines Sehvermögens hat Aziz über die Jahre eine Vielzahl von Hilfsmitteln kennengelernt, z. B. eine Visolettlupe, eine elektronische Lupe, eine Tafelkamera, ein Bildschirmlesegerät und eine Braillezeile sowie verschiedene Softwareanwendungen wie Zoomtext und JAWS. Im Untersuchungszeitraum nutzte er nur den Computer mit einem in der Windows-Lupe eingestellten Kontrastschema und JAWS im Hintergrund. Seine Unterrichtsmaterialien erhielt er größtenteils digital und im E-Buch-Standard (Arbeitskreis Medienzentren, 2016).

Unterrichtsbeobachtungen.

Im Untersuchungszeitraum konnte bei Aziz an 5 Tagen hospitiert werden. Die Hospitationen fanden an unterschiedlichen Schultagen und in sieben verschiedenen Fächern statt. Insgesamt wurden 37 Unterrichtssituationen protokolliert und hinsichtlich Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch, auditiv) sowie Effektivität (effektiv, mehr oder weniger effektiv und nicht effektiv) durch zwei Coder/innen bewertet. Die Intercoder-Übereinstimmung im ersten Codierdurchgang lag bei 87.91 %. Für die Textstellen, bei denen es keine Übereinstimmung gab, wurde in einer gemeinsamen Codiersituation ein Konsens gefunden. Die Ergebnisse der Codierung sind in Tabelle 5.12 zusammengefasst.

Tabelle 5.12 Aziz Wahrnehmungspräferenzen im Unterricht

Insgesamt wurden für die 37 Unterrichtssituationen 45 Codings vergeben. Davon wurde in acht Situationen eine Doppelcodierung vorgenommen. Aziz kombinierte häufig unterschiedliche Zugänge, indem er visuell-auditiv (z. B. Schwarzschrift lesen mit Begleitung durch die Sprachausgabe), visuell-haptisch (z. B. Exploration von Modellen) oder haptisch-auditiv (z. B. Schreiben mit der Braillezeile und dem Tastaturecho der Sprachausgabe) arbeitete. In den Beobachtungen konnte keine eindeutige Präferenz für eine Kombination ausgemacht werden.

Die Unterrichtsbeobachtungen verdeutlichen überdies, dass Aziz im Erhebungszeitraum hauptsächlich visuell arbeitete (55.6 %), obwohl dies in vielen Situationen als nicht effektiv beurteilt wurde. Selbst bei maximaler Modifikation des Materials hinsichtlich Vergrößerung und Kontrast war sein Sehabstand zum Bildschirm minimal. Dazu kamen kompensatorische Kopfbewegungen beim Lesen. In einigen Situationen konnte überdies beobachtet werden, dass er statt des Kopfes den ganzen Bildschirm bewegte. Er erkannte keine Fotos und hatte Schwierigkeiten mit vereinfachten Abbildungen. In Situationen, in denen ihm keine Vergrößerung am PC zur Verfügung stand, konnte er nur unter Anstrengung, mit zusätzlicher Zeit und Unterstützung dem Unterricht folgen. Dennoch scheint Aziz den visuellen Zugang, wann immer möglich, zu bevorzugen.

Im Bereich der auditiven Wahrnehmung (28.9 %) konnte bei ihm vor allem der Einsatz der Sprachausgabe im Unterricht beobachtet werden. Diesbezüglich ergab sich ein heterogenes Bild. Er nutzte diese effektiv beim Schreiben als zusätzliche Kontrolle und auch als Ergänzung für längere Leseaufgaben. Die Beobachtungen machten außerdem deutlich, dass er die Sprachausgabe noch nicht selbstständig bedienen kann (z. B. Geschwindigkeit und Lautstärke anpassen) und er wichtige Textinformationen hörend schnell übergeht. Überdies konnte im Verlauf der Fallstudie ein Anstieg der Nutzung der Sprachausgabe bei Aziz beobachtet werden.

In dem Bereich Haptik konnten 15.6 % der Unterrichtssituationen zugeordnet werden. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um Schreibsituationen, an denen Aziz schnell und sicher die Tastatureingabe seiner Braillezeile bediente. Insgesamt waren Braille-Lesesituationen jedoch sehr selten. In den wenigen Situationen las er nur einzelne Wörter und zeigte Kompetenzlücken in den Bereichen Zahlen und Satzzeichen.

Zusätzlich wurden während der Unterrichtshospitationen die Lesezeiten protokolliert. An einem durchschnittlichen HospitationstagFootnote 7 las er 37 Minuten die Schwarzschrift, arbeitete 1 min mit der Brailleschrift und 2 min mit der Sprachausgabe.

Das pädagogische Team.

Aziz wurde im Untersuchungszeitraum von neun verschiedenen Blinden- u. Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen unterrichtet. Die Zusammenarbeit im Team bewertete die Klassenlehrerin als gut. Sie äußerte aber auch den Wunsch nach mehr kollegialem Austausch und einer intensiveren Kooperation. Im Alltag fehle häufig die Zeit, über einzelne Schülerinnen und Schüler mit dem gesamten Team zu sprechen, weshalb viel über E-Mails kommuniziert werde. Im Team wurde zudem vereinbart, dass Aziz in den Naturwissenschaften mit Bildschirmlesegerät arbeiten soll, weil er in Brailleschrift zu langsam ist. Eine generelle Regelung, wann er welches Schriftmedium einsetzen soll oder wann er die Sprachausgabe nutzen darf, gab es jedoch nicht.

Das Elternhaus.

Aziz lebte am Wochenende bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Unter der Woche wohnte er im Internat der Blinden- und Sehbehindertenschule. Zwischen Mutter und Schule fanden für gewöhnlich zwei Fördergespräche pro Jahr statt. Aziz Mutter wurde in den Interviews als kooperativ und interessiert, aber auch als fordernd beschrieben. Ihrerseits bewertete Aziz Mutter die Zusammenarbeit mit der Schule als ‚in Ordnung‘. Kritik übte sie vor allem, weil Aziz zu Hause seinen Laptop nicht richtig bedienen konnte. Diesbezüglich ging ihr die von der Schule angebotene Unterstützung nicht weit genug. Hinsichtlich der Brailleschrift sagte sie, dass die Brailleförderung erst nach dem Wechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule richtig begonnen habe. Diese zu akzeptieren, sei ihr persönlich sehr schwergefallen, weil sie Aziz selbst bei Kleinigkeiten nicht unterstützen konnte und sie sich deshalb sehr hilflos gefühlt habe. Die Lesekompetenzen ihres Sohnes bewertete sie als schlecht. Zu Hause hat Aziz keine Materialien in Punktschrift, weshalb er folglich am Wochenende nicht lesen kann.

Bezüge zur Kompetenzerhebung.

Im Zuge der Fallstudie wurden alle Tests zu den schriftsprachlichen Kompetenzen aus der Kompetenzerhebung mit Aziz durchgeführt (vgl. hierzu Kapitel 4). Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.13 zusammengefasst.

Tabelle 5.13 Aziz Ergebnisse in den Kompetenztests

In der Leseflüssigkeit zeigt sich, dass er verglichen mit der Normstichprobe in beiden Schriftmedien zu den schwächsten Leserinnen und Lesern seines Jahrganges gehört (vgl. hierzu Prozentrang unter <1 % in beiden Schriftmedien im SLRT-II). Verglichen mit den dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung, die den Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest ebenfalls in beiden Schriftmedien durchgeführt haben, sind Aziz Werte in Braille deutlich niedriger und in Schwarzschrift knapp höher als der Durchschnitt.

Aziz Leseverstehen ist im direkten Vergleich stärker ausgeprägt als sein Hörverstehen (vgl. hierzu LVG und HVG). In beiden Kompetenzen liegt er leicht über den Mittelwerten der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung.

Im Leseverstehen und Geschwindigkeitstest (LVG) liegt er mit 41 WpM in der Schwarzschrift deutlich unter dem Mittelwert der dual Lesenden von 72.53 WpM. Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass er sein hohes Lesetempo, was er im SLRT-II demonstrierte, nur über eine kurze Dauer abrufen kann, nicht aber bei längeren Leseaufgaben wie im LVG-Test. Daraufhin deuten zumindest die Ergebnisse zur Leseausdauer in Abbildung 5.41.

In der orthografischen Strategie (HSP) erreichte er mit einem T-Wert von 41 noch knapp den Durchschnittsbereich. Sein Wert liegt jedoch unter der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung und der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung.

Zusammenfassend kann man sagen, dass er ein gutes Verständnis im Lesen wie im Hören zeigt, knapp durchschnittliche Rechtschreibleistungen und schwache Braille-Lesekompetenzen in der Testung demonstrierte.

5.2.3.1 Fallanalyse

Auf die Darstellung von Aziz Ergebnissen folgt in diesem Teil die Diskussion seiner schriftsprachlichen Kompetenzen. Dazu werden die Erkenntnisse zu seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen, den zeitlichen Ressourcen, den Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien sowie seine Fördersituation diskutiert, mit der Fachliteratur verknüpft und Förderempfehlungen abgeleitet.

Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Basierend auf den Beobachtungen, der Lernbiografie von Aziz, den durchgeführten Testverfahren und den Erhebungen zum funktionalen Sehen werden nachfolgend Aziz visuelle, haptische und auditive Wahrnehmungsvoraussetzungen bewertet. Diese ermöglichen es ihm auf vielfältige Weise Informationen aufzunehmen, wodurch sie eine wichtige Voraussetzung zum Lernen darstellen.

Seine visuellen Voraussetzungen sind stark beeinträchtigt. Das zeigt die Evaluation seines funktionalen Sehens deutlich für die Bereiche: Visus, Gesichtsfeld, Farbwahrnehmung, Kontraste und Okulomotorik (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Dennoch arbeitete er in der überwiegenden Mehrheit (55.6 %) der beobachteten Unterrichtssituationen visuell (vgl. hierzu Tabelle 5.12). Dazu belegen die Interviewaussagen seiner Mutter und seiner Klassenlehrerin, dass Aziz seinem Sehsinn stark vertraut und in Lernsituationen bevorzugt. Das ist nicht erstaunlich, bedenkt man, dass er in der Vergangenheit Informationen hauptsächlich visuell aufgenommen hat und dies über Jahre gefördert und unterstützt wurde. Überdies geht aus den Unterrichtsbeobachtungen hervor, dass er von seinem Sehvermögen nach wie vor stark profitiert und er dieses noch in vielen Situationen effektiv nutzen kann. Deutlich wurden aber auch die Limitierungen, insbesondere bei Lese- und Schreibaufgaben (vgl. hierzu Tabelle 5.12 und Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Um sein Sehvermögen bestmöglich zu nutzen, ist Aziz deshalb auf Anleitung und vielfältige Anpassungen angewiesen, z. B. Erhöhung von Kontrasten, zusätzliche Beleuchtung, Vergrößerung und die Einführung von Hilfsmitteln (Barraga, 1986, S. 90). Die Bereitstellung allein ist in diesem Kontext jedoch nicht ausreichend. Dazu muss Aziz in dem effektiven Gebrauch durch eine sachverständige Fachperson angeleitet werden. Bei der Betrachtung seiner visuellen Wahrnehmungsvoraussetzung fällt zudem auf, dass er noch nicht bestmöglich versorgt ist. Eine neue Brille würde sein Sehvermögen in der Ferne deutlich steigern. Dies wurde auch bereits in zwei schulischen Low-Vision-Gutachten Aziz Bezugspersonen im Internat und seinen Eltern mitgeteilt. Insgesamt muss für die Zukunft jedoch mit einer weiteren Abnahme der visuell-perzeptiven Voraussetzungen gerechnet werden. Das verdeutlicht der Trend aus der Vergangenheit und seine augenärztliche Prognose. In der Konsequenz sollten haptische und auditive Alternativangebote schrittweise erhöht werden, um das Vertrauen in die anderen Sinne kontinuierlich zu stärken.

Hinsichtlich der haptischen Voraussetzungen zeigt Aziz bislang keine motorischen oder sensorischen Einschränkungen. Es nutzt sein Tastvermögen vor allem dann, wenn er dazu aufgefordert wird. In der Fallstudie erkannte er unterschiedliche Oberflächen, Texturen und Schriftzeichen in Braille problemlos. Bei der Exploration von taktilen Karten nutzte er meistens eine Mischung aus Tasten und Sehen. Beim Lesen der Punktschrift gebrauchte er zwei Hände, was als ein Ausdruck effektiver Lesebewegungen gedeutet werden kann (Hudelmayer, 1985, S. 132; Lang, 2003, S. 160). Dazu zeigte er keine Tastscheu und auch keine Ermüdungseffekte bei haptischen Aufgaben. Aus den Beobachtungen geht zudem hervor, dass er in 15.6 % der Unterrichtssituationen sein Tastvermögen einsetzte. In Zukunft wird er noch mehr Angebote benötigen, um sein Vertrauen in sein Tastvermögen zu stärken. Im Gegensatz zu den visuellen Voraussetzungen ist seine haptisch-perzeptive Wahrnehmung von keinen Einschränkungen betroffen, weshalb dieser auch ein großes Potenzial für die Zukunft zugeschrieben wird.

Die auditiven Voraussetzungen werden bei Aziz als gut bewertet. Es sind keine Hörbeeinträchtigungen bekannt und er zeigte auch keine Probleme im Sprachverstehen. Aziz erkannte Personen an der Stimme, konnte Geräusche in der Umwelt einer Quelle zuordnen und nutzte für längere Texte die Sprachausgabe. In 28.9 % der beobachteten Unterrichtssituationen arbeitete er überwiegend auditiv im Unterricht.

Zeitliche Ressourcen Brailleförderung.

Auffallend in Aziz Lernbiografie ist, dass er bislang lediglich sehr wenige Einzelförderstunden speziell zum Erlernen der Brailleschrift erhalten hat. Eine intensive Einführungsphase mit täglichem Brailleschriftkontakt über mehrere Monate, wie es viele Expertinnen und Experten für sinnvoll erachten, hat es in seinem Fall nur in verkürzter Form gegeben (Corn & Koenig, 2002, S. 315; Koenig & Holbrook, 1995, S. 85). Im Untersuchungszeitraum hatte er hauptsächlich im Leseklub, einer einstündigen Veranstaltung, die parallel zum Religionsunterricht angeboten wurde, Anwendungs- und Übungsmöglichkeiten. Einzelförderstunden erhielt er erstmals in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes. Diese fanden sporadisch alle zwei bis drei Wochen statt. Dazu war die im Fachunterricht beobachtete Brailleschriftnutzung von Aziz sehr gering ausgeprägt. An einem durchschnittlichen Hospitationstag las er nur eine Minute die Brailleschrift. Zumeist handelte es sich bei den Leseanlässen in der Punktschrift um einzelne Wörter, die Aziz im Deutschunterricht oder den Naturwissenschaften vorlesen sollte. Die Angebote waren jedoch selten und wurden nur von wenigen Lehrpersonen vorbereitet. Vermutlich hatten viele Lehrkräfte ihre Bemühungen aufgrund von Aziz Ablehnung und seinem niedrigen Kompetenzniveau bereits eingestellt. Dadurch fehlte es ihm an Gelegenheiten, sich zu verbessern. Es überrascht deshalb nicht, dass er seine Braillekompetenzen im Untersuchungszeitraum nicht verbessern konnte.

Daraus folgt, dass es in seinem Fall bislang vor allem an Übungs- und Förderzeit fehlt. Bemühungen seitens der Bildungsinstitution, an diesem Zustand etwas zu ändern, waren zwar erkennbar, aber nicht ausreichend. Zum Zeitpunkt des Brailleschriftspracherwerbs hatten seine Mitschülerinnen und Mitschüler einen Lernvorsprung von vier Jahren. Damit diese Lücke nicht noch weiter anwächst und nach Möglichkeit verkürzt wird, ist eine intensive systematische Einzelförderung notwendig. Diese sollte durch eine oder mehrere qualifizierte und motivierte Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen durchgeführt werden. Empfohlen wird deshalb eine Förderung, die mindestens 1–2 Stunden täglich umfasst und die mindestens ein Schuljahr andauert, um ein basales Leseniveau zu erreichen (Corn & Koenig, 2002, S. 317; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686).

Danach sollte entschieden werden, ob die Intensität aufrechterhalten werden muss oder reduziert werden kann. Eine regelmäßige Einzelförderung wird jedoch als unerlässlich erachtet, damit Aziz schnell Lernfortschritte machen kann. Diese parallel zum Fachunterricht anzubieten, ist auf jeden Fall eine organisatorische Herausforderung, die sich aber langfristig für alle Beteiligten lohnt. Indem Aziz seine Kompetenzen in der Brailleschrift verbessert, wird er dem Fachunterricht leichter folgen können und seine Lern- und Bildungsmöglichkeiten steigern. Weitere Empfehlungen, wie sich die zeitlichen Ressourcen parallel zum Unterricht erhöhen lassen, finden sich im theoretischen Teil der Arbeit (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.7).

Lesekompetenzen in der Schwarzschrift.

Nach übereinstimmenden Aussagen ist Aziz Hauptlesemedium die vergrößerte Schwarzschrift. In der Langzeiterhebung von 12 Monaten lag seine Lesegeschwindigkeit im Mittel bei 49.9 WpM mit einer Fehlerrate von 0.9 %. Folglich kann er kurze Texte, wie z. B. Aufgabenstellungen oder kurze Sachtexte, noch mit einer hohen Genauigkeit lesen. Bei ausdauernden Leseaufgaben reduzierte sich seine Geschwindigkeit jedoch auf 31.9 WpM. Für längere Texte ist die Schwarzschrift für ihn deshalb oft keine Option. Dazu unterlag seine Geschwindigkeit in allen Testungen starken Schwankungen.

Ein ähnliches Bild ergibt sich auch bei der Betrachtung von Aziz Testergebnissen im Vergleich mit den Ergebnissen der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung. Im Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest aus dem SLRT-II las er mit 53 richtigen WpM (Wortlisten) noch schneller als die Teilnehmenden der Kompetenzerhebung, während er im Leseverstehen und Geschwindigkeitstest (LVG) mit 41 WpM im Textlesen langsamer war (vgl. hierzu Tabelle 5.13). Demnach bestätigen auch die durchgeführten Testverfahren, dass er bei kleinen Leseaufgaben deutlich besser abschneidet als bei längeren Texten.

Vergleicht man Aziz mit gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung aus der Normierungsstichprobe des SLRT-II, dann erreicht er einen Prozentrang von <1 %. Demzufolge lesen weniger als ein Prozent der Schülerinnen und Schüler ohne Sehbeeinträchtigung mit der gleichen oder einer niedrigeren Geschwindigkeit als Aziz. In der Schwarzschrift braucht er folglich bei kurzen Texten mehr als die doppelte Lesezeit. Bei längeren Texten sollte mindestens dreimal so viel Lesezeit eingerechnet werden und zusätzliche Lesepausen.

In seiner Klasse an der Blinden- und Sehbehindertenschule gehört er ebenfalls zu den Schülerinnen und Schülern mit der geringsten Lesegeschwindigkeit. Bei Leseaufgaben braucht er häufig mehr Zeit als seine Mitschülerinnen und Mitschüler. Jedoch gibt es in seiner Klasse auch andere Lernende, die ebenfalls Schwierigkeiten mit der Lesegeschwindigkeit haben, weshalb er aktuell noch mithalten kann.

Eine Stärke von Aziz ist, dass er gelesene Texte meistens sehr gut versteht. Das zeigt sich auch im Leseverstehen- und Geschwindigkeitstest (LVG) aus der Kompetenzerhebung, bei der er hinsichtlich des Leseverstehens besser abschnitt als viele andere dual Schriftnutzende (vgl. hierzu Tabelle 5.13).

Bei visuellen Leseaufgaben ist er aktuell stark auf seine PC-Ausrüstung in der Schule angewiesen. Mithilfe eines beweglichen Schwenkarms kann er den Sehabstand zum Computermonitor auf drei Zentimeter verkürzen. Die Kontraste sind durch eine Invertierung maximiert und die Schriftvergrößerung liegt bei einer Buchstabenhöhe von 1–2 cm. Bei einer derart starken Vergrößerung verkleinert sich beim Lesen die visuelle Spanne. Dadurch müssen mehr Fixationen und Sakkaden sowie Kopfbewegungen ausgeführt werden. In der Folge wird das Lesen mit steigender Vergrößerung immer ineffektiver (Lusk & Corn, 2006b, S. 661). Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass Aziz über eine erhöhte Anstrengung beim Lesen klagt. Dazu ist er stark auf die Hilfsmittelausstattung in seinem Klassenraum angewiesen. Außerhalb des Unterrichts steht ihm diese nicht zur Verfügung, weshalb seine Leseprobleme dort deutlicher zum Vorschein treten. Bislang fehlte es ihm jedoch an Alternativen, weswegen er an der Schwarzschrift festhält, obwohl der Gebrauch in vielen Bereichen nicht mehr effektiv ist. Vor dem Hintergrund von Aziz Augenerkrankung und seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass er seine Lesekompetenz in der Schwarzschrift noch steigern wird. Zudem führen die Einschränkungen dazu, dass er weder die aktuellen noch die zukünftigen Leseanforderungen erfüllt.

Lesekompetenzen in der Brailleschrift.

Zu Beginn der Fallstudie lag die Einführung der Punktschrift bereits 2.5 Jahre zurück und Aziz las diese mit einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von 12 WpM. Seit Beginn des Schriftspracherwerbs entspricht das einer monatlichen Steigerung von durchschnittlichen 0.4 Wörtern pro Monat. Nach Hasbrouck und Tindal verbessern Grundschülerinnen und -schüler ohne Sehbeeinträchtigung in der ersten Klasse ihre Lesegeschwindigkeit um durchschnittlich 7.6 Wörter pro Monat (Hasbrouck & Tindal, 2017, S. 10). Bei einer derartigen Gegenüberstellung muss natürlich Aziz Sehbeeinträchtigung und seine besondere Lernausgangslage berücksichtig werden (Koenig & Holbrook, 2010, S. 454). Aber auch unter Einbezug dieser beiden Faktoren, erscheint der Unterschied sehr groß zu sein.

Betrachtet man Aziz Lernentwicklung im Untersuchungszeitraum von 12 Monaten (vgl. hierzu Abbildung 5.39), dann fällt auf, dass er seine Lesegeschwindigkeit auch in diesem Zeitraum kaum steigern konnte. Im Mittel lag diese bei 15.2 WpM. Folglich sollte seine aktuelle Brailleförderung überdacht werden und nach neuen Fördermöglichkeiten gesucht werden.

Neben der Geschwindigkeit wurden auch die Lesefehler von Aziz protokolliert. Im Mittel lagen diese bei 6.3 %, allerdings wurden bei der Lesetestung nur sehr einfache Texte verwendet (LIX <35 %). Bei Leseaufgaben aus seinem Schulbuch machte er verstärkt Lesefehler. Dabei zeigte sich, dass er Satzzeichen, Rechenzeichen und Zahlen nur mit Hilfestellung erkennen kann. Im Untersuchungszeitraum änderte sich an diesem Zustand nichts. Folglich reduzierte er in den 12 Monaten auch nicht seine Fehlerrate.

Aziz Lesekompetenz in der Punktschrift lässt sich überdies mithilfe des Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest aus dem SLRT-II mit dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung und der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung vergleichen (Moll & Landerl, 2014). In dem Test erreichte er 9 richtig gelesene Wörter pro Minute (WPM), die dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung 19.85 WpM und die Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung 115.17 WpM (vgl. hierzu Tabelle 5.13). Demzufolge lesen andere dual Schriftnutzende in Braille doppelt so schnell wie Aziz und Schülerinnen und Schüler ohne Sehbeeinträchtigung in der Schwarzschrift mehr als zehnmal so schnell. Unabhängig von der Vergleichsgruppe zeigt sich deshalb eindeutig, dass Aziz Kompetenzen sehr niedrig sind und er deshalb dringend eine intensivere Förderung braucht.

Neben den bereits genannten Variablen wurde auch Aziz Leseausdauer in der Brailleschrift mithilfe eines informellen und 15 Minuten dauernden Lesetests erhoben. Nach Koenig und Holbrook (2010, S. 463) ist bei der Beurteilung der Angemessenheit eines Schriftmediums die Leseausdauer ein wichtiger Faktor. In der Testung erzielte Aziz einen Mittelwert von 9.9 WpM (vgl. hierzu Abbildung 5.41). Im direkten Vergleich las er zwar bei ausdauernden Leseaufgaben die Schwarzschrift schneller, allerdings war seine Lesegeschwindigkeit in Braille deutlich weniger Schwankungen unterworfen und ein Ermüdungseffekt war in der Überprüfung ebenfalls nicht erkennbar. Daraus folgt, dass die Punktschrift für längere Leseaufgaben prinzipiell besser geeignet erscheint.

Insgesamt werden Aziz Lesekompetenzen in der Brailleschrift, vor dem Hintergrund seiner bisherigen Nutzungsdauer, als zu niedrig bewertet. Auf der Suche nach Gründen für sein Abschneiden wurden weitere Datenquellen herangezogen, z. B. die geführten Interviews, die Informationen aus der Schülerakte, die Unterrichtsbeobachtungen und Feldnotizen. Nachfolgend werden mögliche Erklärungen und Ursachen diskutiert:

  • Aziz beginnt erst mit der Punktschrift, nachdem er in seiner Klasse bereits nicht mehr mitkommt. Das ist nach Corn und Koenig (2002, S. 319) der falsche Zeitpunkt, der auch auf eine fehlende frühzeitige Erkennung hinweist. Erschwert und hinausgezögert wurde der Erwerb zusätzlich durch mehrere Schul- und Wohnortwechsel.

  • Auf die Entscheidung, Aziz die Brailleschrift beizubringen, folgte keine Einzelförderung. Stattdessen lernte er die Punktschrift im Klassenkontext. Folglich hat er nicht die Ressourcen erhalten, die für eine Einführung als notwendig erachtet werden (Corn & Koenig, 2002, S. 315; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686). Sein Rückstand wächst dadurch weiter.

  • Als nicht sinnvoll wird auch die Einführung der Vollschrift in Klasse sechs bewertet. Zu diesem Zeitpunkt kannte er die Satzzeichen, die Rechenzeichen und Zahlen in seinem Erstsystem Computerbraille noch nicht. Nach eigener Aussage verwirrten ihn die Einführung in die Vollschrift. Dazu hatte er keine Anwendungsmöglichkeiten für das neue Brailleschriftsystem, weil er außerhalb des Förderunterrichts nur Materialien in Computerbraille nutzte. Bezugnehmend auf Troughton (1992, S. 22) sollte gerade bei Schülerinnen und Schülern, die bereits Schwarzschriftkenntnisse vorweisen, die Einführung weiterer Brailleschriftsysteme gut überlegt sein. Dazu kommt, dass die Förderung nur sporadisch durchgeführt wurde in Einzelförderstunden alle zwei bis drei Wochen über einen Zeitraum von einem Jahr.

  • Aziz fehlender Lernfortschritt kann aber auch auf eine mangelnde Priorisierung zurückgeführt werden. In den geführten Interviews sagte seine Klassenlehrerin, dass die Brailleförderung aktuell keine Priorität habe. Stattdessen hat man sich im pädagogischen Team darauf verständigt, vorrangig seine Hilfsmittelkompetenzen zu fördern, damit er dem Fachunterricht besser folgen kann. Diese Schwerpunktsetzung wurde auch von Aziz Mutter unterstützt, die ebenfalls den größten Förderbedarf im Bereich der technischen Hilfsmittel insbesondere dem 10-Finger-Schreiben sah. Diese Gewichtung führte im Untersuchungszeitraum zu einem merklichen Anstieg von Azizs Nutzung der Sprachausgabe. Das ist zwar kurzfristig im Unterricht hilfreich, langfristig erscheint es jedoch fraglich, ob er ohne Lesekompetenzen in Schule, Alltag und Beruf die gleichen Bildungschancen haben wird. Dazu betonen Koenig und Holbrook (1995, S. 76), dass der auditive Zugang kein Ersatz für Lese- und Schreibkompetenzen darstellt.

  • In der Konsequenz ist auch wenig erstaunlich, dass die Erwartungshaltung seitens der Klassenlehrerin sehr niedrig ausfiel. Im Interview sagte sie, dass sie nicht glaube, dass Aziz ein flüssiger Leser werde. Mit dieser Einstellung war sie nicht allein im pädagogischen Team. Problematisch ist diese Haltung, weil Aziz sein Lernverhalten nicht ändern wird, wenn niemand ernsthaft an seinen Lernerfolg glaubt. Nach Stanfa und Johnson (2015) wirken sich hohe Erwartungshaltungen der Lehrpersonen in der Brailleförderung positiv auf die Lernentwicklung aus. Niedrige Erwartungen bergen hingegen die Gefahr, der sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung. Insbesondere Schüler wie Aziz mit einem geringen Selbstwertgefühl, die nicht an ihren eigenen Lernfortschritt glauben, brauchen deshalb optimistische Lehrpersonen mit hohen Erwartungen und einer ressourcenorientierten Perspektive. Im Fall von Aziz ist das eine Herausforderung, weil er die Brailleschrift stark ablehnt. Aziz Lehrpersonen taten sich deshalb sehr schwer, gegen seinen Widerstand anzuarbeiten, und sie hatten in der Konsequenz ihre Bemühungen, ihm mehr Punktschrift im Unterricht anzubieten, häufig bereits eingestellt.

  • Aziz Widerstand gegen die Brailleschrift ist ein weiterer Punkt, der seinen Lernfortschritt beeinträchtigt. Seine Ablehnung hat sich über Jahre manifestiert und kann nicht unabhängig von seiner Lernbiografie betrachtet werden, die diese Entwicklung begünstigt hat. In den Interviews spricht er davon, dass die Einführung der Brailleschrift seine schulischen Probleme verstärkt hat und einer der Gründe für seinen Schulwechsel war. Deshalb ist diese von Anfang an negativ konnotiert. Dazu kommt ein ausgeprägtes Selbstbild als Nichtleser, das er über Jahre aufgebaut hat und auf der Wahrnehmung basiert, dass er unabhängig vom Schulort und Lesemedium immer zu den schwächsten Lesenden in seiner Klasse gehört hat. In der Folge meidet er Lesesituationen, weil ihm diese seine Defizite vor Augen führen. Dazu beigetragen haben auch Kommentare von Mitschülerinnen und Mitschülern oder Lehrpersonen, die ihn für seine niedrige Lesekompetenz kritisieren. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass er im Klassenkontext die Brailleschrift ablehnt. In Einzelfördersituationen tat er dies nicht. Folglich werden die Erfolgschancen einer Einzelförderung als gut angesehen.

  • Aus den Interviews und den Unterrichtsbeobachtungen ging überdies hervor, dass Aziz Schwierigkeiten im Lern- und Arbeitsverhalten zeigt. Er lässt sich leicht ablenken und macht nie mehr, als er muss. Die Punktschrift liest er nur nach Aufforderung und mit Unterstützung. Versuche, Aziz außerhalb der Unterrichtszeit zum Lesen in seiner Freizeit zu bewegen, zeigten bei ihm keine Wirkung, obwohl ihm individualisierte, interessengeleitete Texte zur Verfügung gestellt wurden. Dieses Verhalten hat dazu beigetragen, dass sich viele Lehrpersonen von Aziz von ihm ein höheres Engagement und mehr Eigeninitiative wünschten.

  • Um Aziz Lesezeiten außerhalb der Schule in der Brailleschrift zu erhöhen, müssten auch seine Eltern und das Internat stärker in die Förderung einbezogen werden. Im Interview sagte Aziz Mutter, dass sie gerne möchte, dass er ein guter Punktschriftleser wird. Sie meinte aber auch, dass sie ihn in diesem Prozess nicht unterstützen kann, weil sie von Brailleschrift nichts versteht. Im Internat war Aziz Brailleförderung bislang noch kein Thema, weshalb er am Nachmittag und am Wochenende in der Vergangenheit meistens keinen Punktschriftkontakt hat. In der Fachliteratur besteht jedoch ein breiter Konsens darüber, dass für den Erfolg der Förderung der Einbezug von Bezugspersonen und Eltern sehr wichtig ist (Argyropoulos et al., 2008, S. 229; Holbrook & Koenig, 1992, S. 44; Stanfa & Johnson, 2015). Diese können zum Lernerfolg beitragen, indem sie das Gelernte wiederholen, Interesse am Lernfortschritt zeigen, motivieren und Erfolge positiv verstärken. Für viele Familien ist das eine Selbstverständlichkeit. Bei der Brailleschrift sind allerdings Eltern häufig sehr zurückhaltend, weil sie selbst über kein Punktschriftwissen verfügen. Die Förderung muss deshalb die Familien und wichtige Bezugspersonen einbeziehen. Das kann beispielsweise in Form von Elternkursen geschehen, bei denen diese Grundlagen der Brailleschrift kennenlernen und Unterstützungsmöglichkeiten ihres Kindes aufgezeigt werden.

Insgesamt zeigt sich in Aziz Fall, dass eine ganze Reihe von Faktoren in der Vergangenheit dazu geführt haben, dass er in der Punktschrift keine Fortschritte gemacht hat. In den Interviews mit der Klassenlehrerin, Aziz und seiner Mutter war allen der Frust über diesen Zustand anzumerken, auch wenn alle dafür unterschiedliche Erklärungen anführten. Um daran etwas zu ändern, müssen alle Beteiligten ihre Anstrengungen erhöhen. In diesem Prozess haben die Blinden- und Sehbehindertenpädagogen jedoch die größte Verantwortung, weil sie über die meiste Kompetenz im Bereich der Brailleschrift verfügen und folglich die Förderung anleiten müssen.

Ein Minimalziel der Brailleförderung könnte in diesem Zusammenhang eine Lesegeschwindigkeit von 50 WpM sein. Das entspricht ungefähr Aziz aktuellem Kompetenzniveau in der Schwarzschrift mit dem Unterschied, dass ihm eine derartige Lesegeschwindigkeit in der Brailleschrift auch ausdauerndes Lesen ermöglichen würde. Das anvisierte Minimalziel liegt sogar noch knapp unterhalb der durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit aus der Studie der Zukunft der Brailleschrift (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 11), weshalb es als realistisch angesehen wird. Geht man beispielsweise davon aus, dass Aziz bei einer intensiven Förderung im Schnitt seine Lesegeschwindigkeit um drei Wörter pro Monat steigert, dann würde er ausgehend von seiner aktuellen Lesegeschwindigkeit das Ziel bereits innerhalb von zwölf Monaten erreichen. Gleichzeitig sollten Aziz Lücken im Braillecode (z. B. Zahlen, Rechenzeichen, Satzzeichen) geschlossen und die Lesefehler auf ein Minimum reduziert werden. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass er seine Kompetenzen weiter steigern kann. Mit zunehmender Lesegeschwindigkeit werden sich auch mehr Leseanlässe ergeben, die dazu beitragen, dass sich seine Kompetenzen stabilisieren und selbst verstärken.

Nutzung der Sprachausgabe.

Die Unterrichtsbeobachtungen konnten zeigen, dass Aziz die Sprachausgabe im Untersuchungszeitraum ergänzend zur Schwarzschrift nutzte (vgl. Tabelle 5.12). Das hatte mehrere Gründe. Die Überprüfung mit dem erweiterten Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard konnte zeigen, dass seine Bedienkompetenzen hinsichtlich des Screenreaders noch sehr grundlegend waren (vgl. hierzu Tabelle 5.11). D. h., er konnte einen barrierefreien Text mit der Sprachausgabe anhören, dabei konnte er jedoch noch nicht das Sprechtempo, die Lautstärke oder Sprechpausen kontrollieren. Nach McNear und Farrenkopf (2014, S. 208) ist das Erlernen von Bedienkompetenzen mit der Sprachausgabe eine Herausforderung. Aziz wurde diesbezüglich im Klassenkontext ebenso wie in speziellen Einzelförderstunden zur Hilfsmittelkompetenz gefördert. Im Untersuchungszeitraum machte er deshalb Fortschritte, dennoch brauchte er zur Problemlösung häufig die Unterstützung durch eine Lehrperson. Aziz stand der Nutzung der Sprachausgabe jedoch auch kritisch gegenüber. In den Interviews sagte er, dass er das visuelle Lesen trotz Anstrengung häufig bevorzuge, weil er dann mehr verstehe. Die durchgeführten Testverfahren zum Leseverstehen und zum Hörverstehen bestätigen diese Aussage. Im Leseverstehen und Geschwindigkeitstest (LVG) erreichte er höhere Werte als in der Parallelversion zum Hörverstehen und Geschwindigkeitstest (HVG). Im direkten Vergleich mit den dual Schriftnutzenden aus der Studie Kompetenzerhebung erzielte er leicht höhere Werte in beiden Testverfahren (vgl. hierzu Tabelle 5.13).

Einer der Gründe, warum Aziz anfänglich Schwierigkeiten mit der Sprachausgabe hatte, war eine zu hohe Sprechgeschwindigkeit. Gemeinsam mit seiner Klassenlehrerin stellte er deshalb diese im Untersuchungszeitraum standardmäßig auf 107 WpM. Das ist etwa doppelt so schnell wie in der Schwarzschrift und ca. sieben Mal schneller als seine Lesegeschwindigkeit in Braille (vgl. hierzu Tabelle 5.9). Der Vergleich verdeutlicht, dass die Sprachausgabe für Aziz in vielen Unterrichtssituationen unerlässlich ist. Durch diese steigert er seine Produktivität, kann größere Textmengen bewältigen und erreicht auch die Klassenziele. Zu den Nachteilen zählt, dass er durch den Gebrauch auditiver Hilfsmittel nicht die gleichen schriftsprachlichen Kompetenzen aufbaut wie beispielsweise durch das Lesen (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 418; Swenson, 2016, S. 263). Kritisch muss angemerkt werden, dass er häufig keine Wahl hatte und von unterschiedlichen Lehrpersonen zu dem Gebrauch der Sprachausgabe aufgefordert wird. Aziz begründet das in den Interviews damit, dass er in Braille zu langsam liest und für die Schwarzschrift zu wenig sieht bzw. nicht ausdauernd arbeiten kann. Folglich bleibt ihm häufig nichts anderes übrig, als mit der Sprachausgabe zu arbeiten. Für eine Übergangszeit erscheint das auch vertretbar, allerdings sollten parallel dazu auch Kompetenzen in der Brailleschrift gefördert werden (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 418). Mehrere Interviewaussagen belegen jedoch, dass bei Aziz die Förderung der Punktschrift nachrangig ist. Diese Schwerpunktsetzung wird kritisch bewertet, denn Hörkompetenzen sind kein Ersatz für Lesekompetenzen (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 24). Dazu sollte jede Schülerin und jeder Schüler unabhängig vom Verlauf der Sehbeeinträchtigung und dem Lesemedium bis zum Ende der Schulzeit über funktionale schriftsprachliche Kompetenzen verfügen (Koenig, 1992, S. 281).

Schreibkompetenzen.

Im Deutschunterricht konnte beobachtet werden, dass Aziz sehr gerne kreative Texte schreibt. Er bevorzugt dazu die Brailleeingabe, während er das Geschriebene am Bildschirm oder mit der Sprachausgabe kontrolliert. Das führt dazu, dass seine Schreibkompetenzen in der Brailleschrift deutlich höher ausfallen als seine Lesekompetenzen. In der Testung demonstrierte er auf der Braillezeile und der Punktschriftmaschine eine schnellere Schreibgeschwindigkeit als handschriftlich. Seine Geschwindigkeit an der Braillezeile übertraf sogar die auf der PC-Tastatur (vgl. hierzu Tabelle 5.10). Aus der Testung geht ebenfalls hervor, dass Aziz an der Punktschriftmaschine die wenigsten Schreibfehler machte. Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis könnte sein, dass er sich stärker konzentriert, um diese zu vermeiden, weil sich Fehler nachträglich an der Punktschriftmaschine nur schwer korrigieren lassen. Seine Präferenz für die Brailleeingabe erklärt sich wiederum aufgrund der Fingerposition beim Schreiben. In der Punktschrift muss jeder Buchstabe einzeln durch Drücken einer Tastenkombination produziert werden. Die Finger verbleiben deshalb immer auf denselben Tasten. Im Gegensatz dazu muss Aziz auf der PC-Tastatur jede Taste suchen und sicher identifizieren, was er bislang noch nicht automatisiert beherrscht.

Für seine weitere Brailleförderung sind seine Schreibkompetenzen ein großer Vorteil und ein guter Ausgangspunkt. Beispielsweise kann das Lesen von eigenen Texten sehr motivierend sein, weshalb Aziz immer dazu aufgefordert werden sollte, Selbstgeschriebenes auch zu lesen (Swenson, 2016, S. 206). Im Unterricht nutzte er die Punktschriftmaschine für gewöhnlich nicht. Ein verstärkter Einsatz sollte aber in Erwägung gezogen werden, weil dadurch neue Leseanlässe geschaffen werden. Dabei ist es wichtig, Aziz nicht zu überfordern und die Lese- und Schreibanlässe funktional auszuwählen.

Neben der Schreibgeschwindigkeit wurde Aziz Rechtschreibkompetenz mithilfe der Hamburger Schreibprobe (May et al., 2016a) erhoben, die auch in der Kompetenzerhebung eingesetzt wurde. Im direkten Vergleich lag sein Ergebnis leicht unter dem der dual Schriftnutzenden aus der Studie (vgl. hierzu Tabelle 5.13). Dazu verdeutlicht die Gegenüberstellung mit der Normierungsstichprobe, dass seine Rechtschreibkompetenz im unteren Normalbereich liegen und deshalb erstmal keiner weiteren Förderung bedarf, wobei er durchaus von Rechtschreibangeboten im regulären Deutschunterricht profitieren würde.

Fördersituation.

An Aziz Schule arbeiten überwiegend Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen, die ebenfalls den Fachunterricht verantworten. Insgesamt wird er von neun unterschiedlichen Lehrpersonen unterrichtet. Das erschwert die Vereinbarung von übergeordneten Zielen in der Brailleförderung, weil diese immer in Konkurrenz zu allgemeinen fachlichen Zielen stehen. Überdies sehen viele Lehrerinnen und Lehrer Aziz nur wenige Stunden pro Woche. In einem Team dieser Größenordnung kann es zudem schnell zu abweichenden Einstellungen hinsichtlich des zu fördernden Schriftmediums kommen. Erschwerend wirkt auch der Wechsel von Lehrpersonen am Schuljahresende. Eine kontinuierliche Förderung und die Übernahme von Verantwortung für eine langfristige Förderung werden dadurch erschwert. Das ist problematisch, weil der Erwerb von funktionalen Lese- und Schreibkompetenzen mehrere Schuljahre in Anspruch nimmt (Lusk & Corn, 2006b, S. 662; Stanfa & Johnson, 2015). Dazu sollte die Förderung kontinuierlich und systematisch aufgebaut sein (McCarthy & Holbrook, 2017, S. 370). In Aziz Fall kann man davon ausgehen, dass die Brailleförderung bis zum Ende seiner Schulzeit ein wichtiges Thema bleiben wird. Aus den genannten Gründen ist es wichtig, dass sein Förderzentrum eine Strategie erarbeitet, die sich bis zum Ende der Schulzeit erstreckt. Hilfreich wäre in diesem Kontext, wenn sich das Kollegium auf Mindeststandards im Lesen verständigt, die von allen Schülerinnen und Schülern ohne zusätzliche Beeinträchtigung unabhängig vom Start des Brailleschriftspracherwerbs erreicht werden sollen. Diese können Teil eines übergeordneten Schulkonzepts zur Leseförderung sein, wie es beispielsweise auch an vielen allgemeinen Schulen existiert (Krug & Nix, 2017). Dazu würden gemeinsam definierte Standards dazu beitragen, dass die Brailleförderung als kollektive Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer aufgefasst wird. Orientierung bei der Formulierung dieser Lernziele können die Ergebnisse der Studie Zukunft der Brailleschrift liefern (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019).

Bei der Betrachtung von Aziz Fördersituation fällt zudem auf, dass sich das pädagogische Team in einem Dilemma befindet. Aziz Klassenlehrerin beschreibt in den Interviews, dass im Unterricht die Zeit fehlt, um einerseits Lesekompetenzen und fachliche Ziele gleichzeitig zu fördern. In der Konsequenz wird bei Aziz verstärkt die Computer- und Sprachausgabe genutzt, damit er die Klassenziele erreicht. Eine wirksame Brailleförderung blieb jedoch in der Vergangenheit aus, obwohl der Bedarf durchaus von mehreren Lehrpersonen im Team gesehen wurde. In diesem Kontext muss hervorgehoben werden, dass das pädagogische Team unter einem starken Druck stand, die allgemeinen Lernziele zu erfüllen. Niemand wollte deshalb eine Entscheidung zugunsten einer verstärkten Brailleförderung treffen, die gleichzeitig Klassenziele gefährden würde. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, über die langfristigen Konsequenzen nachzudenken. Aziz wird nach Aussagen seiner Klassenlehrerin mit der aktuellen Förderung, dem Nachteilsausgleich und bei einer verstärkten Nutzung der Sprachausgabe einen Schulabschluss schaffen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Bildungs- und Teilhabechancen er nach der Schule mit seinen Lesekompetenzen haben wird. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass ein Schüler wie Aziz, der sich als Nichtleser beschreibt, nach Abschluss der Schulzeit die Brailleschrift im Selbststudium erlernen wird. Er ist deshalb stärker als andere Schülerinnen und Schüler davon bedroht, die Schule ohne ausreichende Lesekompetenzen zu verlassen mit weitreichenden Folgen für seine Zukunft.

Die Alternative zu dem eingeschlagenen Weg wäre eine Intensivierung der Brailleförderung mit dem Risiko, dass sich die Schulzeit von Aziz aufgrund der Schrifterweiterung verlängert. D’Andrea (1997, S. 135) hält dies für die bessere Option bei Schülern wie Aziz, weil dadurch sichergestellt werde, dass die Lernenden die Schule mit funktionalen schriftsprachlichen Kompetenzen verlassen. Ein zusätzliches Schuljahr ist in diesem Kontext aber nur das letzte Mittel. Zuvor kann probiert werden, die Lücke mithilfe von Einzelförderstunden am Vormittag, Nachhilfestunden am Nachmittag und Ferienkursen zu schließen (siehe hierzu auch Abschnitt 2.3.7). Bei Aziz wurden diesbezüglich noch nicht alle Möglichkeiten ausgereizt. Zudem ist es wichtig, seinen Lernprozess nicht noch weiter hinauszuzögern. Das kann auch mit Erkenntnissen aus der Studie Zukunft der Brailleschrift begründet werden, die gezeigt hat, dass insbesondere dual Schriftnutzende von einer möglichst frühen Brailleförderung profitieren und der Erwerb deshalb nicht in die Zukunft verlegt werden sollte (Winter et al., 2019, S. 103). Eine intensive Förderung noch im Laufe der Schulzeit kann zudem die Schülerin oder den Schüler vor nachschulischen Misserfolgen aufgrund fehlender schriftsprachlicher Kompetenzen bewahren.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Eltern und die Bezugspersonen aus dem Internat in die Förderung einzubeziehen und sich auf einen gemeinsamen Lernweg und Ziele zu einigen. Um das pädagogische Team vor überzogenen Erwartungshaltungen zu schützen, kann es zudem hilfreich sein zu erklären, dass der Erwerb eines neuen Schriftmediums Jahre in Anspruch nehmen kann. Gleichzeitig sollte allen Bezugspersonen gezeigt werden, wie sie diesen Prozess unterstützen können und welch wichtige Rolle sie im Erwerbsprozess spielen. In Aziz Fall war das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule bereits angespannt. Das zeigte sich in den Interviews nicht zuletzt an unterschiedlichen Erwartungshaltungen und der Bewertung der Zusammenarbeit. Das erschwert eine Kooperation und das Finden gemeinsamer Ziele. Nichtsdestotrotz muss zum Wohle von Aziz ein Konsens über seine Förderung gefunden werden.

5.2.3.2 Förderempfehlungen und Schlussfolgerungen

Aziz ist ein herausfordernder Fall, der deutlich aufzeigt, wie schwierig ein nicht-paralleler Erwerb der Brailleschrift im Laufe der Schulzeit sein kann.

Positiv hervorzuheben ist, dass Aziz dem Fachunterricht am Förderzentrum bislang folgen konnte und voraussichtlich sogar einen Schulabschluss schaffen wird. Dazu verbesserte er seine Hilfsmittelkompetenzen im Beobachtungszeitraum und demonstrierte ebenfalls gute Schreibkompetenzen mithilfe der Brailleeingabe. Zudem wurden regelmäßige Low-Vision-Überprüfungen am Förderzentrum durchgeführt. Seine Unterrichtsmaterialien waren größtenteils digital und barrierefrei, wodurch er bereits sehr früh hohe Kompetenzen am Computer erlernte.

Im Gegensatz dazu zeigte Aziz im Untersuchungszeitraum keine Fortschritte im Lesen der Brailleschrift, was angesichts fehlender Priorisierung und Förderung nicht verwundert. Dazu fehlte es an zeitlichen Ressourcen und einer systematischen Förderstrategie. Es greift deshalb auch zu kurz, den fehlenden Lernfortschritt mit Aziz Abneigung gegenüber der Brailleschrift zu begründen oder mit unzureichender elterlicher Unterstützung. Vielmehr zeigt die Fallanalyse, dass sich eine Vielzahl von Faktoren negativ auf seine Brailleförderung auswirkt. Aus diesem Grund müssen alle Beteiligten ihre Bemühungen intensivieren, damit Aziz ein flüssiger Braille-Leser werden kann. Eine verstärkte Leseförderung wird auch dazu führen, dass er dem Fachunterricht besser folgen kann und seine langfristigen Lern-, Bildungs- und Berufschancen verbessert (Ryles, 1996, S. 224), was im Interesse aller Beteiligten ist. Folgende Förderempfehlungen können in diesem Prozess leitend sein:

  1. 1.

    Erhöhung zeitlicher Ressourcen. Aziz braucht eine intensive Einzelförderung in der Brailleschrift, die durch eine qualifizierte und motivierte Fachperson durchgeführt wird und mindestens 1–2h täglich umfasst. Die Förderung sollte in dieser Intensität über ein Schuljahr aufrechterhalten werden. Danach sollte das pädagogische Team überprüfen, ob die Intensität reduziert werden kann. Dies kann beispielsweise mithilfe eines Learning Media Assessment (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1) umgesetzt werden.

  2. 2.

    Festlegung von Förderzielen. In der Brailleförderung sollte eine minimale Leseflüssigkeit von 50 Wörtern pro Minute angestrebt werden. Das entspricht seinem aktuellen Kompetenzniveau in der Schwarzschrift mit dem Unterschied, dass er in Braille ohne Ermüdung ausdauernd arbeiten kann. Bei einem Lernzuwachs von durchschnittlich drei Wörtern pro Monat könnte Aziz dieses Ziel innerhalb von 12 Monaten erreichen.

  3. 3.

    Entwicklung eines schulischen Leseförderkonzepts. Es wird empfohlen, über Lesestandards für alle Schülerinnen und Schüler im Kollegium zu diskutieren. Das Ziel sollte ein schulisches Konzept oder zumindest Leitlinien sein, die dazu beitragen, dass Lernende wie Aziz zu jeder Zeit die Brailleschrift erwerben können und dazu die notwendigen zeitlichen und personellen Ressourcen bereitgestellt werden. Zudem können gemeinsame Standards dazu beitragen, dass die Leseförderung auch als kollektive Aufgabe aufgefasst wird.

  4. 4.

    Bereitstellung individueller Lesematerialien. Aziz braucht episodische Texte in der Brailleschrift, die sich an seinen Leseinteressen, seinem Alter und seinem Kompetenzniveau orientieren und ihm in der Schule, dem Internat und zu Hause bereitgestellt werden.

  5. 5.

    Einbezug der Eltern. Die Vernetzung und der Austausch mit Aziz Eltern werden als sehr wichtig erachtet. Aziz Eltern sollten deshalb stärker in die Brailleförderung einbezogen werden, indem Förderziele mit ihnen gemeinsam besprochen und vereinbart werden. Gleichzeitig sollte die Familie beraten werden, wie sie Aziz im Lernprozess in den Ferien und am Wochenende unterstützen kann. In diesem Kontext sollte auch über eine verbesserte Hilfsmittelausstattung im Elternhaus nachgedacht werden, z. B. über eine Punktschriftmaschine oder Braillezeile. Überdies können Einladungen zu Fortbildung speziell für Eltern ausgesprochen werden, bei denen diese Grundlagen der Brailleschrift erlernen. Zu guter Letzt sollte auch ein erneuter Versuch unternommen werden, Aziz Eltern davon zu überzeugen, dass Aziz von einer neuen Brille profitieren würde.

5.2.3.3 Fördermaterial

Im Folgenden werden die Fördermaterialien beschrieben, die mit Aziz im Zuge der Fallstudie erprobt wurden. Mit der Ausnahme der Tigerdrucke in Abbildung 5.42 wurden alle Materialien durch den Autor erstellt. Die Materialien können als Vorschläge zur praktischen Umsetzung einer verstärkten Brailleförderung bei Aziz verstanden werden.

Tigerdrucke.

Im Mathematikunterricht nutzte Aziz häufiger Ausdrucke aus dem Tigerdrucker, die von seiner Fachlehrerin angefertigt wurden. Der Vorteil dieser Materialien ist, dass sie sich einfach in einer gängigen Textverarbeitungs-Software erstellen lassen und über den passenden Drucker in einem Arbeitsschritt ausgedruckt werden können. Somit können simple taktile Grafiken mit Beschriftungen in Punktschrift und Schwarzschrift erstellt werden. Die Qualität der Punkte ist jedoch nicht vergleichbar mit der eines handelsüblichen Punktschriftdruckers. Aziz hatte sich an diese bereits gewöhnt und erkannte die Zahlen. Bei der Bearbeitung des Blattes nutzte er eine Mischung aus Sehen und Tasten zur Informationsaufnahme.

Abbildung 5.42
figure 42

Mit einem Tigerdrucker hergestellt visu-taktile Grafik

Textauswahl.

Aziz interessierte sich für Meerestiere und Sachthemen. Um ihn zu motivieren, wurden deshalb bewusst kürzere episodische Texte aus Sachbüchern, z. B. über Kraken oder Wale, ausgesucht und hinsichtlich der Satzlänge vereinfacht. Gedruckt wurden diese sowohl in Brailleschrift als auch Schwarzschrift. Das ermöglichte auch Personen ohne Punktschriftkenntnisse, die Texte mit ihm gemeinsam zu lesen, beispielsweise im Internat oder Elternhaus. Dazu wurden die Blätter zuerst in einem Tintenstrahldrucker gedruckt und in einem zweiten Arbeitsschritt mit einem Brailleschriftdrucker die Punkte geprägt. Die Textlänge variierte und konnte aufgrund der Lesetestungen sehr genau kalkuliert werden. Für eine Leseeinheit von 15–20 Minuten wurden beispielsweise Texte in einer Länge von 150 bis 200 Wörtern ausgewählt. Zusätzlich wurde die Lektüre häufig mit taktilen Modellen kombiniert. Im Anschluss wurden Aziz sowohl Fragen zum Text als auch zu den Modellen gestellt. Abschließend wurden die Texte in einem Leseordner abgeheftet (Abbildung 5.43).

Abbildung 5.43
figure 43

Lesetexte für Aziz in Brailleschrift und Schwarzschrift

Taktiler Sichtwortschatz.

Darunter versteht man Wörter, die aufgrund ihres häufigen Lesens automatisiert, d. h., rasch und als Ganzes erkannt werden (Niedermann & Sassenroth, 2014, S. 12). Das Material zielt folglich darauf ab, die Leseflüssigkeit zu steigern. Der Aufbau eines Sichtwortschatzes ist häufig Bestandteil von speziellen Förderprogrammen, z. B. der blitzschnellen Worterkennung BliWo (Mayer, 2018). Für Aziz wurde das Prinzip der Sichtwörter in den taktilen Bereich übertragen, was andernorts auch von Swenson (2016, S. 178) empfohlen wird. Dazu wurden die Sichtwörter zunächst mit einem Tintenstrahldrucker auf eine DIN-A4 Seite gedruckt und anschließend die Punkte mit einer Punktschriftmaschine geprägt (vgl. hierzu Abbildung 5.44). Die doppelte Beschriftung diente dabei als Hilfestellung für die Lehrpersonen. Jede Lernkarte ist gleich aufgebaut und umfasst insgesamt 10 Sichtwörter. Diese werden zeilenweise eingeführt, zunächst ohne Kontext und im Anschluss mit einem Folgewort. Die Lernkarten wurden vor jeder Leseeinheit als Aufwärmübung genutzt. Sie können aber auch gut mit evidenzbasierten Leselernmethoden wie dem wiederholenden Lesen kombiniert werden. Dazu sollten diese mehrmals nacheinander gelesen werden und jeweils die Zeit für einen Lesedurchgang protokolliert werden (Savaiano & Hatton, 2013, S. 94). Aziz reagierte sehr positiv auf das Angebot und konnte bei der beschriebenen Methode schnell und merklich seine Geschwindigkeit steigern, was sich positiv auf seine Lesemotivation auswirkte. Zusätzlich können auch Audioaufnahmen von den Leseeinheiten gemacht werden, die dem Lernenden zu einem späteren Zeitpunkt vorgespielt werden, um den Lernfortschritt zu veranschaulichen.

Abbildung 5.44
figure 44

Zettel mit taktilen Sichtwörtern zur Steigerung der Leseflüssigkeit

Chorisches Lautlesen.

Bei dieser Methode wird auf die positive Wirkung eines kompetenten Lesevorbilds gesetzt (Rosebrock et al., 2017, S. 29). In Abbildung 5.45 liest Aziz zusammen mit einem Mitschüler angeleitet durch eine Lehrperson. Das Ziel ist eine Steigerung der Leseflüssigkeit auf Satzebene und eine verbesserte Worterkennung. Bei der Methode wird ein Text synchron laut gelesen. Der kompetente Leser oder die kompetente Leserin kann eine Lehrperson sein, aber auch eine Mitschülerin oder ein Mitschüler. Indem der Leseprozess modelliert wird und durch den Lernenden nachgeahmt wird, kann die Methode auch das Selbstvertrauen der Lesenden stärken und niemand wird bloßgestellt. Nach Einführung der Methode kann die Verantwortung schrittweise auf den Lernenden übertragen werden. Für Aziz war es zudem eine gute Methode, weil er kollaborative Lernformen bevorzugte (z. B. Partner- oder Gruppenarbeiten). Dazu konnte im Anschluss an die gemeinsame Lektüre das Gelesene diskutiert werden.

Abbildung 5.45
figure 45

Aziz und ein Mitschüler lesen unter Anleitung einen Text

Ziele setzen und kontrollieren.

Abbildung 5.46 illustriert eine Quellkopie, die zur Zielvereinbarung mit Aziz genutzt wurde. Auf einem Zahlenstrahl sind die Werte 1 bis 30 abgebildet. Mithilfe eines Aufklebers wurde zunächst Aziz Ausgangslesegeschwindigkeit von 10 WpM markiert. Gemeinsam mit ihm wurde anschließend ein Ziel vereinbart, beispielsweise bis zu den nächsten Ferien die Geschwindigkeit auf 15 Wörter pro Minute zu steigern. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Ziele realistisch gewählt werden. Aziz neigte dazu, seine Ziele zu hoch anzusetzen. Zudem muss darauf geachtet werden, dass der Schüler oder die Schülerin auch wirklich die nötige Übungszeit, die nötigen Materialien und die nötige Anleitung bekommt, um die Ziele zu erreichen. Auf diese Weise können auch kleine Fortschritte sichtbar gemacht werden. Das Erreichen von Zielen oder Etappenzielen kann zudem durch Lob oder eine Belohnung positiv verstärkt werden.

Abbildung 5.46
figure 46

Quellkopie mit Lesezielen

Schriftliches Feedback.

Deutlich stärker als viele andere Lernende ist Aziz auf positive Bestärkung angewiesen. Nach gemeinsamen Leseeinheiten wurde deshalb oft ein kurzer Brief in Brailleschrift mit einem motivierenden Feedback formuliert. Aziz freute sich über die Briefe, die er häufig noch in der sich anschließenden Pause las. Im Gegenzug hatte er ebenfalls die Möglichkeit, auf das Feedback zu antworten und auch Wünsche für die Leseförderung zu formulieren. Er tat dies mehrmals und erfragte dazu neue Lesetexte. Alle Briefe wurden in seinem Leseordner aufbewahrt (Abbildung 5.47).

Abbildung 5.47
figure 47

Positive Verstärkung durch Feedbackbriefe

5.2.4 Tarik

Bild 5.4
figure 4

Tarik (Name und Bild verfremdet)

Tarik ist beim Start der Fallanalyse 14 Jahre alt und besucht die sechste Klasse einer Blinden- und Sehbehindertenschule, wo er nach dem Realschullehrplan unterrichtet wird. Er wurde in Deutschland geboren. Seine Erstsprache ist Türkisch, er lernte jedoch bereits in der frühen Kindheit Deutsch. Tarik interessiert sich für Autos, insbesondere für Mercedes. Er ist ein Familienmensch, der viel lacht und eine positive Grundeinstellung ausstrahlt. Bereits kurz nach seiner Geburt wurde bei ihm mit dem Stickler-Syndrom eine seltene erbliche Krankheit diagnostiziert, die eine Sehbehinderung in seiner Kindheit zur Folge hatte. Tarik besuchte zunächst eine allgemeine Grundschule in seinem Heimatort mit sonderpädagogischer Unterstützung. Nach der vierten Klasse wechselte er auf eine Sehbehindertenschule. Mit elf Jahren erblindete er plötzlich durch eine Netzhautablösung und sieht seither nur noch Handbewegungen. Anschließend bekam er für mehrere Monate Hausunterricht durch eine Lehrperson der Sehbehindertenschule. Aufgrund der Erblindung wechselte er nach Ablauf des Schuljahres an eine kombinierte Einrichtung mit Fokus auf Blindheit und Sehbehinderung. An der neuen Schule wurde er in Klasse 6 angemeldet. Dort erlernte er Grundlagen der Punktschrift und den Umgang mit neuen Hilfsmitteln. Nach seinem Schulwechsel wurde jedoch sehr früh deutlich, dass Tarik das Klassenziel nicht erreichen wird. Mit den Eltern wurde daraufhin vereinbart, dass er die sechste Klasse erneut wiederholt. Zu Beginn der Fallstudie lag der Brailleschriftspracherwerb 1.5 Jahre zurück. Im Unterricht arbeitete Tarik hauptsächlich mit der Sprachausgabe. Ungeachtet der Erblindung und seiner schulischen Probleme hat sich Tarik seine positive Grundeinstellung erhalten. Er beklagt sich nicht über seine Situation und zeigt keine offenkundigen Anzeichen psychosozialer Probleme (Bild 5.4).

(Anmerkung: Tarik war zum Start der Erhebungen bereits erblindet, weshalb sich sein Fallstudienaufbau leicht von dem der restlichen Teilnehmenden unterscheidet.)

structure h

Diagnose und Prognose.

Kurz nach Tariks Geburt wurde bei ihm das Stickler-Syndrom diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine erbliche Anomalie, die sich auf die Gelenke, Knochen, Seh- sowie Hörfunktionen auswirken kann. Insgesamt werden sechs Typen mit unterschiedlichen Symptomen unterschieden (Orphanet, 2016, S. 1). Am häufigsten geht die Krankheit mit Seh- und Hörverlusten einher. Durch die Verformungen des Gesichts können auch Schäden am optischen Apparat entstehen. Überdies bedingt das Stickler-Syndrom oft eine Myopie, einen Astigmatismus, einen Katarakt oder ein Glaukom (Grehn, 2012, S. 503). Insbesondere im Jugendalter sind Glaskörperverformungen und Netzhautablösungen wahrscheinlich. Die Krankheit führt in der Folge oft zur plötzlichen Erblindung (Orphanet, 2016, S. 3). Zusätzlich wurde bei Tarik ein Phthisis bulbi diagnostiziert. Darunter versteht man eine Augapfelschrumpfung, die im Zuge einer Netzhautablösung entstehen kann.

Verlauf der Augenerkrankung.

Tarik ist seit seiner Geburt sehbehindert. Im Vorschulalter lag sein binokulares Sehvermögen bei 0.3. Unmittelbar vor dem Beginn der Schulzeit erblindete sein rechtes Auge durch eine Netzhautablösung. Sein Visus reduzierte sich daraufhin auf 0.2 im linken Auge, woraufhin sich das Gesichtsfeld verkleinerte. Die Augenärzte warnten in diesem Zusammenhang bereits frühzeitig vor weiteren Netzhautablösungen und machten auf ein erhöhtes Erblindungsrisiko von Tarik aufmerksam. Mit elf Jahren kam es zu der nächsten Ablösung der Netzhaut im linken Auge und in der Folge zur Erblindung.

In den durchgeführten Testungen konnte Tarik noch Lichtschein wahrnehmen sowie Handbewegungen bis zu einem Meter Abstand (vgl. hierzu Zusammenfassung Ergebnisse 4). Licht in unterschiedlichen Farben ebenso wie Hell-Dunkel-Unterschiede auf einer Lightbox konnte er nicht wahrnehmen.

Bildungsbiografie.

Tarik wurde in den ersten vier Schuljahren inklusiv an einer allgemeinen Grundschule durch den sonderpädagogischen Dienst einer Blinden- und Sehbehindertenschule begleitet. Dort zeigte er bereits erste Lernschwierigkeiten. In seiner Klasse gehörte er damals zu den schwächeren Schülerinnen und Schülern. Nach der Grundschule wechselte er auf eine Sehbehindertenschule. Seine Schulprobleme verringerten sich dadurch anfänglich. Kurz nach dem Start der sechsten Klasse kam es zu einer Netzhautablösung. Die Schule wurde daraufhin für ihn ausgesetzt. Ursächlich dafür waren Operationen und Krankenhausaufenthalte, die sich über mehrere Wochen erstreckten. In dieser Zeit erhielt er Hausunterricht und wurde mehrmals wöchentlich von einer Fachperson der Sehbehindertenschule besucht. Aufgrund der Erblindung wurde ein erneuter Schulwechsel von Tarik an eine Blinden- und Sehbehindertenschule vorbereitet. Im Zuge der Schulanmeldung vereinbarte man einen Wechsel von ihm in die sechste Klasse auf Realschulniveau. Die zwischenzeitliche Erblindung von Tarik kam jedoch bei der Schulanmeldung nicht zur Sprache. In der Annahme, dass es sich bei ihm um einen Schüler mit Sehbehinderung handelt, wurden keine Einzelförderstunden zum Erlernen von Blindentechniken für ihn eingeplant. An seinem ersten Schultag an der neuen Schule wurde der Fehler bemerkt. Daraufhin wurden für ihn noch drei Einzelförderstunden pro Woche bei einer Punktschriftlehrerin organisiert. Es war für Tarik der erste Kontakt mit der Brailleschrift überhaupt. Dazu wurden Computer und Sprachausgabe als Hilfsmittel eingeführt. Bei beiden verfügte er zu diesem Zeitpunkt noch über wenige bis keine Vorkenntnisse. Dem Unterricht folgte er deshalb anfänglich ausschließlich hörend. Mit steigender Hilfsmittelkompetenz konnte er vermehrt auch selbstbestimmt mit der Sprachausgabe arbeiten. Aufgrund des erhöhten Förderbedarfs in Bereichen Brailleschrift und Hilfsmittelbedienung wurde mit den Eltern die Vereinbarung getroffen, dass Tarik das erste Schuljahr an der neuen Schule wiederholt. In der Folge hat er die sechste Klasse zweimal wiederholt. Nach Abschluss des Schuljahres wurde die Förderung zudem auf Basisniveau (ehemals Hauptschulniveau) fortgeführt, was den fachlichen Druck etwas reduzierte. Zu Beginn der Fallstudie besuchte er die 6. Klasse im zweiten Schulhalbjahr.

Entwicklung der Lesegeschwindigkeit.

Aufgrund der Erblindung von Tarik konnte im Untersuchungszeitraum nur die Lesegeschwindigkeit in der Brailleschrift gemessen werden. In Abbildung 5.48 wird seine Entwicklung über 13 Monate in der Punktschrift dargestellt. In den ersten sechs Monaten stagnierte seine Braille-Lesegeschwindigkeit zwischen 12.7 und 9.7 WpM, ohne dass eine Lernentwicklung erkennbar war. Mit dem Beginn der siebten Klasse steigerte er seine Geschwindigkeit kontinuierlich von anfänglich 10 auf 20 WpM. Das entspricht einem Anstieg von 1.4 Wörtern pro Monat in Klasse 7 und einem erheblichen Lernfortschritt (vgl. hierzu Abbildung 5.48).

Die Rate der Lesefehler lag zu Beginn der Fallstudie bei über 10 %. Im Untersuchungszeitraum verbesserte er sich jedoch deutlich und reduzierte diese auf 2 % bei der letzten Erhebung. Im Mittel lag die Fehlerrate über den kompletten Erhebungszeitraum bei 6.1 %. Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass in allen Testungen nur sehr einfache Lesetexte ausgewählt wurden (LIX <35 %).

Abbildung 5.48
figure 48

Tariks Entwicklung in der Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum

Brailleschrift.

Den ersten Kontakt mit der Punktschrift hatte Tarik fast ein Jahr nach seiner Erblindung, nachdem er an die Blinden- und Sehbehindertenschule gewechselt war. Den Brailleschriftspracherwerb begann er mit Computerbraille. Im ersten Jahr erhielt er drei Förderstunden zum Erlernen der Punktschrift und schaffte es bis zum Ende des Schuljahres, erste Wörter und Sätze in Braille zu lesen. Seine Lesegeschwindigkeit lag zu dieser Zeit bei etwa 10 Wörtern pro Minute. Im Jahr darauf wechselte die Verantwortlichkeit in der Brailleförderung und die Stunden reduzierten sich auf eine Förderstunde pro Woche, die jedoch häufig auch nur alle zwei oder sogar drei Wochen stattfand. Die neue Lehrkraft entschied zudem, die Vollschrift bei Tarik einzuführen, was dazu führte, dass er kaum noch Fortschritte hinsichtlich der Lesegeschwindigkeit in Klasse 6 machte (vgl. hierzu Abbildung 5.48). In Klasse 7 wurde die Einzelförderung komplett eingestellt.

Um einer weiteren Stagnation seiner Lesekompetenzen entgegenzuwirken, wurden deshalb in den Fallstudien verstärkt Förderangebote mit Tarik erprobt. Das war möglich, weil er im Gegensatz zu allen anderen Fallstudienteilnehmenden nur ein Schriftmedium nutzte und sich deshalb der Aufwand in der Datenerhebung bei ihm deutlich reduzierte. Zudem hatte Tarik vereinzelte Lücken im Stundenplan. Er war beispielsweise vom Sport- und Religionsunterricht befreit. In Absprache mit seiner Klassenlehrerin konnten bei ihm mehr Erhebungs- und Fördertermine vereinbart werden als in anderen Fallstudien. Aus den genannten Gründen wurde die Frequenz der Besuchstermine ab Klasse 7 bei Tarik erhöht. In einem Abstand von zwei Wochen wurden bei ihm Daten erhoben und Fördermaterial erprobt.

Nichtsdestotrotz wurden auch weiterhin alle Testverfahren mit ihm durchgeführt. In der Überprüfung der Leseausdauer innerhalb von 15 Minuten zeigte sich, dass seine Lesegeschwindigkeit starken Schwankungen unterworfen ist. Das liegt daran, dass er noch nicht alle Braillezeichen kennt. Mit Satzzeichen, Zahlen, Rechenzeichen und Umlauten hatte er im Untersuchungszeitraum noch Schwierigkeiten. Darauf deutet auch die hohe Lesefehlerrate von 15 % hin. Positiv muss jedoch hervorgehoben werden, dass er keine Ermüdungseffekte in der Brailleschrift zeigte (vgl. hierzu Abbildung 5.49).

Abbildung 5.49
figure 49

Tariks Leseausdauer in der Brailleschrift

Tarik akzeptierte die Brailleschrift als neues Lesemedium. In den Interviews sagte er lediglich, dass ihn seine langsame Lesegeschwindigkeit störe und er sich wünsche, schneller lesen zu können. Das erklärt auch, weshalb er in den Fördereinheiten zur Fallstudie immer sehr motiviert war.

Schwarzschrift.

Über das Niveau von Tariks Schwarzschriftnutzung vor seiner Erblindung ist wenig bekannt. Gemäß den Aussagen seiner Eltern konnte er mit Brille und leichter Vergrößerung Texte flüssig lesen. In der Grundschule war er aber auch kein Vielleser.

Schreibmedien.

Tarik nutzt zum Schreiben die Computertastatur, die Braillezeile und die Punktschriftmaschine (vgl. hierzu Tabelle 5.14). Alle drei Medien wurden nach seinem Wechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule als Hilfsmittel eingeführt. An der Computertastatur lernte er das 10-Fingerschreiben und an der Brailleschreibmaschine und der Braillezeile die Punktschrifteingabe kennen. Seither nutzt er bevorzugt zum Schreiben die PC-Tastatur. In der Testung schaffte er 108 Zeichen pro Minute (ZpM) bei einer Fehlerrate von 9 %. An der Punktschriftmaschine schrieb er mit 53 ZpM bei einer Fehlerrate von 10 % und an der Braillezeile mit der Brailleeingabe mit 43 ZpM, wobei er mit 16 % dabei die meisten Fehler machte. Nach eigener Aussage arbeitet er im Unterricht ausschließlich mit der PC-Tastatur. Die Brailleeingabe der Braillezeile und die Punktschriftmaschine nutzte er nur in speziellen Förderstunden.

Tabelle 5.14 Tariks Schreibmedien im Vergleich

Bedienkompetenzen am Computer.

Tariks Kompetenzen am Computer wurden mit dem erweiterten Ilvesheimer Raster zum E-Buch-Standard erhoben. In den Bereichen Dateien und Ordner verwalten und Arbeiten in Word zeigte er bereits sehr gute Kenntnisse. Beim Navigieren in Word, Arbeiten in Tabellen und Formatieren in Word belegen die Erhebungen Basiskenntnisse. LaTex spielte bislang bei ihm noch keine große Rolle im Unterricht, lediglich im Chemieunterricht hatte er erste Befehle gelernt, weshalb er in diesem Bereich auch schon erste Kompetenzen zeigte. Etwas überraschend war sein Ergebnis bezüglich der Bedienung des Screenreaders. Obwohl er die Sprachausgabe sehr stark nutzte, zeigte er diesbezüglich nur basale Kenntnisse, wie z. B. die Fähigkeit, den Screenreader zu öffnen oder zu schließen, die Sprachausgabe zu starten und zu stoppen. Fortgeschrittenere Benutzerkenntnisse beherrschte er zum Testzeitpunkt noch nicht (z. B. das Anpassen der Vorlesegeschwindigkeit, das Ansteuern von Überschriften oder satz- und absatzweises Navigieren in einem Text).

Insgesamt muss an dieser Stelle auch seine Entwicklung hervorgehoben werden. Er hatte bis zu seinem Schulwechsel in der sechsten Klasse wenig Computererfahrung. Seine Bedienkompetenzen hat er nach eigener Aussage hauptsächlich an seiner neuen Schule erworben (Tabelle 5.15).

Tabelle 5.15 Tariks Ergebnisse im Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard

Die Sprachausgabe.

Tarik ist seit seiner plötzlichen Erblindung auf auditive Hilfsmittel angewiesen. Um elektronische Unterrichtsmaterialien zu lesen, nutzte er im Untersuchungszeitraum hauptsächlich die Sprachausgabe.

Die Geschwindigkeitsunterschiede zwischen Tariks beiden Lesemedien (Brailleschrift und Sprachausgabe) gehen am besten aus einer vergleichenden Erhebung in Tabelle 5.16 hervor. Mit der Sprachausgabe hörte er durchschnittlich 122.40 Wörter pro Minute (WpM). Die Geschwindigkeit hatte er zusammen mit seiner Klassenlehrerin zuvor eingestellt. Er nutzte diese standardmäßig und veränderte sie nicht. In der Brailleschrift war er erwartungsgemäß deutlich langsamer. Dazu wurde zwischen Braille-Lesen auf der Braillezeile und auf Papier in der Testung unterschieden. Auf der Braillezeile las er durchschnittlich 15.8 WpM und auf Papier 9.9 WpM (vgl. Tabelle 5.16). Tarik begründete den Unterschied mit seiner Lesegewohnheit. Im Schulalltag las er vor allem auf der Braillezeile. Dazu merkte er an, dass er die Schrift auf der Braillezeile deutlicher wahrnehmen kann. Mit zunehmender Dauer der Fallstudie wurden jedoch die Unterschiede geringer und gegen Ende des Untersuchungszeitraums äußerte er sogar eine Präferenz für Papierausdrucke. Eine Gegenüberstellung der Lesegeschwindigkeiten in Braille und mit der Sprachausgabe macht deutlich, dass er die Textinformation hörend um ein Vielfaches schneller aufnimmt als lesend. Der Geschwindigkeitsvorteil erklärt zudem, warum Tarik im Unterricht überwiegend auditiv arbeitet.

Tabelle 5.16 Tariks Lesemedien im Vergleich

Mithilfe des Fragebogens aus der Kompetenzerhebung wurden zusätzlich Tariks Nutzungsgewohnheiten in Lese- und Schreibsituationen erhoben (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Gemäß seinen Angaben gehört er zu der Gruppe der Schülerinnen und Schüler, die sehr häufig auditive Technologien nutzen. Dies deckte sich auch mit den Unterrichtsbeobachtungen, deren Ergebnisse nachfolgend vorgestellt werden.

Unterrichtsbeobachtungen.

An fünf Tagen verteilt über den Untersuchungszeitraum von dreizehn Monaten wurde bei Tarik in fünf verschiedenen Fächern hospitiert. Insgesamt wurden 29 Situationen protokolliert und hinsichtlich Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch, auditiv) und Effektivität von zwei Coder/innen bewertet. Die Intercoder-Übereinstimmung lag bei 82.86 %. Für die verbleibenden Textstellen konnte in einer gemeinsamen Codiersituation ein Konsens gefunden werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.17 veranschaulicht.

Insgesamt wurden 29 Unterrichtssituationen protokolliert und 33 Codings vergeben. In vier Situationen, in denen Tarik haptisch-auditiv arbeitete, gab es eine Doppelcodierung (z. B. kombiniertes Arbeiten von Sprachausgabe und Braillezeile oder bei Tastaufgaben mit Verbalisierungen).

Aus den Beobachtungen geht hervor, dass Tarik im Unterricht hauptsächlich auditiv arbeitet. In 60.6 % der beobachteten Situationen nutzte er sein Hörvermögen. In den meisten Fällen arbeitete er dabei mit der Sprachausgabe. Er setzte diese effektiv im Explorer zur Navigation ein, bei längeren Leseaufgaben, aber auch bei Lückentexten. Tarik war dadurch in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Bei Leseaufgaben war er hörend häufig vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern fertig.

Tabelle 5.17 Tariks Wahrnehmungspräferenzen im Unterricht

Es zeigten sich aber auch einige Problemsituationen, beispielsweise bei Editieraufgaben oder der Rechtschreibkontrolle mithilfe der Sprachausgabe, beim eigenständigen Lösen von technischen Problemen und bei Aufgaben, in denen ein Text absatzweise parallel zu einem Unterrichtsgespräch gelesen werden sollte. Diesbezüglich hat Tarik noch Potenzial, effektiver mit seinen Hilfsmitteln zu arbeiten. Die Beobachtungen zeigen aber auch, dass er die Sprachausgabe nicht in allen Fächern gleich gut einsetzen kann. In den Naturwissenschaften, im Sprachunterricht und in Mathematik wurden Inhalte deshalb nach Möglichkeit verbalisiert, vorgelesen oder in Braille angeboten. In Gesprächen bewerteten die Fachlehrerinnen und -lehrer den Nutzen der Sprachausgabe deshalb sehr unterschiedlich.

Haptische Angebote waren in seinem Fall in 39.4 % der Situationen verfügbar. Die Beurteilung der Effektivität zeigt hier deutlich, dass er in diesem Bereich bislang noch über wenige effektive Strategien verfügt. Er identifizierte zwar markante taktile Merkmale, jedoch hatte er mit der Brailleschrift Schwierigkeiten, die dazu führten, dass er im Unterricht nur einzelne Wörter oder kleine Sätze lesen konnte. Zahlen und Satzzeichen in Braille erkannte er nicht, seine Tastbewegungen waren unsystematisch und häufig nutzte er nur eine Hand. Im Untersuchungszeitraum konnte er deshalb seine Braillekenntnisse nur selten im Unterricht funktional einsetzen, wodurch er gezwungen war, in vielen Situationen auditiv zu arbeiten.

Zusätzlich zu den Unterrichtsbeobachtungen wurden auch die Lesezeiten protokolliert. Demzufolge arbeitete Tarik an einem durchschnittlichen HospitationstagFootnote 8 32 Minuten mit der Sprachausgabe und 3 Minuten mit der Brailleschrift.

Das pädagogische Team.

Tariks Klassenlehrerin beschrieb die Zusammenarbeit im sonderpädagogischen Team als gut, wünschte sich aber eine intensivere Kooperation und Austausch. Das Team bestand aus insgesamt neun Personen, die ihn in den unterschiedlichen Schulfächern unterrichteten. Es gab zwar einen Konsens unter den Fachlehrerinnen und -lehrern, dass Tarik mehr lesen solle, allerdings waren in die Leseförderung nur wenige Lehrpersonen aktiv involviert.

Das Elternhaus.

Tarik lebte zu Hause bei seinen Eltern und Geschwistern. Der Umgang in der Familie kann als liebevoll und fürsorglich beschrieben werden. Die Netzhautablösung und Erblindung von Tarik beschrieb sein Vater im Interview als Schock für die ganze Familie. Rückblickend sind Tariks Eltern erleichtert und dankbar, dass ihr Sohn den Sehverlust scheinbar problemlos bewältigt. Ihr Verhältnis zur Schule bewerteten die Eltern als gut. Die Tatsache, dass es bisher wenige Gespräche und wenig Austausch gab, führen sie hauptsächlich auf ihre eigene Arbeitssituation im Schichtdienst zurück. In der Vergangenheit hat die Kommunikation mit den Eltern jedoch häufig zu Missverständnissen geführt. Nach Tariks erster Netzhautablösung wurde beispielsweise die Schule nicht über das Risiko einer möglichen Erblindung informiert. Nachdem Tarik tatsächlich mit elf Jahren erblindete, erwähnte sein Vater dies nicht bei der Schulanmeldung an der Blinden- und Sehbehindertenschule, weil er dies nach eigener Aussage für selbstverständlich hielt. Dazu kommt, dass die Eltern keine aktive Rolle in der Förderung ihres Sohnes einnehmen. Auf die Frage nach Tariks aktuellen schulischen Leistungen konnten sie nicht antworten. Sie begründeten das damit, dass er seine Schulaufgaben sowie das Lernen normalerweise noch am Nachmittag in der Schule erledigt. Zu Hause arbeite er deshalb selten an Schularbeiten. Zur Brailleschrift äußerten sie sich offen. Für sie stand außer Frage, dass Tarik diese lernen muss. Im Elternhaus hat er allerdings kein einziges Buch in Punktschrift, weshalb er dort auch nichts liest.

Im Gegensatz dazu beschreibt die Klassenlehrerin die Zusammenarbeit mit der Familie als schwierig. Im vergangenen Jahr habe es aufgrund von Terminproblemen seitens der Eltern nur ein Gespräch gegeben. Dieses sei freundlich verlaufen, allerdings fehlte es den Eltern an einer realistischen Einschätzung der schulischen Situation von Tarik, was die Kommunikation und den Austausch erschwere.

Bezüge zur Kompetenzerhebung.

Im Zuge der Fallstudie wurden alle Testverfahren zu den schriftsprachlichen Kompetenzen aus der Kompetenzerhebung mit Tarik durchgeführt (vgl. hierzu Tabelle 5.18).

In der Leseflüssigkeit aus dem Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT-II) lag sein Ergebnis mit 11 richtigen Wörtern pro Minute deutlich unter dem Durchschnitt dual Schriftnutzender. Das gilt insbesondere auch für den Vergleich mit der Normierungsstichprobe. Der Prozentrang von <1 % verdeutlicht, dass er zu den schwächsten Lesenden in der sechsten Klasse gehört und einen hohen Förderbedarf aufweist.

Im Leseverstehen (LVG) zeigte Tarik trotz niedriger Lesegeschwindigkeit ein durchschnittliches Verständnis. Im direkten Vergleich mit der Parallelversion im Hörverstehen (HVG) wird deutlich, dass er lesend mehr versteht. Dafür war seine Geschwindigkeit im Testteil zum Hören höher als im Lesen.

Tabelle 5.18 Tariks Ergebnisse in den Kompetenztests

In der Rechtschreibung, die mithilfe der Hamburger Schreibprobe (HSP) erhoben wurde, erzielte Tarik mit einem T-Wert von 35 ein unterdurchschnittliches Ergebnis. Sein Wert liegt damit unter dem der Normierungsstichprobe und dem der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung. Die Rechtschreibprobleme von Tarik wurden ebenfalls in den Interviews von der Klassenlehrerin erwähnt und bestätigen sich folglich.

5.2.4.1 Fallanalyse

Auf die Darstellung von Tariks Ergebnissen folgt in diesem Teil die Diskussion seiner schriftsprachlichen Kompetenzen. Dazu werden die Erkenntnisse zu seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen, den zeitlichen Ressourcen, den Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien sowie seiner Fördersituation mit der Fachliteratur verknüpft und Förderempfehlungen abgeleitet.

Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Basierend auf den Beobachtungen, der Lernbiografie von Tarik und den durchgeführten Testverfahren werden nachfolgend Tariks visuelle, haptische und auditive Wahrnehmungsvoraussetzungen beschrieben. Diese ermöglichen es ihm, auf vielfältige Weise Informationen und Erkenntnisse aufzunehmen.

Tariks visuelle Wahrnehmung ist auf ein Minimum begrenzt. In den Interviews beschrieb er sich als teilweise blind. Nach eigener Aussage kann er noch Tag und Nacht unterscheiden. Außerdem nimmt er Hindernisse wie Tische und Stühle schemenhaft wahr, was eine Hilfe bei der Orientierung im Alltag sein kann. Im Unterricht kann er sein Sehvermögen jedoch nicht mehr zum Lernen einsetzen.

Hinsichtlich seiner haptischen Wahrnehmungsvoraussetzungen zeigte er keine Einschränkungen. Er erkannte Oberflächen, Texturen und auch Schriftzeichen in der Brailleschrift. Bei der Exploration von taktilen Modellen oder Karten war keine Tastscheu erkennbar, ebenso wenig wie Ermüdungseffekte. Die Beobachtungen zeigten lediglich, dass Tarik bislang beim Tasten nicht systematisch vorgeht und häufig auf verbale Anleitung oder Handführung durch eine Lehrperson angewiesen ist. Angesichts der Tatsache, dass er seit zwei Jahren verstärkt mit seinem Tastvermögen arbeitet, erscheint sein Entwicklungsstand angemessen. Eine weitere Förderung ist gleichwohl notwendig, weil hinsichtlich der Haptik auch in der Zukunft keine Einschränkungen befürchtet werden müssen.

Nach übereinstimmenden Aussagen arbeitet er seit seiner Erblindung hauptsächlich auditiv. Aufgrund der Diagnose Stickler-Syndrom besteht jedoch ein erhöhtes Risiko eines zusätzlichen Hörverlustes (Grehn, 2012, S. 503; Orphanet, 2016, S. 1), weshalb schon während der Fallstudie Eltern und Klassenlehrerin über die Gefahr informiert wurden. Dazu wurde eine audiometrische Überprüfung in regelmäßigen Abständen empfohlen. Nach übereinstimmenden Aussagen von Tarik, seinen Eltern und seiner Klassenlehrerin zeigt er bislang jedoch keine Anzeichen einer Hörbeeinträchtigung. Er kann Geräusche Quellen zuordnen, reagiert auf verbale Aufforderungen und erkennt Personen an der Stimme. Dazu nutzte er sein Hörvermögen im Untersuchungszeitraum hauptsächlich zum Lernen, z. B. durch aktives Zuhören im Unterricht oder durch die Nutzung der Sprachausgabe bei Textarbeiten. Nach Barraga (1986, S. 94) ist dies die höchste und anspruchsvollste Form der auditiven Wahrnehmung. Solange aus medizinischer Sicht ungeklärt ist, ob Tariks Krankheitsbild mit oder ohne Hörverluste einhergeht, muss jedoch davor gewarnt werden, seine Förderung hauptsächlich auditiv auszurichten.

Zeitliche Ressourcen für die Brailleförderung.

Aufgrund der plötzlichen Erblindung braucht Tarik eine sehr umfangreiche Förderung, und das besonders schnell. Aus den Studien von Corn, Koenig und Holbrook (2002, S. 315; 2000, S. 686), in denen über 80 Expertinnen und Experten zur Brailleschrift und Low Vision befragt wurden, geht hervor, dass Schriftwechsler wie Tarik im ersten Jahr eine Förderung im Umfang von ein bis zwei Stunden täglich benötigen, und das mindestens über ein Schuljahr. Das entspricht in etwa dem, was Schülerinnen und Schülern normalerweise im Anfangsunterricht zur Verfügung steht (Rex et al., 1994). Zudem betonen mehrere Autorinnen und Autoren, dass der tägliche Kontakt mit der Brailleschrift entscheidend für den Lernerfolg ist (D’Andrea, 1997, S. 135; Rogers, 2007, S. 129).

Tarik standen diese Ressourcen nie zur Verfügung. Dazu wurde der Brailleschriftspracherwerb nach seiner Erblindung herausgezögert. In dem Dreivierteljahr Hausunterricht wurde bei ihm weder die Punktschrift angebahnt noch eingeführt. Nach dem Schulwechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule erhielt er im ersten Jahr drei Förderstunden pro Woche, um die Punktschrift zu erlernen. Vor dem Hintergrund der Empfehlungen von Corn, Koenig und Holbrook (2002, S. 315; 2000, S. 686) ist das zu wenig, jedoch hatte seine neue Schule auch keine Information über Tariks Erblindung, weshalb sie seine Förderung spontan organisieren musste. Dazu wurde früh die Entscheidung getroffen, dass Tarik das Schuljahr wiederholen soll, um sich komplett auf die Blindentechniken zu konzentrieren. Nach D’Andrea (1997, S. 135) kann der Erwerb wichtiger Schlüsselkompetenzen in der Brailleschrift auch ein zusätzliches Schuljahr rechtfertigen. Der Fokus sollte jedoch klar auf der Punktschrift liegen, was bei Tarik jedoch nur zu einem geringen Anteil der Fall war. Nachteilig wirkte überdies, dass die zeitlichen Ressourcen bereits im zweiten Jahr der Förderung auf ein Minimum von einer Stunde alle zwei Wochen reduziert wurden und im dritten Jahr die Förderung komplett eingestellt wurde. Über die Gründe konnte auch die Klassenlehrerin nur mutmaßen. In der Folge hatte Tarik bislang kaum Möglichkeiten, die Brailleschrift zu erlernen. Daran ändern auch die wenigen Punktschriftangebote im Unterrichtsalltag nichts (vgl. hierzu Tabelle 5.17). Die Bereitstellung angemessener Förderbedingungen liegt dabei in der Verantwortung jeder Bildungsinstitution. Grundsätzlich muss ein Brailleschriftspracherwerb zu jedem Zeitpunkt möglich sein (Corn & Koenig, 2002, S. 317). Deshalb müssen insbesondere Schulbehörden und Schulleitungen Ressourcen bereitstellen und damit die Basis für eine funktionierende Förderung legen (Lang et al., 2021, S. 12).

Lesekompetenzen in der Brailleschrift.

In diesem Abschnitt werden Tariks Ergebnisse aus den unterschiedlichen Lesetestungen (z. B. zur Leseflüssigkeit, zu Lesefehlern, Leseverstehen, Leseausdauer) bewertet und mit den Unterrichtsbeobachtungen, Interviewaussagen und der Fachliteratur in Verbindung gesetzt.

Zum Start der Fallstudie lag der Brailleschriftspracherwerb von Tarik bereits 1.5 Jahre zurück und er las mit einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von 12.7 Wörtern pro Minute. Das entspricht einer monatlichen Steigerung von ungefähr 0.7 Wörtern. Kritisch angemerkt werden muss jedoch, dass Tarik diese Steigerung vor allem im ersten Erwerbsjahr erzielte. Vergleicht man seinen Lernfortschritt mit Schülerinnen und Schülern der ersten Klasse ohne Sehbeeinträchtigung, die im Durchschnitt 7.6 Wörter pro Monat lernen (Hasbrouck & Tindal, 2017, S. 10), dann ist auch unter Berücksichtigung seiner Sehbeeinträchtigung die Lerngeschwindigkeit zu niedrig.

Abbildung 5.48 veranschaulicht Tariks Lernentwicklung in der Braille Lesegeschwindigkeit. Dieser kann entnommen werden, dass er in den ersten Monaten des Untersuchungszeitraums keine Lernfortschritte machte und seine Lesegeschwindigkeit zwischen 9 und 12 Wörtern pro Minute (WpM) stagnierte. In der zweiten Hälfte der Fallstudie steigert er innerhalb von sieben Monaten seine Lesegeschwindigkeit von 10 auf 20 Wörter pro Minute. Das entspricht einem Anstieg von 1.4 Wörtern pro Monat. Ursächlich für diesen Fortschritt waren wahrscheinlich Fördermaterialien, die zeitgleich mit Tarik erprobt wurden und die nachfolgend vorgestellt werden (vgl. hierzu Abschnitt 5.2.4.3). Sein Lernfortschritt ist gleichzeitig ein Beleg dafür, dass er sich in der Brailleschrift noch erheblich steigern kann. Voraussetzung ist jedoch eine Förderung, die sich genau das zum Ziel setzt. Die Lernerfolge wurden mit geringem zeitlichem Aufwand erreicht und ohne dass Tarik dafür Unterrichtsstunden verpasst hat. Angesichts der Fortschritte in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes erscheint eine Steigerung von 15 Wörtern pro Jahr möglich. Bei einer kontinuierlichen Förderung könnte er somit auch das Niveau von durchschnittlichen Braille Leserinnen und Lesern aus der Studie Zukunft der Brailleschrift erreichen. Dieses lag bei 60 WpM (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 11). Bei einer intensiven Förderung wären wahrscheinlich noch deutlich höhere Lernzuwächse möglich.

Analog zur Lesegeschwindigkeit wurden auch Tariks Lesefehler im Untersuchungszeitraum protokolliert. Diese sollten nach Krug und Nix (2017, S. 62) 5 % nicht überschreiten, um das Textverständnis nicht zu beeinträchtigen. In den ersten sechs Erhebungsmonaten lagen diese im Schnitt bei 9 % und in der zweiten Hälfte bei 4.4 %. Der Durchschnitt für den gesamten Untersuchungszeitraum befand sich bei 6.1 % (vgl. hierzu Abbildung 5.48). Demnach hat Tarik nicht nur seine Lesegeschwindigkeit gesteigert, sondern in der zweiten Untersuchungshälfte seine Lesefehler deutlich reduziert. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass es sich bei den Lesetexten ausschließlich um einfache Texte handelte (LIX <35 %). Aus den Unterrichtsbeobachtungen ging zudem hervor, dass Tarik Zahlen und Rechenzeichen ebenso wie Umlaute noch nicht hinreichend erkennt. Die meisten Satzzeichen identifizierte er ebenfalls nicht. Diese Schwierigkeiten führten in den beobachteten Lesesituationen häufig dazu, dass er beim Lesen stockte, wodurch seine Lesegeschwindigkeit, aber auch sein Leseverstehen reduziert wurden.

Um weitere Rückschlüsse über Tariks Lesekompetenz zu ziehen, eignen sich auch die Ergebnisse aus dem Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest (vgl. hierzu Tabelle 5.18). Tarik erzielte in diesem 11 richtige WpM und liegt damit deutlich unter den beiden Vergleichsgruppen. Die Normierungsstichprobe lag mit 115.17 richtigen Wörtern über Tariks Ergebnis und es scheint auch zweifelhaft, dass er bis zum Ende der Schulzeit dieses Niveau erreichen kann. Mit 19.85 richtigen Wörtern pro Minute waren die dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung doppelt so schnell wie er (in der Schwarzschrift sogar viermal so schnell). Ihr Ergebnis ist jedoch nicht außer Reichweite und Tarik hätte bei einer systematischen und kontinuierlichen Förderung eine realistische Chance, das Niveau der dual Schriftnutzenden zu erreichen.

Hinsichtlich der Leseausdauer zeigte sich, dass seine Lesegeschwindigkeit innerhalb von 15 Minuten großen Schwankungen unterworfen ist (vgl. hierzu Abbildung 5.49). Die plausibelste Erklärung dafür liefert seine Lesefehlerrate von 15 %. Die Probleme beim Dekodieren von Satzzeichen, Umlauten, Zahlen und Rechenzeichen reduzierten seine Leseleistung deutlich. Positiv hervorgehoben werden muss jedoch, dass er keine Ermüdungseffekte zeigte. Bei Tarik war sogar das Gegenteil der Fall. Mit steigender Lesezeit erhöhte sich seine Geschwindigkeit. Dazu demonstrierte er in der Testung, dass er prinzipiell ausdauernd arbeiten und auf seinem aktuellen Niveau Texte mit einer Gesamtlänge von circa 200 Wörtern durchaus bewältigen kann. Nichtsdestotrotz sollten bei ihm verstärkt die Lücken im Braillecode geschlossen werden, damit er auch altersgemäße Texte und mathematische Ausdrücke in Braille lesen kann.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Lesekompetenz ist das Leseverstehen (Bertschi-Kaufmann & Graber, 2019, S. 12). Dieses wurde mithilfe des Leseverstehens- und Geschwindigkeitstests (LVG) aus der Kompetenzerhebung bei Tarik erhoben (vgl. hierzu Tabelle 5.18). Er erreichte in dem Test 22 von 32 möglichen Punkten und lag damit leicht über dem Ergebnis der dual Schriftnutzenden aus der Studie, die im Mittel 21.63 Punkte erzielten. Das Ergebnis erreichte er mit einer Lesegeschwindigkeit von lediglich 15 WpM. Er ist deshalb ein gutes Beispiel für die These, dass viele Braille Lesende auch mit sehr geringen Lesegeschwindigkeiten noch ein gutes Verständnis zeigen (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 15). Entgegen dem Testergebnis schätzte Tariks Klassenlehrerin in den Interviews sein Leseverstehen als niedrig ein. Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz zwischen Lehrerurteil und Testergebnis kann die Lesezeit sein. In der Erhebungssituation hatte Tarik keinen Zeitdruck, was sich vermutlich im Klassenkontext anders darstellt. Eine alternative Erklärung wäre, dass die Lehrerin von Tariks Hörverstehen auf sein Leseverstehen geschlossen hat. In der Parallelversion zum Hörverstehen (HVG) erreichte er mit nur 16 von 32 Punkten ein deutlich niedrigeres Ergebnis (vgl. hierzu Tabelle 5.18). Im Unterricht arbeitete er fast ausschließlich auditiv mittels Sprachausgabe. Es ist deshalb gut möglich, dass die Diskrepanz zwischen Lese- und Hörverstehen bislang noch nicht aufgefallen ist. Dafür spricht, dass Tarik im Unterricht nur sehr selten Texte liest, weshalb sich im Schulalltag auch keine Vergleichsmöglichkeiten ergeben.

Umso wichtiger erscheint es, dass Tarik in Zukunft verstärkt Lesetexte im Unterricht angeboten bekommt. Diese müssen in der Schwierigkeit und im Umfang an sein Niveau in der Brailleschrift angepasst werden. Bei der Erstellung sollte dabei verstärkt von der verfügbaren Lesezeit und Tariks Lesegeschwindigkeit ausgegangen werden. Für eine Leseeinheit von 5 Minuten eignet sich beispielsweise ein Text von etwa 75 Wörtern.

Zu den braillespezifischen Aspekten der Lesekompetenz gehört die Systemvielfalt der deutschen Brailleschrift. Im theoretischen Teil der Arbeit wurde auf diese bereits ausführlich eingegangen (vgl. Abschnitt 2.2). Tarik hat den Brailleschriftspracherwerb mit Computerbraille begonnen und die Förderung im zweiten Jahr mit Vollschrift fortgesetzt. Generell ist die Vermittlung unterschiedlicher Brailleschriftsysteme ein wichtiges Ziel der schulischen Brailleförderung (VBS, 2012, S. 7). Bei der Einführung neuer Systeme stellt sich jedoch die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Für Schülerinnen und Schüler, die ab der ersten Klasse die Brailleschrift erwerben, gibt es klare Empfehlungen (VBS, 2012, S. 7). In Fällen wie bei Tarik muss über den Zeitpunkt eine individuell begründete Entscheidung getroffen werden. Dabei sollten die Lernvoraussetzungen diskutiert werden, ebenso wie der Zugang zu Material im neuen Schriftsystem und motivationale Aspekte einer Einführung. Bei Tarik wurden diese Dinge nicht diskutiert und die Entscheidung von einer einzelnen Lehrperson getroffen. Das hat zur Folge, dass er in Teilen des Untersuchungszeitraums in der Vollschrift gefördert und in Computerbraille unterrichtet wurde. In den Grundpositionen des VBS, des DVBS und des DBSV wird vor ebendieser Mischung unterschiedlicher Systeme gewarnt (VBS, 2001b, S. 98). In der Konsequenz ist es nicht erstaunlich, dass Tarik in den Interviews und Lesetestungen nicht zwischen den unterschiedlichen Brailleschriftsystemen differenzieren konnte.

Bei der Bewertung von Tariks Lesekompetenz müssen diese Unstimmigkeiten in seiner bisherigen Förderung berücksichtigt werden. Auf der Suche nach Erklärungen für sein Kompetenzniveau ist diese ein wichtiger Faktor. Insbesondere in seinem zweiten Erwerbsjahr müssen seine Lernfortschritte kritisch bewertet werden. Um weitere negative Folgen in der Zukunft abzuwenden, ist es folglich wichtig, dass sich das pädagogische Team auf eine systematische und langfristige Förderung einigt.

Ein weiterer Aspekt, der Tariks Lesekompetenzen in der Brailleschrift betrifft, sind seine Taststrategien beim Lesen. Eine wichtige Grundvoraussetzung für den Erwerb von Lesekompetenzen in der Brailleschrift sind effektive Lesebewegungen (Corn & Koenig, 2002, S. 311; Holbrook & Koenig, 1992, S. 47; Kamei-Hannan & Ricci, 2015, S. 174; Wormsley, 2016, S. 74). Das beidhändige Lesen wird aufgrund der Beteiligung mehrerer Finger am Dekodierprozess, der Identifikation äußerer Wort- und Textmerkmale (z. B. Wortlänge oder Zeilenende), Korrekturmöglichkeiten beim Lesen und des schnelleren Zeilenwechsels als effektiver angesehen (Hudelmayer, 1985, S. 130; Lang, 2003, S. 163; Wright et al., 2009, S. 658). Folglich sollten diese unbedingt von Beginn an gefördert werden. Dazu zeigen die Untersuchungen von Wright et al. (2009, S. 656), dass die Lesegeschwindigkeit bei Schülerinnen und Schülern, die beidhändig lesen, schneller steigt. In den Lesetestungen und im Unterricht nutzte Tarik jedoch nur den rechten Zeigefinger zum Lesen. Aus diesem Grund erscheint ein verstärkter Fokus auf Tast- und Lesebewegungen bei ihm sinnvoll. Beispielsweise könnten unterschiedliche Lesetechniken für das Lesen auf der Braillezeile und auf Papier eingeübt werden. Das setzt jedoch voraus, dass Tarik in Zukunft mehr Angebote auf Papier erhält.

Zwei weitere Punkte, die sich auf die personale Ebene der Lesekompetenz auswirken, sind die Lesemotivation und eng damit verbunden das lesebezogene Selbstkonzept (Krug & Nix, 2017, S. 25). Zu Beginn der Fallstudie zeigte Tarik keine intrinsische Motivation zum Lesen. Vor dem Hintergrund seiner Lesekompetenz ist das nicht erstaunlich und kann auch nicht erwartet werden. Auf seinem Niveau ist Lesen anstrengend und mühevoll. Das ist vermutlich der Grund, warum leseanimierende Maßnahmen wie der Leseklub einmal pro Woche bei ihm bislang keine motivierende Wirkung entfalten konnten. Ohne ausreichende Leseflüssigkeit ist Lesegenuss nur schwer erlernbar (Krug & Nix, 2017, S. 111). Für eine erhöhte Lesemotivation muss Tarik deshalb vor allem hinsichtlich der Leseflüssigkeit gefördert werden. Gleichzeitig kann die Lesemotivation durch anregendes Fördermaterial, Stärken von Leseinteresse, positives Feedback, die Anpassung der Textschwierigkeit und Anschlusskommunikation an die Lektüre gesteigert werden. Bei Tarik wurden diese Strategien in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes verstärkt angewendet, was sich in einer deutlichen Steigerung der Lesemotivation und der Lesegeschwindigkeit bemerkbar gemacht hat (vgl. hierzu Abbildung 5.48). Demzufolge bestätigt sich einmal mehr, dass Motivation der Schlüssel zum Erfolg ist (Swenson in Blankenship 2008, 207).

Insgesamt zeigt Tarik, dass er ein guter Braille-Leser werden kann. Voraussetzung ist jedoch, eine systematische und langfristige Förderung über mehrere Jahre.

Sprachausgabe und Hörkompetenzen.

Die Sprachausgabe bietet eine effektive Möglichkeit, große Textmengen schnell zu erfassen (Kamei-Hannan & Ricci, 2015, S. 175). Dies erfordert einerseits Bedienkompetenzen im Screenreader, z. B. zur Anpassung der Hörgeschwindigkeit, aber auch die aktive auditive Informationsentnahme spezifischer Textinformationen. Zusätzlich muss der Text in digitaler Form barrierefrei vorliegen (z. B. in einem Dokument im E-Buch-Standard oder einem barrierefreien PDF).

In dem nachfolgenden Abschnitt soll es deshalb um Tariks Nutzungsgewohnheiten, seine Bedienkompetenzen im Screenreader und die dafür notwendigen Hörkompetenzen gehen. Dazu werden die Ergebnisse aus den Unterrichtsbeobachtungen, dem erweiterten Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard, einer informellen Vergleichstestung von Lese- und Hörgeschwindigkeit und die Testergebnisse zum Hörverstehen- und zur Hörgeschwindigkeit (HVG) in Bezug zueinander gesetzt und Schlussfolgerungen für Tariks weitere Förderung gezogen.

Tarik arbeitet im Erhebungszeitraum überwiegend auditiv. Das geht aus mehreren Interviews und Unterrichtsbeobachtungen hervor (vgl. hierzu Tabelle 5.17). Dies war möglich, weil in der Schule fast ausschließlich digital gearbeitet wurde und Unterrichtsmaterialien wie Schulbücher ebenfalls barrierefrei und digital vorlagen. An einem durchschnittlichen Hospitationstag nutzte er 32 Minuten die Sprachausgabe und las 3 Minuten die Brailleschrift. Im Einklang damit wurde Tarik von allen Beteiligten in den Interviews als auditiver Lerner bezeichnet.

Bestätigt wird dies durch seine Angaben zu Lese- und Schreibgewohnheiten im Fragebogen aus der Kompetenzerhebung, wonach er auch im Vergleich zu anderen Studienteilnehmenden sehr häufig angab, mit auditiven Hilfsmitteln zu arbeiten. Dabei ist Tarik kein Einzelfall. Nach Angaben des American Printing House for the Blinds (APH) arbeiten von über 55 000 registrierten Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung 10.2 % primär auditiv (APH, 2019, S. 19).

In Fällen plötzlicher Erblindung wie bei Tarik können auditive Hilfsmittel zeitweise den einzigen Zugang zu Textinformationen darstellen. Diesbezüglich bietet die Sprachausgabe den Vorteil, dass sich die Bedienkompetenzen vergleichsweise schnell erlernen lassen. Tarik hat diese sowohl im Unterricht integriert erworben als auch durch ein spezielles Unterrichtsfach zu Hilfsmittelkompetenz. Dies ermöglichte es ihm, dem Fachunterricht zu folgen. Die Dauer der Förderung der Hilfsmittelkompetenz hält nach wie vor an und entspricht dem, was auch mehrere Expertinnen und Experten empfehlen (Corn & Koenig, 2002, S. 315; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686).

Das Niveau von Tariks Bedienkompetenzen am Computer und Screenreader lässt sich gut anhand der Ergebnisse aus dem erweiterten Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard ablesen (vgl. hierzu Tabelle 5.15). Diesbezüglich zeigt sich, dass er seit seinem Schulwechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule bereits viele Fortschritte bei der Computerbedienung, im Umgang mit Office-Anwendungen und der Kontrolle des Screenreaders gemacht hat. Insbesondere bei Letzterem scheinen seine Kompetenzen jedoch noch ausbaufähig, was sich allerdings auch dadurch erklärt, dass er den Computer und die Sprachausgabe erst seit 1.5 Jahren blind nutzt. Angesichts dessen beurteilte Tariks Klassenlehrerin seine bisherigen Lernfortschritte in den Interviews als gut.

Dazu unterstützte die Klassenlehrerin Tarik auch bei der Wahl der passenden Hörgeschwindigkeit. Diese hatte sie zusammen mit ihm auf eine standardmäßige Geschwindigkeit von 122 WpM gestellt. Im direkten Vergleich mit der Brailleschrift, die er mit 15 WpM las, zeigt sich ein deutlicher Geschwindigkeitsvorteil (vgl. hierzu Tabelle 5.16). Die Gegenüberstellung macht zudem deutlich, dass die Punktschrift in vielen schulischen Situationen noch keine Alternative darstellt, was wiederum ein Argument für eine verstärkte Brailleförderung ist.

Neben den Bedienkompetenzen und der Hörgeschwindigkeit stellt sich zudem die Frage nach Tariks Hörverstehen. Antworten liefert sein Abschneiden in dem Testverfahren zum Hörverstehen und der Hörgeschwindigkeit (HVG), das auch von den Teilnehmenden der Kompetenzerhebung durchgeführt wurde. Aufgrund von Tariks starker Nutzung war ein gutes Testergebnis erwartet worden. Mit 16 von 32 Punkten lag er jedoch deutlich unter dem Durchschnitt der Studienteilnehmenden. Dieses Ergebnis überraschte, denn in der Parallelform zum Lesen (LVG) fiel Tariks Verständnis mit 22 Punkten deutlich besser aus. Eine mögliche Erklärung für den Unterschied ist, dass Tarik bislang hauptsächlich hinsichtlich Bedienkompetenzen am Computer und der Sprachausgabe gefördert wurde und noch nicht im Bereich des Hörverstehens. Sein Ergebnis verdeutlicht einmal mehr, dass ein gutes Hörverstehen nicht automatisch vorausgesetzt werden kann, sondern gezielt gefördert werden muss (Hofer, 2020, S. 29; Koenig & Holbrook, 2000, S. 690; Siu & Presley, 2020, S. 115).

Zweifelsohne brauchen Schüler wie Tarik auditive Hilfsmittel im Unterricht. Der Einsatz sollte jedoch nicht dazu führen, dass Lesekompetenzen vernachlässigt werden (Barclay, 2012, S. 17). In diesem Kontext ist es eine große Herausforderung, die Balance zwischen beiden Bereichen zu finden (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 418). Das bestätigt auch Tariks Klassenlehrerin in den Interviews.

In Tariks Fall war die Förderung im Untersuchungszeitraum stärker zugunsten auditiver Technologien ausgerichtet. Das geht aus seinen Nutzungsgewohnheiten, den Unterrichtsmaterialien und den zeitlichen Ressourcen für die Förderung hervor. Die Unterrichtsbeobachtungen machen jedoch auch die Grenze von Tariks Sprachausgabenutzung deutlich. In Unterrichtsfächern mit diskontinuierlichen Texten (z. B. mit vielen Tabellen, Versuchsanleitungen usw.) ebenso wie bei mathematischen Ausdrücken konnte Tarik nicht mit der Sprachausgabe arbeiten. Zudem fehlten ihm Strategien zur auditiven Kontrolle selbst geschriebener Texte. Hinzu kommen die zuvor bereits erwähnten Einbußen beim Textverstehen. Folglich bleiben Lesekompetenzen in vielen Bereichen unerlässlich.

Insgesamt zeigt sich in Tariks Fall ein unausgeglichenes Bild. Das pädagogische Team hat es geschafft, ihn sehr schnell in den Fachunterricht zu integrieren. Für die Förderung der Bedienkompetenzen von Computer, Screenreader und Sprachausgabe wurden zeitliche Ressourcen zur Verfügung gestellt und Tarik hat seit seinem Schulwechsel gute Fortschritte gemacht. Dies kann als Erfolg gewertet werden. Demgegenüber wird die Nutzung der Sprachausgabe nicht reguliert und bislang auch keine spezifischen Hörkompetenzen gefördert. Das wiederum führt dazu, dass sich Tarik in wichtigen schriftsprachlichen Kompetenzen wie der Leseflüssigkeit oder Rechtschreibung nicht verbessert. Für die Zukunft sollte deshalb verstärkt auf eine ausgeglichene Förderung geachtet werden. Dazu müssen Hörstrategien mithilfe der Sprachausgabe konkret eingeübt werden. Praktische Beispiele, wie diese Förderung aussehen könnte, finden sich im Abschnitt 5.2.4.2.

Schreibkompetenzen.

Nach McNar und Farrenkopf (2014, S. 208) sind diese ein fundamentaler Bestandteil der schriftsprachlichen Kompetenzen. Bei Tarik wurde sowohl die Schreibgeschwindigkeit mit unterschiedlichen Medien als auch die Rechtschreibung erhoben. Dazu lieferten die Beobachtungen und die Interviewaussagen wichtige Erkenntnisse, die nachfolgend ebenfalls einbezogen werden.

Die Schreibgeschwindigkeit wurde durch eine Diktieraufgabe in der Einheit Zeichen pro Minute (ZpM) gemessen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.14 dargestellt. Tariks schnellstes Schreibmedium und nach übereinstimmenden Interviewaussagen auch sein Hauptschreibmedium ist die PC-Tastatur mit 108 ZpM. Diese nutzte er schon vor der Erblindung, allerdings hat er das 10-Finger-System erst nach seinem Schulwechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule gelernt. Mit seiner Schreibgeschwindigkeit lag er im Klassendurchschnitt. Gleichzeitig ist die sichere Beherrschung der PC-Tastatur die Voraussetzung, um den Computer blind zu bedienen und elektronische Texte zu editieren (McNear & Farrenkopf, 2014, S. 202; Siu & Presley, 2020, S. 135). Demzufolge können Tariks Kompetenzen an der PC-Tastatur auch als ein Indikator für seine Computernutzung angesehen werden. Diese war in seinem Fall stark ausgeprägt, weil der Unterricht überwiegend digital, d. h. auf Basis elektronischer Schulbücher und Hefte, durchgeführt wurde.

In der Testung wurde überdies Tariks Schreibgeschwindigkeit an der Punktschriftmaschine und der Brailleeingabetastatur erhoben. Im Unterschied zur Computertastatur erfolgte dies bei beiden über sechs Eingabetasten (bei Computerbraille über acht Tasten), weshalb man auch von einer braillespezifischen Schreibweise sprechen kann. An der Punktschriftmaschine erreichte Tarik 53 ZpM und an der Braillezeile 43 ZpM (vgl. hierzu Tabelle 5.14). Damit schreibt er mit diesen Hilfsmitteln nur halb so schnell wie mit der PC-Tastatur. Gelernt hat er das Schreiben auf der Brailletastatur in seinem ersten Jahr an der Blinden- und Sehbehindertenschule während der Brailleförderung. Nach übereinstimmenden Aussagen von Tarik und seiner Klassenlehrerin nutzt er die Brailleeingabe jedoch nicht im Unterricht. Die sichere Beherrschung von braillespezifischen Eingabemethoden ist nach McNear und Farrenkopf (2014, S. 202) jedoch eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb von schriftsprachlichen Kompetenzen in der Punktschrift. Unterschiedliche Schreibanlässe erfordern zudem verschiedene Schreibwerkzeuge und vielfältige Wahlmöglichkeiten (Swenson, 2016, S. 196). Dazu gehören elektronische, aber auch rein mechanische Schreibwerkzeuge wie die Punktschriftmaschine. Letztere erfordert die haptische Kontrolle des Geschriebenen (Siu & Presley, 2020, S. 155), was sich wiederum positiv auf die Lese- und Rechtschreibkompetenz auswirkt.

Die Kompetenz des orthografisch korrekten Schreibens wurde bei Tarik mit der Hamburger Schreibprobe (HSP) erhoben. Sein Ergebnis ist in Tabelle 5.18 dargestellt. Mit einem T-Wert von 35 liegt er deutlich unter dem Durchschnitt der dual Schriftnutzenden von 46 und dem der Normierungsstichprobe von 50. Sein Ergebnis entspricht einem Prozentrang von 7 % (May et al., 2016b, S. 59). In anderen Worten: 7 % der Normierungsstichprobe erzielten dasselbe oder ein niedrigeres Testergebnis als Tarik. Seine Rechtschreibleistung kann damit als weit unterdurchschnittlich bezeichnet werden. Eine vertiefte Analyse von Tariks Ergebnis offenbart zudem eine Schwäche im orthografischen Regelwissen (insbesondere der Groß- und Kleinschreibung), allerdings auch eine Stärke im Bereich der alphabetischen Strategie.

Aufgrund der Ergebnisse wird vermutet, dass seine Rechtschreibprobleme multikausal bedingt sind. Die folgenden Punkte könnten dabei eine Rolle spielen:

  • Tariks Klassenlehrerin äußert in den Interviews die Vermutung, dass dieser aufgrund seiner Zweisprachigkeit Schwierigkeiten in der Rechtschreibung zeigt. Dies erscheint plausibel, denn auch Tariks Eltern berichteten in den Interviews, dass dieser schon vor der Erblindung und dem Schriftwechsel Probleme in der Orthografie hatte.

  • Die niedrige Rechtschreibkompetenz kann jedoch auch eine Folge der Sprachausgabenutzung sein. Die Ergebnisse aus der Kompetenzerhebung zeigen, dass eine hohe Nutzung auditiver Technologien wie in Tariks Fall häufig mit niedrigen Werten in der Rechtschreibkompetenz einhergehen (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 18).

    Dies erklärt sich dadurch, dass sich Lesen und Schreiben normalerweise wechselseitig beeinflussen (May et al., 2016a). Bei Tarik ist diese Verbindung außer Kraft gesetzt, weil er vorzugsweise am Computer schreibt und das Geschriebene über die Sprachausgabe kontrolliert. Die dafür notwendigen Bedienkompetenzen im Screenreader hatte er jedoch noch nicht erworben, weshalb er viele Fehler überhaupt nicht identifizieren konnte, z. B. bei der Groß- und Kleinschreibung oder bei Satzzeichen. Dazu wurde beobachtet, dass er Tippfehler nur mühsam mit auditiven Strategien korrigieren konnte. Die angeschlossene Braillezeile nutzte er meistens nicht.

  • Dazu zeigen die Ergebnisse aus dem ersten Studienabschnitt (vgl. hierzu Abschnitt 4.2.1), dass die Leseflüssigkeit und Rechtschreibung hoch miteinander korrelieren. Demzufolge sollten Tariks Rechtschreibleistungen auch nicht unabhängig von seinen Lesekompetenzen gesehen werden. Aufgrund seiner niedrigen Lesekompetenzen fehlen ihm beispielsweise haptische Kontrollmöglichkeiten an der Braillezeile. Durch eine lesende Kontrolle ließen sich die erwähnten Fehler in der Groß- und Kleinschreibung leichter identifizieren. Dazu werden beim Lesen häufige Wortbilder und Morpheme trainiert und so ein Sichtwortschatz aufgebaut, welcher sich positiv auf die Rechtschreibung auswirken kann.

  • Tariks Schwäche insbesondere im orthografischen Regelwissen kann jedoch auch eine Folge von fehlendem oder verpasstem Rechtschreibunterricht sein. Über Tariks Deutschunterricht vor seinem Schulwechsel an die Blinden- und Sehbehindertenschule ist nichts bekannt, weshalb dies nur vermutet werden kann. Wie die Ergebnisse aus der HSP zeigen konnten, werden seine Rechtschreibprobleme hauptsächlich durch Lücken im orthografischen Regelwissen verursacht (s. o.). Es erscheint deshalb möglich, dass er dieses noch nicht erlernt hat oder in der Vergangenheit verpasst hat.

Die Aufzählung verdeutlicht, dass sich vermutlich mehrere Faktoren auf Tariks Rechtschreibkompetenz auswirken. Im Hinblick auf die steigenden Anforderungen in der Sekundarstufe sollte er in diesen Bereichen fachkundig gefördert werden. Anhaltspunkte für eine praktische Umsetzung finden sich in Abschnitt 2.4.3.

Fördersituation.

Für den nachfolgenden Teil wird Tariks Fördersituation im Elternhaus und in der Schule auf Basis der Interviews, der Unterrichtshospitationen und der Feldnotizen bewertet und mit der Fachliteratur verknüpft.

Der Erfolg im Schriftspracherwerb wird maßgeblich durch die Eltern mitbestimmt (Vacca et al., 2015, S. 235). Dies gilt insbesondere für Braille-Lernende (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 384; Kamei-Hannan & Sacks, 2012, S. 212; Stanfa & Johnson, 2015). Generell können Eltern den Schriftspracherwerb ihrer Kinder unterstützen, indem sie Interesse an dem Gelernten zeigen, ebenfalls Grundkenntnisse der Brailleschrift erwerben, Lesematerial in Punktschrift anfordern und gemeinsame Lese- und Vorlesesituationen praktizieren (Argyropoulos et al., 2008, S. 228; Kamei-Hannan & Sacks, 2012, S. 221). Tarik war diesbezüglich benachteiligt, weil dies in seiner Familie nicht der Fall war. Tariks Eltern äußerten im Interview dennoch den Wunsch, dass er flüssig lesen lernt. Aus dem Elterninterview geht aber auch hervor, dass sie sich ihrer wichtigen Rolle in Tariks Förderung bislang nicht bewusst sind und Bildungsfragen im Kompetenzbereich der Schule sehen. Dazu kommt eine generelle Verunsicherung gegenüber der Punktschrift, die wahrscheinlich durch die Unkenntnis der Brailleschrift hervorgerufen wird. Demzufolge muss die zukünftige Förderung auch die Eltern einbeziehen. Diese brauchen mehr Informationen über die Brailleschrift, Angebote der Schule (z. B. Schulbücherei) und Anleitung zur konkreten Unterstützung von Tarik. Diese Sensibilisierung kann nur durch eine ausgebildete Fachperson der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik erfolgen (Kamei-Hannan & Sacks, 2012, S. 222).

Neben der Familie haben Tariks Lehrpersonen den mit Abstand größten Einfluss auf seine Förderung. Die Zusammenarbeit des pädagogischen Teams ist generell ein wichtiger Erfolgsfaktor dafür, dass Schülerinnen und Schüler Lernfortschritte im Lesen und Schreiben machen (McCarthy & Holbrook, 2017, S. 370; Rogers, 2007, S. 130). Gelingende Kooperation in pädagogischen Teams zeichnet sich durch Austauschmöglichkeiten, eine offene Kommunikation sowie gemeinsame Ziele und Prioritäten aus. In der Sekundarstufe ist dies deutlich erschwert, weil in der Regel viele Lehrpersonen eine Klasse unterrichten. Tarik wurde beispielsweise von neun unterschiedlichen, zumeist sonderpädagogischen Lehrpersonen unterrichtet. Die Klassenlehrerin bewertete die Zusammenarbeit zwar als gut, jedoch machte sie auch deutlich, dass sie sich mehr Austauschgelegenheiten, z. B. in Form von pädagogischen Konferenzen, wünscht. Die Größe des Teams und die Tatsache, dass viele Lehrpersonen Tarik nur wenige Stunden unterrichteten, erschwerten dies. Notwendige Diskussionen über Tariks Schriftnutzung im Unterricht oder über die Einführung der Vollschrift wurden in der Folge nicht geführt und deshalb nur von einzelnen Lehrpersonen vorangetrieben. Im Idealfall sollten diese Entscheidungen jedoch im Team getroffen werden (Kamei-Hannan & Ricci, 2015, S. 44; Lang et al., 2018, S. 83), denn gerade die Leseförderung versteht sich als fächerübergreifende Aufgabe (Krug & Nix, 2017, S. 77). Bereits in der Stundenplanung sollten deshalb Zeiten für Teambesprechungen berücksichtigt werden. Ein gemeinsames koordiniertes Vorgehen in der Förderung erhöht wiederum die Wirksamkeit von Fördermaßnahmen im Allgemeinen und somit auch die Qualität der Bildungsangebote.

5.2.4.2 Förderempfehlungen und Schlussfolgerungen

Die Beschreibung und Analyse von Tarik verdeutlichen die Herausforderungen, die mit einem Schriftwechsel in der Schulzeit einhergehen. Neben dem erhöhten Förderbedarf im Bereich Schrift müssen neue Hilfsmittelkompetenzen aufgebaut werden und die Bewältigung der oftmals traumatischen Erblindung muss psychosozial unterstützt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass Förderbereiche, die bereits vor der Erblindung bestanden, weiter bestehen. In Tariks Fall waren dies Rechtschreibprobleme und Lernschwierigkeiten, die teilweise noch durch den Schriftwechsel verstärkt wurden. In der Konsequenz erfordert die Situation eines Schülers wie Tarik sehr viel Engagement von den Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen.

Positiv hervorheben muss man, dass Tariks aktuelle Schule sehr schnell eine Brailleförderung für ihn organisiert hat, obwohl über seine Erblindung im Vorfeld keine Informationen vorlagen. Dazu wurden bei ihm das 10-Fingersystem, die PC-Bedienung ohne Maus und die Bedienung des Screenreaders zügig eingeführt. Das ermöglichte Tarik die Teilhabe am Unterricht. Insgesamt erscheint seine Förderung jedoch sehr einseitig auf Hilfsmitteltechniken ausgelegt zu sein.

Kritik üben muss man an dem geringen Umfang seiner bisherigen Brailleförderung, was auch an einer fehlenden Priorisierung liegt. Überdies fehlte es in Tariks Fall vor allem an einer systematischen und kontinuierlichen Leseförderung. Dazu waren die Austauschmöglichkeiten im pädagogischen Team begrenzt, weshalb ein gemeinsames Vorgehen aller Lehrpersonen deutlich erschwert war.

Zusätzlich macht die Fallanalyse Schwachstellen der sonderpädagogischen Förderung sichtbar. In der Vergangenheit wurden beispielsweise der Brailleschriftspracherwerb und die Einführung von Blindentechniken hinausgezögert. Hinzu kommt, dass wichtige Informationen über die Erblindung von Tarik zwischen den sonderpädagogischen Einrichtungen nicht ausgetauscht wurden. Das Gleiche gilt für den Informationsaustausch mit Tariks Eltern.

Anlass für Optimismus liefert die zweite Hälfte der Fallstudie, in der gezeigt werden konnte, dass mit einem geringen zeitlichen Aufwand bereits große Fortschritte in der Lesekompetenz erreicht werden können. Damit Tarik diesen positiven Trend fortsetzen kann, braucht er motivierte, qualifizierte Lehrpersonen, die ihn auf seinem Lernweg anleiten und begleiten. Die nachfolgenden Empfehlungen wurden auf Basis der Ergebnisse der Fallstudie getroffen:

  1. 1)

    Erhöhung zeitlicher Ressourcen. Tarik braucht eine systematische, kontinuierliche und intensive Brailleförderung im Umfang von ein bis zwei Stunden täglich über mindestens ein Schuljahr (Corn & Koenig, 2002, S. 317; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686). Danach kann mithilfe eines Learning Media Assessment (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1) der Bedarf erneut ermittelt werden. Aller Voraussicht nach wird die Leseförderung jedoch bis zum Ende der Schulzeit anhalten.

  2. 2)

    Gemeinsame Förderziele entwickeln. Die Brailleförderung von Tarik sollte als fächerübergreifende Aufgabe verstanden werden. Eine wichtige Grundvoraussetzung dafür sind gemeinsame Ziele (Swenson, 2016, S. 150), z. B. hinsichtlich der Punktschriftnutzung im Unterricht, der zu fördernden Punktschriftsysteme, aber auch hinsichtlich der Prioritätensetzung. Diesbezüglich scheint es in Tariks Fall viele ungeklärte Fragen zu geben, die am besten in einer Klassenkonferenz im gesamten Team diskutiert werden sollten.

  3. 3)

    Hörverstehen fördern. Neben den Hilfsmittelkompetenzen sollte Tarik auch hinsichtlich des Hörverstehens gefördert werden. Dazu gehören vor allem Strategien, Informationen aktiv, fokussiert und selektiert mit der Sprachausgabe aufzunehmen. Dabei geht es darum, das Gehörte zu reflektieren, um den Text besser zu verstehen. Konkrete Beispiele werden nachfolgend im Bereich Fördermaterial gegeben (siehe hierzu 5.2.4.3).

  4. 4)

    Leseflüssigkeit fördern. Tariks Leseförderung sollte zunächst auf basale Leseprozesse abzielen. Dazu wird die Verwendung evidenzbasierter Leselernmethoden empfohlen, die sich nachweislich positiv auf die Leseflüssigkeit auswirken, z. B. chorisches Lautlesen oder wiederholendes Lesen (Krug & Nix, 2017, 68 ff.). Zusätzlich sollte ein verstärkter Fokus auf Taststrategien gelegt werden. Diese steigern die Leseflüssigkeit bei Braille-Lesenden nachweislich (Wright et al., 2009, S. 656).

  5. 5)

    Lese- und Schreibkompetenzen im Verbund fördern. Zur Verbesserung von Tariks Rechtschreibkompetenzen werden ein Wortschatztraining, das verstärkte Einüben von Korrekturlesen auf der Braillezeile und ein orthografisches Regeltraining empfohlen.

  6. 6)

    Angebote für die Eltern. Tariks Eltern haben einen erhöhten Beratungsbedarf. Sie sind sich ihrer wichtigen Rolle im Schriftspracherwerb von ihrem Sohn bislang nicht bewusst und deshalb auch nicht aktiv an der Förderung beteiligt. Der Familie muss deshalb die zentrale Bedeutung der Leseförderung bewusst gemacht werden. Zudem sollten Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie sie Tarik im Erwerbsprozess unterstützen können, z. B. durch gemeinsame Lesesituationen im Elternhaus, aber auch durch Ausleihmöglichkeiten von Texten und Büchern in Punktschriftbüchereien.

Insgesamt konnte die Fallstudie zeigen, dass Tarik die Voraussetzungen mitbringt, den Brailleschriftspracherwerb erfolgreich zu durchlaufen. Sein Kompetenzniveau hängt deshalb maßgeblich vom Umfang und der Qualität der Leseförderung ab. Vereinfacht kann man auch sagen: Ohne Förderung kein Fortschritt.

5.2.4.3 Fördermaterial

Die in diesem Abschnitt vorgestellten Materialien wurden in der zweiten Hälfte der Fallstudie speziell für Tarik erstellt und erprobt. Die Angebote können als Orientierungshilfe verstanden werden. Sie dienten in der Fallstudie dazu, Tariks Motivation und schriftsprachliche Kompetenzen zu stärken.

Motivierende Lernspiele.

Das Quartett in Abbildung 5.50 zielte darauf ab, Tarik auf eine spielerische Art die Zahlen in der Brailleschrift beizubringen. Dazu wurde ein handelsübliches Quartett über Sportwagen adaptiert. Das Thema wurde bewusst gewählt, weil Tarik sich sehr stark für Autos interessierte. Die Karten wurden mithilfe von Stichel und Tafel adaptiert. Aufgrund der kleinen Abmessungen wurden nur die Namen der Autos, die Leistung, die Höchstgeschwindigkeit und die CO2-Emissionen im Querformat in Punktschrift verschriftlicht. Alle nicht in Braille übertragenen Informationen wurden anschließend durchgestrichen. Durch die Vereinfachung wurde jedoch die grundlegende Spielidee des Quartettes aufrechterhalten. Tarik hatte große Freude und das Kartenspiel wurde deshalb häufig zu Beginn oder am Ende eines Besuches mit ihm gespielt. Das Spiel eignete sich ebenfalls als Belohnung und führte dazu, dass er verstärkt Kontakt mit Zahlen in der Punktschrift hatte (Abbildung 5.50).

Abbildung 5.50
figure 50

Quartett zum Erlernen der Zahlen in Punktschrift

Textauswahl und Material.

Die Auswahl der Lesetexte orientierte sich an Tariks Leseinteresse. Das steigerte seine Motivation erheblich. Eine Auswahl seiner Texte ist in Abbildung 5.51 illustriert.

Abbildung 5.51
figure 51

Tariks Lesetexte

Alle Materialien wurden in Punktschrift und Brailleschrift beschriftet, indem sie zuerst mit einem Tintenstrahldrucker und anschließend mit einem Punktschriftdrucker gedruckt wurden. Dazu wurde bei allen Ausdrucken die obere rechte Ecke perforiert, sodass Tarik diese nach dem Lesen abreißen konnte. Anhand der Ecken ließ sich die Lesemenge jeder Fördereinheit gut bestimmen. Mithilfe der Abreißecken konnte zudem das Material gesichtet werden, welches Tarik zwischen den Einheiten gelesen hatte.

Zusätzlich zu dem Text waren wenige Millimeter hohe taktile Abbildungen der Automarken aus dem 3D-Drucker aufgeklebt. Diese dienten als zusätzliche Motivation und waren auf die Texte geklebt. Dies führte dazu, dass Tarik sich nach immer neuen Lesetexten mit taktilen Bildern erkundigte. Außerdem zeigte er diese seinen Mitschülerinnen und Mitschülern ebenso wie seinen Geschwistern und Eltern. Nach Aussagen von Tariks Vater wurden so auch Leseanlässe in der Familie geschaffen, die es vorher nicht gegeben hat. Das Interesse von Tariks Umfeld an seinen Lesematerialien wirkte zudem positiv auf seine Lesemotivation.

Über die Länge der Lesetexte konnte zudem Tariks Lesezeit gut gesteuert werden. Anfänglich überschritten die meisten Texte keine zwei Seiten. Mit zunehmender Förderdauer und Lesemotivation stieg auch die Textmenge. Dabei blieben die Lesezeiten fast gleich, weil Tarik seine Lesegeschwindigkeit im Vergleich zum Anfang der Fallstudie kontinuierlich steigern konnte.

Die Materialien ließen sich aber auch wiederholt bei ihm einsetzen, z. B. zum Einüben evidenzbasierter Methoden wie Lesetandems. Dazu eignen sich die Texte auch für Freiarbeitsstunden und Lerntheken.

Kurztexte mit Stöpselbrettern.

Das Material in Abbildung 5.52 wurde konzipiert, um Tariks Leseverstehen zu verbessern. Dazu wurde ein kurzer Text in Brailleschrift und Schwarzschrift auf eine rutschfeste Gummimatte zusammen mit einem Stöpselbrett gepinnt. Dabei handelt es sich um eine Apparatur, in die eine Karteikarte mit einer Multiple-Choice-Aufgabe mit drei Antwortmöglichkeiten eingelegt werden kann. Mit einem Stöpsel wird die richtige Antwort markiert. Ist die Antwort korrekt, kann die Karte entfernt werden. Bei einer falschen Antwort lässt sich die Karte wiederum nicht entnehmen, weil sie durch den Stöpsel in der Apparatur gehalten wird. Damit bietet diese eine einfache Möglichkeit der selbstbestimmten Lernkontrolle. Mit Tarik wurde zudem eingeübt, die Frage vor dem Text zu lesen, um gezielt nach der Antwort zu suchen. Dazu erhielt er Stecknadeln, um beim Lesen des Infotextes wichtige Textstellen zu markieren. Tarik reagierte positiv auf das Lernangebot. Nach einer anfänglichen angeleiteten Phase konnte er die Aufgabe selbstständig und ohne Unterstützung durchführen.

Abbildung 5.52
figure 52

Tarik mit Stöpselbrett

Wiederholendes Lautlesen.

Aus dem Namen der Methode geht bereits hervor, dass diese auf dem Grundprinzip der Wiederholung aufbaut. Durch diese Methode sollen die Lesegenauigkeit und Lesegeschwindigkeit verbessert werden. Dabei geht man davon aus, dass durch die Wiederholung orthografischer und semantischer Muster Transfereffekte auf unbekannte Texte entstehen (Rosebrock et al., 2017, S. 29).

Zunächst wurde für Tarik ein kurzer, einfacher und motivierender Text mit einer Länge von 50 Wörtern ausgewählt. Vor dem Lesen wurde mit ihm vereinbart, den Text so oft laut zu lesen, bis er diesen mit 40 WpM fehlerfrei lesen kann. Anschließend wurde der Text mehrmals von ihm gelesen. Seine Lesefehler und seine Lesezeit wurden dabei durch den Autor auf einer Kopie protokolliert. Zusätzlich wurde er an das beidhändige Tasten beim Lesen der Punktschrift erinnert. Bei Lesefehlern wurde er korrigiert und dazu aufgefordert, das Wort und anschließend den ganzen Satz zu wiederholen. Im Gegenzug wurde er gelobt, wenn er besonders schwierige Passagen fehlerfrei lesen konnte. Tarik steigerte sich bei der Übung stetig, reduzierte Lesefehler, erhöhte die Lesegeschwindigkeit und verbesserte zeitgleich seine Betonung beim Lesen. Nach fünf Wiederholungen erreichte er das vereinbarte Ziel und las den Text mit 40 WpM ohne einen einzigen Lesefehler.

Abbildung 5.53
figure 53

Tarik beim wiederholenden Lautlesen

Zusätzlich wurden im ersten und letzten Lesedurchgang Audioaufnahmen von Tariks Leseleistung erstellt. Diese dienten dazu, ihm seine eigenen Verbesserungen aufzuzeigen.

Nachdem Tarik die gewünschte Lesegeschwindigkeit erreicht hatte, wurde ein Gespräch über den Inhalt des Textes begonnen. Dabei konnte festgestellt werden, dass er den Text durch die Wiederholungen auch sehr gut verstanden hatte. Abbildung 5.53 zeigt ihn während der Übung.

Sprachausgabe und Hörstrategien.

Elektronische Schulbücher und Unterrichtsmaterialien waren der Normalfall für Tarik. Das erforderte ein verstärktes Einüben von Bedienkompetenzen am Computer und Screenreader ebenso wie einen effektiven Gebrauch von Hörkompetenzen.

Das Material in Abbildung 5.54 veranschaulicht ein Übungsblatt zum Umgang mit der Sprachausgabe. Im ersten Abschnitt wird eine Hörstrategie eingeführt, in diesem Fall das wiederholende Hören. Der Text wird dabei dreimal gehört. Im ersten Durchgang verschafft man sich lediglich einen Überblick über die Textstruktur und nur die Überschriften werden angehört. Beim zweiten Hören wird der Text mit einer hohen und im dritten und letzten Durchlauf mit einer niedrigen Geschwindigkeit gehört. Durch das mehrfache Hören werden sich positive Effekte auf das Hörverstehen erhofft.

Abbildung 5.54
figure 54

Ausdruck mit Tastaturbefehlen

Die Methode basiert auf der Annahme, dass es für das Verständnis förderlich ist, den Hörtext zunächst zu gliedern und im Aufbau zu verstehen, im Anschluss bei hoher Hörgeschwindigkeit die Kernbotschaft des Textes herauszufinden und schließlich in einem dritten Schritt bei niedriger Hörgeschwindigkeit lokale Kohärenz herzustellen und ein vertieftes Verständnis aufzubauen. Mit Tarik wurde die Methode erprobt, weil er im Unterricht bei Leseaufgaben häufig vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern fertig war. Folglich stand ihm in den meisten Situationen genügend Zeit zur Verfügung, um den Text mit der Sprachausgabe mehrmals zu hören. Um die Methode bei ihm einzuführen, wurde diese zunächst in Stichworten auf einem Ausdruck zusammengefasst (vgl. hierzu Abbildung 5.54). Im zweiten Teil des Blattes wurden zudem alle Tastaturkürzel aufgelistet, die zur Bewältigung der Aufgabe notwendig waren.

Zunächst wurde der Ausdruck gemeinsam gelesen. Anschließend wurden alle neuen Kurzbefehle mit Tarik an seinem Computer erprobt. Daran anknüpfend wurde ein neuer Text am Computer geöffnet und die Methode, angeleitet durch die Lehrperson, erprobt. Danach demonstrierte Tarik das Vorgehen an einem zweiten Beispiel selbstständig. Als zusätzliche Hilfestellung wurde ihm dafür der Ausdruck mit den Tastaturbefehlen angeboten. In der durchgeführten Fördersituation führte die Methode zu einem verbesserten Hörverstehen. Um diese zu evaluieren und auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen, sind jedoch weitere Studien notwendig.

Sprachausgabe und Brailletexte.

Die auditive Informationsaufnahme mittels Sprachausgabe erfordert Kontrolle und Konzentration auf den Inhalt. Um diese Aspekte verstärkt einzuüben, wurde ein elektronischer Sachtext mit 600 Wörtern und sechs Absätzen im E-Buch-Standard erstellt. Dazu gab es einen Ausdruck mit insgesamt sechs Multiple-Choice-Fragen und jeweils drei Antwortmöglichkeiten. Die Schwarzschrift auf dem Ausdruck (vgl. hierzu Abbildung 5.55) diente dabei nur als Hilfestellung für die Lehrperson und hatte für Tarik keine Funktion. Der Ausdruck wurde auf einem Zeichenbrett befestigt und Tarik wurden Stecknadeln zur Markierung der Antworten gegeben.

Abbildung 5.55
figure 55

Multiple-Choice-Aufgaben zu einem Hörtext

Zu Beginn der Übung wurde Tarik angewiesen, die erste Frage auf dem Ausdruck zu lesen. Anschließend wurden die Tastaturbefehle zum absatzweisen Lesen mit der Sprachausgabe eingeführt. Mit der Tastenkombination JAWS + STRG + i hörte sich Tarik den ersten Absatz an. Dabei stoppte die Sprachausgabe am Ende des Absatzes automatisch.

Anschließend beantwortete er die Multiple-Choice-Frage auf dem Ausdruck, indem er eine Stecknadel an die Position der richtigen Antwort setzte (vgl. hierzu Abbildung 5.55). Mit der Tastenkombination JAWS + STRG + O hörte er anschließend den zweiten Abschnitt und wiederholte das Vorgehen. Mit der Tastenkombination JAWS + STRG + U wurde zudem ein weiterer Befehl eingeführt, mit dessen Hilfe der vorherige Absatz erneut gehört werden konnte. Die gesamte Aufgabenstellung diente damit der Einübung von Hörstrategien. Überdies sollte die Unterteilung des Textes in mehrere Abschnitte das Beantworten der Inhaltsfragen erleichtern. Dazu wurde der Fokus auf spezifische Textinformationen und ein aktives Hören gelegt (Hofer, 2020, S. 29; Winter et al., 2019, S. 106). Zudem konnten mithilfe des Materials neue Bedienkompetenzen mit Tarik eingeübt werden. In diesem Kontext wird deutlich, dass Hilfsmittelkompetenzen und schriftsprachliche Kompetenzen sich gegenseitig ergänzen können und deshalb gut im Verbund gefördert werden können (Argyropoulos et al., 2008, S. 230). Weitere Ideen, wie sich Brailletexte mit Sprachausgabe und anderen auditiven Technologien gewinnbringend kombinieren lassen, finden sich bei Holbrook et al. (2017, S. 419).

Lernziele und Bilanzierung.

Mit Tarik wurden in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraumes Leseziele vereinbart und es wurde monatlich Bilanz gezogen. Prinzipiell schaffen konkrete Leseziele Verbindlichkeit. Dazu erfordern sie eine Dokumentation und Überprüfung (Krug & Nix, 2017, S. 19).

Mit Tarik wurden Leseziele erstmals nach der ersten Hälfte der Untersuchung besprochen. Dazu wurde ein Ausdruck seiner vergangenen Lernentwicklung vorbereitet. Dieser ist in Abbildung 5.56 veranschaulicht und illustriert die Lesegeschwindigkeit in Balken und Zahlen. Zusätzlich wurde über Wünsche von Tarik in der Förderung gesprochen. Tarik formulierte anschließend das Ziel, bis zum Ende der Fallstudie eine Geschwindigkeit von 20 WpM zu erreichen.

Abbildung 5.56
figure 56

Tariks Lesestatistik

Daraufhin wurde monatlich Bilanz gezogen und es entwickelte sich eine positive Lerndynamik, in der auch verstärkt Tarik Verantwortung für seinen Lernprozess übernahm. Er las zunehmend in seiner Freizeit und nahm Materialien mit nach Hause. Jeden Monat wurde die Statistik in Abbildung 5.56 erweitert. Die gemeinsame Kommunikation und Reflexion über die Leseziele waren dabei sehr wichtig, um die Motivation aufrechtzuerhalten. Im letzten Monat der Fallstudie erreichte er sein selbstgesetztes Ziel. Bereits auf dem Weg dorthin hatte Tarik mehrere Erfolgserlebnisse, die positiv bestärkt werden konnten und dazu führten, dass sich sein lesebezogenes Selbstkonzept verbesserte.

5.2.5 Shehan

Bild 5.5
figure 5

Shehan (Name u. Bild verfremdet)

Shehan ist zum Beginn der Fallanalyse 14 Jahre alt und besucht die siebte Klasse einer Blinden- und Sehbehindertenschule. Er wurde in Deutschland geboren, da seine Eltern aber beide aus Südostasien kommen, wuchs er mit drei Sprachen auf. Deutsch lernte er mit drei Jahren im Kindergarten. Shehan ist ein höflicher, offener Schüler, der von seinen Lehrkräften als intelligent beschrieben wird. Er interessiert sich für Technik, macht Sport, spielt Klavier und hat eine besondere Vorliebe für Autos. Sein Lieblingsfach ist Mathematik und die größten schulischen Schwierigkeiten zeigt er im Fach Deutsch. Seine Sehbehinderung fiel erstmals im Kindergarten auf. Kurz vor seiner Einschulung wurde bei ihm eine besondere Form der Retinitis Pigmentosa (RP) mit Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (ZSD) diagnostiziert, die zur Erblindung führt. Daraufhin wurde er in eine Sehbehindertenschule eingeschult, wo er zunächst die Schwarzschrift lernte. Nach einer Verschlechterung seines Sehvermögens in der dritten Klasse wurde er als sozialrechtlich blind eingestuft und wechselte mit Beginn der vierten Klasse an eine Blinden- und Sehbehindertenschule. Innerhalb eines Jahres lernte Shehan dort grundlegende Braillekompetenzen und wurde danach in die Sekundarstufe versetzt, wo er auf Realschulniveau unterrichtet wurde. Mit dem Beginn der Sekundarstufe nahm seine Braillenutzung ab und er begann immer stärker mit der Sprachausgabe zu arbeiten. Beim Start der Fallstudie hatte Shehan ein Sehvermögen von .065 und bevorzugte die Arbeit mit auditiven Hilfsmitteln in Kombination mit der Schwarzschrift. Die Punktschrift nutzte er nur, wenn er dazu aufgefordert wurde. Eine spezielle Förderung hinsichtlich der Brailleschrift bekam er nicht mehr (Bild 5.5).

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Diagnose und Prognose.

Bei Shehan wurde eine Retnitis Pigmentosa (RP) diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine erbliche, progrediente Netzhauterkrankung, die häufig einhergeht mit konzentrischen Ausfällen im Bereich der peripheren Netzhaut und erheblichen Verlusten der Sehschärfe. Die Augenerkrankung führt in den meisten Fällen zur gesetzlichen Blindheit und verläuft progredient (Grehn, 2012, S. 265). In Shehans Fall handelt es sich um eine asymptomatische RP mit Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (ZSD). Dabei sind primär und zunächst nur die Zapfen im Zentrum der Netzhaut betroffen. Mit dem weiteren Verlauf der Krankheit wirkt sich der Sehverlust aber auch auf die Stäbchen in der Netzhaut Peripherie aus.

Dazu kam in Shehans Fall eine Fehlsichtigkeit des Auges in Form einer Hyperopie (Weitsichtigkeit) und eines Astigmatismus (Hornhautverkrümmung). Beide führten dazu, dass er eine Brille zur Korrektur verschrieben bekam. Diese trug er jedoch im Untersuchungszeitraum nicht. Aus den offiziellen augenärztlichen Unterlagen geht hervor, dass er seit seinem zehnten Lebensjahr als gesetzlich blind eingestuft ist (Visus <0.02). Neben seinem verminderten Sehvermögen wurden dabei auch seine Ausfälle im Gesichtsfeld berücksichtigt.

Visuelle Funktionen.

Die letzte schulische Low-Vision-Überprüfung von Shehan war zum Beginn der Fallstudie bereits über zwei Jahre alt. Im Zuge der Fallstudie wurde deshalb Shehans funktionales Sehvermögen erhoben. Die Zusammenfassung Ergebnisse 5 gibt einen Überblick. Nachfolgend werden seine Ergebnisse zum Fern- und Nahvisus, dem Gesichtsfeld, dem Kontrastsehen, dem Farbsehen, der Okolumotorik und der Schriftvergrößerung kurz skizziert. Ausführlich werden die Sehtests und Beobachtungen im Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial beschrieben.

Zur Überprüfung des Fernvisus wurde der LEA Distance Screener ausgewählt. Die Testdistanz musste von drei Metern auf 60 cm bzw. 70 cm angepasst werden. In dieser Entfernung lag der Fernvisus binokular bei 0.08 mit Korrektur und 0.07 ohne Brille. Daraus kann man schließen, dass Shehan in der Messdistanz noch Details und Gegenstände erkennen kann. Zudem verdeutlichen die Messungen, dass Shehan trotz sozialrechtlicher Blindheit (Visus ≤ 0.02) in der Testung und im Schulalltag wesentlich mehr sieht, als die Diagnose vermuten lässt. Dazu passt auch die Beobachtung, dass er sich noch gut orientieren kann und Personen visuell erkennt.

Shehans Nahvisus wurde im Untersuchungszeitraum mehrfach mithilfe der LEA Near Vision Card gemessen. Dabei musste der Testabstand ebenfalls angepasst werden von 40 cm Normdistanz auf 20 cm. Binokular lag sein Nahvisus in dieser Entfernung mit Korrektur bei 0.08 und ohne Brille bei 0.06. Crowdingeffekte konnten dabei nicht festgestellt werden.

Zusätzlich wurde bei Shehan das zentrale und periphere Gesichtsfeld gemessen. Dazu wurde das SZB-Tangentscreen-Verfahren angewandt (Campimetrie) und mit dem SZB-NEF-Trichter (Perimteire) gearbeitet. Shehans binokulares Gesichtsfeld betrug in der Testung vertikal 120° (70° oben, 50° unten) und horizontal 145° (65° links, 80° rechts). In der Testung mit dem Tangentscreen wurden zudem mehrere Zentralskotome identifiziert. Die nachfolgende Abbildung 5.57 illustriert Shehans geschätztes Gesichtsfeld in Rot in Relation zu einem Gesichtsfeld ohne Beeinträchtigung in Blau. Aufgrund der Testungen wird der asymptomatische Verlauf von Shehans RP gut ersichtlich. Dazu kann man davon ausgehen, dass er im Nahbereich und insbesondere beim Lesen und Schreiben durch die Zentralskotome beeinträchtigt ist. In der Orientierung werden die Auswirkungen der Erkrankung mit dem weiteren Verlauf der RP noch stärker ersichtlich werden.

Abbildung 5.57
figure 57

Shehans Sehvermögen vereinfacht illustriert

Die Kontrastempfindlichkeit wurde mithilfe der Lea Low Contrast Flip Charts überprüft. Auf kleine Kontrastveränderungen reagierte Shehan unempfindlich. Erst bei Kontrasten <25 % nahm sein Sehvermögen stärker ab und er brauchte eine Vergrößerung. Dieser Befund ist nicht ungewöhnlich für Personen mit einem zentralen Gesichtsfeldausfall. Im Alltag hat das Kontrastsehen Einfluss auf die Erkennung von Gesichtern, Emotionen, Formen und die sichere Orientierung. Man kann deshalb davon ausgehen, dass Shehan in diesen Bereichen von seinem Kontrastsehen profitiert.

Zur Überprüfung des Farbsehens wurde der Panel-16 Color Vision Test durchgeführt. Die Testergebnisse weisen auf eine Rot-Grün-Schwäche hin. Angesichts der Beschaffenheit der Netzhaut ist dieser Befund nicht erstaunlich (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Die damit einhergehenden funktionalen Einschränkungen sind vor allem Beeinträchtigungen im Straßenverkehr oder bei Gefahrensymbolen.

Die Schriftvergrößerung wurde bei Shehan mit dem SZB Test zum Vergrößerungsbedarf überprüft. Dieser lag bei einem Abstand von 25 cm bei einer 12.5-fachen Schriftvergrößerung. Das entspricht einer Buchstabenhöhe von 26 mm bzw. Arial 104 (Pt.). Shehans natürlicher Vergrößerungsbedarf, der sich aus der Schriftvergrößerung und dem gewöhnlichen Leseabstand ableitet, lag bei einer 11-fachen Schriftvergrößerung. Folglich wählte er häufig eine Vergrößerung, die in etwa auch seinem Testergebnis entsprach. Der hohe Vergrößerungsbedarf kann auf eine exzentrische Fixation hindeuten und den Lesekomfort, aber auch den Textüberblick beeinträchtigen.

Im Bereich der Okulomotorik wurden die Beweglichkeit der Augen und die Steuerung der Blickrichtung von Shehans Augen mithilfe von Beobachtungen und Videoanalysen untersucht. In der Testung fixierte er exzentrisch und oberhalb des Fixationsobjekts. Die Sakkaden waren sprunghaft und Folgebewegungen sakkadiert. Eine Dominanz eines Auges konnte nicht beobachtet werden, dafür aber ein leichtes Innenschielen des linken Auges. Konvergenz, Divergenz, Stereosehen, Pupillenreaktion, Lidschlagreflex und optokinetischer Nystagmus waren ohne erkennbare Beeinträchtigung vorhanden. Demnach bestätigt sich der Verdacht der exzentrischen Fixation. Zudem führen die Beeinträchtigungen in der Okulomotorik dazu, dass Shehan beim Lesen seinen Blick bewusst steuern muss. In der Folge kann dies zu einer erhöhten Leseanstrengung und niedrigerer Leseausdauer führen.

Bildungsbiografie.

Shehan besuchte einen allgemeinen wohnortnahen Kindergarten. Dort fiel seine Sehschwäche erstmals auf, was dazu führte, dass kurz vor der Einschulung die Diagnose Retinitis Pigmentosa erfolgte. Daraufhin wurde eine sonderpädagogische Beratung vereinbart, die zur Folge hatte, dass Shehan an der örtlichen Sehbehindertenschule eingeschult wurde. Dort begann er den Schriftspracherwerb mit der Schwarzschrift. In Klasse drei kam es zu einer deutlichen Verschlechterung seines Sehvermögens, woraufhin das pädagogische Team damit begann, die Brailleschrift mit ersten Tastübungen anzubahnen. Der Familie wurde daraufhin ein Wechsel an eine kombinierte Blinden- und Sehbehindertenschule mit Internat empfohlen. Noch vor dem Ablauf der Grundschulzeit und zum Start der vierten Klasse wechselte Shehan die Schule. An der neuen Einrichtung lernte er ein Jahr die Brailleschrift und wurde dazu angehalten, diese im Unterricht zu nutzen. Mit der Versetzung in die fünfte Klasse der angeschlossenen Realschule änderte sich dies bereits nach einem Jahr. Durch den Fachunterricht verschob sich der Fokus stärker auf inhaltliche Fragestellungen. Mit Ausnahme von einem zweistündigen Leseunterricht in Klasse fünf und einem einstündigen Angebot in Klasse sechs nutzte Shehan fortan hauptsächlich die Schwarzschrift. Dazu wurde bei ihm die Sprachausgabe als Hilfsmittel eingeführt. Zum Start der Fallstudie in Klasse sieben verwendete er die Brailleschrift nur noch selten. In seiner aktuellen Klasse gehört er zu den besten Schülern. Einzig in der Rechtschreibung und beim Lesen zeigt er Schwierigkeiten.

Entwicklung der Lesegeschwindigkeit.

Im Untersuchungszeitraum wurde die Lesegeschwindigkeit bei Shehan in beiden Schriftmedien insgesamt elfmal erhoben (vgl. hierzu Abbildung 5.58). In der Brailleschrift schwankte diese zwischen 17.3 WpM und 27 WpM und lag im Durchschnitt bei 21.9 WpM. Über die elf Monate blieb die Lesegeschwindigkeit stabil ohne große Veränderungen. Zusätzlich wurden auch die Lesefehler erhoben. In der Brailleschrift lagen diese bei der Lesetestung im Mittel bei 6.9 %.

Abbildung 5.58
figure 58

Shehans Entwicklung in der Lesegeschwindigkeit im Untersuchungszeitraum

In der Schwarzschrift sieht der Trend ähnlich aus mit dem Unterschied, dass Shehan diese deutlich schneller lesen kann. In den Testungen las er minimal 45.7 WpM und maximal 59.7 WpM und erreichte einen Durchschnittswert von 51.2 WpM. Wie zuvor in der Brailleschrift kann der Trend in der Schwarzschrift als konstant bewertet werden. Dazu verläuft die Linie fast parallel zur Brailleschrift. Mit einer Lesefehlerrate von lediglich 1.2 % machte Shehan zudem vergleichsweise wenig Fehler.

Schwarzschrift.

Beim Start der Fallanalyse nutzte Shehan die Schwarzschrift bereits seit acht Jahren. Als Kind hat er gerne gelesen. Mit dem Fortschreiten der Augenerkrankung wurde das Lesen jedoch immer anstrengender, weshalb er die Schwarzschrift inzwischen hauptsächlich in der Schule nutzt. Shehan gab an, diese als Hauptlesemedium zu gebrauchen. Er begründete dies mit der Verfügbarkeit und dem Geschwindigkeitsvorteil. Im Unterricht wählte er Schriftgröße, Schriftart und Kontrastschema am Computer selbst. Dabei verwendete er häufig serifenlose Schriften in einer Größe von 15 mm und einem Sehabstand von 15 cm, was einer 11-fachen natürlichen Vergrößerung entspricht (vgl. hierzu Abbildung 5.59). Zusätzlich war häufig ein Kontrastschema mit grüner Schrift auf schwarzem Hintergrund eingestellt. Das Nutzen von Großdrucken wurde bei ihm nicht beobachtet. Neben dem Computer stand Shehan auch ein Bildschirmlesegerät zur Verfügung, welches er jedoch nur in Ausnahmesituationen nutzte.

Abbildung 5.59
figure 59

Lesen am Computer

Aus den Beobachtungen geht zudem hervor, dass er die Schwarzschrift vor allem für kurze Leseanlässe am Computer gebraucht. Die Testung zur Leseausdauer musste er in der Schwarzschrift bereits nach elf Minuten erschöpft abbrechen (vgl. hierzu Abbildung 5.60). Dies überraschte, denn bis zum Abbruch hatte er sehr konstant und ohne offensichtliches Zeichen von Ermüdung gelesen. Überdies zeigte die Testung, dass sich seine durchschnittliche Lesegeschwindigkeit bei längeren Leseaufgaben in der Schwarzschrift reduziert. Im Durchschnitt von elf Minuten lag diese bei 45.6 WpM (vgl. hierzu Abbildung 5.60).

Abbildung 5.60
figure 60

Shehans Leseausdauer in Brailleschrift und Schwarzschrift

Brailleschrift.

Shehan lernte die Brailleschrift mit zehn Jahren und nutzte sie zum Start der Fallstudie bereits seit vier Jahren. Der Erwerb wurde eingeleitet durch das pädagogische Team an der Sehbehindertenschule, nachdem sich sein Sehvermögen in Klasse drei verschlechterte. Die Intention der Einführung war ein schrittweiser Wechsel des Hauptlesemediums aufgrund der voranschreitenden Augenerkrankung. Dazu wurde der Schriftspracherwerb mit der 8-Punktschrift (Computerbraille) begonnen. Shehan stand einer Einführung zunächst offen gegenüber. Das änderte sich jedoch, als die Brailleförderung in Klasse vier intensiviert wurde und er zunehmend mit der Punktschrift arbeiten musste. Mit der Versetzung in Klasse fünf erhielt er wiederum mehr Wahlfreiheiten und die Schriftfrage rückte in den Hintergrund. Dazu wurde deutlich mehr mit dem Computer gearbeitet und die Sprachausgabe als Hilfsmittel eingeführt. Das führte dazu, dass er die Punktschrift deutlich seltener nutzte und kaum noch Kompetenzen aufbaute. Daran änderten auch die zweistündigen Lesestunden in Klasse fünf nichts. In der sechsten Klasse wurde diese einstündig fortgesetzt und in Klasse sieben schließlich ganz eingestellt. Seither nutzt er die Brailleschrift hauptsächlich bei Schreibanlässen auf der Brailleeingabe seiner Braillezeile zum Schreiben. Mit der Einführung in das 10-Fingersystem auf der PC-Tastatur nahm die Nutzung der Brailleingabe kontinuierlich ab.

Zum Start der Fallstudie las er durchschnittlich 21 WpM in Braille. Im Erhebungszeitraum blieb seine Braille Lesegeschwindigkeit bis auf wenige Schwankungen konstant. Shehan äußerte sich in diesem Zusammenhang ambivalent. Einerseits sagte er, dass ihn an der Brailleschrift seine niedrige Lesegeschwindigkeit stört, andererseits bewertete er seine Braillekompetenzen als ausreichend.

Analog zur Schwarzschrift reduzierte sich seine Lesegeschwindigkeit bei längeren Texten auch in der Brailleschrift (vgl. hierzu Abbildung 5.60). In 14 Minuten las er im Durchschnitt mit 17.4 WpM. Im Gegensatz zum visuellen Lesen zeigte er in der Punktschrift jedoch eine bessere Leseausdauer und musste die Testung nicht vorzeitig abbrechen.

Die Sprachausgabe.

Shehans beliebtestes Lesemedium ist die Sprachausgabe. Er nutzte diese in praktisch allen Lese- und Schreibsituationen am Computer. Aus einer Vergleichstestung geht hervor, dass er mit der Sprachausgabe 250 WpM hört, die vergrößerte Schwarzschrift an seinem Computer mit 47.2 WpM sowie die Brailleschrift auf Papier mit 18.1 WpM liest (siehe Tabelle 5.19). Aus der Gegenüberstellung wird der Geschwindigkeitsvorteil der Sprachausgabe deutlich ersichtlich, weshalb er diese im Unterricht uneingeschränkt nutzen durfte. Das pädagogische Team stand der Nutzung überwiegend positiv gegenüber. Die meisten Lehrpersonen betonten, dass Shehan mit der Sprachausgabe effizient und gut dem Unterricht folgen kann. Eine Lehrperson äußerte zudem, dass er ohne die Sprachausgabe längere Texte nicht lesen könnte. Die Unterrichtshospitationen zeigten jedoch, dass der auditive Zugang auch Grenzen hat (vgl. Tabelle 5.22, Bereich 3).

Tabelle 5.19 Shehans Lese- und Hörmedien im Vergleich

Im Zuge der Fallstudie beantwortete Shehan den Fragebogen aus der Kompetenzerhebung zu Lese- und Schreibgewohnheiten sowie Hilfsmittelnutzung (vgl. hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Gemäß seinen Angaben im Fragebogen gehört er auch im Vergleich zur Studienstichprobe zu den Schülerinnen und Schülern, die häufig mit auditiven Technologien arbeiten.

Schreibmedium.

In Tabelle 5.20 sind die Ergebnisse aus der Testung der Schreibgeschwindigkeit in der Einheit Zeichen pro Minute (ZpM) dargestellt. Bei den Schreibwerkzeugen hatte Shehan eine sehr große Auswahl. Sein schnellstes Schreibmedium in der Testung war die PC-Tastatur mit 120 ZpM. Diese nutzte er im Untersuchungszeitraum ebenfalls am häufigsten. Auf der Braillezeile schrieb er mit der Brailleeingabetastatur mit 105 ZpM, was darauf hindeutet, dass er diese Eingabemethode ebenfalls sehr gut und sicher beherrscht.

Tabelle 5.20 Shehans Schreibmedien im Vergleich

Auf der Punktschriftmaschine, die Shehan nach eigener Aussage fast nicht mehr nutzt, schrieb er mit 75 ZpM. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er an der Punktschriftmaschine die wenigsten Schreibfehler machte. Handschriftlich schrieb er mit 53 ZpM, allerdings gab er auch an, diese praktisch nicht mehr zu nutzen, was die niedrige Schreibgeschwindigkeit erklärt. Unabhängig vom Schreibmedium ist seine hohe Fehlerrate beim Schreiben auffällig, die mit der Ausnahme der Punktschriftmaschine durchweg bei 19 % lag.

Bedienkompetenzen am Computer.

Zur Einschätzung von Shehans Hilfsmittelkompetenzen am Computer wurde das erweiterte Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard genutzt (Schloss-Schule-Ilvesheim, 2013). Die Ergebnisse für die sechs Kompetenzbereiche und den Erweiterungsbereich Lese- und Schreibfunktionen im Screenreader sind in Tabelle 5.21 dargestellt.

Tabelle 5.21 Shehans Ergebnisse im Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard

Aus dem Kompetenzraster geht hervor, dass Shehan bereits über sehr gute Bedienkompetenzen verfügte, z. B. in den Bereichen Dateien in Ordnern verwalten (100 %), Navigieren in Word (85 %), Arbeiten in Word (100 %), Arbeiten mit Tabellen (100 %) und Formatieren in Word (100 %). Hinsichtlich der Lese- und Schreibfunktionen von JAWS zeigte er gute Kenntnisse (66.7 %), die aber noch ausbaufähig sind in den Bereichen Navigation im Text (z. B. satzweise oder absatzweise lesen). Das niedrige Ergebnis im Bereich Latex (30 %) kann darauf zurückgeführt werden, dass Latex in seiner Klassenstufe bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt. Bestätigt werden die Ergebnisse aus der Testung durch die Unterrichtsbeobachtungen und Aussagen der Lehrpersonen in den Interviews, die Shehan eine sehr gute Bedienkompetenz am Computer bescheinigten.

Hilfsmittel.

Shehan stand neben dem Computer außerdem ein Bildschirmlesegerät und eine elektronische Lupe zur Verfügung. Diese nutzte er allerdings im Untersuchungszeitraum nicht. In der Vergangenheit hat er zudem bereits mit der Vergrößerungssoftware Zoomtext gearbeitet. Zusätzlich nutzte er sein Smartphone im Alltag, um Bilder zu vergrößern und Texte zu erkennen.

Unterrichtsbeobachtungen.

An sieben Hospitationsterminen verteilt über den Untersuchungszeitraum von zwölf Monaten wurden bei Shehan in verschiedenen Fächern 42 Unterrichtssituationen protokolliert und hinsichtlich Wahrnehmungspräferenz (visuell, haptisch, auditiv) und Effektivität von zwei Coder/innen bewertet. Die Intercoder-Übereinstimmung lag bei 73.21 % im ersten Codierdurchgang. Für die verbleibenden Textstellen konnte in einer gemeinsamen Codiersituation ein Konsens gefunden werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 5.22 zusammengefasst.

Insgesamt wurden 42 Situationen protokolliert und 50 Codings vergeben. In acht Situationen gab es Doppelcodierungen, in denen Shehan visuell-auditiv gearbeitet hat (z. B. mit Sprachausgabe und PC-Bildschirm; Texte hören und editieren am Computerbildschirm).

Gemäß der Unterrichtsbeobachtungen arbeitet Shehan in der Schule überwiegend visuell (70 %). Effektiv kann er sein Sehen zum Erlesen vergrößerter Schrift einsetzen, wenn es sich dabei um kurze Abschnitte handelt. Zudem setzt er sein Sehvermögen sehr wirksam am Computer in Bereichen ein, die mit Blindentechniken nur schwer zugänglich sind, z. B., um einen Überblick über Dokumente zu bekommen, beim Editieren von Dokumenten oder beim Arbeiten im Internetbrowser. Dabei hilft ihm, dass er noch Symbole auf dem Computerbildschirm erkennt. Ein detaillierter Blick zeigt jedoch, dass er mit seinem verbliebenen Sehvermögen oftmals an Grenzen stößt. Shehan konnte beispielsweise die Schwarzschrift nicht ausdauernd lesen. Zudem tendierte er dazu, Wörter zu raten, statt sie zu lesen. Er erkannte auch keine Tafelanschriebe und konnte auch keine Handschrift mehr lesen.

In 24 % der beobachteten Situationen nutzte Shehan primär die auditive Wahrnehmung. Neben der effektiven Verwendung der Sprachausgabe für längere Textabschnitte und zur Navigation im Explorer konnte er durch gutes Zuhören und eine ausgeprägte Merkfähigkeit in vielen Situationen seine Sehbeeinträchtigung kompensieren (z. B. indem er sich Vokabeln und Fachausdrücke aus Unterrichtsgesprächen merkte). Shehan tendierte jedoch auch dazu, die Sprachausgabe übermäßig stark einzusetzen. In einigen Unterrichtssituationen konnten deshalb auch Grenzen beobachtet werden, z. B. beim Wiederfinden von Informationen in gehörten Texten oder in Unterrichtssituationen, in denen ein Text abschnittsweise zu einem Unterrichtsgespräch gelesen werden sollte.

Tabelle 5.22 Shehans Wahrnehmungspräferenzen im Unterricht

Haptische Angebote wurden an den Hospitationsterminen nur selten beobachtet. Nur in 6 % der Unterrichtssituationen nutzte Shehan sein Tastvermögen. Dabei handelte es sich ausschließlich um unterschiedliche Schreibsituationen, die er mittels Brailleeingabe an der Braillezeile zumeist effektiv löste. Eine Braille-Lesesituation im Unterricht konnte im Untersuchungszeitraum nicht beobachtet werden.

Dies zeigte sich auch bei den protokollierten Lesezeiten. An einem gewöhnlichen HospitationstagFootnote 9 las Shehan 40 Minuten die Schwarzschrift, 13 Minuten mit der Sprachausgabe und 0 Minuten die Brailleschrift.

Das pädagogische Team.

Shehan wurde von insgesamt neun sonderpädagogischen Lehrpersonen in unterschiedlichen Fächern unterrichtet. Im Untersuchungszeitraum wechselte die Klassenleitung zu Beginn der achten Klasse. Aus diesem Grund wurden in seinem Fall beide Klassenleitungen interviewt. Übereinstimmend berichteten beide, dass es bislang im Team noch keinen Austausch über Shehans Schriftnutzung gab und in der Folge auch keinen Konsens über seine Schriftnutzung im Unterricht. Beide Lehrpersonen beschrieben die Zusammenarbeit im Team dennoch als ‚gut‘ und wünschten sich mehr Zeit für kollegiale Zusammenarbeit in Form von pädagogischen Konferenzen. Übereinstimmend betonten sie, dass Shehan neben dem Lesen einen erhöhten Förderbedarf in der Rechtschreibung hat. Zudem sahen sie die Prioritäten in der Förderung stärker auf fachlichen Zielen und dem Erreichen der Klassenziele. Rückmeldungen zu Shehans Schriftnutzung durch Fachkolleginnen und Kollegen gab es nach Aussagen der Lehrpersonen noch keine.

Die Eltern.

Shehans Mutter und Vater stammen aus Südostasien. Die Kontaktaufnahme war zunächst erschwert, weil beide Elternteile Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben. Das Elterninterview konnte jedoch mit der Hilfe von Shehans Bruder durchgeführt werden, der während des Gesprächs dolmetschte. Aus dem Interview geht hervor, dass Shehans Augenerkrankung ein Schock für die Eltern war. Vor der erweiterten Familie verheimlichten sie seine Sehbehinderung lange Zeit, weil sie eine Stigmatisierung befürchteten. Inzwischen üben sie sich jedoch in einem offenen Umgang. Die Eltern sind sehr an der Bildung von Shehan interessiert und möchten, dass er am Wochenende zuhause für die Schule lernt. Aufgrund der Sprachbarriere waren Elternabende und Gespräche an der Schule bislang eine Herausforderung für die Eltern, weshalb der Kontakt mit der Schule auf das Nötigste begrenzt war. Shehans Eltern äußerten in dem Gespräch vor allem den Wunsch, dass ihr Sohn sich im Bereich Rechtschreibung verbessert. Seine Lesekompetenz war bislang noch kein Thema bei Gesprächen mit der Schule. Die Eltern befürworteten Shehans Brailleschriftspracherwerb, jedoch gab es zuhause bei ihm keine Materialien in Punktschrift und die Eltern unterstützten den Erwerb auch nicht aktiv. Zuhause arbeitete er deshalb ausschließlich visuell und unterstützt durch die Sprachausgabe.

Neben den Eltern war das Internat, welches Shehan unter der Woche besuchte, ein wichtiger Ansprechpartner für außerschulische Fragen. Im Schülerinterview gab Shehan an, dass er sich dort wohl fühle.

Bezüge zur Kompetenzerhebung.

Im Zuge der Fallarbeit wurden alle Testverfahren aus der Kompetenzerhebung mit Shehan durchgeführt. Die Tabelle 5.23 gibt einen Überblick über die durchgeführten Tests und die erzielten Ergebnisse und setzt diese in Bezug zu den dual Schriftnutzenden der Kompetenzerhebung und der Normierungsstichprobe aus den Testverfahren. Eine detaillierte Beschreibung der verwendeten Tests befindet sich in Abschnitt 4.1.6.

Im Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest aus dem SLRT-II erzielte Shehan in Braille zwölf richtige WpM und in der Schwarzschrift 38 richtige WpM. Beide Werte liegen unter dem Mittelwert der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung und deutlich unter den Werten der Normierungsstichprobe (vgl. hierzu Tabelle 5.23, Kapitel 1).

Im Leseverstehen (LVG) zeigte er trotz niedriger Lesegeschwindigkeit ein überdurchschnittlich hohes Verständnis, indem er 31 von 32 möglichen Punkten erreichte. Das zeigt sich auch im direkten Vergleich mit den dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung, die mit durchschnittlich 21.63 Punkten einen deutlich niedrigeren Wert erreichten (vgl. hierzu Tabelle 5.23, Kapitel 2).

Tabelle 5.23 Shehans Ergebnisse aus den Kompetenztests

In der Parallelversion zum Hörverstehen (HVG) erzielte Shehan wiederum ein durchschnittliches Ergebnis mit 19 von 32 Punkten. Damit unterschied er sich in der Testung nicht von den dual Schriftnutzenden aus der Studie, die ebenfalls 19 Punkte erreichten (vgl. hierzu Tabelle 5.23, Kapitel 3).

In der Rechtschreibung, die mithilfe der Hamburger Schreibprobe (HSP) erhoben wurde, erzielte Shehan mit einem T-Wert von 39 ein unterdurchschnittliches Ergebnis. Sein Wert liegt damit unter dem der Normierungsstichprobe und dem der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung (vgl. hierzu Tabelle 5.23, Kapitel 4).

5.2.5.1 Fallanalyse

Auf die Darstellung von Shehans Fall folgt in diesem Teil die Diskussion seiner schriftsprachlichen Kompetenzen. Dazu werden die Erkenntnisse zu seinen Wahrnehmungsvoraussetzungen, die zeitlichen Ressourcen, die Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien sowie seine Fördersituation mit der Fachliteratur verknüpft und Förderempfehlungen abgeleitet.

Wahrnehmungsvoraussetzungen.

Die sensorisch-perzeptiven Voraussetzungen sind nach Koenig und Hoolbrook (1989, S. 298) wichtig für die Bestimmung des Lern- und Schriftmediums. Auf Basis der Unterrichtsbeobachtungen, der geführten Interviews, Shehans Lernbiografie und der Evaluation des funktionalen Sehvermögens werden nachfolgend die visuellen, haptischen und auditiven Wahrnehmungsvoraussetzungen bewertet.

Die visuellen Wahrnehmungsvoraussetzungen müssen differenziert betrachtet werden. Aus der Überprüfung des funktionalen Sehens geht hervor, dass Shehan in vielen Situationen von seinem Sehvermögen profitiert, z. B. bei der Orientierung, der Personenerkennung oder beim Sport. In diesen Situationen ist seine Sehbehinderung weniger stark ersichtlich als bei Arbeiten im Nahbereich. Letzteres ist wiederum entscheidend bei der Schriftwahl (Koenig & Holbrook, 1989, S. 299). Grundsätzlich erfordert Lesen Fixationen und Blicksprünge in horizontaler Richtung (Gustafsson & Inde, 2004, S. 212). Durch das Zentralskotom sind diese bei Shehan erschwert und er muss exzentrisch fixieren, was sich in einer erhöhten Leseanstrengung und einer niedrigen Leseausdauer bemerkbar macht (siehe hierzu Anhang B im elektronischen Zusatzmaterial). Mit zunehmender Entfernung zur Fovea nimmt zudem die Sehschärfe in der peripheren Netzhaut ab (Flom & Roanne, 2004, S. 40). Legge stellt in diesem Zusammenhang fest, dass Personen mit Zentralskotom generell deutlich langsamer Lesen und einen erhöhten Vergrößerungsbedarf haben, als Personen mit Sehbeeinträchtigung und zumindest teilweisem intakten zentralen Gesichtsfeld (Legge, 2007, S. 52). Demzufolge sind Shehans visuelle Voraussetzungen zum Lesen der Schwarzschrift stark begrenzt. Diesbezüglich unterscheidet sich sein Krankheitsbild deutlich von einer typischen Retinitis Pigmentosa, bei der die Lesefähigkeit noch lange bestehen bleibt. Aufgrund der Symptomatik kann Shehans Form der RP als besonders schwerwiegend bezeichnet werden (Hamel, 2008, S. 1). Hinzu kommt, dass eine weitere Abnahme des Sehvermögens wahrscheinlich ist. Nichtsdestotrotz zeigt er eine starke Präferenz für die visuelle Informationsaufnahme. In 70 % der beobachteten Unterrichtssituationen arbeitete er visuell, was ein Hinweis auf eine übermäßige Abhängigkeit und Dominanz der visuellen Wahrnehmung sein kann. Dabei wurde Shehans Sehvermögen in den meisten beobachteten Situationen als mehr oder weniger effektiv bewertet (siehe hierzu Tabelle 5.22).

Man könnte auch sagen, er kann sein Sehvermögen funktional und effektiv nutzen, nur nicht in allen Situationen gleichermaßen. Um zu beurteilen, in welchen Unterrichtssituationen er besser haptisch, auditiv oder mit einer Kombination unterschiedlicher Zugänge arbeiten sollte, ist ein funktionales Verständnis seiner Sehbeeinträchtigung unerlässlich. Zudem benötigt er verstärkt multisensorische Angebote und Wahlmöglichkeiten, um schrittweise das Vertrauen in die anderen Sinne aufzubauen (Kamei-Hannan & Ricci, 2015, S. 49; Koenig & Holbrook, 1995, S. 16).

Hinsichtlich der haptischen Wahrnehmung zeigten sich bei Shehan keine Einschränkungen. Er erkannte unterschiedliche Texturen, Oberflächen und Braillesymbole. Beim Lesen der Punktschrift führte er die Finger parallel bis zum Zeilenende, wodurch der Zeilenwechsel erschwert wird und die Lesegeschwindigkeit sinkt (Lang, 2003, S. 161). Seine Taststrategien kann er folglich noch verbessern. Positiv hervorgehoben werden sollte jedoch, dass er bei Tastaufgaben keine Tastscheu oder Ermüdung zeigte. Dennoch nutzte er sein Tastvermögen in nur 6 % der beobachteten Unterrichtssituationen. Dies kann wiederum als Hinweis gedeutet werden auf fehlende Angebote im haptischen Bereich. Diese sind wichtig, um Vertrauen in das Tastvermögen aufzubauen. Das gilt insbesondere für Shehan, der lernbiografisch zwar viele visuelle und auditive Lernmöglichkeiten hatte, allerdings nur wenige Gelegenheiten, um haptische Erfahrungen überhaupt zu sammeln. Für die Akzeptanz der Brailleschrift ebenso wie für das Interesse an taktilen Modellen und Grafiken ist dies jedoch eine Grundvoraussetzung. Es wird deshalb als notwendig angesehen, die haptischen Lernmöglichkeiten deutlich zu steigern. Im Gegensatz zur visuellen Wahrnehmung droht im haptischen Bereich auch keine Abnahme.

Shehans auditiv-perzeptiven Voraussetzungen werden als gut bewertet. Er zeigte keine Anzeichen einer Hörbeeinträchtigung und nutzte sein Hörvermögen im Unterricht in 24 % der beobachteten Lernsituationen. Auffällig häufig arbeitete er mit einer Mischung aus Sehen und Hören. Er tat dies oft in Lesesituationen am Computer in der Schwarzschrift und unterstützt durch die Sprachausgabe. Seine Lehrpersonen beschreiben ihn deshalb auch als auditiven Lerntyp. Überdies äußerte Shehan seine Präferenz für das Hören in den Interviews. Er begründete diese mit der schnellen und einfachen Verfügbarkeit. Eine Präferenz für die auditive Informationsaufnahme ist nach Herzberg et al. (2017, S. 56) und Vik et al. (2007, S. 551) typisch für dual Schriftnutzende. Allerdings erfordern gehörte Texte auch weitreichende Hörkompetenzen, beispielsweise das aktive Zuhören oder das selektive Aufnehmen von Textinformationen (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 419). Eine Kompetenz, die Shehan bislang noch nicht erworben hat und bei Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung gezielt eingeübt werden sollte (Barraga, 1986, S. 92). Dazu fehlten ihm in vielen der beobachteten Unterrichtssituationen Alternativen, weil er nicht über die notwendigen Lesekompetenzen verfügte. Aus diesem Grund wird vor einer unkritischen und uneingeschränkten Fokussierung nur auf den auditiven Zugang abgeraten. Auditive Hilfsmittel sollten Shehans Lernmöglichkeiten ergänzen und das Erlernen eines Schriftmediums nicht überflüssig machen (Koenig & Holbrook, 2010, S. 461).

Insgesamt sollte bei dual Schriftnutzenden wie Shehan das Potenzial aller Sinne zum Lernen und der Informationsaufnahme möglichst effektiv genutzt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von sogenannten multisensorischen Angeboten, die Seh-, Tast- und Hörvermögen einzeln oder in Kombination erfordern (Geruschat, Duane, R. & Corn, 2006, S. 651; Siu & Presley, 2020, S. 115) und damit besonders wertvolle Lernerfahrungen ermöglichen.

Zeitliche Ressourcen für die Brailleförderung.

Schülerinnen und Schüler wie Shehan haben ein Recht auf qualitativ hochwertige und umfassende Instruktionen in der Brailleschrift, die von fachkundigen, ausgebildeten Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen durchgeführt werden (AER & COSB, 2019). Dabei sind die zeitlichen Ressourcen zur Förderung eine grundlegende Voraussetzung (Blankenship, 2008, S. 199; Lang et al., 2021, S. 12). In Shehans Fall hat sich das pädagogische Team in Klasse drei dazu entschieden, die Brailleschrift einzuführen und einen Schulwechsel einzuleiten. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er bereits über schriftsprachliche Kompetenzen in der Schwarzschrift. Koenig und Holbrook (2000, S. 689) ebenso wie Corn und Koenig (2002, S. 317) empfehlen bei Schülern wie Shehan eine intensive und konsistente Förderung im Umfang von ein bis zwei Stunden täglich über mindestens ein Schuljahr. Ähnliche Empfehlungen findet man bei Hatlen (2003), der hinzufügt, dass die Förderung durch eine qualifizierte Lehrperson durchgeführt werden sollte. Mit Blick auf Shehans Lernbiografie fällt auf, dass dieser zwar nach seinem Schulwechsel intensiv im Bereich Punktschrift gefördert wurde, er dazu aber keine zusätzlichen Einzelförderstunden erhalten hat. Zumindest in seinem ersten Jahr an der Blinden- und Sehbehindertenschule hatte er täglichen Punktschriftkontakt im Unterricht, was übereinstimmend als eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Brailleschriftspracherwerb angeführt wird (D’Andrea, 1997, S. 135; Rogers, 2007, S. 129; Swenson, 2016, S. 178). Mit dem Wechsel in die Sekundarstufe reduzierten sich die zeitlichen Ressourcen zur Brailleförderung. Eine Einzelförderung erfolgte auch in dieser Phase nicht und konnte auch nicht im Untersuchungszeitraum beobachtet werden.

Insgesamt ergibt sich dadurch eine klare Unterversorgung. Diese ist erstaunlich, bedenkt man, dass der Erwerb der Punktschrift ein wichtiges Argument für den Schulwechsel von Shehan war. Deshalb stellt sich die Frage, ob sein Bedarf bislang unterschätzt wurde, oder ob es tatsächlich keine Möglichkeiten für eine individuelle Förderung gab. Nach Lusk und Corn (2006b, S. 661) sind fehlende zeitliche Ressourcen ein typisches Problem bei Schülerinnen und Schülern, die mit dem Brailleschriftspracherwerb später beginnen. Dennoch sollte dieser zu jedem Zeitpunkt möglich sein (Corn & Koenig, 2002, S. 317). Falls die vorhandenen organisatorischen Strukturen dies nicht ermöglichen, sollte die bisherige Praxis kritisch hinterfragt und nach flexiblen Lösungen gesucht werden, damit auch dual Schriftnutzende wie Shehan im Laufe der Schulzeit funktionale Braillekompetenzen erwerben können. In Abschnitt 2.3.7 werden einige Ideen vorgestellt, wie sich dies in der Praxis umsetzen lässt.

Lesekompetenzen in der Schwarzschrift.

In diesem Abschnitt sollen Shehans schriftsprachliche Kompetenzen in der Schwarzschrift bewertet und diskutiert werden. Dazu werden die Ergebnisse aus den unterschiedlichen Lesetestungen (z. B. zur Leseflüssigkeit, den Lesefehlern, dem Leseverstehen oder der Leseausdauer) in Verbindung zueinander gesetzt und mit den Interviewaussagen und Beobachtungen sowie der Fachliteratur verknüpft.

Nach übereinstimmenden Aussagen ist Shehans Hauptlesemedium die Schwarzschrift. Im Untersuchungszeitraum las er diese mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 51.2 WpM und einer Fehlerrate von 1.2 % (vgl. hierzu Abbildung 5.48). Dies ermöglichte ihm, kürzere Texte gut zu bewältigen, d. h. weitgehend fehlerfrei zu lesen. Seine Lesekompetenzen waren dennoch weit unterdurchschnittlich und nicht altersangemessen. Das zeigt eine Gegenüberstellung mit den Normwerten, die Hasbrouck und Tindal (2017, S. 10) für Lernende ohne Sehbeeinträchtigung zusammengestellt haben. Demnach ist Shehans Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift vergleichbar mit den Werten von Schülerinnen und Schülern am Anfang der zweiten Klasse.

Shehans Ergebnisse aus dem Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest (SLRT-II) bestätigt dies. In der Schwarzschrift erreichte er 38 richtige WpM und die Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung 120 WpM (vgl. hierzu Tabelle 5.23). Sein Testergebnis im SLRT-II entspricht damit einer typischen Leseflüssigkeit von Leserinnen und Lesern ohne Sehbeeinträchtigung in Klasse zwei (Moll & Landerl, 2014, S. 75–80). Zudem lag sein Wert unter dem Mittelwert der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung, die im Schnitt die Schwarzschrift mit 45.45 richtigen WpM lasen. Demzufolge sind seine Werte auch unter Berücksichtigung der Sehbeeinträchtigung zu niedrig.

Ein wichtiger Bestandteil der Lesekompetenz ist neben der Geschwindigkeit die Leseausdauer. Diese wurde bei Shehan in einer informellen Testung erhoben, die er jedoch aufgrund von Erschöpfung nach elf Minuten abbrechen musste (siehe hierzu Abbildung 5.60). In diesem Zeitfenster und bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 45.6 WpM kann er somit Texte in einer Länge von maximal 500 Wörtern lesen. Viele altersangemessene Lesetexte sind deshalb deutlich zu lang für ihn. Dazu verdeutlicht das Ergebnis, dass das visuelle Lesen für ihn nur periodisch möglich ist und bei längeren Texten Lesepausen eingeplant werden müssen. Die Limitierung bei der Leseausdauer sollte zudem als Anlass genommen werden, über eine verstärkte Braillenutzung nachzudenken (Herzberg et al., 2017, S. 52; Lusk & Corn, 2006a, S. 615).

Eine Stärke von Shehan ist wiederum sein sehr gutes Leseverständnis, welches mit dem Leseverstehen- und Geschwindigkeitstest (LVG) erhoben wurde. Mit 31 von 32 möglichen Punkten war sein Textverständnis außerordentlich hoch und lag deutlich über dem Ergebnis der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung, die im Schnitt 21.63 Punkte erreichten (vgl. hierzu Tabelle 5.23). Damit ist Shehan ein gutes Beispiel dafür, dass man bei Schülerinnen und Schülern mit Sehbeeinträchtigung nicht von einer niedrigen Lesegeschwindigkeit auf das Leseverstehen schließen sollte (Kamei-Hannan et al., 2020, S. 98).

Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass er vor allem in den Bereichen Leseflüssigkeit und Leseausdauer beeinträchtigt ist. Vor dem Hintergrund der sensorisch-perzeptiven visuellen Voraussetzungen, die zuvor bereits diskutiert wurden, erscheint eine Verbesserung unwahrscheinlich (s. o.). Komplett ausschließen sollte man diese jedoch nicht. Studien belegen, dass sich die Lesegeschwindigkeit von Personen mit Zentralskotom wie bei Shehan durch Übungen zum peripheren Sehen verbessern lässt (Gustafsson & Inde, 2004; Kasten et al., 2010). Gemeinsam ist diesen Untersuchungen, dass die Teilnehmenden beim Lesen den Text bewegten anstelle der Augen. Überdies wurde mit Fixationshilfen (z. B. Linien) gearbeitet. Diese unterstützten die Personen mit Sehbeeinträchtigung, ihre Gesichtsfeldausfälle besser zu kontrollieren. Mithilfe einer professionellen Vergrößerungssoftware ließen sich diese Techniken auch mit Shehan einüben. Eine weitere Möglichkeit besteht in einer verstärkten Nutzung des Bildschirmlesegeräts (BLG), bei dem verstärkt der Text statt der Augen bewegt wird. Die beschriebene Lesetechnik könnte somit dazu führen, dass er seine Leseausdauer und Lesegeschwindigkeit verbessert. Aufgrund der fortschreitenden Augenerkrankung handelt es sich dabei jedoch nur um eine Lösung auf Zeit, die nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Shehan schon heute von einer verstärkten Braillenutzung profitieren würde.

Lesekompetenzen in der Brailleschrift.

Analog zur Schwarzschrift soll in diesem Abschnitt Shehans schriftsprachliche Kompetenzen in der Punktschrift bewertet und diskutiert werden.

Zum Start der Fallstudie lag der Brailleschriftspracherwerb bereits vier Jahre zurück und er las mit einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von 21 WpM. Seit Beginn des Erwerbprozesses hat er somit seine Lesegeschwindigkeit um durchschnittlich 0.4 Wörter pro Monat gesteigert. Nach Aussagen von Shehan verbesserte er jedoch seine Lesegeschwindigkeit vor allem im ersten Erwerbsjahr. In den Folgejahren machte er nur noch geringe Fortschritte.

Vor dem Hintergrund der Daten zur Entwicklung der Lesegeschwindigkeit bei Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung von Hasbrouck und Tindal (2017, S. 10), wonach diese in der ersten Klasse ihre Geschwindigkeit im Durchschnitt um 7.6 Wörter pro Monat steigern, wird deutlich, dass Shehans Lerntempo auch unter Berücksichtigung seiner Sehbeeinträchtigung sehr gering ausfällt.

Das geht ebenfalls aus der Auswertung seiner Testergebnisse zur Leseflüssigkeit aus dem SLRT-II hervor (vgl. hierzu Tabelle 5.23). Mit zwölf richtig gelesenen WpM lag sein Testergebnis deutlich unter dem Mittelwert der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung, die 115.17 richtige WpM erreichten und der dual Schriftnutzendenden aus der Kompetenzerhebung, die 19.85 richtige WpM in der Brailleschrift erzielten. Shehan verfügt folglich über sehr basale Lesekompetenzen. Die demonstrierten Kompetenzen sind jedoch nicht ausreichend, um aktuelle oder zukünftige Leseanforderungen zu bewältigen, weshalb aus den Ergebnissen ein hoher individueller Förderbedarf im Bereich Braille-Leseflüssigkeit hervorgeht.

Problematisch erscheint zudem, dass Shehan in der Lesegeschwindigkeit innerhalb des Erhebungszeitraumes von elf Monaten keinen Lernfortschritt zeigte (siehe hierzu Abbildung 5.58). Seine Geschwindigkeit schwankte nur geringfügig um den Mittelwert von 21.9 WpM. Überdies deutet die Lesefehlerrate von 6.9 % daraufhin, dass er mit dem Dekodieren noch Schwierigkeiten hat. Dazu passt die Beobachtung, dass er mit dem Erkennen von Zahlen und Rechenzeichen in der Brailleschrift noch Probleme hat.

In der Testung zur Leseausdauer zeigte er im Gegensatz zum visuellen Lesen keine Ermüdungseffekte (siehe hierzu Abbildung 5.60). Folglich bietet die Punktschrift bei längeren Leseaufgaben eine Alternative zur Schwarzschrift. Voraussetzung ist jedoch, dass Shehan seine Lesegeschwindigkeit weiter steigert.

Insgesamt wird sein Kompetenzniveau in der Punktschrift als nicht ausreichend und zu niedrig bewertet. Zudem trug der Unterricht im Untersuchungszeitraum nicht zu einer Verbesserung in Form einer Steigerung der Lesegeschwindigkeit bei. Über die Gründe können unterschiedliche Hypothesen aufgestellt werden:

  • Erwartungshaltung. Übereinstimmend waren Eltern und Lehrpersonen davon überzeugt, dass Shehan von der Brailleschrift profitieren kann, wozu er allerdings seine Kompetenzen noch deutlich steigern muss. Shehan war sich dieser Erwartungshaltung bewusst und nannte in dem Interview auch die Motive seines Umfeldes. Dennoch lehnte er die Brailleschrift ab, weil diese für ihn aktuell keine Funktion habe und seine Lesegeschwindigkeit im Vergleich zur Sprachausgabe und zum visuellen Lesen viel zu langsam sei.

  • Akzeptanz der Brailleschrift. Shehans Lehrpersonen waren wiederum der Auffassung, dass sich eine zunehmende Brailleförderung nicht gegen seinen Widerstand durchsetzen lässt und er in der Folge alle Angebote in der Punktschrift ablehnen würde.

  • Zeitliche Ressourcen zur Leseförderung. Dazu beklagten die beiden interviewten Lehrpersonen, dass neben den fachlichen Zielen und den sonstigen Fördergebieten, z. B. der Rechtschreibung, die Zeit für eine individualisierte Leseförderung im Unterricht fehle.

  • Priorisierung. Eine Lehrperson äußerte zudem, dass das Erreichen der Klassenziele und eines Schulabschlusses aus seiner bisherigen Erfahrung häufig priorisiert werde und die Leseförderung in diesem Kontext das Nachsehen habe. Die zweite Lehrkraft bestätigte dies, plädierte aber dafür, Wege zu suchen, einen Schulabschluss und eine grundlegende Lesekompetenz aufzubauen.

  • Bewertung der Braillekompetenzen. Alle interviewten Personen respektive Shehan stimmten überein, dass seine Braille-Lesegeschwindigkeit deutlich zu langsam ist. Ein Problembewusstsein war folglich bei allen Beteiligten in der Fallstudie vorhanden, jedoch leitete daraus niemand eine unmittelbare Intensivierung der Förderung ab.

  • Zielsetzung. Beide Lehrpersonen formulierten die Zielsetzung hinsichtlich der Brailleschrift sehr offen, z. B., indem sie sagten, Shehan benötige ein „bestimmtes“ oder „basales“ Niveau in der Punktschrift. Die Formulierungen lassen viel Interpretationsspielraum zu. Aus den Aussagen ging zudem nicht hervor, ob Shehan dies bereits erreicht hat.

Aus den Interviewaussagen ergibt sich somit ein komplexes, dynamisches, multikausales Gefüge, in dem alle Beteiligten scheinbar in einem Kreislauf gefangen sind. Dieser wird nachfolgend kurz skizziert: Shehan hat in der Vergangenheit mehrfach die Erfahrung gemacht, dass seine Lesekompetenz in der Brailleschrift nicht den Anforderungen der Schule und des Alltags genügen. In der Folge lehnt er die Brailleschrift ab und vermeidet Lesesituationen, wodurch ihm die Übungspraxis fehlt und er sich nicht verbessern kann. In diesem Kontext spielen die Lehrpersonen eine entscheidende Rolle. Sie sollten Shehan trotz Ablehnung weiterhin Unterstützungsangebote machen, weil ihm allein die Mittel fehlen, den Kreislauf zu durchbrechen. Ohne schulische Unterstützung wird er es nicht schaffen, seine Kompetenzen zu verbessern, Motivation und Anstrengungsbereitschaft aufzubauen (Krug & Nix, 2017, S. 40). Die Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen müssen diesbezüglich ein positives Vorbild sein, die Bedeutung der Punktschrift im Unterricht hervorheben und funktionale Lese- und Schreibanlässe in der Brailleschrift schaffen. Folgende Punkte könnten Shehans Lernsituation hinsichtlich der Punktschrift verbessern:

  • Schaffen von funktionalen Lese- und Schreibanlässen im Unterricht. Shehans Interessen und Ziele sollten verstärkt Ausgangspunkt einer individualisierten Förderung sein. Es können beispielsweise Listen erstellt werden mit Shehans Zukunftswünschen anhand derer nach konkreten Anwendungsgebieten für die Brailleschrift gesucht werden kann. In dem Interview äußerte er beispielsweise den Wunsch, das Abitur zu machen. Um das zu schaffen, wird er gute Lesekompetenzen brauchen, insbesondere in Fächern, in denen er mit der Sprachausgabe an Grenzen stößt, z. B. in Mathematik oder den Naturwissenschaften. Überdies sollten auch die vorhandenen Möglichkeiten im aktuellen Unterricht voll ausgeschöpft werden. Shehan könnte z. B. häufiger dazu aufgefordert werden, kürzere Textpassagen oder Überschriften auf seiner Braillezeile zu lesen. In den beobachteten Unterrichtssituationen wurde davon bislang kaum Gebrauch gemacht (siehe hierzu Tabelle 5.22). Außerdem können altersangemessene Texte an sein Leseniveau angepasst und im Unterricht eingesetzt werden. Mithilfe von Punktschriftausdrucken und taktilen Grafiken mit Beschriftungen können zudem weitere Leseanlässe geschaffen werden. Einen weiteren Anknüpfungspunkt bieten Shehans gute Schreibkompetenzen in der Brailleschrift. Indem er gezielt dazu aufgefordert wird, öfter mit der Punktschriftmaschine im Unterricht zu arbeiten, z. B. um Notizen anzufertigen, kann der Nutzen der Punktschrift hervorgehoben werden. Dies funktioniert auch in Kombination mit der Sprachausgabe bei gehörten Texten. Darüber hinaus wird sich mit steigender Braillekompetenz der Aufwand für individualisierte Lese- und Schreibangebote reduzieren.

  • Vermitteln von Lesevorbildern. Nach Swenson (2016, S. 264) sind Lesevorbilder für dual Schriftnutzende wie Shehan besonders wichtig. In seiner Klasse war er der einzige Braille-Nutzende. Eine Lehrperson vermutete deshalb, dass dies seine Ablehnung des Schriftmediums verstärkt. Folglich sollte der Kontakt mit anderen dual Schriftnutzenden und Braille Lesenden gefördert werden.

  • Einfordern von zeitlichen Ressourcen. Beide Lehrpersonen waren davon überzeugt, dass eine Brailleförderung unter den gegebenen Umständen schwierig sei . Diese Bedenken müssen der Schulleitung klar kommuniziert werden mit der Bitte um Erhöhung der Förderzeit oder personelle Entlastung.

  • Vereinbaren von Zielen. Bis zum Ende der Schulzeit sollte bei Shehan eine Braille-Lesegeschwindigkeit von 60 WpM angestrebt werden. Dies entspricht dem Mittelwert der nur Braille-Lesenden aus der Studie Zukunft der Brailleschrift (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 11) und würde Shehan ein Unabhängigkeitsniveau ermöglichen (Rosebrock et al., 2017, S. 62). D. h. bei dieser Geschwindigkeit kann davon ausgegangen werden, dass er relevante Textinformationen in Braille lesen kann. Zudem ermöglicht ihm dieses Niveau, in Zukunft selbstbestimmt seine Lesekompetenz weiter zu verbessern. Es handelt sich dabei folglich um einen Minimalstandard, der eine Verdreifachung seiner aktuellen Geschwindigkeit erfordern würde.

  • Erproben von evidenzbasierten Fördermethoden. Shehans Hauptproblem besteht im Bereich der Leseflüssigkeit. Um diese möglichst wirksam zu steigern, werden Lautleseverfahren empfohlen, die nachweislich positive Effekte auf die Leseflüssigkeit haben (Rosebrock et al., 2017, S. 121).

Ohne eine zusätzliche Anstrengung aller Personen wird Shehan in den dargestellten Dimensionen der Lesekompetenz keine Verbesserung erzielen. Zudem wird davor gewarnt, seine Brailleförderung noch weiter zu verzögern. Aus Shehans visuellen Voraussetzungen und seinen Schwarzschriftkompetenzen geht deutlich hervor, dass er die Brailleschrift brauchen wird.

Nutzung der Sprachausgabe.

In dem nachfolgenden Abschnitt sollen Shehans Nutzungsgewohnheiten mit der Sprachausgabe, die Bedienkompetenzen im Screenreader und die Hörkompetenzen thematisiert werden. Dazu werden die Ergebnisse aus den Unterrichtsbeobachtungen, dem erweiterten Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard, einer informellen Vergleichstestung von Lese- und Hörgeschwindigkeit und die Testergebnisse zum Hörverstehen (HVG) mit Interviewaussagen verknüpft und vor dem Hintergrund der Fachliteratur diskutiert.

Aus unterschiedlichen Datenerhebungen geht gleichermaßen hervor, dass Shehan über hohe Bedienkompetenzen im Screenreader verfügt und ein technisch versierter Schüler ist.

Nach übereinstimmenden Aussagen nutzte er die Sprachausgabe außergewöhnlich häufig. Bestätigt wird dies durch seine Angaben zu Lese- und Schreibgewohnheiten in dem Fragebogen der Kompetenzerhebung, wonach er im Vergleich zu anderen Studienteilnehmenden oft angab, mit auditiven Hilfsmitteln zu arbeiten. Grundsätzlich befürworteten die interviewten Lehrpersonen seine Nutzung der Sprachausgabe. Demgegenüber sahen sie seine übermäßige Nutzung jedoch auch kritisch. Begünstigt wurde diese durch einen digitalen Unterricht. Dabei wurde die Nutzung der Sprachausgabe in den meisten Fächern nicht reglementiert. Shehan selbst begründete seine Präferenz für die Sprachausgabe mit einer reduzierten Anstrengung.

Um die schriftsprachlichen Anforderungen seiner Klassenstufe zu bewältigen, war die Nutzung jedoch notwendig. Das zeigt die Gegenüberstellung der Hör- und Lesegeschwindigkeiten (vgl. hierzu Tabelle 5.19). Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 250 gehörten WpM ist seine Hörgeschwindigkeit vergleichbar mit der Lesegeschwindigkeit von erwachsenen Personen ohne Sehbeeinträchtigung (Legge, 2007, S. 18; Rosebrock et al., 2017, S. 55). Vor dem Hintergrund der erzielten Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift (47.2 Wpm) und der Brailleschrift (18.1 Wpm) wird zudem der Geschwindigkeitsvorteil deutlich ersichtlich. Die Sprachausgabe ist damit in vielen Situationen ein unverzichtbares Werkzeug für Shehan, das seine schriftsprachlichen Möglichkeiten erweitert. Mithilfe dieser kann er die verfügbare Lesezeit sehr effektiv nutzen und beispielsweise große Textmengen schnell und gezielt überfliegen. Aus diesem Grund wird die Sprachausgabe selbst im Falle einer deutlichen Steigerung der Lesekompetenz bei Shehan auch in Zukunft wichtig bleiben. Die große Lücke in Bezug auf die Geschwindigkeit kann jedoch als klarer Hinweis gewertet werden, dass seine Lesekompetenzen in beiden Schriftmedien nicht altersgemäß sind und er diese dringend verbessern sollte.

Neben umfangreichen Bedienkompetenzen im Screenreader erfordert die Nutzung der Sprachausgabe ebenfalls Hörkompetenzen. Die Kontrolle und Fokussierung auf die elektronische Stimme ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, bei der die Aufmerksamkeit gezielt auf das Gehörte gerichtet werden muss, um die wichtigen Textinformationen zu selektieren und miteinander zu verknüpfen. Bei Shehan wurden die Hörkompetenzen im Screenreader mit dem Hörverstehen und Hörgeschwindigkeitstest (HVG) erhoben und mit den Ergebnissen aus der Parallelversion zum Lesen (LVG) verglichen. Mit 19 von 32 Punkten erzielte er im Hörverstehen ein durchschnittliches Resultat, das vergleichbar ist mit dem Ergebnis der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung (vgl. hierzu Tabelle 5.23). In der Parallelversion im Lesen erreichte er wiederum mit 31 von 32 Verständnispunkten ein überdurchschnittliches Ergebnis. Dies kann als Hinweis gedeutet werden, dass eine starke Nutzung der Sprachausgabe nicht automatisch die Hörkompetenzen verbessert, weshalb diese gezielt gefördert werden sollten (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 24).

In diesem Kontext ist interessant, dass sowohl Shehan als auch seine Lehrpersonen in den Interviews sein Hörverstehen mit der Sprachausgabe höher schätzten als sein Leseverstehen. Die Testung widerlegt diese Vermutung und macht deutlich, dass das schnellste Medium nicht immer das Beste sein muss (Erin et al., 2006, S. 531). Dazu verdeutlicht das Ergebnis, dass sich Shehan seiner eigenen Stärke im Leseverstehen offensichtlich nicht bewusst ist und deshalb häufig unter seinen Möglichkeiten bleibt. Aufgrund der Testergebnisse kann man davon ausgehen, dass insbesondere Shehan von einem speziellen Hörkompetenztraining profitieren würde, weil er wie viele andere dual Schriftnutzende in schulischen Situationen oft auf den Gebrauch auditiver Hilfsmittel angewiesen ist (Hofer, 2020, S. 29).

Insgesamt wird Shehans Sprachausgabennutzung als unangemessen beurteilt, weil er diese nicht anforderungsbezogen nutzt, sondern eine übermäßige Abhängigkeit demonstriert und häufig auch aus Bequemlichkeit lieber mit der Sprachausgabe arbeitet, statt zu lesen. Dazu kaschierte die Sprachausgabe in vielen Situationen seine offenkundige Leseschwäche. Gleichzeitig reduzierte die permanente Verfügbarkeit auditiver Hilfsmittel in Prüfungen und im Unterricht den Handlungsdruck, seine Lesekompetenzen zu verbessern. Mit zunehmendem Fortschreiten der Augenerkrankung wird sich die Abhängigkeit noch weiter verstärken, wenn nicht parallel dazu die Brailleschrift gefördert wird. Im Forschungsfeld gibt es in diesem Kontext einen breiten Konsens, dass die auditive Informationsaufnahme eine wichtige Erweiterung darstellt, diese jedoch keine Lese- und Schreibkompetenzen ersetzen sollte (Barclay, 2012, S. 17; Koenig, 1996, S. 56; Koenig & Holbrook, 1995, S. 76, 2000, S. 690). Bei Shehan erscheint dies aber zunehmend der Fall zu sein, weil selbst in Situationen, bei denen er begleitend am Bildschirm liest, die Sprachausgabe dominiert. Vor diesem Hintergrund sollte auch eine verstärkte Reglementierung auditiver Hilfsmittel diskutiert werden, weil deren Einsatz die Leseanlässe im Unterricht deutlich reduziert. Shehan könnte es beispielsweise erlaubt werden, diese bei der Computerbedienung und bei längeren Texten zu nutzen, während er bei kurzen Leseanlässen verstärkt zum Lesen auf der Braillezeile aufgefordert werden kann. Das Ziel sollte folglich eine anforderungsspezifische und differenzierte Nutzung der Sprachausgabe sein (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 24).

Schreibkompetenzen.

Im Rahmen von Shehans Fallstudie wurden einerseits die Schreibgeschwindigkeit mit unterschiedlichen Schreibwerkzeugen erhoben in der Einheit Zeichen pro Minute (ZpM) und andererseits die Rechtschreibkompetenz mithilfe der Hamburger Schreibprobe (HSP). Im Folgenden werden die Ergebnisse diskutiert.

Shehans schnellstes und am meisten genutztes Schreibmedium ist die PC-Tastatur mit 120 ZpM (siehe hierzu Tabelle 5.20). Er beherrscht das 10-Fingersystem und ist hinsichtlich der Schreibgeschwindigkeit im Klassenkontext nicht auffällig. Eine ähnliche Geschwindigkeit erreichte er mit den Brailleeingabetasten auf seiner Braillezeile mit 105 ZpM. Beide Schreibwerkzeuge können als Indikatoren für eine starke Computernutzung gesehen werden. Das Ergebnis ist zudem ein Beleg dafür, dass Shehan die braillespezifische Schreibweise verinnerlicht und automatisiert hat. Vor dem Hintergrund der Resultate aus der Lesetestung kann man schlussfolgern, dass er in der Punktschrift ein Rezeptions- aber kein Produktionsproblem hat. Aus Shehans Interviewaussagen geht hervor, dass er über mehrere Jahre bevorzugt mit den Brailleeingabetasten auf der Braillezeile am Computer gearbeitet hat und das Geschriebene visuell über den PC-Bildschirm kontrolliert hat. Das erklärt erstens seine hohe Schreibgeschwindigkeit mit dieser Eingabeform und zweitens die Diskrepanz zwischen Lese- und Schreibkompetenzen in der Punktschrift. Shehan ist damit ein gutes Beispiel, dass sich der Zusammenhang zwischen Lese- und Schreibkompetenzen bei dual Schriftnutzenden von Schülerinnen und Schülern, die nur ein Schriftmedium nutzen, unterscheiden kann. Normalerweise geht man von einer relativ festen Verbindung aus, wonach sich Lesen und Schreiben wechselseitig positiv beeinflussen (May et al., 2016a, S. 58). Aufgrund der erweiterten Wahlmöglichkeiten (hinsichtlich Schriftmedium, Hilfsmittel) gestaltet sich dieser Zusammenhang bei vielen dual Schriftnutzenden jedoch wesentlich komplexer. Shehan hat beispielsweise jahrelang in Brailleschrift geschrieben und in Schwarzschrift am Computer gelesen. Dadurch kombinierte er seine Stärken im Schreiben der Punktschrift mit der höheren Lesegeschwindigkeit in der Schwarzschrift. Gegen diese Form der Schriftnutzung ist nichts einzuwenden, wenn sie nicht wie in Shehans Fall dazu führt, dass er keine Brailleschrift mehr liest und somit ein Kompetenzgefälle entsteht. Um dies zu verhindern, sollten Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen präventiv tätig werden und den Gebrauch bestimmter Hilfsmittel im Erwerbsprozess ggf. reglementieren oder bewusst Schreibwerkzeuge vorgeben, sodass sich Lese- und Schreibkompetenzen in beiden Schriftmedien entwickeln.

Neben den bereits erwähnten Schreibwerkzeugen schrieb Shehan ebenfalls auf der Punktschriftmaschine (75 ZpM) und handschriftlich (53 ZpM). In den Interviews sagte er allerdings, dass er beide Optionen selten bis nie nutze. Unterschiedliche Schreibaufgaben erfordern jedoch eine Fülle von Schreibwerkzeugen (Swenson, 2016, S. 196). Dies kann im Unterricht vermittelt werden, indem Wahlmöglichkeiten angeboten werden und medienspezifische Vor- und Nachteile diskutiert werden.

Unabhängig vom Schreibmedium fällt in der Testung die hohe Fehlerrate von 12–19 % auf (siehe hierzu Tabelle 5.20), welche auf Schwierigkeiten in der Orthografie hindeuten. Übereinstimmend wurde die Rechtschreibung zudem von allen interviewten Personen als Problemfeld genannt. In der Überprüfung dieser mithilfe der Hamburger Schreibprobe (HSP) erreichte Shehan einen T-Wert von 39, was einem Prozentrang von 6 % entspricht (May et al., 2016b, S. 59). Vereinfacht ausgedrückt: 6 % der Schülerinnen und Schüler aus der Normierungsstichprobe ohne Beeinträchtigung erzielten das gleiche oder ein schlechteres Testergebnis. Damit liegt sein Ergebnis deutlich unter dem Mittelwert der Normierungsstichprobe (T-Wert 50) und der dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung (T-Wert 46). Eine Detailanalyse offenbart überdies ein unausgewogenes Bild mit Schwächen in der alphabetischen, orthografischen und morphematischen Strategie und einer Stärke im Bereich der wortübergreifenden Strategie. Sein Kompetenzniveau entspricht folglich nicht den Anforderungen seiner Klassenstufe, weshalb er unbedingt ein zusätzliches Rechtschreibtraining benötigt, das speziell auf die genannten Schwächen abzielt.

Aufgrund der Testergebnisse kann eine Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) vermutet werden, welche allerdings bei ihm bereits überprüft wurde und nach Angaben aus der Schülerakte und Aussagen von Shehan und seinen Eltern nicht vorlag. Aus der Fallstudie gehen alternative Erklärungen für sein Abschneiden in der HSP hervor, die nachfolgend dargestellt werden:

  • Fehlende schriftsprachliche Erfahrungen. Kompetente Schreibende verfügen über vielfältige Erfahrungen aus Schreib- und Lesesituationen, wodurch Schreibungen ganzheitlich abgespeichert und abgerufen werden können (Gompel et al., 2002, S. 436; May et al., 2016a, S. 128). Aufgrund von fehlender Lesepraxis in beiden Schriftmedien und seiner starken Sprachausgabennutzung verfügt Shehan über deutlich weniger schriftsprachliche Erfahrungen.

  • Zusammenhang mit der Leseflüssigkeit. Die Ergebnisse aus der Kompetenzerhebung konnten zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Rechtschreibung und Leseflüssigkeit gibt (siehe hierzu Abschnitt 4.2.1). Demnach können die Probleme in der Orthografie verstärkt oder bedingt werden durch die Schwierigkeiten im Lesen. Es empfiehlt sich deshalb, beide Kompetenzen im Verbund zu fördern.

  • Nutzung der Sprachausgabe. Eine starke Nutzung von auditiven Hilfsmitteln wie bei Shehan ging in der Studie Zukunft der Brailleschrift bei vielen Teilnehmenden einher mit niedrigen Werten in der Rechtschreibung (Hofer, Lang, Winter, et al., 2019, S. 18). Mehrere Forschende sind davon überzeugt, dass eine übermäßige Nutzung die Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen beeinträchtigt (Holbrook, D’Andrea & Wormsley, 2017, S. 418; Swenson, 2016, S. 263). In der Konsequenz sollte über eine Reglementierung und einen stärkeren anforderungsbezogenen Gebrauch nachgedacht werden.

  • Analytische Kompetenzen. Im Unterricht konnte beobachtet werden, dass Shehan Strategien fehlten, um auf Unsicherheiten zu reagieren (z. B. Silbensprechen, Suchen nach Wortstämmen oder das Anwenden von Rechtschreibregeln). Durch ein verstärktes Strategietraining und die Anwendung von Selbstinstruktion (siehe hierzu Abschnitt 5.2.4.3) könnte somit eine Verbesserung seiner analytischen Kompetenzen und damit seiner Rechtschreibung hervorgerufen werden.

  • Automatisierte Fehlerkorrekturen. Shehan arbeitete mit der Ausnahme von Diktaten mit eingeschalteter automatisierter Rechtschreibkorrektur am Computer. Seine Texte wurden dadurch zwar leserlicher, jedoch aktivierte er dadurch nicht sein eigenes Regelwissen. Zudem wurden seine Fehlschreibungen somit unsichtbar. Diese geben jedoch wichtige diagnostische Hinweise auf die Art der Rechtschreibprobleme und können somit von fachkundigen Lehrpersonen als Ausgangspunkt für eine Förderung genutzt werden.

  • Einheiten zur Rechtschreibung. Neben vielen Schwächen zeigte Shehan in der wortübergreifenden Strategie eine überdurchschnittlich hohe Leistung. Vor dem Hintergrund der restlichen Ergebnisse ist dies erstaunlich. Der Grund für sein überraschend gutes Abschneiden liegt wahrscheinlich in einer Unterrichtseinheit zur Zeichensetzung, die von der Klassenlehrerin kurz zuvor durchgeführt wurde. Die Testung belegt demzufolge die Wirksamkeit des Angebots.

Zur Verbesserung seiner Rechtschreibkompetenzen wird Shehan über den regulären Unterricht hinaus weitere Förderangebote benötigen. Im Bereich Förderempfehlungen (5.2.5.3) werden hierzu praktische Umsetzungsmöglichkeiten vorgestellt. Zudem sollte die Durchführung eines formalen Rechtschreibtrainings in Erwägung gezogen werden. Zusätzlich könnte eine Lernsoftware zur Rechtschreibung eingesetzt werden, damit er auch außerhalb der Schulzeit und selbstbestimmt seine Kompetenzen verbessern kann.

Fördersituation.

Nachfolgend soll der Fokus stärker auf Shehans Umfeld gelenkt und auf die Rolle des Elternhauses und der Lehrpersonen eingegangen werden. Dazu wird Bezug auf die Interviews und Beobachtungen genommen.

Auf die wichtige Rolle der einzelnen Lehrpersonen wurde bereits im Bereich Lesekompetenzen in der Brailleschrift eingegangen. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit im pädagogischen Team ein zentraler Erfolgsfaktor in der Förderung von dual Schriftnutzenden (Rogers, 2007, S. 130). Gute Teamarbeit im sonderpädagogischen Kontext zeichnet sich durch regelmäßige Teamtreffen, kollegiale Fallbesprechungen und gemeinsame Förderziele aus. Dies wünschten sich auch die interviewten Lehrpersonen von Shehan, jedoch fand bis zum Ende der Fallstudie keine Klassenkonferenz statt, bei der die vorhandenen Unstimmigkeiten hätten besprochen werden können. Dies erschwerte ein fächerübergreifendes, einheitliches Vorgehen und führte dazu, dass es bislang nur wenig bis keinen Austausch über Shehans Schriftnutzung gab und nach übereinstimmenden Aussagen der Lehrpersonen auch keinen Konsens über seine Schrift- und Hilfsmittelnutzung. Das führte im Untersuchungszeitraum zu Missverständnissen im pädagogischen Team, beispielsweise war sich eine Lehrperson sicher, dass Shehan in Mathematik mit der Brailleschrift arbeiten würde, was aber nicht der Fall war. Die Bereitschaft für mehr Zusammenarbeit im Team war bei den interviewten Lehrpersonen spürbar groß. Um diese zu ermöglichen, müssen jedoch Zeitslots fest in den Deputaten eingeplant werden.

Neben dem pädagogischen Team haben Shehans Eltern ebenfalls einen Einfluss auf dessen Förderung, der allerdings durch den Internatsbesuch von Shehan unter der Woche vergleichsweise klein ist. Der Kontakt zwischen Schule und Eltern war dazu aufgrund der Sprachbarriere deutlich beeinträchtigt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass seitens der Eltern ein großes Interesse an schulischen Themen bestand. Die Chancen, die Eltern stärker in die Förderung einzubeziehen, z. B. durch Brailleschrift-Angebote am Wochenende oder durch Übungsmaterialien zur Rechtschreibung, werden deshalb als gut bewertet. Um die kommunikativen Hürden möglichst klein zu halten, können wichtige Förderinformationen auch übersetzt und den Eltern schriftlich zur Verfügung gestellt werden.

5.2.5.2 Förderempfehlungen und Schlussfolgerungen

Der Fall von Shehan zeigt deutlich, mit welchen Herausforderungen duale Schriftnutzung im Unterrichtsalltag einhergehen. Ein Lernen der Brailleschrift auf Vorrat erscheint schwierig, weshalb funktionale Lese- und Schreibanlässe im Unterricht und im Elternhaus entscheidend sind. Dazu gleicht die Förderung einem Balanceakt, bei dem zwischen fachlichen Zielen (z. B. Prüfungen, Klassenzielen und Schulabschlüssen), individuellen Förderzielen (z. B. in der Rechtschreibung) und den Zielen der Leseförderung (z. B. Verbesserung der Braille-Leseflüssigkeit) vermittelt werden muss.

In diesem Spannungsfeld wird es vermutlich auch unter Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und -pädagogen große Unterschiede in der Gewichtung und Priorisierung geben, die zu kontroversen Diskussionen führen können. Dabei stellen sich sehr grundsätzliche Fragen nach Minimalstandards im Lesen und Schreiben, zur Rolle der Sprachausgabe und wie viel Autonomie einem Schüler oder einer Schülerin bei der Schriftwahl zugestanden werden kann.

Vor dem Hintergrund Shehans visueller Voraussetzungen und seiner eingeschränkten Lesekompetenzen in der Schwarzschrift erfolgt an dieser Stelle die Empfehlung, seine Braillekompetenzen zu stärken. Dadurch steigen Shehans Lernmöglichkeiten im Unterricht und er wird dem Fachunterricht besser folgen können. Dazu wird er langfristig von der Punktschrift profitieren.

Daher wird bei Shehan vor allem der Bedarf einer qualitativ hochwertigen und individualisierten Brailleförderung gesehen. Dazu fehlte es bislang an zeitlichen Ressourcen, die unbedingt zur Verfügung gestellt werden sollten, und gemeinsamen Absprachen im pädagogischen Team.

Eine der größten Herausforderungen in diesem Kontext ist die Förderung der Akzeptanz der Brailleschrift. Shehan befand sich diesbezüglich in einem Teufelskreis des Nicht-Lesens. Um diese ungünstige Lerndynamik zu durchbrechen, bedarf es an Angeboten, die dazu führen, dass die Brailleschrift positiv attribuiert wird. Der beste Weg, dies zu schaffen, sind individualisierte und motivierende Angebote sowie Angebote, die in einen funktionalen Kontext eingebettet sind (Blankenship, 2008, S. 209; Swenson, 2016, S. 94; Wormsley, 2016, S. 2).

Die nachfolgenden Fördervorschläge wurden direkt aus den Erkenntnissen der Fallstudie abgeleitet und zielen auf eine Verbesserung von Shehans Fördersituation:

  1. 1)

    Erhöhung zeitlicher Ressourcen. Shehan braucht eine systematische, kontinuierliche und intensive Förderung mit täglichem Brailleschriftkontakt (Corn & Koenig, 2002, S. 317; Koenig & Holbrook, 2000, S. 686). Umso intensiver diese ausfällt, desto besser. Ein Mindestmaß von einer Stunde pro Tag aufgeteilt auf Schulzeit und Freizeit wird als notwendig erachtet (Hatlen, 2003). Aufgrund der großen Lernrückstände sollte die Leseförderung zudem bis zum Ende der Schulzeit aufrechterhalten werden.

  2. 2)

    Einberufen einer Klassenkonferenz. Das pädagogische Team sollte sich im Zuge einer Klassenkonferenz auf ein gemeinsames, einheitliches Vorgehen in der Brailleförderung verständigen. In diesem Kontext sollte hervorgehoben werden, dass sich Leseförderung als fächerübergreifende Aufgabe versteht, in der alle Beteiligten eine wichtige Funktion übernehmen müssen.

  3. 3)

    Förderung der Leseflüssigkeit. Zur Erhöhung der Leseflüssigkeit sollten im Unterricht und in speziellen Fördereinheiten Lautleseverfahren, z. B. wiederholendes Lesen (Savaiano & Hatton, 2013, S. 94) oder Echolesen (Rosebrock et al., 2017, S. 80) eingesetzt werden, die nachweislich positive Lerneffekte erbringen.

  4. 4)

    Integration der Brailleschrift in den Unterricht. Shehan benötigt funktionale Lese- und Schreibanlässe im Unterricht. Dazu müssen Textlänge und Schwierigkeit an sein Leseniveau angepasst werden. Zusätzlich kann die Sprachausgabe als Ergänzung eingesetzt werden, z. B. indem ein Absatz gelesen wird und die restlichen Textteile gehört werden. Dazu bieten Shehans Schreibkompetenzen in der Brailleschrift Möglichkeiten einer verstärkten Punktschriftnutzung, z. B. indem er dazu aufgefordert wird, Notizen von Hörtexten mit der Punktschriftmaschine anzufertigen.

  5. 5)

    Förderung des Hörverstehens. Shehan ist deutlich stärker als seine Mitschülerinnen und Mitschüler auf die auditive Informationsaufnahme mittels Sprachausgabe angewiesen. Dies erfordert neben Hilfsmittelkompetenzen (z. B. zur Kontrolle der Hörgeschwindigkeit) gute Hörstrategien, die das Textverstehen unterstützen. Aus diesem Grund sollten verstärkt Hörstrategien gefördert werden, die ein aktives Zuhören unterstützen und Shehan dabei helfen, die auditiv wahrgenommenen Informationen zu organisieren und mit seinem bestehenden Wissen zu verknüpfen (Barclay, 2012, S. 156).

  6. 6)

    Förderung der Rechtschreibung. Shehan benötigt Förderangebote und Unterstützung (1) bei der Zuordnung von Lauten zu Buchstaben (=alphabetische Strategie), (2) bei Schreibweisen, die von Lautung abweichen (=orthografische Strategie) und (3) bei der Gliederung von Wörtern in Wortstämme (=morphematische Strategie). In diesem Kontext sollten effektive Techniken zur Schreibkontrolle mit ihm erprobt und eingeübt werden (z. B. Silbensprechen, Suchen nach Wortstämmen, Nachschlagen von Schreibungen und Regeln). Dazu wird die Anlegung einer individuellen Lernkartei empfohlen, bei der ausgehend von seinen Fehlschreibungen, Regeln und korrekte Schreibungen eingeführt werden (siehe hierzu Abschnitt 5.2.5.3). Zusätzlich kann die Einführung einer Lernsoftware zur Rechtschreibung die Förderung unterstützen.

Im nächsten Abschnitt sollen praktische Umsetzungsmöglichkeiten vorgestellt werden. Dazu werden exemplarische Fördermaterialien und Methoden dargestellt.

5.2.5.3 Fördermaterial

Die nachfolgenden Fördermaterialien wurden aufgrund der Ergebnisse aus der Fallstudie speziell für Shehan konzipiert. Die Angebote verstehen sich als Orientierungshilfe. Die meisten konnten praktisch mit ihm erprobt werden. Zusätzlich werden Angebote vorgestellt, die ebenfalls während der Fallstudie erstellt wurden, die jedoch nicht im Unterricht mit ihm ausprobiert werden konnten. Darüber hinaus empfiehlt sich auch ein Blick in bereits vorgestellte Förderangebote von Aziz (vgl. hierzu 5.2.3.3) und Tarik (vgl. hierzu 5.2.4.3), z. B. im Bereich der Hörkompetenzen, die in angepasster Form auch bei Shehan eingesetzt werden könnten.

Arbeit mit Lesetexten am Beispiel Bugatti.

Exemplarisch soll im Folgenden eine ganze Lesefördereinheit beschrieben werden. Diese umfasst eine Vokabelliste, einen mehrseitigen Fließtext, ein Blatt mit Verständnisfragen zum Text und ein 3D-Modell (siehe hierzu Abbildung 5.61). Die Einheit zielt auf eine Verbesserung der Lesemotivation, der Einübung von Lautleseverfahren bei gleichzeitigem Fokus auf das Leseverstehen.

Basierend auf den Leseinteressen von Shehan wurde ein Sachtext über die Automarke Bugatti ausgewählt. Anschließend wurde dieser in der Länge und Schwierigkeit an sein Leseniveau angepasst. Dazu wurde der Text auf 125 Wörter gekürzt und die Textschwierigkeit vereinfacht. Der endgültige Lesbarkeitsindex (LIX), als Maß für Textschwierigkeit, betrug 34.4 %. Nach Rosebrock et al. (2017, S. 75) entspricht das einem einfachen Lesetext. Anhand der zuvor durchgeführten Testungen wurde die Nettolesezeit von Shehan auf 5–6 Minuten geschätzt.

Hergestellt wurden die Texte in zwei Arbeitsgängen. Als Erstes wurde das Papier in einem Tintenstrahldrucker bedruckt und anschließend mit einem Brailledrucker die Punkte in der Brailleschrift geprägt. Durch die doppelte Beschriftung können die Materialien folglich auch von Personen ohne Punktschriftkenntnisse gelesen werden. Sie eignen sich damit ebenfalls für kooperative Lernformen.

Zur Vorbereitung der Lesesituation wurde die Textgrundlage auf einer rutschfesten Gummimatte mit Stecknadeln befestigt, damit Shehan beide Hände zum Lesen nutzen konnte.

Die Einheit begann mit der Besprechung von schwierigen Wörtern, die in einer Vokabelliste auf der ersten Seite gesammelt wurden (siehe hierzu Abbildung 5.61). Dadurch wurden Verständnisprobleme bereits präventiv minimiert, der Wortschatz erweitert und in der Folge das Textverstehen vor dem ersten Lesedurchgang verbessert. Zudem konnte somit wichtiges Vorwissen zum Text aktiviert werden.

Im Anschluss las Shehan den gesamten Text laut vor. Zuvor wurde vereinbart, dass Lesefehler durch Shehan selbst korrigiert werden können, wohingegen unbemerkte Lesefehler durch die Lehrperson notiert und korrigiert werden. Dabei wurde nicht nur das falsch betonte oder gelesene Wort wiederholt, sondern immer der gesamte Satz.

Nach dem ersten Lesevorgang erhielt Shehan eine Rückmeldung zu seiner Leseleistung und wurde für sein Durchhaltevermögen gelobt. Im Zuge dessen wurden häufige Lesefehler mit ihm erneut besprochen.

Für den zweiten Lesedurchgang wurde eine Form des begleitenden Lautlesens gewählt (Krug & Nix, 2017, S. 69), bei der die Lehrperson zusammen mit ihm den Text absatzweise las. Die gewählte Methode zielte vor allem auf eine Verbesserung der Leseflüssigkeit auf Satzebene. Durch das Lesemodell erhielt Shehan eine weitere Hilfestellung. Zudem handelte es sich dabei um eine kooperative Methode, bei der auch motivationale Aspekte unterstützt wurden, indem der Text gemeinsam gelesen wurde. Dazu ergaben sich vielfältige Kommunikationsanlässe über das Gelesene. Beim Lesen wurde dabei von der Lehrperson eine Geschwindigkeit gewählt, die leicht über Shehans zuvor demonstrierter lag. Dies diente dazu, ihn in den Lesefluss hineinzuziehen. Nachdem jeder Absatz gemeinsam gelesen wurde, las er ihn nochmals einzeln laut vor. Dabei wurden erneut Lesefehler nach dem gleichen Prinzip korrigiert. Dabei zeigte er jedoch bereits erhebliche Verbesserungen und machte weniger Lesefehler.

Im Anschluss wurde die letzte Seite des Materials gelesen. Dabei handelte es sich um drei Verständnisfragen zum Text, deren Antworten wie bei einem Adventskalender verborgen unter einem Papierfenster lagen. Zusätzlich wurde Shehan aufgefordert, die Antworten auf dem Ausdruck mit Stecknadeln zu markieren. Abschließend kontrollierte er diese. Aufgrund der mehrfachen Lektüre waren die Fragen für ihn einfach zu beantworten.

Als Belohnung wurde ihm schlussendlich ein 3D-Druck des Firmenlogos der Firma Bugatti gereicht. Diese stammte aus einer freien Datenbank und musste deshalb nur noch ausgedruckt werden. Die Lehrperson stellte anschließend Fragen zu dem Modell, die Shehan dazu animieren sollten, das Logo sowohl haptisch als auch visuell zu erkunden. Gefragt wurde beispielsweise: Was ist der Unterschied zwischen dem Bild auf Seite 1 und dem 3D-gedruckten Modell? Welche Form hat das Logo? Wo befindet sich Schrift im Logo? Wofür könnten die Buchstaben EB stehen? Wie unterscheidet sich das Logo zu dem von anderen Autoherstellern?

Shehan reagierte auf das gesamte Angebot sehr positiv. Von einer Ablehnung der Brailleschrift war dabei nichts zu spüren.

Die gesamte Einheit kann gut in einer Förderstunde im Umfang von 45 Minuten durchgeführt werden. Das Material kann zudem mehrfach verwendet werden. Variationen lassen sich zudem flexibel durch unterschiedliche Lesemethoden einbauen (z. B. chorisches, begleitendes oder wiederholendes Lesen).

Abbildung 5.61
figure 61

Vokabelliste, Lesetext, Fragen zum Text und ein 3D-Modell

Zoomtexts AppReader Funktion.

Im Untersuchungszeitraum arbeitete Shehan am Computer mit der Windowslupe. Diese eröffnet ihm zwar Möglichkeiten der Vergrößerung und individuellen Anpassung, z. B. hinsichtlich des Kontrastschemas oder der Größe des Mauscursors, jedoch ist der Funktionsumfang im Vergleich zu einer professionellen Vergrößerungssoftware deutlich begrenzt. Eine Funktion, von der er in der kommerziellen Software Zoomtext profitieren könnte, ist der AppReader.

Mithilfe dieses Tools lässt sich vergrößerte Schrift in einem speziellen Programmfenster lesen. Mit der Funktion Ticker (siehe Abbildung 5.62) kann die Schrift horizontal über den Bildschirm, in einer zuvor eingestellten Geschwindigkeit, bewegt werden. Für Shehan und andere Personen mit Zentralskotom kann dies von Vorteil sein, weil dadurch die Augenbewegungen beim Lesen reduziert werden. Zudem kann so das Lesen mit peripheren Netzhautbereichen trainiert werden. Mithilfe der Ticker-Funktion kann somit möglicherweise Shehans Leseanstrengung reduziert und seine Lesegeschwindigkeit gesteigert werden. Das setzt allerdings eine Einführung durch eine fachkundige Lehrperson voraus, ebenso wie mehrere Übungseinheiten, in denen Shehan die Funktion und Einstellungen erproben kann.

Eine günstige Alternative zu Zoomtexts AppReader sind viele Smartphone- und Tablet-Apps, die das exzentrische Lesen unterstützen (z. B. der MD evTrainer und Reader der Macular Society).

Abbildung 5.62
figure 62

Lesen mit der Ticker-Funktion in Zoomtext

Aufbau einer Lernkartei zur Rechtschreibung.

Shehans Schreibprodukte aus dem Unterricht können als Ausgangspunkt für den Aufbau einer Lernkartei dienen. Dadurch können konkrete Rechtschreibphänomene an Wörtern aufgezeigt werden, die für ihn bedeutsam sind. Anhand dieser kann er Erfahrungen mit den Rechtschreibregeln sammeln und zudem seine Analysekompetenz dadurch stärken. Ein weiterer Vorteil dieser Methode ist, dass Fachunterricht, Wortschatzarbeit und Rechtschreibunterricht miteinander verbunden werden (May et al., 2016a, S. 129).

Ein Beispiel: In einem selbstverfassten Text im Fach Gemeinschaftskunde schrieb Shehan die Wörter „Verker“, „Verkersschild“ und „wonen“. Alle drei Fehlschreibungen können als Hinweis gewertet werden, dass er die Regel zum Dehnungs-h noch nicht verinnerlicht hat. Die Fehlschreibungen können auf einer DIN-A5-Karte zusammen mit einer einfachen Rechtschreibregel protokolliert werden (vgl. hierzu Abbildung 5.63). In einer Einheit zur Rechtschreibung oder im Zuge von freien Lernangeboten kann das Material immer wieder als Ausgangspunkt für neue Lernangebote genutzt werden.

Abbildung 5.63
figure 63

Lernkartei zur Rechtschreibung

(Selbst-) Instruktionen.

May et al. (2016a, S. 131) empfehlen bei rechtschreibschwachen Schülerinnen und Schülern eine klare Routine im Korrekturlesen zu etablieren. Diese gliedert sich wie folgt:

  1. 1.

    Sprich dir das Wort deutlich vor.

  2. 2.

    Überlege dir, was dir bei der Schreibung des Wortes wichtig erscheint.

  3. 3.

    Schreibe das Wort in Gedanken auf.

  4. 4.

    Schreibe das Wort in dein Heft.

  5. 5.

    Lies dir das Wort vor.

  6. 6.

    Korrigiere deine Schreibung oder markiere die Stellen, die dir unklar sind.

Die Methode kann einfach auf Braille Lesende oder dual Schriftnutzende übertragen werden. Die Selbstinstruktionen können zudem ausgedruckt oder durch taktile Symbole für die Schritte ergänzt werden. Mit zunehmender Schreibsicherheit können bestimmte Stufen auch übersprungen werden.

5.3 Limitierung und Stärken der Fallstudien

Die zentralen Limitationen der qualitativen holistischen Fallanalysen ergeben sich aus der Natur des Forschungsansatzes und den in der vorliegenden Arbeit gewählten Erhebungsinstrumenten.

Die durchgeführten Fallstudien eignen sich nicht für statistische Generalisierungen auf die Gesamtpopulation dual Schriftnutzender. Dennoch können analytische Schlüsse und Ideen (z. B. hinsichtlich der Förderung) aus den Fallstudien auf ähnliche Fälle übertragen werden. Als vorteilhaft erweist sich dabei, dass alle Datenerhebungen in einem natürlichen Kontext erhoben wurden, was die Übertragbarkeit erleichtert.

Eine weitere Limitierung, die ebenfalls aus dem gewählten Studiendesign hervorgeht, betrifft die Fördermaterialien. Diese konnten zwar im Rahmen der Studie erstellt und erprobt werden, aber nicht im Sinne einer evidenzbasierten Forschung evaluiert werden (Council for Exceptional Children, 2014, S. 208). Eine Aufgabe der zukünftigen Forschung wird es deshalb sein, die entwickelten Materialien und empfohlenen Methoden auf Wirksamkeit für dual Schriftnutzende zu untersuchen.

Hinsichtlich der Datenerhebungen musste in den Fallstudien auf informelle, d. h. eigens erstellte Erhebungsinstrumente und Messmethoden, zurückgegriffen werden, weil die Auswahl bei den normierten Testverfahren begrenzt war. Ein Beispiel dafür sind die Erhebungen zur Lesegeschwindigkeit, der Leseausdauer oder dem Schreiben (vgl. hierzu Abschnitt 5.1.4). Dazu mussten einige Erhebungsinstrumente erweitert und angepasst werden (z. B. die Beobachtungsbögen oder das Ilvesheimer Kompetenzraster zum E-Buch-Standard).

Weitere Limitierungen ergaben sich durch die Auswahl der Fallstudienteilnehmer. Aufgrund der niedrigen Prävalenz gab es wenig Auswahlmöglichkeiten im Sampling. Die ausgewählten Fälle unterscheiden sich hinsichtlich des Alters, des Schulsettings und der Form des Schriftspracherwerbs. Das erschwert fallübergreifende Aussagen und Schlussfolgerungen.

Demgegenüber werden die Stärken der Untersuchung darin gesehen, dass für jeden Fall gezeigt werden konnte, wie sich schriftsprachliche Kompetenzen bei dual Schriftnutzenden über einen längeren Zeitraum entwickeln. Dabei wurden die individuellen Unterscheide zwischen den Fällen sehr deutlich. Dabei konnte erstmals ein paralleler Erwerb von Braille- und Schwarzschrift detailliert dokumentiert und beschrieben werden.

Im Zuge der Erhebung konnten zudem Daten zur Lesekompetenzen erhoben werden, die bislang wenig Berücksichtigung in der Forschung gefunden haben (z. B. zur Leseausdauer).

Eine weitere Stärke des vorliegenden Untersuchungsteil wird in dem hohen Grad an Praxisorientierung gesehen. Dazu wurden die Fallanalysen nicht auf die reine Problembeschreibung begrenzt, sondern in jedem Fall wurden konkrete Empfehlungen für die weitere Förderung ausgesprochen sowie Fördermaterialien als Orientierungshilfe erprobt und vorgestellt.

Zu guter Letzt wird in den Schritten, die zur Systematisierung, Validierung und Objektivierung der Fallstudien unternommen wurden, ebenfalls eine Stärke gesehen. Zu nennen sind diesbezüglich die Erprobung der Untersuchungsinstrumente in einer Pilotfallstudie, die Verwendung eines Fallstudienprotokolls und einer Falldatenbank zur Erhöhung der Nachvollziehbarkeit sowie die Triangulation einer Vielzahl von Datenquellen innerhalb der Fallanalysen. Darüber hinaus wurden die Erkenntnisse aus den Fallstudien mit nationalen sowie internationalen Expertinnen und Experten aus Praxis und Forschung in Kolloquien und auf Tagungen diskutiert.