In Kapitel 4 werden die Ergebnisse des quantitativen Teils der Untersuchung dargestellt. Dazu werden zunächst in Abschnitt 4.1 das methodische Vorgehen die Forschungsfragen, das Sampling, die Stichprobe, die Erhebungsinstrumente und die Analysetechniken vorgestellt. In Teil 4.2 werden die Ergebnisse aus den Kompetenztests der dual Schriftnutzenden und der nur Braille Lesenden zur Leseflüssigkeit, der Rechtschreibung, dem Lese- und Hörverstehen dargestellt. Ergänzt werden diese durch die Ergebnisse aus dem Fragebogen zu den Erwerbszeitpunkten, der Lernreihenfolge, den Punktschriftsystemen, den verfügbaren Hilfsmitteln und der Nutzung von auditiven Technologien. Daran anknüpfend werden die Ergebnisse der dual Schriftnutzenden in Abschnitt 4.3 diskutiert und in Bezug zu den Forschungsfragen und dem aktuellen Stand der Forschung gesetzt. Auf Basis der Ergebnisse und Diskussion werden schließlich in Unterkapitel 4.4 Schlussfolgerungen hergeleitet, die Fachpersonen in der Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen dual Schriftnutzender unterstützen sollen. Das Kapitel endet mit einer Reflexion der Limitierungen und Stärken der Kompetenzerhebung in Abschnitt 4.4.

4.1 Methoden

Nachfolgend wird das methodische Vorgehen in der Kompetenzerhebung vorgestellt. Dabei handelt es sich um einen Teilbereich der Studie Zukunft der Brailleschrift, in welcher der Autor als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zeitraum von 2016 bis 2018 gearbeitet hat.

4.1.1 Forschungsdesign

Die Wahl des Studiendesigns entscheidet ganz wesentlich über die Aussagekraft der wissenschaftlichen Befunde (Döring & Bortz, 2016, S. 182). Bei der Kompetenzerhebung handelt es sich um ein quantitatives nicht-experimentelles Untersuchungsdesign. Bei dieser Form werden Variablen nicht durch den Forschenden manipuliert und auch die Umweltfaktoren nicht kontrolliert. Das Erkenntnisinteresse ist zumeist deskriptiv und beschreibt retroperspektivisch einen Ist-Zustand. Zur Herstellung von Kausalbeziehungen (Ursache-Wirkungs-Mechanismen) ist das Design nicht geeignet (Döring & Bortz, 2016, S. 203). Die Vorteile eines nicht-experimentellen Designs liegen dafür in einem großen Spektrum an unterschiedlichen Variablen, die in die Untersuchung einbezogen werden können. Zudem können Unterschiede zwischen Gruppen sichtbar gemacht und miteinander verglichen werden (Muijs, 2004, S. 37). Diese werden dabei meistens auf Grundlage eines natürlichen Merkmals gebildet (z. B. der Schriftnutzung). Eine Randomisierung wie in experimentellen Studien findet folglich nicht statt (Salkind, 2010). Differenzen können in nicht-experimentellen Designs zwischen den Gruppen (between-subject) festgestellt werden, aber auch innerhalb von Gruppen (within-subject). In der Kompetenzerhebung der Zukunft der Brailleschrift Studie wurde von beiden Methoden Gebrauch gemacht.

4.1.2 Zielsetzung und Forschungsfragen

Bei der Kompetenzerhebung handelt es sich um eine grundlagenwissenschaftliche Studie, die darauf abzielt, Daten zu schriftsprachlichen Kompetenzen, den Lese- und Schreibgewohnheiten sowie der Nutzung von Hilfsmitteln von Braille Nutzenden zu gewinnen. Dazu wurde ein Fragebogen und verschiedene Testverfahren verwendet. Die Teilnehmenden der Kompetenzerhebung können hinsichtlich der Schriftnutzung unterschieden werden in (1) nur Braille Lesende und (2) dual Schriftnutzende. Aus der Beschreibung des methodischen Vorgehens in Kapitel 3 gingen bereits die Forschungsfragen F1 und F2 hervor, die nachfolgend noch weiter präzisiert werden.

  1. F1

    Welche schriftsprachlichen Kompetenzen zeigen die dual Schriftnutzenden im Vergleich zu den nur Braille Lesenden und der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung?

    1. F1.1

      Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Leseflüssigkeit, der Rechtschreibung, dem Leseverstehen und Hörverstehen bei Braille Nutzenden?

    2. F1.2

      Welche Kompetenzen erreichen die dual Schriftnutzenden in der Leseflüssigkeit und der Lesegeschwindigkeit in Brailleschrift und Schwarzschrift?

    3. F1.3

      Welche Faktoren erklären die Leseflüssigkeit in der Brailleschrift?

    4. F1.4

      Welche Rechtschreibkompetenzen zeigen die dual Schriftnutzenden im Vergleich zu den nur Braille Lesenden und der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung?

    5. F1.5

      Welche Werte erreichen die dual Schriftnutzenden im Leseverstehen und Hörverstehen im Vergleich zu den nur Braille Lesenden?

    6. F1.6

      Welche Unterschiede zeigen sich im direkten Vergleich zwischen Lesen und Hören bei den dual Schriftnutzenden und den nur Braille Lesenden?

Dazu stellen sich noch weitere Fragen, die stärker deskriptiver Natur sind und mithilfe des Fragebogens beantwortet werden können.

  1. F2

    Welche Brailleschriftsysteme lernen dual Schriftnutzende und welche Hilfsmittel nutzen sie?

    1. F2.1

      In welcher Lernreihenfolge haben die dual Schriftnutzenden die Schwarzschrift und Brailleschrift gelernt?

    2. F2.2

      Welche Brailleschriftsysteme lernen die dual Schriftnutzenden und in welcher Reihenfolge?

    3. F2.3

      Wie viele Brailleschriftsysteme lernen sie und wann lernen sie diese?

    4. F2.4

      Lesen und schreiben die dual Schriftnutzenden die Brailleschrift täglich?

    5. F2.5

      Welche Hilfsmittel stehen den dual Schriftnutzenden zur Verfügung?

    6. F2.6

      Nutzen die dual Schriftnutzenden häufiger auditive Hilfsmittel wie Sprachausgabe als andere Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung?

4.1.3 Teilnahmekriterien und Sampling

Vor dem Aufruf zur Teilnahme wurde die Zustimmung der Ethikkommission der Pädagogischen Hochschule Heidelberg eingeholt. In dem Schreiben vom 23.03.2015 wird einer Durchführung ohne Bedenken stattgegeben (siehe hierzu Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial).

Zur Teilnahme berechtigt waren alle Schülerinnen und Schüler sowie junge Erwachsene im Alter zwischen 11 und 22 Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die die Brailleschrift als einziges oder als zusätzliches Lese- und Schreibmedium nutzen. Die Altersbegrenzung nach unten wurde mit dem Lernprozess basaler Lese- und Schreibfertigkeiten in der Grundschule begründet. Die obere Grenze von 22 Jahren ist wiederum ein Resultat der häufig verlängerten Bildungsbiografien von Menschen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit. Bezüglich des Förderorts (allgemeine Schule oder spezialisierte Förderschule) und zusätzlichen Beeinträchtigung gab es keine Einschränkungen.

Der Aufruf zur Teilnahme erfolgte Anfang Februar 2017 über die Emailverteiler des Verbandes der Blinden- und Sehbehindertenpädagoginnen und Pädagogen (VBS), des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), des Schweizerischen Blindenbundes, des Deutschen Zentrums barrierefreies Lesen (dzb-lesen), der Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder (bebsk), des Vereins Anderes Sehen e. V. und über den Emailverteiler der Studie Zukunft der Brailleschrift (ZuBra). Eine schriftliche Information fand sich in den Zeitschriften blind-sehbehindert, Sichtweisen und horus. Zusätzlich erfolgte die Information durch die Projektleitung auf der VBS Schulleitungstagung 2017 und der Medibraille-Tagung 2017. Darüber hinaus wurden alle Schulen aus dem Förderschwerpunkt Sehen in Deutschland, Österreich und der Schweiz per E-Mail angeschrieben, über die Studie informiert und zur Meldung von Teilnehmenden eingeladen.

Die Meldung zur Studienteilnahme wurde mittels einer Einwilligungserklärung durch eine erziehungsberechtigte Person oder im Falle der Volljährigkeit durch den oder die Teilnehmende unterzeichnet.

4.1.4 Stichprobengröße und Testpower

Bei der Stichprobenziehung muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik um ein low inicidence Fach handelt (Corn et al. 2016; Musgrove und Yudin 2013, S. 2). Die geschätzte Grundpopulation ist klein (vgl. hierzu Abschnitt 2.1.3), was sich auch auf die Stichprobenziehung auswirkt.

Um die Möglichkeiten in der statistischen Auswertung möglichst groß zu halten, wurde eine Mindeststichprobengröße von n = 30 dual Schriftnutzenden angestrebt. Dieser Stichprobenumfang gilt in der Statistik als Faustregel, ab der eine hinreichende Normalverteilung angenommen werden kann (Eid et al., 2017, S. 236; Hemmerich, 2016; Wilcox, 2017, S. 8) und viele inferenzstatistische Verfahren unproblematisch angewendet werden können.

Bei der Stichprobenplanung musste zudem berücksichtigt werden, dass es sich bei dual Schriftnutzenden um eine spezifische Subgruppe Braille Nutzender handelt. Um sicherzustellen, dass ausreichend dual Schriftnutzende in der Studie teilnehmen, war es wichtig, eine möglichst große Gesamtstichprobe zu gewinnen. Ein wichtiger Orientierungspunkt war dabei die Prävalenz von 20.8 % dual Schriftnutzender in der ersten Studie von 2015, in der insgesamt 819 Braille Nutzende unterschiedlichen Alters zu ihren Lese- und Schreibgewohnheiten sowie ihrer Hilfsmittelnutzung befragt wurden (Lang et al. 2018, S. 79). Vor dem Hintergrund dieser Prävalenz wurde die Mindestgröße der Gesamtstichprobe in der Kompetenzerhebung auf ca. 145 Personen geschätzt, wovon mindestens 30 Personen dual Schriftnutzende sein sollten. Diese theoretische hergeleitete Stichprobe wurde nach Berechnungen zur Testpower noch erweitert.

Testpower.

Für die optimale Stichprobenplanung werden im Idealfall die IrrtumswahrscheinlichkeitenFootnote 1 α und β sowie die Größe des Effekts spezifiziert (Eid et al., 2017, S. 239) und a priori berechnet, z. B. mit einem Programm wie G*Power.

Dazu müssen das α- und β-Niveau festgelegt werden. Während sich das α-Fehler-Niveau von 5 % etabliert hat, wird meistens ein β-Fehler-Niveau von 20 % empfohlen (Döring & Bortz, 2016, S. 670). Die Teststärke bzw. die Testpower ist definiert als 1-β. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein Test ein signifikantes Ergebnis misst und Unterschiede sichtbar macht. Bei zu niedriger Testpower wird es folglich schwieriger, signifikante Unterschiede zu messen (Eid, Gollwitzer und Schmitt 2017, 226). Die Teststärke gilt als ausreichend gesichert, wenn sie mehr als 80 % beträgt (Döring & Bortz, 2016, S. 670).

Folglich sollten bei einer optimalen Stichprobenplanung das α-Niveau 5 % sowie das β-Niveau 20 % sein und die Teststärke mindestens 80 % betragen. Präzisiert man zusätzlich noch die intendierte Effektstärke (siehe hierzu Cohen (1988): d: 0.2 = schwach, 0.5 mittel und 0.8 hoch), dann lässt sich die statistisch optimale Stichprobe berechnen.

Aufgrund der Besonderheiten der Population (vgl. hierzu Abschnitt 2.1.3) wird dieser Goldstandard der Statistik allerdings nur selten in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik angewendet. Analysen von Wright (2010, S. 776) und Ferrell und Alycin (2006, 44 ff.) zeigen, dass in der Folge die meisten statistischen Untersuchungen im Fachbereich zu wenig Testpower (< .80) aufweisen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass signifikante Unterschiede nicht identifiziert werden. Die Ursache für dieses Ergebnis liegt häufig in zu kleinen Stichproben. Das Dilemma veranschaulicht das nachfolgende Beispiel:

Um einen schwachen Effekt von d = 0.2 (Cohen, 1988, S. 25) zwischen der Gruppe (A) der dual Schriftnutzenden und der Gruppe (B) der nur Braille Lesenden bei ausreichender Testpower von .80 und einem α-Fehler von .05 messen zu können, bräuchte man eine Gesamtstichprobe von 1080 Personen (187 dual Schriftnutzenden und 893 nur Braille Lesenden). Das Berechnungsprotokoll aus G*Power kann im Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial eingesehen werden.

Die errechnete optimale Stichprobengröße wird sich in der Praxis nicht umsetzen lassen, weil diese bereits die Personenzahl von einem Jahrgang im Förderschwerpunkt Sehen übersteigen würde und einen Großteil der Gesamtpopulation der Braille lesenden Kinder und Jugendlichen in Deutschland einschließen müsste.

Das Dilemma lässt sich aber zumindest abmildern, wenn man der Berechnung eine größere Effektstärke zu Grunde legt, denn mit steigender Effektstärke sinkt die benötigte Stichprobengröße. Beträgt diese beispielsweise d = 0.5, was als mittlerer Effekt angesehen werden kann (Cohen, 1988, S. 26), reduziert sich die Stichprobengröße bereits auf insgesamt 174 (30 dual Schriftnutzende und 144 nur Braille Lesende). Das Protokoll der Berechnung kann dem Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial eingesehen werden.

Die errechnete Stichprobengröße von 174 erschien ein erreichbares Ziel zu sein und lag noch nah an der theoretisch hergeleiteten Stichprobengröße von 145 Personen. Folglich wurde im Vorfeld der Untersuchung eine Stichprobe von 145–174 Braille Lesenden angestrebt. Aufgrund der theoretischen Überlegungen sollten bei dieser Größe mindestens 30 dual Schriftnutzende enthalten sein. Zudem konnten die a priori durchgeführten Poweranalysen zeigen, dass sich bei der angestrebten Stichprobengröße zumindest mittlere Effekte bei ausreichender Teststärke messen lassen.

Letztendlich konnte eine höhere Stichprobengröße von 190 Teilnehmenden gewonnen werden (42 dual Schriftnutzende und 148 nur Braille Lesende). Dies ermöglichte vielfache Analysen bei gleichzeitig hoher Testpower zumindest für mittlere und hohe Effekte. Einen Überblick über die Teststärke in den gerechneten Verfahren liefert die Tabelle Effektstärken und Testpower in der Kompetenzerhebung (siehe hierzu Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial). Mithilfe der Tabelle kann dem Vorwurf einer zu geringen Teststärke und Stichprobengröße entgegengewirkt werden.

4.1.5 Teilnehmende

Insgesamt konnten 190 Teilnehmende zwischen 11 und 22 Jahren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gewonnen werden. Davon können 148 Personen als nur Braille Lesende (77.9 %) und 42 als dual Schriftnutzende (22.1 %) bezeichnet werden. In Tabelle 4.1 sind die wichtigsten Stichprobenkennwerte für beide Gruppen dargestellt.

Die Gruppe der 42 dual Schriftnutzenden besteht aus 23 weiblichen (54.8 %) und 19 männlichen (45.2 %) Teilnehmenden. Davon bezeichneten sich 32 (76.2 %) als hochgradig sehbehindert und 10 (23.8 %) als blind. Das durchschnittliche Alter der 42 dual Schriftnutzenden betrug 16.5 Jahre. Im Schnitt lernten die Teilnehmenden die Brailleschrift mit 10.1 Jahren und wiesen zum Zeitpunkt der Erhebung eine Braillenutzungsdauer von 5.7 Jahren auf. Den Computer verwendeten sie im Mittel bereits seit 4.9 Jahren als Hilfsmittel. Auf die Frage nach dem Hauptlesemedium antworteten 21 (50 %), dass sie die Brailleschrift bevorzugen, während 21 (50 %) die Schwarzschrift präferierten. Hinsichtlich der Schulbiografie fällt der hohe Anteil von 17 Teilnehmenden (40.5 %) auf, die häufig die Schule gewechselt haben. Ebenfalls 17 (40.5 %) gaben an, dass sie in ihrer Schulzeit bislang immer eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Sehen besucht haben. Der Anteil ausschließlich inklusiv beschulter dual Schriftnutzender war mit vier Lernenden (9.5 %) sehr niedrig. Ebenfalls vier Personen (9.5 %) gaben an, bislang andere Schulformen besucht zu haben (z. B. eine Förderzentrum mit dem Schwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung oder Lernentwicklung). Bei sechs Teilnehmenden (14.3 %) lag ein zusätzlicher Förderbedarf vor (z. B. im Bereich Lernen und geistige Entwicklung).

Tabelle 4.1 Kennwerte der Teilnehmenden der Kompetenzerhebung

Die Gruppe der 148 nur Braille Lesenden besteht aus 70 weiblichen (47.3 %) und 78 männlichen (52.7 %) Teilnehmenden, wovon sich 27 (18.2 %) als hochgradig sehbehindert und 121 (81.8 %) als blind beschrieben. Das durchschnittliche Alter der nur Braille Lesenden betrug 15.6 Jahre. Im Schnitt lernten sie die Brailleschrift mit 7.0 Jahren und nutzten diese zum Zeitpunkt der Erhebung bereits seit acht Jahren. Der Computer wurde durchschnittlich seit 5.2 Jahren als Hilfsmittel eingesetzt. Bezüglich des Beschulungsortes gaben 73 (49.3 %) an, bislang nur ein Förderzentrum Sehen besucht zu haben. 43 (29.6 %) beschrieben ihre Schulbiografie als wechselhaft. 26 (17.6 %) gaben an, bisher ausschließlich eine allgemeine Schule besucht zu haben. Sechs Personen (4.1 %) durchliefen bislang eine andere Schulform (z. B. eine Förderschule mit dem Schwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung). Von den 148 nur Braille Lesenden hatten 29 Teilnehmende (19.6 %) eine zusätzliche Beeinträchtigung (z. B. in den Bereichen Lernen und geistige Entwicklung).

Personen mit zusätzlichem Förderbedarf.

Aufgrund der besonderen Lernvoraussetzung erhielten Schülerinnen und Schüler mit zusätzlichem Förderbedarf erleichternde Testbedingungen. Eine detaillierte Beschreibung dieser Personengruppe und ihrer schriftsprachlichen Kompetenzen findet sich an gesonderter Stelle bei Hofer, Lang und Winter (2019a). Nachfolgend werden deshalb die Personen mit zusätzlichem Förderbedarf nicht weiter berücksichtigt. Die Stichprobengröße reduziert sich deshalb auf 36 dual Schriftnutzende und 119 nur Braille Lesende.

Abweichungen der Stichprobengröße.

Mögliche Änderungen der Stichprobengröße (n) in der Ergebnisdarstellung erklären sich durch Vorgaben in den Normierungsstufen und Teilnehmende, die einzelne Testverfahren nicht absolvieren konnten.

4.1.6 Verwendete Untersuchungsinstrumente

Nach Möglichkeit wurden in der Kompetenzerhebung psychometrische Testverfahren genutzt. Dabei handelt es sich um wissenschaftliche Messinstrumente, deren Aufbau theoretisch begründet ist und deren Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) empirisch geprüft sind (Döring & Bortz, 2016, S. 229). Zusätzlich kamen auch informelle Testverfahren zum Einsatz, die durch das Projektteam entwickelt wurden. Die Erhebung ergänzender schulbiografischer Daten, der Lese- und Schreibgewohnheiten und der Hilfsmittelnutzung erfolgte durch einen Fragebogen. Alle Erhebungsinstrumente wurden in Pretests hinsichtlich Testfairness und Barrierefreiheit erprobt.

Im Folgenden werden die psychometrischen Testparameter, die Eigenkonstruktionen, die Testdurchführung und die Adaptionen genauer beschrieben und die Auswahl begründet. Tabelle 4.2 gibt einen Überblick über alle Erhebungsinstrumente.

Tabelle 4.2 Darstellung der verwendeten Untersuchungsinstrumente

Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest (SLRT-II).

Aus dem SLRT-II wurde der Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest ausgewählt. Der Test misst die richtige, automatisierte Worterkennung beim lauten, synthetisierten Lesen von Wörtern mit steigender Schwierigkeit in Wortlisten. Das Verfahren ist in zwei Versionen: (A und B) verfügbar und wird als Individualtest durchgeführt. Die Bearbeitungsdauer beträgt nur wenige Minuten. Der Test ist für die Klassenstufen 1 bis 6 (N = 1747) und junge Erwachsene (N = 241) normiert. Die Objektivität des Verfahrens ist durch die genauen, standardisierten Testinstruktionen gewährleistet. Den Reliabilitätskoeffizient geben die Autorinnen mit 0.90 und 0.98 an (Moll und Landerl 2014, S. 57). Die Validierung erfolgte durch einen Vergleich mit anderen Lesetests, einer früheren Version des SLRTs und das Expertenurteil von Lehrpersonen (Moll und Landerl 2014, S. 59). Zur Interpretation können die Prozentrangwerte der jeweiligen Klassenstufe herangezogen werden. Zusätzlich sind im Handbuch die Mittelwerte und Standardabweichungen der Normierungsstichprobe abgedruckt.

Das Verfahren wurde aufgrund der sehr guten Gütekriterien, der kurzen Bearbeitungsdauer und der weitreichenden Normierung sowie der leichten Adaptionsmöglichkeiten gewählt.

Die Version-A des Eine-Minute-Leseflüssigkeitstests wurde für die Teilnehmenden in Punktschrift übertragen. Dazu wurden die Wörter in Brailleschrift in einer Liste untereinander angeordnet. Die Teilnehmenden konnten dabei zwischen Vollschrift, Kurzschrift und Computerbraille auf Papier wählen. Die Version-A war obligatorischer Bestandteil der Studie und wurde von allen Teilnehmenden bearbeitet.

Zusätzlich wurde die Parallelversion-B des Eine-Minute Leseflüssigkeitstests von allen Teilnehmenden gelesen, die neben der Brailleschrift auch Kompetenzen in der Schwarzschrift hatten. Die Adaption der Version-B war wahlweise in unterschiedlichen Schriftgraden auf Papier in der serifenlosen Schrift Verdana verfügbar. Zur Bearbeitung nutzten die Teilnehmenden ihre persönlichen vergrößernden Hilfsmittel. Daneben bestand auch die Möglichkeit, die Wortliste am Computer in der bevorzugten Schriftart und Vergrößerung zu lesen.

Anhand des SLRT-II erfolgte die Einteilung in die Gruppen. Testpersonen, die nur Version A (Braille) lesen konnten, wurden als nur Braille Lesende bezeichnet. Personen, die neben der Version A (Braille) auch Version B (vergrößerte Schwarzschrift) lesen konnten, wurden als dual Schriftnutzende bezeichnet.

Hamburger Schreib-Probe (HSP).

Dabei handelt es sich um einen Rechtschreibtest, der die grundlegenden Schreibstrategien einschätzt (May et al. 2016a, S. 7). Für die unterschiedlichen Versionen des Tests (HSP 1, HSP 2, HSP 3, HSP 4–5, HSP 5–6, HSP 7–8, HSP 9–10) liegen verschiedene Norm- und Vergleichswerte aus dem Jahr 2012 vor. Ab der Sekundarstufe besteht das Verfahren aus einem Lückentext, der im individuellen Tempo diktiert wird. Anhand von sogenannten „Lupenstellen“ (May et al. 2016a, S. 11) werden Rückschlüsse auf die alphabetische-, die orthografische-, die morphematische- und wortübergreifende Strategie gezogen. Zusätzlich werden auch die richtigen Graphemtreffer erhoben. Der Test kann als Gruppen- und Einzeltest durchgeführt werden. Die Objektivität wird in der HSP durch standardisierte Testanweisungen und die Möglichkeit der computergestützten Onlineauswertung sichergestellt. Eine empirische Überprüfung der Objektivität bei einer der Vorformen der HSP ergab in 99 % der Fälle eine identische Auswertung. In nur 0.2 % der Auswertungen gab es unterschiedliche Beurteilungen (May et al. 2016a, S. 106). Die Validierung erfolgte durch mehrere Korrelationsberechnungen mit anderen Rechtschreibtests und dem Expertenurteil von mehreren Lehrpersonen. In Abhängigkeit von der gewählten Methode ergaben sich Korrelationswerte in den Graphemtreffern zwischen HSP und DRT (Deutscher Rechtschreibtest) zwischen .64–.78 und .86–.94. Hinsichtlich des Expertenurteils wurde ebenfalls ein enger Zusammenhang gemessen (May et al. 2016a, S. 60). Die Reliabilität, die auch interne Konsistenz genannt wird, lag je nach Version für die Graphemtreffer zwischen .92 und .99 (May et al. 2016a, S. 97). Zudem belegt die Korrelation von mehreren Messungen mit der HSP, die Stabilität des Verfahrens (May et al. 2016a, S. 104).

Zur Auswertung und Interpretation liefert der Test umfangreiche T-Werte, anhand derer die individuelle Leistung beurteilt werden kann. Diese haben einen Mittelwert von 50 und eine Standardabweichung von 10. In der Folge liegen Ergebnisse zwischen 40 und 60 im Durchschnittsbereich der Normierung.

Die HSP wurde aufgrund ihrer sehr guten psychometrischen Kennwerte und der leichten Adaptionsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit ausgewählt.

Die Studienteilnehmenden konnten wahlweise den Test in Punktschrift oder Schwarzschrift bearbeiten. Aufgrund des Alters der Teilnehmenden wurden Testadaptionen für die Versionen 4–5, 5–6, 7–8, 9–10 im E-Buch-Standard (Arbeitskreis Medienzentren 2016) und auf Papier erstellt. Bei der Bearbeitung konnten die Teilnehmenden nach Präferenz zwischen Punktschriftmaschine, Brailleeingabe auf der Braillezeile, PC-Tastatur oder Handschrift wählen. Die Wörter für den Lückentext wurden von der Testleitung diktiert und auf Nachfrage wiederholt. Ein Zeitlimit gab es nicht. Teilnehmende, die eine Bearbeitung auf Papier bevorzugten, wurde die Möglichkeit gegeben, die diktierten Wörter auf ein separates Blatt in Brailleschrift zu schreiben. Eine Bearbeitung in Kurzschrift war nicht möglich. In den Klassenstufen 4–5 und 5–6 wurden einzelne Schlüsselwörter und kurze Sätze diktiert.

Entwicklung eines informellen Testverfahrens zur Erfassung des Lese- und Hörverstehens (LVG und HVG).

Für die Kompetenzen Lese- und Hörverstehen wurden zwei informelle Testverfahren durch das Projektteam erstellt. Die Eigenkonzeption war notwendig, weil in einer Durchsicht der verfügbaren psychometrischen Testverfahren (z. B. BASIC-MLT oder LGVT 6–12) kein Test identifiziert werden konnte, der sowohl Lese- als auch Hörkompetenzen in einem vergleichbaren Maß misst. Bei der Bewertung der verfügbaren Verfahren spielten ebenso Testfairness und Adaptionsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Auf die genannten Probleme bei der Testauswahl im Bereich des Leseverstehens speziell für Personen mit Sehbeeinträchtigung und Blindheit macht überdies auch Legge (2007, S. 37) aufmerksam.

Mit der Entwicklung eines Testverfahrens wurde im Oktober 2016 begonnen. Angestrebt wurde ein Assessment, das Lese- und Hörverstehen (mittels Sprachausgabe) vergleichbar macht. Dazu wurden zwei Tests entwickelt, die grundsätzlich gleich aufgebaut sind und sich nur hinsichtlich der Rezeption unterscheiden.

Das Leseverstehen wird im eigenkonstruierten Testverfahren als Textverstehen von altersangemessenen Texten definiert. Beim Hörverstehen handelt es sich um das Erfassen von altersgemäßen Texten mittels Sprachausgabe. Beide Variablen sind abhängig von der Lese- bzw. Hörgeschwindigkeit, weshalb bereits bei der Testkonstruktion festgelegt wurde, diese ebenfalls zu erheben.

Je nach Klassenstufe konnte die Version 4–5, 5–6, 7–8, 9–10 oder 10 + gewählt werden. Beginnend mit einer Beispielaufgabe wurden vier kurze Textpassagen gelesen bzw. gehört. Im Anschluss an jeden Abschnitt beantworteten die Teilnehmenden vier Fragen mündlich, die durch die Testleitung protokolliert wurden. Mit aufsteigender Klassenstufe nahm die Textlänge und die Schwierigkeit der Fragen zu. Die Bewertung der Antworten erfolgte durch die Testleitung, mithilfe zuvor festgelegter Schlüsselbegriffe und Bewertungskriterien. Eine einzelne Frage konnte mit 0–2 Verständnispunkten bewertet werden. In jedem Testteil gab es 16 Fragen und folglich maximal 32 Punkte pro Testversion. Ein Beispiel für die Klassenstufe 9–10 findet sich im Anhang (vgl. hierzu Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial).

Zur Verbesserung des selbstkonstruierten Testinstruments, zum Aufstellen von Bewertungskriterien und der Parallelisierung beider Testteile wurden in den Monaten November und Dezember 2016 insgesamt sechs Pretests mit Personen unterschiedlichen Alters mit und ohne Sehbeeinträchtigung in Deutschland und der Schweiz durchgeführt. Die Ergebnisse der Pretests wurden bei einem Teamtreffen der Forschungsgruppe diskutiert und Schlüsselbegriffe für die Bewertung der Antworten festgelegt. Im Anschluss folgte die Erstellung einer verbindlichen Testanleitung zur Durchführung und Auswertung der beiden Testverfahren. Alle Projektmitarbeitenden wurden in der Testdurchführung und Auswertung bei einem Teamtreffen geschult.

Die Leseversion wurde Leseverstehen- und Lesegeschwindigkeit genannt und mit LVG abgekürzt. Der Test konnte im bevorzugten Brailleschriftsystem (Vollschrift, Kurzschrift oder Computerbraille) digital oder auf Papier gelesen werden. In Ausnahmefällen konnte der Test auch in Schwarzschrift bearbeitet werden. Die Textpassagen wurden leise gelesen und die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit in der Einheit Wörter pro Minute (WpM) berechnet.

Die parallele Hörversion wurde Hörverstehen- und Hörgeschwindigkeit genannt und mit HVG abgekürzt. Mithilfe eines iPads und der App-Voice-Dream-Reader wurden die Textteile vorgelesen. Die gewählte Stimme Anna enhanced entspricht dem Screenreader Voice Over von iOS. Seitens der Teilnehmenden waren keine Kompetenzen im Umgang mit dem iPad erforderlich. Die Bedienung wurde durchwegs von der Testleitung übernommen. Mittels eines Aufgabenbeispiels wurde vor der Erhebung die individuell bevorzugte Hörgeschwindigkeit festgelegt. Diese konnte während der Testung nicht mehr verändert werden. Im Zuge der Durchführung wurden sowohl die Antworten der Teilnehmenden als auch die Hörgeschwindigkeit gemessen in gehörte Wörter pro Minute protokolliert.

Für den LVG und HVG liegen keine psychometrischen Daten (z. B. Gütekriterien oder Normen) vor. Es handelt sich folglich um ein informelles Verfahren, das Vergleiche zwischen den nur Braille Lesenden und den dual Lesenden (between-subject) sowie innerhalb der Gruppen (within-subject) ermöglicht. Aufgrund der fehlenden Normierung ist eine Gegenüberstellung mit Personen ohne Sehbeeinträchtigung nicht möglich.

Fragebogen.

In der Fragebogenentwicklung wurde auf die Vorlage aus dem ersten Untersuchungsteil der Studie Zukunft der Brailleschrift von 2015 zurückgegriffen, indem 819 Braille Lesende jeden Alters zu ihren Lese- und Schreibgewohnheiten sowie zu ihrer Hilfsmittelnutzung befragt wurden (Hofer et al. 2016, S. 103). Für die Kompetenzerhebung wurden Änderungen in den Bereichen Sehbeeinträchtigung, Schulbiografie und der Hilfsmittelnutzung vorgenommen. Der endgültige Fragebogen gliedert sich in elf Abschnitte und kann in Anhang A im elektronischen Zusatzmaterial eingesehen werden.

Mithilfe des Fragebogens wurden wichtige Variablen wie Alter, Sehbeeinträchtigung, zusätzlicher Förderbedarf, Klassenstufe, Schulbiografie, verfügbare Hilfsmittel, Braillenutzungsdauer, gelernte Brailleschriftsysteme, Lese- und Schreibgewohnheiten, erhoben.

Die Erhebung wurde mit den Teilnehmenden aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung mündlich durchgeführt. Das Antwortformat variierte zwischen offenen, halb offenen und geschlossenen Formulierungen. Lese- und Schreibgewohnheiten wurden mithilfe von Schätzskalen erhoben. Alle Antworten wurden durch die Testleitung protokolliert und im Anschluss in das Statistikprogramm SPSS übertragen.

4.1.7 Datenerhebungen

Die Datenerhebungen wurden durch das Forschungsteam, bestehend aus sechs Personen, durchgeführt. Zuvor wurden bei einem gemeinsamen Treffen die Testdurchführung und Auswertung geübt, um die Qualität der Messung und damit einhergehend die Reliabilität und Objektivität zu verbessern.

Alle Daten wurden zwischen März 2017 und Dezember 2017 in Deutschland, Österreich und der Schweiz erhoben. Die Durchführung fand in der Schule oder im Elternhaus der Teilnehmenden statt. Die Nutzung der persönlichen Hilfsmittel zur Testbearbeitung (z. B. Vergrößerungshilfen oder PC) war ausdrücklich erwünscht. Eine durchschnittliche Datenerhebung dauerte drei Stunden. Insgesamt wurden 190 Erhebungen durchgeführt.

Im Anschluss wurden die Rohdaten zeitnah durch Mitarbeitende ausgewertet und in eine Datenmaske für den Import in das Statistikprogramm SPSS eingegeben. Die Dateneingabe erfolgte in anonymisierter Form mit Hilfe von Personencodes.

4.1.8 Analysetechniken

Die Ergebnisse der Teilnehmenden wurden deskriptiv ausgewertet, d. h. durch Häufigkeitsanalysen, Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Korrelation (r). Zusätzlich wurden inferenzstatische Verfahren für den Vergleich der Gruppen untereinander (between-subject) und innerhalb der Gruppen (within-subject) gerechnet. Nach Möglichkeit wurde dabei auf parametrische Verfahren zurückgegriffen (z. B. unterschiedliche t-Tests, Varianz- und Regressionsanalysen). Für alle inferenzstatischen Tests wird nachfolgend die verwendete Teststatistik (z. B. t, F oder Chi-Quadrat), Testwert, Freiheitsgrad, der genaue Signifikanzwert (p) und die Effektstärke (z. B. Cohens d oder Omega Quadrat w2) berichtet. Die Interpretation erfolgte jeweils unter Rücksichtnahme auf die Stichprobengröße und die Effektstärke.

4.2 Ergebnisse

Im nachfolgenden Teil sollen die Ergebnisse aus der Kompetenzerhebung vorgestellt werden. In verkürzter Form wurden diese bereits in der Fachzeitschrift blind-sehbehindert veröffentlicht (Winter et al. 2019).

4.2.1 Schriftsprachliche Kompetenzen

Grundsätzlich gliedert sich die Kompetenzerhebung in vier Bereiche: (1) Leseflüssigkeit, (2) Rechtschreibung, (3) Leseverstehen (inklusive Lesegeschwindigkeit) und (4) Hörverstehen (inklusive Hörgeschwindigkeit). Das Korrelationsmodell in Abbildung 4.1 verdeutlicht, dass diese vier Variablen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Insbesondere die Verbindung zwischen Leseflüssigkeit und Rechtschreibung (r = .624, n = 83, p < .001), sowie diejenige zwischen Hör- und Leseverstehen (r = .564, n = 118, p < .001) können als stark beurteilt werden (> 0.5).

Abbildung 4.1
figure 1

Korrelation der schriftsprachlichen Kompetenzen der nur Braille Lesenden

Diese vier Variablen werden nachfolgend einzeln für die Gruppe der dual Schriftnutzenden und jene der nur Braille Lesenden dargestellt und falls möglich mit der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung verglichen.

4.2.1.1 Leseflüssigkeit

Die Ergebnisse aus dem Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest sind in Tabelle 4.3 dargestellt. Gemessen wurden die richtig gelesenen Wörter pro Minute. Dargestellt werden der Mittelwert im Wortlesen, die Standardabweichung (SD) und der Normalbereich (+/- 1 SD) für die Normierungsstufe junge Erwachsene (> 6 Klasse). Die Version-A wurde von allen Teilnehmenden in Braille gelesen, während die Parallelversion-B zusätzlich von den dual Schriftnutzenden in Schwarzschrift bearbeitet wurde. Die Werte der Normierungsstichprobe sind dem Testmanual entnommen.

Die dual Schriftnutzenden erreichten in der Brailleschrift einen Mittelwert von 19.85 WpM und in der Schwarzschrift 45.56 WpM. Die nur Braille Lesenden lasen die Brailleschrift im Durchschnitt mit 37.12 WpM, während die Norm in diesem Alter bei Schülerinnen und Schüler ohne Sehbeeinträchtigung bei 115.17 WpM (Version-A) beziehungsweise 120.21 WpM (Version-B) liegt.

Vergleicht man die Leseflüssigkeit für beide Schriftmedien innerhalb der Gruppe der dual Schriftnutzenden mithilfe eines t-Tests für abhängige StichprobenFootnote 2, dann ergibt sich ein signifikanter Unterschied mit hoher Effektstärke (t(26) = 4.565, p < .001, d = .88). D. h., die dual Schriftnutzenden lesen die Schwarzschrift im Mittel deutlich schneller als die Brailleschrift.

Tabelle 4.3 Ergebnisse aus dem SLRT-II zur Leseflüssigkeit

Rechnet man einen t-Test für unabhängige StichprobenFootnote 3, um die Leseflüssigkeit in Braille zwischen den dual Schriftnutzenden und den nur Braille Lesenden zu vergleichen, dann zeigt sich, dass die nur Braille Lesenden die Punktschrift signifikant schneller lesen und das bei großer Effektstärke (t(107) = 6.277, p < .001, d = 1.364). Der erreichte Wert der dual Lesenden (19.85 richtige WpM in Braille) liegt sogar unter dem Durchschnittsbereich (+/- 1 SD) der nur Braille Lesenden (25–49 WpM).

Ein EinstichprobentestFootnote 4 wurde gerechnet, um die Leseflüssigkeit der dual Schriftnutzenden in Schwarzschrift mit den Angaben zur Normierungsstichprobe aus dem SLRT-II zu vergleichen. Der Test bestätigt, dass es sich um einen signifikanten Unterschied mit sehr hoher Effektstärke (t(26) = 17.146, p < .001, d = 3.70) handelt. Wie bereits zuvor in der Brailleschrift befindet sich der Mittelwert der dual Lesenden in der Schwarzschrift deutlich unter der Grenze des Durchschnittsbereichs (103–137 WpM).

Demnach kann man schlussfolgern, dass die dual Lesenden sowohl in der Brailleschrift als auch in der Schwarzschrift unter den Werten Gleichaltriger liegen.

Betrachtet man jedoch die Einzelergebnisse der 27 dual Lesenden, dann zeigt sich, dass zumindest neun Teilnehmende in der Brailleschrift über der unteren Grenze des Durchschnittsbereichs der nur Braille Lesenden (25–49 WpM) liegen. Folglich können diese Personen in der Brailleschrift mit den nur Braille Lesenden mithalten. Im Gegensatz dazu erreichte kein einziger dual Schriftnutzender den Durchschnittsbereich (103–137 WpM) der Normierungsstichprobe in der Schwarzschrift. Folglich schaffte es auch niemand in beiden Schriftmedien (Winter et al. 2019, S. 98).

Vergleicht man hingegen die dual Lesenden in Schwarzschrift mithilfe eines t-Tests für unabhängige Stichproben mit den nur Braille Lesenden in der Leseflüssigkeit, dann erreichen die dual Schriftnutzenden zwar höhere Werte, diese fallen aber nicht signifikant aus (t(107) = -2.457, p = .075). Dieses Ergebnis sollte jedoch nicht überbewertet werden, weil sowohl der Signifikanzwert als auch die Testpower in diesem Fall im Grenzbereich liegen. In diesem Kontext ist auffällig, dass die Standardabweichung der dual Lesenden in der Schwarzschrift sehr hoch ist. Der Wert von 22.62 WpM verdeutlicht, dass es große interindividuelle Unterschiede bezüglich der Schwarzschrift innerhalb der Gruppe der dual Schriftnutzenden gibt. Ob diese in der Schwarzschrift folglich mit den nur Braille Lesenden mithalten können, variiert stark von Fall zu Fall.

Lesegeschwindigkeit.

Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit hängen zusammen. Das wurde bereits in Abschnitt 2.4.1 deutlich und zeigt sich ebenfalls in der Kompetenzerhebung. Die Leseflüssigkeit aus dem SLRT-II und die erhobene Lesegeschwindigkeit aus dem LVG Leseverständnistest korrelieren hoch (für die dual Lesenden in Braille r = .792, n = 20, p < .001; für die dual Lesenden in Schwarzschrift r = .84, n = 15, p < .001 und für die nur Braille Lesenden r = .803, n = 118, p < .001). Folglich fallen die Ergebnisse auch nicht wesentlich anders aus. Sie werden dennoch in Tabelle 4.4 dargestellt, weil die Testsituation sich deutlich von derjenigen im SLRT-II unterschied. Im Gegensatz zum Eine-Minute-Leseflüssigkeitstest wurde im Leseverständnistest (LVG) die Geschwindigkeit im leisen, sinnorientierten Textlesen erhoben. Lesefehler wurden nicht mitgezählt, gingen aber über die Lesezeit in die Berechnung der Lesegeschwindigkeit mit ein. Zudem ähnelte die Lesesituation einer typischen Schulsituation, weshalb sich die Zahlen besser auf die Unterrichtspraxis übertragen lassen. Ein weiterer Unterschied bestand darin, dass die dual Schriftnutzenden im LVG-Test ihr bevorzugtes Schriftmedium wählen konnten, wobei grundsätzlich die Brailleschrift empfohlen wurde.

In Tabelle 4.4 werden die Ergebnisse dargestellt. Von den 36 dual Lesenden wählten 20 die Brailleschrift und 16 die Schwarzschrift. Eine Varianzanalyse (ANOVA) ergab, dass es signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen gibt (F(2,150) = 8.985, p < .001 ω2 = .095). Die nachfolgend aufgeführten Signifikanzen stammen aus dem Tukey post-hoc Paarvergleich.

Tabelle 4.4 Ergebnisse aus dem LVG-Test zur Lesegeschwindigkeit

Innerhalb der Gruppe der dual Lesenden wurde die Schwarzschrift (72.53 WpM) signifikant schneller gelesen als die Brailleschrift (38.10 WpM) (p < .001). Ähnlich wie bei der Leseflüssigkeit fällt auch hier die Standardabweichung (SD) von 27 WpM auf, welche auf große Differenzen innerhalb der Gruppe hindeutet.

Vergleicht man die dual Schriftnutzenden im Textlesen in Braille (38.10 WpM) mit den nur Braille Lesenden (59.42 WpM), dann sind die Werte hier signifikant niedriger (p = .002).

4.2.1.2 Rechtschreibung

Für die Ergebnisdarstellung wurde die orthografische Strategie ausgewählt, weil diese in der Gesamtstichprobe (dual Schriftnutzende und nur Braille Lesende zusammen) hoch mit der alphabetischen Strategie (r = .644, n = 104, p < .001), der morphematischen Strategie (r = .749, n = 104, p < .001) und der wortübergreifenden Strategie (r = .621, n = 104, p < .001) korreliert. May et al. definieren diese als „regelorientiertes Schreiben“ (2016a, S. 7). In der nachfolgenden Ergebnisdarstellung werden die dual Lesenden nicht nach Schriftmedium differenziert, weil es bezüglich der untersuchten Rechtschreibkompetenzen keine signifikanten Unterschiede zwischen Braille- und Schwarzschrift gab.

Die Ergebnisse sind in Tabelle 4.5 dargestellt. Teilnehmende der Klassenstufe >10 konnten nicht nach Norm ausgewertet werden und sind deshalb nicht mit aufgeführt.

Tabelle 4.5 Ergebnisse aus der HSP zur orthografischen Strategie

In der Rechtschreibung sind die Unterschiede zwischen den dual Schriftnutzenden und den nur Braille Lesenden sehr gering. Eine Überprüfung mittels eines t-Tests für unabhängige Stichproben ergab keinen signifikanten Unterschied zwischen dual Lesenden und den nur Braille Lesenden (p = .456). Zusätzlich wurde der Wert der dual Schriftnutzenden mithilfe eines Einstichproben Tests mit der Normierung verglichen. Dieser fiel ebenfalls nicht signifikant aus (p = .133). Die beiden Ergebnisse sollten jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, denn die Testpower war in beiden Fällen niedrig.

4.2.1.3 Leseverstehen

In der Tabelle 4.6 sind die Ergebnisse aus dem Leseverständnistest (LVG) dargestellt. Neben dem Leseverstehen in Punkten wird dieses auch in Prozent wiedergegeben. Ergänzend finden sich in der letzten Spalte die Lesegeschwindigkeitswerte aus Tabelle 4.4.

Tabelle 4.6 Ergebnisse aus dem LVG-Test zum Leseverstehen und der Lesegeschwindigkeit

Im Leseverstehen erreichen die nur Braille Lesenden (23.19 Pkte.) leicht höhere Werte als die dual Schriftnutzenden (21.63 Pkte.). Ein t-Test für unabhängige Stichproben belegt, dass diese Differenz nicht-signifikant ist (t(151) = 1.211, p = .232). Die Werte sollten auch in diesem Fall aufgrund niedriger Testpower mit Vorsicht interpretiert werden. In diesem Zusammenhang ist die Standardabweichung interessant. Diese ist bei den dual Schriftnutzenden deutlich größer, weshalb man davon ausgehen kann, dass die Varianz im Leseverstehen in dieser Gruppe ebenfalls größer ist.

Interessant ist ebenfalls der Zusammenhang von Lesegeschwindigkeit und -verstehen. Für die nur Braille Lesenden fällt dieser gering aus (r = .220, n = 119, p = .017). Bei den dual Schriftnutzenden beeinflussen wiederum der Erwerbszeitpunkt, die Erwerbsreihenfolge, der Verlauf der Sehbeeinträchtigung die Lesegeschwindigkeit in Schwarzschrift und Brailleschrift. Man kann deshalb schlussfolgern, dass es bezüglich der Lesegeschwindigkeit und des Leseverstehens bei den dual Schriftnutzenden keinen einfachen Zusammenhang gibt (Winter et al. 2019, S. 100). In der Konsequenz sollte bei dual Schriftnutzenden nicht von der Lesegeschwindigkeit auf das Leseverstehen geschlossen werden. Dennoch gilt auch in dieser Gruppe, dass ein gewisses Niveau in der Lesegeschwindigkeit erreicht werden muss, damit sich die Lesenden auf den Inhalt des Textes konzentrieren können (Rosebrock et al. 2017, S. 62; Emerson et al. 2009, S. 621).

4.2.1.4 Hörverstehen

Die Ergebnisse aus dem HVG-Test sind in Tabelle 4.7 dargestellt. Das Hörverstehen wird wie beim Leseverstehen in Punkten und Prozent wiedergegeben. Ergänzend wird in der letzten Spalte die durchschnittliche Hörgeschwindigkeit dargestellt.

Tabelle 4.7 Ergebnisse aus dem HVG-Test zum Hörverstehen und der Hörgeschwindigkeit

Vergleicht man zunächst das Hörverstehen (Tabelle 4.7) mit dem Leseverstehen (Tabelle 4.6), dann fällt auf, dass dieses in beiden Gruppen niedriger ausfällt. Dafür liegen die durchschnittlichen Hörgeschwindigkeiten deutlich über den Werten der Lesegeschwindigkeit.

Um die Unterschiede im Lese- und Hörverstehen zu überprüfen, wurde ein t-Tests für abhängige Stichproben durchgeführt. Für die dual Lesenden (t(34) = 2.494, p = .018, d = .42) fiel dieser, ebenso wie für die nur Braille Lesenden (t(116) = 3.824, p < .001, d = .36), signifikant aus, wobei in beiden Gruppen nur niedrige Effekte gemessen wurden.

Vergleicht man das Hörverstehen der dual Schriftnutzenden und der nur Braille Lesenden, dann wird ersichtlich, dass die nur Braille Lesenden höhere Werte erzielen. Eine statistische Überprüfung mit einem t-Test für unabhängige Stichproben belegt einen signifikanten Unterschied bei kleiner Effektstärke (t(152) = 2.267, p = .025, d = .40), weshalb man sagen kann, dass die nur Braille Lesenden in der Kompetenzerhebung ein höheres Hörverstehen zeigten als die dual Schriftnutzenden.

4.2.2 Zeitpunkt des Brailleschriftspracherwerbs

Es wurde ein lineares multiples Regressionsmodell aufgestellt, um die Leseflüssigkeit in der Brailleschrift (SLRT-II Ergebnis) mithilfe der Prädiktoren Braillenutzungsdauer und Alter zum Beginn des Brailleschriftspracherwerbs zu erklären. Dabei konnte sowohl für die Gruppe der dual Schriftnutzenden als auch für jene der nur Braille Lesenden ein signifikantes Modell gefunden werden.

Bei den dual Lesenden (F(2, 33) = 21.347, p < .001) wurde ein R2 von .526 gemessen. D. h., dass 53 % der Varianz durch die beiden Prädiktoren aufgeklärt werden können. Die beiden Prädiktoren sind in Jahren und die Leseflüssigkeit in der Einheit Wörter pro Minute gemessen. Die Leseflüssigkeit steigt im Mittel pro Jahr Braillenutzungsdauer um 1.644 Wörter pro Minute und sinkt um -0.867 Wörter pro Minute bei steigendem Alter im Brailleschriftspracherwerb. Beide Variablen, Braillenutzungsdauer (p = .001) und das Alter zum Beginn des Brailleschriftspracherwerbs (p = .049), sind signifikante Prädiktoren für die Leseflüssigkeit (Winter et al. 2019, S. 103).

Bei den nur Braille Lesenden ist das Regressionsmodell ebenfalls signifikant (F(2,116) = 23.899, p < .001) mit einem R2 von .331. Das entspricht einer Varianzaufklärung von 33 %. Für beide Gruppen kann man deshalb davon ausgehen, dass sich ein möglichst früher Start mit der Brailleschrift und eine Förderung über Jahre positiv auf die Braillekompetenzen auswirken.

Gleichermaßen gilt, dass der Prädiktor Dauer der Braillenutzung gruppenübergreifend mehr Varianz bedeute.

Tabelle 4.8 Multiple lineare Regressionsanalysen zur Vorhersage der Braille-Leseflüssigkeit

Aufschlussreich ist auch der Vergleich des Regressionskoeffizienten b. Dieser gibt die durchschnittliche Steigung der Regressionsgerade an und offenbart, dass die dual Lesenden (b = 1.644) die Brailleschrift sogar schneller lernen als die nur Braille Lesenden (b = 1.178). Man kann vermuten, dass ihnen dabei ein größeres Sprachwissen zugutekommt. Dass ihre Kompetenzen in der Leseflüssigkeit dennoch weit unter denen der nur Braille Lesenden liegen, ist durch den späteren Erwerb und eine niedrigere Braillenutzungsdauer bedingt (vgl. hierzu Tabelle 4.1).

4.2.3 Erkenntnisse aus dem Fragebogen

Im Folgenden sollen die Erkenntnisse, die mithilfe des begleitenden Fragebogens gewonnen wurden, thematisiert werden. Dabei handelt es sich um eine deskriptive Darstellung, in der näher auf die Lernreihenfolge, die Lese- und Schreibgewohnheiten und Hilfsmittelnutzung der dual Schriftnutzenden und nur Braille Lesenden eingegangen werden soll.

4.2.3.1 Lernreihenfolge von Schwarzschrift und Brailleschrift

In Abschnitt 2.3.5 Formen dualer Schriftnutzung wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es unterschiedliche Erwerbswege der Brailleschrift und Schwarzschrift gibt. Nachfolgend werden die dual Schriftnutzenden aus der Stichprobe hinsichtlich ihres Lernweges unterteilt.

Von den 36 dual Schriftnutzenden durchliefen 11 (30.6 %) einen parallelen Erwerb, während die Mehrheit von 22 Teilnehmenden (61.1 %) zuerst die Schwarzschrift und dann die Brailleschrift lernte. Eine Person (2.8 %) startete mit der Brailleschrift und lernte nachfolgend die Schwarzschrift. Zwei Teilnehmende (5.5 %) konnten sich nicht an die Lernreihenfolge erinnern.

Tabelle 4.9 Lernreihenfolge der dual Schriftnutzenden

4.2.3.2 Gelernte Brailleschriftsysteme und Braillenutzung beim Lesen und Schreiben

Eine Besonderheit der deutschen Brailleschrift ist, dass sie sich in unterschiedliche Systeme gliedern lässt. In Abschnitt 2.2 wurden diese bereits beschrieben und gegenübergestellt. Im Fragebogen zur Kompetenzerhebung machten die Teilnehmenden detaillierte Angaben zu ihren gelernten Systemen und ihrer Nutzung, die in Tabelle 4.10 dargestellt sind.

Gruppenübergreifend ist die Vollschrift das mit Abstand häufigste Erstschriftsystem im Brailleschriftspracherwerb. In der Gruppe der dual Schriftnutzenden lernten 83.4 % zuerst die Vollschrift, 8.3 % Computerbraille und 8.3 % mehrere Systeme gleichzeitig.

In der Gruppe der nur Braille Lesenden ist die Vollschrift ebenfalls das häufigste Erstsystem mit 68.9 %, gefolgt von Computerbraille mit 18.5 %. Dazu gaben 12.6 % an, mehrere Systeme zu Beginn des Schriftspracherwerbs gleichzeitig gelernt zu haben.

Tabelle 4.10 Erstschriftsystem im Braille Schriftspracherwerb

Die typische Erwerbsreihenfolge ist ebenfalls gleich für beide Gruppen. Im Regelfall startet eine Schülerin oder ein Schüler mit Vollschrift, lernt Computerbraille und später die Kurzschrift. Dabei muss hervorgehoben werden, dass es sich dabei um einen idealtypischen Verlauf handelt. Nicht alle lernen drei Systeme und im individuellen Fall kann es zu Abweichungen der Lernreihenfolge kommen.

Tabelle 4.11 veranschaulicht, wie viele Teilnehmende ein, zwei oder drei Brailleschriftsysteme erworben haben. Von den 119 nur Braille Lesenden haben 1.7 % ein Brailleschriftsystem gelernt, 21.8 % zwei und eine Mehrheit von 76.5 % hat drei Systeme erworben. Im direkten Vergleich mit den dual Schriftnutzenden fällt auf, dass der Anteil der Personen, die nur ein System gelernt haben, mit 19.4 % deutlich höher ist. Dazu haben 27.8 % ein zweites und die Mehrheit mit 52.8 % sogar ein drittes Brailleschriftsystem erworben. Diese Werte sind beachtlich, wenn man bedenkt, dass alle dual Schriftnutzenden ebenfalls die Schwarzschrift gelernt haben. Einschränkend muss diesbezüglich hervorgehoben werden, dass einige Teilnehmende aufgrund ihres jungen Alters weniger Systeme erworben haben als andere. Man kann davon ausgehen, dass diese Schülerinnen und Schüler im Verlauf ihrer Schulzeit noch weitere Brailleschriftsysteme erwerben werden. Dies gilt jedoch für beide Gruppen gleichermaßen.

Tabelle 4.11 Anzahl der gelernten Brailleschriftsysteme

In Abbildung 4.2 werden die Ergebnisse der 36 dual Schriftnutzenden noch weiter vertieft. Die Boxplots illustrieren den durchschnittlichen Beginn mit der Brailleschrift für die dual Schriftnutzenden, die ein-, zwei- oder drei Systeme gelernt haben. Dargestellt werden Median, Quartil, Spannweite und Ausreißer. Aus der Abbildung geht hervor, dass dual Schriftnutzende, die nur ein Brailleschriftsystem gelernt haben, im Durchschnitt deutlich später mit der Punktschrift beginnen. Teilnehmende, die zwei oder drei Systeme gelernt haben, starten in der Regel deutlich früher mit der Brailleschrift. Bei den Ausreißern liegt die Vermutung nahe, dass es sich um Teilnehmende in berufsbildenden Maßnahmen handelt, z. B. in einer blindentechnischen Grundausbildung (BtG)Footnote 5.

Abbildung 4.2
figure 2

Boxplots Alter gelernte Brailleschriftsysteme

In Tabelle 4.12 sind die gelernten Brailleschriftsysteme in absoluten Zahlen und Prozent dargestellt. Zusätzlich werden für beide Gruppen das durchschnittliche Erwerbsalter und die Standardabweichung (SD) beschrieben. Aus der Tabelle lässt sich entnehmen, dass von den nur Braille Lesenden 100 % und von den dual Schriftnutzenden 97.2 % die Vollschrift gelernt haben. Die Vollschrift scheint folglich das Brailleschriftsystem mit der größten Schnittmenge zu sein, welches die Mehrheit lesen kann. Bei den nur Braille Lesenden lernten 94.1 % Computerbraille und 80.7 % zusätzlich auch die Kurzschrift. Innerhalb der Gruppe der dual Lesenden waren die Anteile mit 72.2 % Computerbraille und 63.9 % Kurzschrift geringer.

Tabelle 4.12 Gelernte Schriftsysteme und Erwerbsalter

Im Erwerbsalter unterscheiden sich die dual Schriftnutzenden deutlich von den nur Braille Lesenden. Dies ging bereits aus der Stichprobenbeschreibung hervor, wird aber in Tabelle 4.12 noch detaillierter veranschaulicht. Insgesamt erwerben die dual Schriftnutzenden alle Brailleschriftsysteme deutlich später. Ein besonderes Augenmerk sollte in diesem Zusammenhang auch auf die Standardabweichung (SD) gelegt werden. Diese ist bei den dual Schriftnutzenden deutlich größer, was darauf hindeutet, dass es bezüglich des Erwerbsalters große individuelle Unterschiede gibt.

Die Zahlen sollten wiederum mit Vorsicht interpretiert werden. Einerseits belegen sie, dass eine Vielzahl der Studienteilnehmenden mehrere Brailleschriftsysteme lernt, jedoch sagen die Zahlen nichts über die Qualität und Intensität der pädagogischen Angebote aus. Eine Überprüfung der spezifischen Vollschrift-, Computerbraille- und Kurzschriftkompetenzen (z. B. Regeln, Kürzungen, Zeichen) fand innerhalb der Studie nicht statt.

Neben den erlernten Brailleschriftsystemen wurde auch erhoben, welche Systeme bevorzugt zum Lesen und Schreiben und in welcher Häufigkeit genutzt werden (siehe hierzu Abbildung 4.3 und Abbildung 4.4). Diesbezüglich zeigen sich große Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Von den nur Braille Lesenden nutzen 77.3 % Computerbraille, 37.0 % Vollschrift und 26.9 % die Kurzschrift täglich oder fast täglich.

Wie häufig liest du Vollschrift, Computerbraille und Kurzschrift?

Abbildung 4.3
figure 3

Nur Braille Lesende (n = 119) Nutzung der Brailleschriftsysteme beim Lesen

Abbildung 4.4
figure 4

Dual Lesende (n = 36) Nutzung der Brailleschriftsysteme beim Lesen

Dem gegenüber lesen von den dual Schriftnutzenden 47.2 % Computerbraille, 38.9 % Vollschrift und 22.2 % Kurzschrift täglich oder fast täglich. Im direkten Vergleich fällt auf, dass die dual Lesenden insgesamt niedrigere Werte in der täglichen und fast täglichen Braillenutzung aufweisen. Vermutlich, weil sie neben der Brailleschrift auch die Schwarzschrift nutzen. Eine mögliche Erklärung für die hohen Werte in Computerbraille in beiden Gruppen kann die Nutzung von Braillezeilen sein, auf denen das System standardmäßig voreingestellt ist. Hinsichtlich der Kurzschriftnutzung zeigt sich in beiden Gruppen eine große Spannweite.

Wie häufig schreibst du Vollschrift, Computerbraille und Kurzschrift?

Abbildung 4.5
figure 5

Nur Braille Lesende (n = 119) Nutzung der Brailleschriftsysteme beim Schreiben

Abbildung 4.6
figure 6

Dual Lesende (n = 36) Nutzung der Brailleschriftsysteme beim Schreiben

Bei den nur Braille Lesenden gaben 42 % und bei den dual Schriftnutzenden 47.2 % an, diese nie zu nutzen. Demgegenüber stehen 26.9 % der nur Braille Lesenden und 22.2 % der dual Schriftnutzenden, die täglich oder fast täglich die Kurzschrift lesen. D. h., dass diese auch in der Altersgruppe von 11 bis 22 verbreitet ist und ein Viertel, bis ein Fünftel, diese häufig nutzt.

Wendet man sich den Schreibgewohnheiten zu, dann fällt auf, dass gruppenübergreifend weniger in Braille geschrieben als gelesen wird (vgl. hierzu Abbildung 4.5 und Abbildung 4.6). Die Teilnehmenden schrieben die Brailleschrift entweder auf der Punktschriftmaschine oder über eine Brailleeingabetastatur auf einer Braillezeile. Das Schreiben mit Tafel und Stichel fand praktisch keine Verwendung im Unterrichtskontext. Auf die Frage, wie häufig schreibst du Vollschrift, Computerbraille und Kurzschrift, antworteten deutlich mehr mit nie als bei der analogen Frage im Lesen. Bei den nur Braille Lesenden gaben 36.1 % an, die Vollschrift nie zu schreiben, 52.1 % gaben dies bei Computerbraille an und 68.0 % bei der Kurzschrift. In der Gruppe der dual Schriftnutzenden waren die Werte höher. Von den 36 dual Schriftnutzenden gaben 41.7 % an, die Vollschrift nie zu schreiben, 83.8 % waren es bei Computerbraille und 69.4 % bei der Kurzschrift. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass für viele Nutzende die Punktschrift scheinbar eine Leseschrift, jedoch weniger eine Schreibschrift ist.

Weitere Anhaltspunkte für die Interpretation der Schreibgewohnheiten liefern die Ergebnisse zu den Schreibwerkzeugen in Abbildung 4.7 und Abbildung 4.8. In beiden Gruppen ist die PC-Tastatur das mit Abstand am häufigsten verwendete Schreibmedium. Nur Braille Lesende verwenden diese zu 80.9 % und die dual Schriftnutzenden zu 86.1 % täglich oder fast täglich. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine Mehrheit im Alltag digital arbeitet.

Auffallend ist auch, dass in beiden Gruppen braillespezifische Eingabegeräte (z. B. eine Punktschriftschreibmaschine oder die Brailleeingabetastatur) verhältnismäßig selten verwendet werden. Von den 119 nur Braille Lesenden gaben 27.7 % an, die Punktschriftmaschine nie zu nutzen, während 53.0 % berichteten, die Brailleeingabetastatur auf der Braillezeile zu keiner Zeit zu benutzen. Bei den dual Schriftnutzenden fallen die Werte noch deutlich höher aus. 47.2 % der 36 dual Lesenden nutzen eine Punktschriftmaschine nie und 77.8 % gaben an, die Brailleeingabetastatur der Braillezeile nie zu verwenden.

Die Unterschiede zwischen den Gruppen werden besonders bei der Handschrift deutlich. Diese nutzt ein Großteil von 41.7 % der dual Schriftnutzenden noch täglich oder fast täglich. In der Gruppe der nur Braille Lesenden fällt dieser Anteil mit 3.4 % erwartungsgemäß gering aus. Es kann vermutet werden, dass es sich bei diesen wenigen Personen um Teilnehmende handelt, die in ihrem Alltag häufig etwas unterschreiben oder kleine Notizen handschriftlich anfertigen.

Wie häufig schreibst du mit der PC-Tastatur, der Punktschriftmaschine, der Brailleeingabe-Tastatur oder per Handschrift?

Abbildung 4.7
figure 7

Nur Braille Lesende (n = 119) Schreibgewohnheiten

Abbildung 4.8
figure 8

Dual Schriftnutzende (n = 36) Schreibgewohnheiten

4.2.3.3 Hilfsmittel Ausstattung

Mithilfe des Fragebogens wurden in der Kompetenzerhebung die vorhandenen Hilfsmittel in beiden Gruppen erhoben. In Tabelle 4.13 sind die Ergebnisse dargestellt.

Die Gruppe der 119 nur Braille Lesenden ist bezüglich blindenspezifischer Hilfsmittel überwiegend gut ausgestattet. Eine Punktschriftmaschine waren in 86.6 %, Computer oder Laptop in 92.4 %, eine Braillezeile 90.8 % und eine Sprachausgabe in 92.4 % der Fälle vorhanden.

Demgegenüber haben viele dual Schriftnutzende im Durchschnitt weniger braillespezifische Hilfsmittel. Eine Punktschriftmaschine hatten nur 63.9 % und eine Braillezeile nur 66.7 % der Teilnehmenden. Dies erklärt wiederum, warum viele dual Schriftnutzende in der Befragung angaben, niemals mit Schreibmaschine oder Brailletastatur auf der Braillezeile zu schreiben (vgl. hierzu Tabelle 4.11).

Ansonsten fällt auf, dass dual Schriftnutzende ein wesentlich größeres Spektrum an Hilfsmitteln nutzen. Sehbehindertenspezifische Hilfsmittel, wie ein Bildschirmlesegerät, waren bei 66.7 %, Lupen bei 50 % und eine Tafelkamera bei 11.1 % der dual Lesenden vorhanden.

Zusätzlich zu dem Gruppenvergleich in Tabelle 4.13 wurde die Hilfsmittelausstattung der 36 dual Schriftnutzenden auch gruppenintern ausgewertet, indem die Ausstattung in jedem Einzelfall beurteilt wurde. Dazu wurden die Hilfsmittel aus Tabelle 4.13 in blinden- und sehbehindertenspezifisch unterteilt und ausgezählt. Als (1) umfassend ausgestattet wurden alle Personen beurteilt, die mindestens Zugang zu zwei blinden- und zwei sehbehindertenspezifischen Hilfsmitteln hatten. Mit (2) ausgeglichen ausgestattet wurden Teilnehmende bezeichnet, die mindestens über ein blindenspezifisches und ein sehbehindertenspezifisches Hilfsmittel verfügten. Eine Unterversorgung im Bereich (3) sehbehindertenspezifischer Hilfsmittel (4) oder blindenspezifischer Hilfsmittel lag vor, wenn ein Teilnehmender diesbezüglich keine Hilfsmittel hatte. Eine (5) generelle Unterversorgung wurde festgestellt, wenn überhaupt keine Hilfsmittel vorhanden waren. Die Ergebnisse sind Tabelle 4.14 veranschaulicht.

Tabelle 4.13 Vorhandene Hilfsmittel

In mehr als der Hälfte der Fälle konnte die individuelle Hilfsmittelausstattung als sehr umfassend oder ausgeglichen beurteilt werden. Bei diesen Teilnehmenden waren sowohl blinden- als auch sehbehindertenspezifischer Hilfsmittel vorhanden, was auf eine angemessene Versorgung schließen lässt. Etwa 20 % hatten keinen Zugang zu blindenspezifischen Hilfsmitteln. Ebenso viele verfügten über keine sehbehindertenspezifischen Hilfsmittel. Diesbezüglich zeigt sich ein gewisses Risiko der Unterversorgung bzw. der einseitigen Versorgung und Förderung. Eine einzige Person gab an, keines der angebenden Hilfsmittel zu besitzen.

Tabelle 4.14 Bewertung der Hilfsmittelausstattung

Bei der Interpretation der Tabelle 4.13 und Tabelle 4.14 sollte neben dem Alter der Teilnehmenden auch berücksichtigt werden, dass im Fragebogen nur die verfügbaren Hilfsmittel abgefragt wurden. Anhand der Werte können deshalb keine Aussagen über die Hilfsmittelkompetenzen der Teilnehmenden getroffen werden.

4.2.3.4 Nutzung auditiver Technologien

Im Fragebogen zur Kompetenzerhebung wurde ebenso die Lese- und Schreibgewohnheiten in verschiedenen Anforderungssituationen erhoben. Beispielsweise wurde gefragt: Was wählst du, wenn du einen Text möglichst schnell lesen willst? Was wählst du, wenn du einen Text möglichst gut verstehen möchtest? Bei Fragen dieser Art konnten die Teilnehmenden ihr Lesemedium angeben, das Brailleschriftsystem, die Hilfsmittel und in diesem Zusammenhang auch die Verwendung von auditiven Technologien. Bei letzterem handelt es sich um einen Sammelbegriff für die unterschiedlichen Formen von Sprachausgabe und -eingabe unabhängig von Gerät und Hersteller. Im Anschluss an die Erhebung wurde die Nennung der auditiven Technologien jeden Teilnehmenden gezählt. Die Streuung variierte zwischen 0 und maximal 14 Angaben, was gleichbedeutend ist mit einer Nutzung von auditiven Hilfsmitteln in fast allen Lese- und Schreibsituationen. Anhand der Auszählung wurden drei Gruppen gebildet (1) keine bis seltene, (2) gelegentliche und (3) häufige Nutzung von auditiven Technologien.

Tabelle 4.15 Nutzung auditiver Technologien

Die Aufteilung auf die drei Gruppen zeigt, wie unterschiedlich die auditiven Technologien genutzt werden. Während bei den nur Braille Lesenden der Anteil gelegentlicher Nutzung mit 48.7 % am höchsten ist, liegt dieser bei den dual Schriftnutzenden nur bei 19.4 %. Insgesamt ist die Varianz unter den dual Schriftnutzenden deutlich größer. Mit 55.6 % nutzt eine Mehrheit die auditiven Hilfsmittel überhaupt nicht oder nur selten. Demgegenüber stehen 25 % dual Schriftnutzende, die sehr viel mit diesen arbeiten. Bezüglich der Nutzung der auditiven Technologien scheint es folglich große interindividuelle Unterschiede innerhalb der Gruppe der dual Schriftnutzenden zu geben. Eine mögliche Erklärung für diese breite Streuung könnte die erweiterte Auswahlmöglichkeit bei Leseanforderungen sein.

4.2.3.5 Zusammenhänge zwischen der Nutzung auditiver Technologien und schriftsprachlichen Kompetenzen

Mithilfe der Korrelation wurden Zusammenhänge zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien mit unterschiedlichen schriftsprachlichen Kompetenzen, wie z. B. Leseflüssigkeit, Rechtschreibkompetenz, Hör- und Leseverstehen, überprüft.

Eine Kendall’s Tau-b Korrelation ergab einen schwachen, signifikanten, negativen Zusammenhang für die Gruppe der nur Braille Lesenden zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien und der Rechtschreibkompetenz (τb (83) =  −.199, p = .012). Eine ähnliche Korrelation konnte für die gleiche Gruppe zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien und der Leseflüssigkeit gemessen werden (τb 119) =  −.171, p = .009). Mit dem Hörverstehen aus dem HVG-Test (τb (119) = ,053 p = .428) und dem Leseverstehen aus dem LVG-Test (τb (119) = ,042 p = .538) ergab sich wiederum keine signifikante Korrelation.

In der Gruppe der dual Schriftnutzenden wurden keine signifikanten Zusammenhänge zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien und den schriftsprachlichen Kompetenzen gemessen (für die Leseflüssigkeit τb (36) = .031, p = .803; die Rechtschreibung τb (21) = .005, p = .975; das Leseverstehen τb (36) = .020, p = .873. und das Hörverstehen τb (36) = .068, p = .588).

4.3 Diskussion

In diesem Teil werden die quantitativen Ergebnisse diskutiert, überprüft und mit den Forschungsfragen (vgl. hierzu Abschnitt 4.1.2) in Verbindung gebracht. Die Reihenfolge orientiert sich dabei am Ergebnisteil. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Beantwortung der übergeordneten Forschungsfragen (F1) Welche schriftsprachlichen Kompetenzen zeigen dual Schriftnutzende im Vergleich zu nur Braille Lesenden und der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung? Und (F2) welche Brailleschriftsysteme lernen dual Schriftnutzende und welche Hilfsmittel nutzen sie?

Zusammenhänge zwischen den schriftsprachlichen Kompetenzen.

Das Korrelationsmodell in Abbildung 4.1 verdeutlicht, dass alle schriftsprachlichen Kompetenzen miteinander zusammenhängen. Die Forschungsfrage (F1.1) nach den Zusammenhängen der schriftsprachlichen Kompetenzen bei Braille Nutzenden kann deshalb eindeutig bejaht werden. Besonders hoch fallen diese bei der Leseflüssigkeit und der Rechtschreibung sowie dem Lese- und Hörverstehen aus. Für Lernende ohne Sehbeeinträchtigung konnten andere Forschende dies ebenfalls nachweisen (May et al. 2016a, S. 58; Behrens und Krelle 2014, S. 91). Nach Bredel et al. (2011, S. 3) werden die Zusammenhänge jedoch in der Praxis nur selten wahrgenommen und für die Förderung genutzt.

Ein Bewusstsein für die Zusammenhänge ist wichtig, denn die Ergebnisse zeigen, dass beispielsweise Probleme in der Rechtschreibung häufig mit Schwierigkeiten in der Leseflüssigkeit einhergehen. Ähnlich verhält es sich mit der Verbindung des Lese- und Hörverstehens. Eine Schülerin oder ein Schüler mit Problemen im Leseverstehen wird diese wahrscheinlich auch im Hörverstehen zeigen. Beide Kompetenzen hängen stark mit der Metakognition zusammen (Behrens und Krelle 2014, S. 92), weshalb diese auch gleichermaßen gefördert und trainiert werden sollten. In der Förderung lohnt es sich demzufolge, eine kompetenzübergreifende Perspektive einzunehmen und die Förderung von mehreren Kompetenzen im Verbund zu forcieren.

Leseflüssigkeit und Lesegeschwindigkeit.

Im Vorfeld der Untersuchung stellte sich die Frage (F1.2), welche Kompetenzen die dual Schriftnutzende in der Erhebung erreichen würden und wie diese im Vergleich zu anderen Gruppen zu bewerten seien. Die ermittelten Werte fielen in der Braille- und Schwarzschrift vergleichsweise niedrig aus. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man die Werte der dual Schriftnutzenden mit den nur Braille Lesenden und der Normierungsstichprobe vergleicht (ausführlich in Abschnitt 4.2.1). Die direkte Gegenüberstellung verdeutlicht, dass ein Großteil der dual Schriftnutzenden in puncto Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit unabhängig vom Schriftmedium deutlich zurückliegt. Es ist der Bereich, in dem sich die dual Schriftnutzenden am stärksten von den nur Braille Lesenden unterscheiden. Die Ergebnisse bestätigen damit die Erkenntnisse von Lusk und Corn (2006b, S. 658), Herzberg et al. (2017, S. 54) und Vik und Fellenius (2007, S. 549), die für dual Schriftnutzende in Nordamerika und Norwegen zu einem ähnlichen Ergebnis kamen, sich dabei aber hauptsächlich auf Aussagen von Lehrpersonen stützten. Folglich scheint die Leseflüssigkeit dual Schriftnutzender vielerorts ein Problem zu sein.

Wie gravierend dieses ausfällt, zeigt ein Vergleich der 36 dual Schriftnutzenden aus der Kompetenzerhebung mit der Normierungsstichprobe ohne Sehbeeinträchtigung. Demnach bewegen sich die Mittelwerte der dual Schriftnutzenden in der Brailleschrift (19.85 WpM) und Schwarzschrift (45.56 WpM) auf dem Kompetenzniveau der ersten bis dritten Klasse (Moll und Landerl 2014, 66 ff.). Dieses Niveau ist zweifelsfrei für die Bewältigung schriftsprachlicher Anforderungen in Alltag, Schule und Beruf nicht ausreichend. Nach Koenig (1992, S. 283) sollten alle Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung unabhängig vom Lesemedium mindestens das Kompetenzniveau der achten Klasse erreichen, um möglichst selbstbestimmt an schriftsprachlicher Kommunikation teilhaben zu können. Dies befürworten ebenfalls Lusk und Corn (2006b, S. 654), indem sie die Bedeutung einer funktionalen Lesegeschwindigkeit in beiden Schriftmedien für dual Schriftnutzenden hervorheben. Zudem gelten für Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung die allgemeinen Bildungsstandards. Für Deutschland (KMK 2004b, S. 9, 2004a, S. 13), Österreich (BMBWF 2012, S. 105) und die Schweiz (EDK 2016, S. 75) ist klar festgelegt, dass alle Schülerinnen und Schüler flüssig lesen und sicher schreiben sollten.

Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse kann gesagt werden, dass dual Schriftnutzende einem größeren Risiko ausgesetzt sind, diese Mindeststandards nicht zu erreichen. Das gilt besonders für Schülerinnen und Schüler, die mit der Punktschrift spät starten (Winter et al. 2019, S. 103).

Die Untersuchung liefert auch Antworten und Hinweise, die das Abschneiden der dual Schriftnutzenden erklären (F1.3). Die durchgeführte Regressionsanalyse belegt beispielsweise, dass der Erwerbszeitpunkt und die Dauer der Braillenutzung signifikante Prädiktoren für das spätere Kompetenzniveau in der Punktschrift sind (vgl. hierzu Tabelle 4.8). Die häufig artikulierte Forderung nach einem möglichst frühen Brailleschriftspracherwerb bestätigt sich folglich (Holbrook et al. 2017a, S. 413; Jennings 1999, S. 13; Legge et al. 1999, S. 143; Vik und Fellenius 2007, S. 554; Swenson 2016, S. 262; Coudert 2012, S. 8; Hofer et al. 2019b, S. 23; D’Andrea 1997, S. 135). Das Abschneiden der dual Schriftnutzenden kann zu großen Teilen durch den späteren Beginn und die kürzere Braillenutzungsdauer erklärt werden. Eine möglichst frühe Identifikation von Schülerinnen und Schülern, die von der Brailleschrift profitieren können, ist deshalb sehr wichtig. Abhilfe versprechen in diesem Zusammenhang formale Assessments (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1), die Lehrpersonen in der Schriftentscheidung unterstützen. Aktuell liegen diese jedoch nur in englischer Sprache vor.

Zusätzlich können die Ergebnisse aus dem Fragebogen wertvolle Hinweise auf das Abschneiden in der Leseflüssigkeit liefern. Hier zeigt sich, dass der tägliche bzw. fast tägliche Kontakt mit der Punktschrift in der Gruppe der dual Schriftnutzenden sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben deutlich geringer ausfällt. Dieser ist gemäß mehrerer Expertinnen und Experten allerdings essenziell für den Lernfortschritt von dual Schriftnutzenden (Rogers 2007, S. 129; Koenig und Holbrook 2000, S. 678; Swenson 2016, S. 178). Weiterhin zeigt sich, dass viele dual Schriftnutzende keinen Zugang zu braillespezifischen Hilfsmitteln haben, was wiederum ihre Lerngelegenheiten einschränkt (vgl. hierzu Tabelle 4.13). Das Ziel ist folglich klar vorgegeben, jedoch drängt sich die Frage auf, wie ein Rückstand von mehreren Jahren im Bereich der Leseflüssigkeit aufgeholt werden kann.

Um die Ergebnisse der dual Schriftnutzenden in puncto Leseflüssigkeit und -geschwindigkeit zu erklären, ist noch weitere Forschung notwendig. In Kapitel 5 dieser Arbeit werden deshalb vier dual Schriftnutzende in holistischen Fallanalysen über einen Zeitraum von zwölf Monaten begleitet. Davon werden weitere Erkenntnisse speziell zur Förderung der Leseflüssigkeit erhofft.

Rechtschreibung.

Im orthografisch korrekten Schreiben lagen die dual Schriftnutzenden im Durchschnittsbereich der Norm und dementsprechend nahe bei den nur Braille Lesenden. Einschränkend muss jedoch hervorgehoben werden, dass die Stichprobe aufgrund von Vorgaben aus der Normierung deutlich reduziert werden musste und eine niedrige Testpower die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt. Deshalb kann die Frage (F1.4), ob sich dual Schriftnutzende in der Rechtschreibung von den nur Braille Lesenden und der Norm unterscheiden, nicht mit absoluter Sicherheit geklärt werden. Um eine Beantwortung zu erreichen, wäre eine größere Stichprobe notwendig.

Eine mögliche Erklärung dafür, dass sie sich nicht oder nur kaum unterscheiden, ist die Tatsache, dass sich die Rechtschreibregeln, abgesehen von den Kürzungsregeln, unabhängig vom Schriftmedium nicht unterscheiden (Lang et al. 2021, S. 10). Diese Hypothese wird durch die Angaben zu den Schreibgewohnheiten, die verdeutlichen, dass die meisten dual Schriftnutzenden und nur Braille Lesenden allgemeine Schreibwerkzeuge wie die PC-Tastatur klar bevorzugen (vgl. hierzu Abbildung 4.7 und Abbildung 4.8) und sich hinsichtlich des Schreibens nur im geringen Maße von Personen ohne Sehbeeinträchtigung unterscheiden, gestärkt. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass kaum noch in Kurzschrift geschrieben wird (vgl. hierzu Abbildung 4.5 und Abbildung 4.6) und demzufolge nur wenige Schülerinnen und Schüler von den umfangreichen Kürzungsregeln der Punktschrift Gebrauch machen.

Dagegen lässt sich anführen, dass der Erwerb eines zweiten Lese- und Schreibmediums zeitintensiv ist, weshalb es zu Abstrichen beim Erlernen von Rechtschreibstrategien kommen könnte. Zusätzlich könnte man einen negativen Einfluss der geringen Leseflüssigkeit auf die Rechtschreibung vermuten.

Die Ausführungen machen deutlich, dass es im Bereich der Orthografie noch viele ungeklärte Fragen gibt, was auch daran liegt, dass sich viele Studien zur Brailleschrift eher auf Lesekompetenzen als auf Schreibkompetenzen fokussieren. Ausnahmen bilden die ABC-Braille Studie und die Zukunft der Brailleschrift Studie, die zumindest teilweise auf die Rechtschreibleistungen abzielten (Emerson et al. 2009, S. 611; Hofer et al. 2019b, S. 16). Um die offenen Fragen zu klären, bedarf es deshalb auch in diesem Bereich noch weiterführende Forschung.

Leseverstehen und Hörverstehen.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage F1.5 wurden die dual Schriftnutzenden und die nur Braille Lesenden in beiden Kompetenzen gegenübergestellt (vgl. hierzu Tabelle 4.6 und Tabelle 4.7). Der Vergleich zeigt, dass die nur Braille Lesenden leicht höhere Werte erzielten, diese jedoch lediglich im Bereich des Hörverstehens signifikant ausfielen. Die Unterschiede waren so gering, dass ihnen nachfolgend keine praktische Bedeutsamkeit zugeschrieben wird. Bemerkenswert erscheint in diesem Kontext, dass viele dual Schriftnutzende ebenso wie viele nur Braille Lesende trotz einer niedrigen Lesegeschwindigkeit gute Werte im Leseverstehen erreichten.

Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei den in der Kompetenzerhebung verwendeten Erhebungsinstrumenten sowohl im Lese- als auch Hörverstehen um informelle, durch das Forschungsteam selbst entwickelte Tests handelte, war ein Vergleich mit den Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung nicht möglich. Dafür sei an dieser Stelle auf die Forschung von Gompel et al. (2004, S. 87; 2002, S. 444), sowie wie jene von Edmonds und Pring (2006, S. 347) verwiesen, die in drei unterschiedlichen Vergleichsstudien bereits dargelegt haben, dass sich das Leseverstehen von Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung nicht von der Norm unterscheidet, solange ausreichend Lesezeit zur Verfügung steht (Gompel et al. 2004, S. 83). Zum Hörverstehen ist die Erkenntnislage deutlich schmaler. Die bereits erwähnte Studie von Edmonds und Pring (2006, S. 348) kommt diesbezüglich zu der Erkenntnis, dass sich die Gruppen hinsichtlich des Hörverstehens kaum unterscheiden (Edmonds und Pring 2006, S. 348). Zu einer ähnlichen Erkenntnis kommen auch Erin. et al (2006, S. 530) in ihrer Studie, bei der Teilnehmende mit Blindheit bei mündlichen und Höraufgaben, besser abschnitten als die Vergleichsgruppen.

Erweitert werden die vorhandenen Untersuchungen von Edmonds und Pring (2006), Erin et al. (2006) und Gompel et al. (2002, 2004) durch den in der Kompetenzerhebung durchgeführten direkten Vergleich von Lesen und Hören. Dieser wird von Edmonds und Pring (2006, S. 349) sogar explizit gefordert. Gleichzeitig zielt die Forschungsfrage F1.6 auf eine Gegenüberstellung ab. Diesbezüglich zeigen die Ergebnisse, dass die Hörgeschwindigkeiten der dual Schriftnutzenden und der nur Braille Lesenden etwa zwei- bis dreimal so hoch ausfielen, wie die Lesegeschwindigkeiten (vgl. hierzu Tabelle 4.6 und Tabelle 4.7). Gruppenübergreifend waren die Teilnehmenden im Leseverstehen signifikant besser. Der direkte Vergleich zwischen den beiden Kompetenzen lässt sich pointiert zusammenfassen mit der Formel: Hören ist schneller als Lesen, aber Lesen ist besser für das Verständnis (Lang et al. 2021, S. 1). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Erin et al. (2006, S. 531) für die Braille Lesenden in ihrer Studie, die bei Leseaufgaben zwar besser als bei Höraufgaben abschnitten, dafür aber deutlich mehr Zeit benötigten.

Lernreihenfolge.

Die Forschungsfrage F2.1 fokussiert auf die Abfolge, in der die dual Schriftnutzenden aus der Stichprobe die Schwarz- und Brailleschrift gelernt haben. Diesbezüglich zeigt sich, dass mit Abstand die meisten Teilnehmenden zuerst die Schwarzschrift und dann die Punktschrift gelernt haben. Zu diesem Ergebnis kommen auch Rogers (2007, S. 127) sowie Lusk und Corn (2006b, S. 662) in ihren Studien über duale Schriftnutzung.

Übereinstimmend zeigt sich, dass der Erwerb der Schwarzschrift basierend auf bereits vorhandenen Kompetenzen einen Sonderweg darstellt, der nur noch selten gewählt wird (Rogers 2007, S. 124). Ursächlich für diesen Lernweg sind häufig besondere Lernumstände. Eine Person gab beispielsweise an, im Zuge eines Länderwechsels neue Hilfsmittel erhalten zu haben, die einen Schwarzschriftzugang überhaupt erst möglich gemacht haben.

Die Angaben zu einem parallelen Erwerb, also dem gleichzeitigen Erwerb von Punktschrift- und Schwarzschriftkenntnissen, bleiben in den meisten Studien zur Brailleschrift unerwähnt. In der Kompetenzerhebung durchliefen etwa ein Drittel der 36 dual Schriftnutzenden diesen Lernweg. Das kann als Hinweis gedeutet werden, dass dieser noch immer selten in Erwägung gezogen wird (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.5), obwohl vieles darauf hindeutet, dass ein paralleler Erwerb mit höheren schriftsprachlichen Kompetenzen in beiden Schriftmedien einhergeht (Winter 2018). Daran wird erneut die Notwendigkeit einer möglichst objektiven, datenbasierten Schriftentscheidung deutlich (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1), die auch von verschiedenen Forschenden gefordert wird (Koenig 1996, S. 57; Rhoads 2019, S. 49; Corn und Gardner n.d., S. 3). Die Vor- und Nachteile von nicht-parallelen und parallelen Erwerbsformen sollten dabei offen diskutiert werden.

Brailleschriftsysteme.

Im Vorfeld der Zukunft der Brailleschrift Studie lagen keine Daten zur aktuellen Braillenutzung im deutschsprachigen Raum vor (Hofer und Lang 2014, S. 232). Zudem kann man vermuten, dass die in Abschnitt 2.2 dargestellte Systemvielfalt der deutschen Brailleschrift für viele dual Schriftnutzende eine zusätzliche Herausforderung beim Erwerb darstellt. Es stellte sich deshalb die Frage (F2.2), welche Brailleschriftsysteme und in welcher Reihenfolge lernen dual Schriftnutzende diese lernen. Zusätzlich ergibt sich die Frage (F2.3), wie viele Brailleschriftsysteme die dual Schriftnutzenden lernen und wann sie diese erwerben.

Diesbezüglich zeigte sich, dass die meisten mit der Vollschrift starten und zwei oder sogar drei unterschiedliche Systeme lernen. Im Vergleich mit den nur Braille Lesenden, die im Schnitt alle zwei Jahre ein neues Punktschriftsystem erwerben (Hofer et al. 2019b, S. 18), verdeutlichen die Ergebnisse der dual Lesenden, dass sie oftmals in einer deutlich kürzeren Zeitspanne die gleiche Anzahl an Systemen erwerben. Deshalb liegt der Schluss nahe, dass in einigen Fällen die Systemvielfalt der deutschen Punktschrift den schnellen Aufbau der Leseflüssigkeit verzögert (Hofer et al. 2019b, S. 23).

Die Daten offenbaren aber auch, dass dual Schriftnutzende, die früh mit Braille beginnen, häufiger zwei oder sogar drei Punktschriftsysteme lernen (vgl. hierzu Abbildung 4.2). Dem gegenüber scheinen viele dual Schriftnutzenden, die spät mit der Brailleschrift begonnen haben, häufig nur ein einziges Brailleschriftsystem zu erlernen.

Prinzipiell lässt sich aus den Ergebnissen gruppenübergreifend keine Überlegenheit eines Systems ableiten. Die Präferenzen fallen individuell verschieden aus und eine Mehrheit in beiden Gruppen hatte Kenntnisse in Vollschrift, Computerbraille und Kurzschrift. Folglich erreichen die meisten Schülerinnen und Schüler die von VBSFootnote 6, DBSVFootnote 7 und DVBSFootnote 8 gemeinsam formulierten Lernziele der zweiten Stufe hinsichtlich der zu erlernenden Punktschriftsysteme (VBS 2001b, S. 98, 2012, S. 7). Für die nur Braille Lesenden wird dafür ein Zeitfenster von sechs Schuljahren eingeräumt. Dual Schriftnutzende werden in der Erklärung nicht erwähnt, jedoch ist klar, dass bei ihnen in den wenigsten Fällen so viel Zeit zur Verfügung steht. Hinzu kommt bei vielen die Notwendigkeit und der Handlungsdruck, die Punktschrift schnell zu erlernen (Holbrook et al. 2017a, S. 415; Winter et al. 2019, S. 94). Zusätzlich sollte auch berücksichtigt werden, dass die dual Lesenden bereits Kompetenzen in der Schwarzschrift erworben haben. Diese besondere Situation rechtfertigt eigene Ziele, Methoden und Materialien in der Brailleförderung. Hinsichtlich der Zielsetzung wird vor diesem Hintergrund, bei dual Schriftnutzenden, die bereits über Erfahrungen in der Schwarzschrift verfügen (nicht-parallele Lernreihenfolge), empfohlen, den Fokus auf die Lesekompetenzen in einem ausgewählten Brailleschriftsystem zu legen (Koenig und Holbrook 2010, S. 474). Dafür eignen sich sowohl die Vollschrift als auch Computerbraille, die beide mit wenig Aufwand und ohne viele Kürzungen auskommen und deshalb schnell erlernt werden können. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Thoughton (1992, S. 22) in ihrer Studie, in der sie empfiehlt, bei Schülerinnen und Schülern mit einem verbleibenden Sehvermögen ungekürzte Schriftsysteme zu priorisieren. Bei dual Schriftnutzenden, die Braille als Hauptlesemedium verwenden, kann über eine Einführung der Kurzschrift nachgedacht werden. Von den 36 dual Schriftnutzenden hatten rund ein Fünftel täglichen oder fast täglichen Kurzschriftkontakt, was darauf hindeutet, dass auch diese für einige Personen einen wichtigen Zugang darstellt. Deshalb sollten auch Schülerinnen und Schüler, die potenziell vom Gebrauch der Kurzschrift profitieren können, nicht davon abgehalten werden, diese zu lernen.

Bei der Einführung weiterer Brailleschriftsysteme spielen zudem zeitliche und personelle Ressourcen eine entscheidende Rolle (Koenig und Holbrook 2010, S. 474). Dazu müssen motivationale und individuelle Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden.

Lese- und Schreibhäufigkeit.

Im Forschungsfeld besteht ein breiter Konsens, dass dual Schriftnutzende im Idealfall täglichen Kontakt mit der Punktschrift haben sollten (Swenson 2016, S. 263; D’Andrea 1997, S. 135; Holbrook et al. 2017a, S. 380; Koenig und Holbrook 2000, S. 689; Corn und Koenig 2002, S. 317; Stanfa und Johnson 2015). Diese Forderung wurde als Anlass genutzt, um die Forschungsfrage F2.4 zu formulieren und die Lese- und Schreibhäufigkeit dual Schriftnutzender mit jenen der nur Braille Lesenden zu vergleichen.

Hinsichtlich des Lesens veranschaulichen die Ergebnisse, dass lediglich die Hälfte der 36 dual Schriftnutzenden täglichen oder fast täglichen Kontakt mit der Brailleschrift hatte. Im Gegensatz dazu fielen die Werte der nur Braille Lesenden deutlich höher aus (vgl. hierzu Abbildung 4.3 und Abbildung 4.4). Daraus folgt, dass viele dual Schriftnutzenden zu wenig Punktschriftkontakt haben. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Erkenntnissen von Lusk und Corn (2006b, S. 661), die in ihrer Studie zu derselben Schlussfolgerung kommen. Über die Gründe können nur Vermutungen angestellt werden. Der geringe Kontakt könnte mit den Wahlmöglichkeiten (Schwarzschrift, Brailleschrift, Sprachausgabe) vieler dual Schriftnutzenden zusammenhängen, der vergleichsweise niedrigen Verfügbarkeit von Punktschriftmaterialien oder der Systemvielfalt der deutschen Brailleschrift (Vollschrift, Kurzschrift, Computerbraille). Ursächlich könnte aber auch eine fehlende Sensibilisierung von Lehrpersonen, Unterrichtsassistenten oder Eltern für das Thema Punktschrift sein. Gleichfalls denkbar erscheint, dass der Kontakt in vielen Fällen nur in gesonderten Fördereinheiten stattfindet. Zusätzlich können individuelle Faktoren, wie beispielsweise eine ausgeprägte Ablehnung der Punktschrift und Vermeidungsstrategien, hemmend wirken. Die Kontaktmöglichkeiten lassen sich wiederum mithilfe von individuellen, motivierenden Fördermaterialien, durch die Etablierung von festen Lesezeiten, die Unterstützung durch Lesepatenschaften, durch Brailleschriftangebote für die ganze Familie, durch multimediale Lernangebote oder Projektwochen zur Brailleschrift erhöhen. Weitere Vorschläge finden sich bei Swenson (2016), Wormsley (2016) sowie bei Wormsley und D ‘ Andrea (1997).

Im direkten Vergleich zum Lesen zeigt sich, dass die Brailleschrift von vielen der 119 nur Braille Lesenden und der 36 dual Schriftnutzenden nur noch selten geschrieben wird. Eine gruppenübergreifende Mehrheit schreibt nie oder nur selten in der Punktschrift, wobei der Anteil bei den dual Schriftnutzenden noch höher ausfällt. Dieses Ergebnis wird wiederum durch die Angaben der bevorzugten Schreibwerkzeuge erklärt. In diesem Kontext war die PC-Tastatur gruppenübergreifend das meist präferierte Schreibwerkzeug, was sich bereits in der ersten Zukunft der Brailleschrift Erhebung mit 819 Teilnehmenden zeigte (Hofer et al. 2016, S. 111). Diese Erkenntnis kann als ein Zeichen zunehmender Digitalisierung gedeutet werden. Grundsätzlich sollten die unterschiedlichen Schreibwerkzeuge nicht als Konkurrenten betrachtet werden. Sie dienen verschiedenen Schreibzwecken, worin auch ein entscheidender Vorteil der PC-Tastatur gesehen werden kann. Diese ermöglicht eine einfache, effiziente schriftliche Kommunikation mit Personen mit und ohne Sehbeeinträchtigung. Daraus ergeben sich viele Vorteile für den inklusiven Kontext (Lang et al., 2020, S. 290) und ebenso in der Berufsvorbereitung (McNear und Farrenkopf 2014, S. 202). Dazu ist die PC-Tastatur ein Mainstreamprodukt, das in Zusammenarbeit mit dem Computer und der Textverarbeitung einen hohen Editierkomfort liefert. Aus pädagogischer Sicht sollten braillespezifische Schreibwerkzeuge, wie Punktschriftmaschinen und Brailleeingabetastaturen weiterhin verwendet werden. Denn die Punktschrift erlernt man nicht nur durch das Lesen, sondern auch durch das Schreiben und umkehrt. Deshalb ist es wichtig, dass gerade Lese- und Schreibanfänger spezifische Brailleeingabemethoden lernen und immer wieder dazu aufgefordert werden, das Geschriebene auch zu lesen (Swenson 2016, S. 206). Bei nur Braille Lesenden kann man davon ausgehen, dass dies in den meisten Grundschulen im Förderschwerpunkt Sehen praktiziert wird und der Schriftspracherwerb mit der Punktschriftmaschine beginnt (Lang et al. 2011, S. 41). Im Gegensatz dazu nutzen viele dual Schriftnutzende beim Start mit der Brailleschrift bereits den Computer und die PC-Tastatur. Dadurch stehen Punktschriftmaschine und Braillezeile von Beginn an in einer größeren Konkurrenz. Das sollte jedoch nicht dazu führen, dass dual Schriftnutzende braillespezifische Hilfsmittel wie Punktschriftmaschine oder eine Brailleeingabetastatur, vorenthalten werden. Diese bieten eine einfache Möglichkeit, den täglichen Kontakt mit der Punktschrift zu erhöhen. Aus jeder Schreibsituation kann eine Lesesituation entstehen, was sich positiv auf die Lernentwicklung auswirkt.

Angesichts der häufig geäußerten These, dass viele Menschen mit hochgradiger Sehbehinderung Schwierigkeiten beim Erlernen einer lesbaren Handschrift haben (Krug F. und Csocsán 2001; Holbrook et al. 2017b, S. 138), überraschte die Feststellung, dass viele dual Schriftnutzende diese täglich oder fast täglich zum Schreiben verwenden. Für viele scheint die Handschrift eine wichtige Alltagsfunktion zu haben und einen hohen Stellenwert einzunehmen (Hofer et al. 2016, S. 109), beispielsweise in der schriftlichen Kommunikation mit sehenden Personen, für den persönlichen Gebrauch beim Anfertigen von Notizen, Markierungen, dem Notieren von Telefonnummern oder Einkaufslisten. Im schulischen Kontext kann die Handschrift gefördert werden, indem spezielle Lineaturen angeboten werden, der angemessene Einsatz von Lichtquellen erprobt wird (z. B. hinsichtlich der Platzierung der Lichtquelle, Lichtfarbe und Helligkeit) ebenso wie die Verwendung von höhenverstellbaren Lese- sowie Schreibpulte und ggf. vergrößernden Hilfsmittel.

Durch diese Optionen eröffnen sich neue Möglichkeiten und Wahlfreiheiten, die dual Schriftnutzenden dabei helfen, in Abhängigkeit von der Lese- und Schreibaufgaben ihr effektivstes Lese- und Schreibmedium selbstbestimmt auszuwählen.

Hilfsmittelausstattung.

Die Wichtigkeit von assistiven Technologien, gerade auch in Kombination mit der Punktschrift, zeigte sich schon in der ersten Erhebung der Zukunft der Brailleschrift Studie (Hofer et al. 2016, S. 106). Mehrfach wird in der Fachliteratur auf den Zusammenhang zwischen schriftsprachlichen Kompetenzen und verfügbaren Hilfsmitteln hingewiesen (Presley und D’Andrea 2009, S. 7; McNear und Farrenkopf 2014, S. 192; Kamei-Hannan et al. 2020, S. 89). Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage (F2.5), welche Hilfsmittel den dual Schriftnutzenden zur Verfügung stehen.

Diesbezüglich zeigt sich, dass die Mehrheit der Zukunft der Brailleschrift Teilnehmenden sehr gut bis gut ausgestattet ist, d. h., sie hatten Zugang zu einer Vielzahl an blinden- und sehbehindertenspezifischen Hilfsmitteln. Die Auswertung weist jedoch darauf hin, dass es auch Lücken in der Versorgung gibt.

Der direkte Vergleich mit den nur Braille Lesenden offenbart, dass diese im Bereich Punktschriftmaschinen und Braillezeilen deutlich besser ausgestattet sind. Etwa ein Fünftel der dual Schriftnutzenden war diesbezüglich unterversorgt. Das ist problematisch, weil Braillekompetenzen nur aufgebaut werden können, wenn auch die passenden Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden (McNear und Farrenkopf 2014, S. 204). Dazu gehören Schreibwerkzeuge, wie Punktschriftmaschinen und Braillezeilen, die eine Teilhabe an einer digitalen Kommunikation ermöglichen können. Auf die Relevanz dieser Hilfsmittel wurde zudem bereits im Abschnitt Lese- und Schreibhäufigkeiten hingewiesen.

Im Bereich elektronischer Low Vision Hilfsmittel fehlte eine Vergleichsgruppe, allerdings weisen die Daten auch hier darauf hin, dass ein Fünftel der dual Schriftnutzenden unterversorgt ist. Das ist ebenso bedenklich wie bei den braillespezifischen Hilfsmitteln, weil Low Vision Hilfsmittel das Sehvermögen unterstützen und den Betroffenen ein effektiveres, selbstbestimmteres Arbeiten ermöglichen, z. B. durch Vergrößerung oder Verbesserung von Kontrasten (McNear und Farrenkopf 2014, S. 191).

Prinzipiell sollten die individuellen Bedürfnisse und Anforderungen aller Lernenden mit Sehbeeinträchtigung oberste Priorität in der Hilfsmittelversorgung haben (McNear und Farrenkopf 2014, S. 190). Eine Person mit dualer Schriftnutzung kann zum Beispiel hauptsächlich mit der Brailleschrift arbeiten, bei Grafiken und mathematischen Aufgaben hingegen das visuelle Arbeiten am Bildschirmlesegerät bevorzugen. Demgegenüber kann eine andere Person, die vor allem die vergrößerte Schwarzschrift nutzt, bei visuellen Aufgaben jedoch schnell ermüdet, für längere Textaufgaben die Sprachausgabe nutzen. Die Ausführungen machen deutlich, dass die Hilfsmittelnutzung und Bedürfnisse bei dual Schriftnutzenden sehr individuell sind. Zudem veranschaulichen die Beispiele, dass viele dual Lesende visuelle, haptische und auditive Zugänge miteinander kombinieren. In der Folge steht ihnen ein deutlich größeres Spektrum potenzieller Hilfsmittel zur Auswahl als allen anderen Personen mit Sehbeeinträchtigung. Das ist eine Herausforderung in der Beratung und Einführung von assistiven Technologien. Im Vorfeld sollte deshalb diagnostisch abgeklärt werden, welche Hilfsmittel im Zusammenhang mit der Brailleschrift und welche mit der Schwarzschrift empfehlenswert sind (Presley und D’Andrea 2009, S. 200). Dabei können Erkenntnisse aus der Evaluation des funktionalen Sehens und aus einem Learning Media Assessment (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1) wertvolle zusätzliche Hinweise liefern. Zudem ist es ratsam, bei der Hilfsmittelbeschaffung in multiprofessionellen Teams zusammenzuarbeiten, z. B. mit Fachpersonen aus dem Bereich Low Vision, Brailleschrift, assistiven Technologien, Orientierung und Mobilität sowie lebenspraktischer Fähigkeiten (VBS 2016, S. 191). Unterstützung bieten überdies die Angebote der spezifischen Medienberatungszentren (MBZs). Etwaige Bedenken, dass Kostenträger entweder nur einer blindenspezifischen oder einer sehbehindertenspezifischen Ausstattung zustimmen, sind angesichts der Erkenntnis, dass die Mehrheit der 36 dual Schriftnutzenden Zugang zu beiden Arten von Hilfsmitteln hatte, unbegründet. Gemäß Richter (2016, S. 121) ist bei der Antragstellung die Notwendigkeit für die Schulbildung das maßgebliche Kriterium. Vor diesem Hintergrund sollte es möglich sein, dual Schriftnutzende mit den nötigen assistiven Technologien auszustatten, damit sie unabhängig, selbstbestimmt und effektiv im Unterricht, Alltag und Beruf teilhaben können.

Nutzung auditiver Technologien.

Die Frage (F2.6), ob dual Schriftnutzende häufiger auditive Hilfsmittel wie die Sprachausgabe nutzen als nur Braille Lesende, ist schwierig zu beantworten und erfordert einen detaillierten Blick auf die Ergebnisse. Im Mittel fallen die Unterschiede gering aus, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Nutzung in beiden Gruppen sehr unterschiedlich ausfiel. Bei den 119 nur Braille Lesenden dominiert der gelegentliche Gebrauch.

Im Gegensatz dazu scheint es innerhalb der Gruppe der dual Schriftnutzenden einen großen Anteil an Personen zu geben, der auf den Gebrauch auditiver Hilfsmittel verzichtet. Diese Erkenntnis überraschte bereits in der ersten Zukunft der Brailleschrift Erhebung mit 819 Teilnehmenden jeden Alters und bestätigt sich folglich (Hofer et al. 2016, S. 109).

Demgegenüber gab es aber auch eine Gruppe von 9 dual Schriftnutzenden (25 %), die häufig mit auditiven Technologien arbeitet. Um einer übermäßigen Abhängigkeit dieser Personen von auditiven Hilfsmitteln bei Lese- und Schreibaufgaben vorzubeugen, sollten Lehrpersonen den reflektieren Gebrauch anleiten und ggf. auch reglementieren.

Eine besondere Präferenz für den auditiven Zugang, wie es Herzberg et al. (2017, S. 56) und Vik und Fellenius (2007, S. 551) in ihren Studien für dual Schriftnutzende beschreiben, kann aus den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung nicht abgeleitet werden. Dagegen spricht die hohe Varianz bei der Nutzung auditiver Hilfsmittel innerhalb der Gruppe der dual Schriftnutzenden. Dazu verdeutlicht der gruppenübergreifende Vergleich mit den nur Braille Lesenden, dass eine übermäßige Nutzung auditiver Technologien kein spezifisches Phänomen dual Schriftnutzender ist.

In diesem Kontext ist interessant, dass lediglich für die nur Braille Lesenden ein schwacher negativer Zusammenhang zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien, der Rechtschreibung sowie der Leseflüssigkeit gefunden werden konnte. Für diese Gruppe zeigt sich somit, dass ein starker Gebrauch auditiver Hilfsmittel einen negativen Einfluss auf die schriftsprachlichen Kompetenzen haben kann. Einschränkend muss jedoch hervorgehoben werden, dass dies nur bei einer übermäßigen Nutzung droht. Diese liegt vor, wenn eine Schülerin oder ein Schüler praktisch in jeder Lese- und Schreibsituation die Sprachausgabe nutzt und eine unverhältnismäßige Abhängigkeit von dieser demonstriert. In diesen Fällen sind negative Folgen auf die schriftsprachlichen Kompetenzen, wie sie auch von Bell et al. (2013) und Swenson (2016, S. 263) befürchtet werden, erwartbar. Das trifft insbesondere auf Schülerinnen und Schüler zu, die sich noch am Anfang des Brailleschriftspracherwerbs befinden und viele Lese- und Schreibzeiten benötigen.

Bei Lernenden, die bereits über funktionale Lese- und Schreibkenntnisse verfügen, wird eine gelegentliche Nutzung als unbedenklich eingestuft. Das gilt auch für einen kombinierten Gebrauch, bei dem auf der Braillezeile oder am PC-Bildschirm parallel zur Sprachausgabe gelesen wird.

Anknüpfend an die Ergebnisse der ersten Zukunft der Brailleschrift Erhebung (Hofer et al. 2016, S. 111) zeigt sich auch in der zweiten Erhebung, dass die Punktschrift häufig mit Technologien kombiniert wird. Dazu verdeutlichen die erzielten Lese- und Hörgeschwindigkeiten aus den Bereichen Leseverstehen und Hörverstehen, dass auditive Technologien wie die Sprachausgabe für die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger schriftsprachlicher Anforderungen zwingend notwendig sind. Diesen Schluss ziehen ebenso 40 Expertinnen und Experten in einer Studie von Koenig und Holbrook (2000, S. 690). Neue Technologien sollten deshalb nicht als Konkurrenz betrachtet werden, sondern als gewinnbringende Erweiterungen (Kamei-Hannan und Ricci 2015, S. VII).

Ein weiteres interessantes Ergebnis ist in diesem Kontext, dass gruppenübergreifend kein Zusammenhang zwischen der Nutzungshäufigkeit auditiver Technologien und dem Hörverstehen gefunden werden konnte. Mit anderen Worten: Nur weil eine Schülerin oder ein Schüler viel mit der Sprachausgabe arbeitet, impliziert das kein besseres Hörverstehen. Dieses kann man folglich ebenso wenig voraussetzen wie das Leseverstehen. Beide Kompetenzen sind stark von metakognitiven Strategien, Wortschatz und Kognition abhängig und müssen deshalb gezielt eingeübt werden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass dual Schriftnutzende und nur Braille Lesende sowohl gute Lesekompetenzen als auch herausragende Kenntnisse in der Bedienung von assistiven Technologien benötigen, um den Anforderungen in Schule, Beruf und Alltag gerecht zu werden (Trent und Truan 1997, S. 500).

4.4 Schlussfolgerungen

Aus der Diskussion ergeben sich mehrere praktische Implikationen, die nachfolgend zusammengefasst werden. Diese richten sich an Sonderpädagoginnen und -pädagogen, Lehrpersonen aus der Beratung und Frühförderung, allgemeine Pädagoginnen und Pädagogen, Schulleitungen sowie an Eltern. Die nachfolgenden Punkte können als Handlungsempfehlung für den Umgang mit dual Schriftnutzenden verstanden werden:

  1. 1)

    Prävention und Diagnostik. Eine möglichst frühe Einführung der Punktschrift bei dual Schriftnutzenden ist die beste Möglichkeit, um Rückstände in der Leseflüssigkeit bereits präventiv vorzubeugen. Eine wichtige Voraussetzung ist in diesem Kontext eine Eingangsdiagnostik vor Schulbeginn und eine kontinuierliche diagnostische Überprüfung des Schriftmediums im Verlauf der Schulzeit (Lang et al. 2011, S. 47; Corn und Koenig 2002, S. 319; Vik und Fellenius 2007, S. 554; Mangold und Mangold 1989, S. 294). Orientierung bieten die in Abschnitt 2.3.1 vorgestellten Kriterien zur Überprüfung des Schriftmediums.

  2. 2)

    Lernreihenfolge. Ein paralleler Erwerb von Braille- und Schwarzschrift spart Zeit (Holbrook und Koenig 1992, S. 45), wirkt sich positiv auf die schriftsprachlichen Kompetenzen aus (Winter 2018), eröffnet den Schülerinnen und Schülern mehr Wahlfreiheiten hinsichtlich ihres Schriftmediums (Holbrook et al. 2017a, S. 413) und erhöht die Chancen, dass Brailleschrift auch als primäres Schriftmedium genutzt wird (Ryles 1996, 223 f.).

    In diesem Zusammenhang wird gefordert, die über Jahrzehnte etablierte Lehrmeinung, sich auf ein Lese- und Schreibmedium festzulegen, zu überwinden (Lusk und Corn 2006a, S. 606; Spitz 2014) und die Option eines parallelen Erwerbs bei der Erstentscheidung über das Schriftmedium als gleichberechtigte Option in Betracht zu ziehen. Falls noch nicht vorhanden, müssen dazu ggf. auch die institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden, die Schülerinnen und Schülern den gemeinsamen Erwerb von Punktschrift und Brailleschrift ermöglichen.

  3. 3)

    Förderung der Leseflüssigkeit. Diese sollte in beiden Schriftmedien bei dual Schriftnutzenden priorisiert werden. Die Analysen zeigen, dass sich die Leseflüssigkeit in den meisten Fällen sukzessive über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahren aufbaut und durch tägliche Lesepraxis verbessert werden kann (Stanfa und Johnson 2015). Das erklärt auch, warum übereinstimmend empfohlen wird, möglichst früh mit der Brailleschrift zu beginnen (Holbrook et al. 2017a, S. 413; Trent und Truan 1997, S. 499; Hofer et al. 2019b, S. 23). Einen schnellen Kompetenzerwerb versprechen wiederum evidenzbasierte Methoden zur Leseförderung wie z. B. Lautlesetandems (Rosebrock et al. 2017, S. 23), wiederholendes Lesen (Savaiano und Hatton 2013, S. 94) oder die Constant-Time-Delay Methode (Rhoads 2019, S. 51). Eine Übersicht wirksamer Ansätze und potenzieller Fördermethoden findet sich im theoretischen Teil der Arbeit in Abschnitt 2.4.1 Leseflüssigkeit.

  4. 4)

    Rechtschreibung. Der Einfluss eines dualen Schriftspracherwerbs auf die Rechtschreibung konnte in der Untersuchung nicht endgültig geklärt werden. Im Einzelfall empfiehlt sich eine diagnostische Überprüfung mithilfe eines aussagekräftigen Rechtschreibtests, z. B. der Hamburger Schreibprobe (May et al. 2016a). Anhand der Testergebnisse lassen sich Stärken und Schwächen, beispielsweise in der alphabetischen-, morphologischen-, orthografischen- oder wortübergreifenden Strategie, identifizieren. Weitere Hinweise kann eine Evaluation der Lese- und Schreibgewohnheiten liefern. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass Lesen und Schreiben zwei unterschiedliche Seiten schriftsprachlicher Kommunikation darstellen, weshalb ein kompetenzübergreifender Blick auf Rechtschreibprobleme empfohlen wird. Man könnte auch sagen, schriftsprachliche Kompetenzen lassen sich am wirksamsten im Verbund fördern. Beispielsweise kann ein Wortschatztraining positive Effekte auf die Rechtschreibung, die Leseflüssigkeit und das Leseverstehen haben.

  5. 5)

    Brailleschriftsysteme. Im Einklang mit den Empfehlungen von Koenig und Holbrook (2010, S. 474) wird empfohlen, die Lesekompetenz in einem einfachen Erstsystem ohne viele Kürzungen bei dual Schriftnutzenden zu priorisieren. Dafür werden die Vollschrift oder Computerbraille als geeignet angesehen. In Abhängigkeit von den sprachlichen und motivationalen Voraussetzungen des Lernenden, den sonderpädagogischen Ressourcen und dem potenziellen zukünftigen Nutzen kann auch die Kurzschrift bei dual Schriftnutzenden eingeführt werden.

  6. 6)

    Leseverstehen und Hörverstehen: Die Ergebnisse bestätigen, dass beide Kompetenzen stark miteinander zusammenhängen (Barclay 2012, S. 112). Die dual Schriftnutzenden und die nur Braille Lesenden erzielten gruppenübergreifend höhere Werte im Textverstehen beim Lesen als beim Hören. Eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Leseverstehen ist jedoch ausreichend Lesezeit (Gompel et al. 2004, S. 88), die im Rahmen des Nachteilsausgleiches unbedingt zu gewähren ist. Die Ergebnisse verdeutlichen zudem, dass man bei dual Schriftnutzenden nicht voreilig von der Lesegeschwindigkeit auf das Leseverstehen schließen sollte. Viele Teilnehmende erzielten auch bei niedriger Geschwindigkeit ein gutes Verständnis. Dennoch wächst angesichts der geringen Leseflüssigkeit speziell bei dieser Gruppe die Notwendigkeit, Lesestrategien einzuüben. Eine Übersicht von potenziellen Förderansätzen findet sich in Abschnitt 2.4.4 Leseverstehen.

    Hinsichtlich des Hörens zeigte sich ein deutlicher Geschwindigkeitsvorteil. Wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die individuelle Hörgeschwindigkeit zu ermitteln, die als Voraussetzung für ein gutes Hörverstehen angesehen werden kann. Dazu sind weitere Bedienkompetenzen zu vermitteln, die Lernenden eine flexible, kontrollierte Nutzung der Sprachausgabe ermöglichen. Gute Ansatzpunkte bietet beispielsweise das Kompetenzraster zum E-Buch-Standard der Schlossschule Ilvesheim (2013). Ähnlich wie beim Leseverstehen können zudem metakognitive Strategien das Hörverstehen verbessern (Behrens und Krelle 2014, S. 92). Diesbezüglich gibt es bislang wenig Konzepte, die explizit auf Schülerinnen und Schüler mit Sehbeeinträchtigung abzielen, obwohl übereinstimmend eine verstärkte Förderung von Hörkompetenzen gefordert wird (Hofer et al. 2019b, S. 24; Koenig und Holbrook 2000, S. 690; Koenig 1992, S. 278). In Abschnitt 2.4.5 Hörkompetenzen werden deshalb einige Förderideen vorgestellt. Weitere Ansatzpunkte finden sich bei Barclay (2012).

  7. 7)

    Lese- und Schreibhäufigkeiten. Viele dual Schriftnutzende hatten in dieser Studie keinen täglichen Kontakt mit der Brailleschrift, dieser wird jedoch als dringend erforderlich erachtet (Swenson 2016, S. 263; Lusk und Corn 2006b, S. 653; D’Andrea 1997, S. 135; Hatlen 2003). Zudem zeigte sich, dass die Punktschrift in vielen Fällen zwar gelesen, aber nicht geschrieben wird. Deshalb muss gerade bei dual Schriftnutzenden ein höherer Wert auf das Schreiben gelegt werden. Denn die Punktschrift erlernt man nicht nur durch das Lesen, sondern auch durch das Schreiben und umkehrt.

    Weitere Empfehlungen, wie sich Lese- und Schreibzeiten bei dual Schriftnutzenden erhöhen lassen und welche zeitlichen Ressourcen als angemessen angesehen werden können, finden sich in Abschnitt 2.3.7.

  8. 8)

    Hilfsmittelausstattung. Dual Lesende nutzen visuelle, haptische, auditive Informationen und brauchen deshalb das ganze Spektrum potenzieller blinden- und sehbehindertenpädagogischer Hilfsmittel. Aus diesem Grund sollte diagnostisch überprüft werden, welche assistiven Technologien im Zusammenhang mit der Schwarzschrift und welche mit der Brailleschrift empfehlenswert sind. Dabei kann die Evaluation des funktionalen Sehens sowie ein Learning Media Assessment (vgl. hierzu Abschnitt 2.3.1) wertvolle Hinweise liefern. Zudem bietet sich eine Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus Medienberatungszentren, aus dem Bereich Low Vision und Brailleförderung sowie der Rehabilitation an.

  9. 9)

    Auditive Technologien. Der Einsatz der Sprachausgabe sollte situativ und anforderungsbezogen eingeübt werden (Winter et al. 2019, S. 106; Hofer et al. 2019b, S. 24). Insbesondere bei einer hohen Textmenge und ausdauernden Leseaufgaben erscheint der Gebrauch sinnvoll (Holbrook und Rosenblum 2017, S. 246). Gleichzeitig gilt es, eine übermäßige Abhängigkeit von der Sprachausgabe vorzubeugen und die Förderung von Lese- und Schreibkompetenzen nicht aus dem Blick zu verlieren (Swenson 2016, S. 263; Holbrook et al. 2017a, S. 418). Speziell die dual Schriftnutzenden sind in diesem Prozess auf Unterstützung angewiesen, weil sie sich mehrheitlich noch im Erwerbsprozess der Brailleschrift befinden. Eine angemessene Nutzung zeichnet sich wiederum durch den gelegentlichen ergänzenden Gebrauch der Sprachausgabe (McNear und Farrenkopf 2014, S. 192) ebenso wie durch eine kombinierte Nutzung zusammen mit Braillezeile oder Vergrößerungssoftware aus (Hofer et al. 2016, S. 113). Einen Sonderfall stellen Schülerinnen und Schüler dar, die aufgrund einer plötzlichen Sehverschlechterung vorübergehend nur der auditive Zugang bleibt. Solange diese noch keine funktionalen Braillekenntnisse aufgebaut haben, sind sie auf auditive Technologien angewiesen, um dem Unterricht zu folgen (Holbrook et al. 2017a, S. 418). Nichtsdestotrotz brauchen gerade diese Schülerinnen und Schüler eine intensive und langfristige Brailleförderung (Corn und Koenig 2002, S. 317).

Zu guter Letzt soll noch auf die Limitierung und Stärken der Kompetenzerhebung hingewiesen werden.

4.5 Limitierungen und Stärken

Die Teilnahme an der Studie erfolgte grundsätzlich auf freiwilliger Basis und Empfehlung durch Lehrpersonen, was die Stichprobenzusammensetzung beeinflusste. Darüber hinaus verteilten sich die Teilnehmenden in der Kompetenzerhebung nicht gleichmäßig auf alle Alters- und Klassenstufen. Zudem waren Schülerinnen und Schüler an allgemeinen Schulen (Inklusion) im Vergleich zur KMK-Statistik in der Stichprobe unterrepräsentiert. Einschränkend muss auch hervorgehoben werden, dass es hinsichtlich der Erhebungsinstrumente Unterschiede in den Gütekriterien gab. In Ermangelung einer Normierung konnten beispielsweise die Ergebnisse aus dem Abschnitt zum Lese- und Hörverstehen nicht mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern ohne Sehbeeinträchtigung verglichen werden.

Die Stärken der Kompetenzerhebung liegen hingegen in der für die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik großen Stichprobe. Dazu wurde ein sehr breites Spektrum an schriftsprachlichen Kompetenzen, ebenso wie zusätzliche Informationen zur Lernreihenfolge, Brailleschriftsystemen, Lese- und Schreibhäufigkeiten, Hilfsmittelausstattung und Nutzung auditiver Technologien, erhoben. Die Studie liefert damit aktuelle Daten zur Brailleschrift- und Hilfsmittelnutzung von unterschiedlichen Gruppen (z. B. nur Braille Lesende, dual Lesende und Personen mit zusätzlichem Förderbedarf) an unterschiedlichem Förderorten (in Förderzentren oder an allgemeinen Schulen) und schließt somit gleich mehrere Forschungslücken.

Anknüpfend an die Empfehlungen sollen im zweiten Untersuchungsteil in mehreren Fallstudien die hier vorgestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen weiter vertieft werden. Dazu soll nach Erklärungen für das Abschneiden der dual Schriftnutzenden im Bereich Leseflüssigkeit gesucht werden.