In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Gesellschaft immer mehr diversifiziert – entlang und jenseits von Zugehörigkeitskonstruktionen nach Geschlecht, sozialer Schicht, Milieu, Generation, Nationalität, Religion etc. leben Menschen mit ganz verschiedenen Lebensentwürfen, Biografien, Werten und Normen neben- und miteinander. Ein sozialräumliches Setting, das sich durch eine breite Diversität der Wohnbevölkerung auszeichnet, sind Großwohnbauten aus den Bauboomjahren. Von außen oft marginalisiert, zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich in diesem Baubestand im Laufe der Jahre sehr heterogene Nachbarschaften herausgebildet haben, die auch Ausdruck vielseitiger Migrationsbewegungen und sozialer Ungleichheiten sind.

Empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bilden vertiefte Fallstudien zweier Hochhausüberbauungen (Großwohnsiedlungen) in der Schweiz: der Mittleren Telli (oder kurz Telli), eine der größten Schweizer Wohnsiedlungen, die in der Art der grands ensembles mit einer vielseitigen Quartierinfrastruktur gebaut worden ist – und Unteraffoltern II, zwei städtischen Wohnhochhäusern am Stadtrand von Zürich, deren Architektur sich an Le Corbusiers Idee einer „Wohnmaschine“ (Unité d’habitation) ausrichtet (Sbriglio, 2004; Stadt Zürich, 2005). Beide wurden mit dem Forschungszugang einer „Hausbiografie“ (Althaus und Glaser, 2013; Althaus, 2018, S. 77 ff.) untersucht, wofür verschiedene Forschungsstrategien miteinander kombiniert wurden: Literatur- und Archivrecherchen, qualitative (Gruppen-)Interviews, commented walks und teilnehmende Beobachtungen vor Ort, Foto-Dokumentationen sowie die Analyse von soziodemografischen Statistiken wie auch von Plan- und Kartenmaterial.

Das Interviewsample umfasst semistrukturierte qualitative Interviews mit 24 Bewohner*innen vielseitiger soziodemografischer Merkmale (Alter, Geschlecht, Haushaltsform, Einkommen, Herkunft etc.) sowie sechs Fokusgruppen mit verschiedenen Quartierakteur*innen, Bewirtschafter*innen, Hauswart*innen sowie Eigentümer*innen der Liegenschaften. Während teilnehmender Beobachtungen an Veranstaltungen und regelmäßigen Ortsbegehungen habe ich außerdem zahlreiche Kurzinterviews und Gespräche mit Menschen, denen ich begegnet bin, geführt und dokumentiert. Um historisches Quellenmaterial erfassen zu können, erfolgten vertiefte Recherchen in bauhistorischen Archiven sowie in drei nicht professionell aufbereiteten Archiven von Liegenschaftsverwaltungen. Die Forschungs- und Auswertungsstrategien orientierten sich an der Grounded Theory. Entsprechend flossen im Forschungsprozess Daten- und Auswertungsphasen ineinander hinein (vgl. ausführlicher Althaus, 2018, S. 17 ff., 24 ff.). Die Interviewanalyse erfolgte in einem mehrstufigen Prozess – vom offenen Codieren über das axiale/theoretische bis zum selektiven Codieren (vgl. etwa Glaser & Strauss, 1967; Strauss & Corbin, 1996). Die Aufbereitung und Auswertung des Archivmaterials wurde nach einem eigens entwickelten Forschungsraster vorgenommen und systematisiert. Für die Beobachtungen vor Ort wurden Beobachtungsprotokolle verfasst und in Beobachtungsrastern strukturiert (vgl. Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2009, S. 63 f.).

Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie die Marginalisierung von Großwohnsiedlungen aus den Bauboom-Jahren in der Schweiz entstanden ist und sich verfestigt hat – und wie sich dies in sozialräumlichen Segregationsprozessen, aber auch in Bestrebungen um „Durchmischung“ der Wohnbevölkerung manifestiert. Eine zentrale Rolle für die Marginalisierung spielt der Bezug auf den hohen „Ausländeranteil“ in diesen Settings. Der Beitrag plädiert vor diesem Hintergrund dafür, eine postmigrantische Perspektive einzunehmen, um die vielseitigen Migrationserfahrungen (an-)zuerkennen und um zu verstehen, wie Differenzen vor Ort (re-)produziert, aber auch hinterfragt werden. So zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass Marginalisierung und reduzierende Zuschreibungen in den Überbauungen und Quartieren nicht ohne Widerspruch bleiben und dass verschiedene Akteur*innen sich dafür einsetzen, Differenzen zu überwinden und zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache zu vermitteln. Zur Entmarginalisierung von Großwohnsiedlungen ist es grundlegend wichtig – wie der Beitrag abschließend feststellt –, solche Innenperspektiven ernst zu nehmen, wobei wir hierzu in unseren eigenen Fachdiskursen beginnen und unsere persönlichen Vorurteile und Stereotypen hinterfragen müssen. Eine postmigrantische Perspektive kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, da sie uns einlädt, bestehende Machtverhältnisse und Diskurse über ‚Fremde‘ und ‚Minderheiten‘ kritisch zu hinterfragen (vgl. Bojadžijev & Römhild, 2014, S. 16) und Migrationserfahrungen, Diversität, Hybridisierung und Ambivalenz als konstitutive Bestandteile unserer Gesellschaft anzuerkennen (vgl. Yildiz & Hill, 2015; Yildiz, 2018, S. 43 ff.).

1 Entstehungskontext und historisch gewachsene Marginalisierung

Um die Marginalisierung von Großwohnbauten aus der Bauboom-Zeit besser zu verstehen, lohnt sich eine Betrachtung von deren Geschichte und Wahrnehmung im Laufe der Zeit. In der Nachkriegszeit hat sich die Siedlungslandschaft in vielen europäischen Ländern grundlegend verändert. Die Schweiz war von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zwar nicht direkt betroffen, es mangelte dennoch dringend an Wohnraum. Der Wohnungsbau stagnierte unter den Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise bereits seit den 1930er Jahren, kam während des Zweiten Weltkriegs fast ganz zum Erliegen und war auch in den späten 1940er Jahren durch hohe Material- und Baukosten erschwert (Steiner, 1958, S. 304 f.). Die Wohnungsknappheit vielerorts verschärfte sich durch soziodemografische Prozesse: Die Bevölkerung in der Schweiz wuchs um mehr als ein Viertel – von 4,7 Mio. Einwohner*innen im Jahr 1950 zu 6,2 Mio. im Jahr 1970 (BfS, 2019, S. 1). Durch das beständige Wirtschaftswachstum wanderten viele Menschen insbesondere aus süd(ost)europäischen Ländern in die Schweiz ein – und trugen mit ihrer Arbeit maßgeblich zur Schaffung der neuen Siedlungslandschaft und Infrastruktur bei. Zugleich zogen immer mehr Menschen aus ländlichen Regionen in stadtnahe Gegenden, wo es mehr Arbeitsmöglichkeiten im Industrie- und im stark wachsenden Dienstleistungssektor gab. Einhergehend mit diesem Strukturwandel veränderten sich auch die Haushaltsstrukturen: Die im ländlichen Raum noch verbreiteten Großhaushalte machten zunehmend dem Ideal der Kleinfamilie Platz. Mit der stabilen Hochkonjunktur der Nachkriegsjahrzehnte nahm auch der generelle Wohlstand in der Schweiz erheblich zu: Wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen wurden ausgebaut und die Reallöhne der Arbeitnehmer*innen stiegen zwischen 1945 und 1974 um 230 % (Müller & Woitek, 2012, S. 99).

Die Großüberbauungen und Wohnhochhäuser, die damals an den Stadträndern und in den städtischen Ballungsgebieten gebaut worden sind, waren eine Antwort auf diesen sozioökonomischen Wandel. Die Siedlungen schufen in kurzer Zeit viel Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten. Die Wohnungen zeichneten sich durch eine hohe technische Ausstattung und einen modernen Wohnstandard aus. Eine Zentralheizung, Waschmaschine, einen Lift, ja auch ein Bad oder eine Dusche in der Wohnung waren in bestehenden Altbauten damals noch lange keine Selbstverständlichkeit. Die Bauboom-Überbauungen wurden entsprechend als Inbegriff des modernen Wohnens und insbesondere als zukunftsweisender Wohnraum für die ‚moderne Kleinfamilie‘ beworben und nachgefragt (vgl. Furter & Schoeck-Ritschard, 2013).Footnote 1

Im Laufe der Jahre setzten allerdings vielseitige Abwertungsprozesse dieses Baubestands ein. Die Ölkrise stellte diesbezüglich einen dramatischen Einschnitt dar. Zwischen 1973 und 1976 wurden in der Schweiz 8 % aller Arbeitsplätze abgebaut, die Wirtschaft und der Bau- und Immobilienmarkt brachen ein, die Bevölkerung stieg nicht mehr so stark wie prognostiziert, viele Einwanderer*innen wurden in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt (Hitz et al., 1995, S. 52). Der Großwohnungsbau kam dabei – gewissermaßen als Sinnbild für die gescheiterte Radikalität des Wachstumsglaubens seiner Entstehungszeit – ins Kreuzfeuer der Kritik. In öffentlichen und fachlichen Diskursen wurden die Bauten zunehmend als ‚grau‘, ‚trist‘ und ‚monoton‘, ja als Symbol der Verbauung oder ‚Verschandelung‘ der Landschaft dargelegt und Negativauswirkungen der baulichen ‚Vermassung‘ auf die darin lebenden Menschen vermutet. Die Folge war eine breite Ablehnung des Großwohnungsbaus, die bis heute nachwirkt und sich in vielen öffentlichen, fachlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu diesem Baubestand ablesen lässt (vgl. Schnell, 2013).

2 ‚Othering‘ und Segregationsprozesse

Für das Negativimage von Großwohnbauten der Bauboom-Jahre spielt neben dieser Geschichte der Abwertung auch die Größendimension, die gebaute Form und das Erscheinungsbild im weiteren stadträumlichen Umfeld eine wesentliche Rolle. In kleinräumlichen Siedlungsstrukturen fallen Großwohnbauten und Hochhausstrukturen auf. Sie sind massive Erscheinungen und unterscheiden sich von verbreiteten Normvorstellungen von Wohnhäusern. Insbesondere wenn sie an eher peripheren Lagen situiert sind, werden sie häufig zum Gegenstand von Othering, d. h. von Differenzierungsmechanismen, die mit Negativzuschreibungen einhergehen und bestimmte Menschengruppen oder Orte als Andere kategorisieren. Für die zwei untersuchten Hochhaussiedlungen kursieren im Außenbild etwa Bezeichnungen wie ‚Betonkaserne‘ oder ‚Staumauer‘, die das Bauliche diskreditieren. Geläufig sind aber auch Bezeichnungen wie ‚Ghetto‘ oder – politisch korrekter – ‚sozialer Brennpunkt‘, die die Bewohner*innen stigmatisieren. Vielfach erfolgen solche Zuschreibungen, ohne die Lebenswirklichkeiten vor Ort näher zu kennen.

Die Marginalisierung vieler Bauboom-Siedlungen wurde im Laufe der Zeit durch sozialräumliche Entwicklungen verstärkt. In den oftmals in wenigen Monaten erstellten Überbauungen zeigten sich relativ bald erste bauliche Mängel. Mit der zunehmenden Attraktivität der Innenstädte und damit einhergehenden Gentrifizierungsprozessen verschärfte sich die Situation ab den 1990er Jahren zusätzlich. Großsiedlungen und Wohnhochhäuser am Stadtrand und in der Agglomeration bildeten dabei oftmals die andere Seite der Verdrängung. So lässt sich bei beiden untersuchten Überbauungen im Laufe der Jahre eine gewisse Konzentration von auf dem Wohnungsmarkt benachteiligten Bevölkerungsgruppen, insbesondere ein etwas höherer Ausländeranteil, beobachten.Footnote 2 Die Problematisierungen von Menschen, die in Großwohnbauten leben, fokussieren in der Außenperspektive denn oft auch auf deren Herkunft. So ist vielfach die Rede von ‚Ausländersiedlungen‘ bzw. von Orten, in denen fast nur ‚Ausländer*innen‘ leben würden. Soziodemografische Statistiken zeigen, dass dies so nicht stimmt und die Wohnbevölkerung beider Überbauungen auch sehr heterogen ist hinsichtlich Altersgruppen, Haushaltsformen, Nationalitäten, beruflichen Hintergründen und Einkommen (vgl. genauer Althaus, 2018, S. 161 ff., 226 ff.). Dies hängt mit dem Wohnungsmix und zum Teil mit der Eigentümerstruktur zusammen – wie auch mit Vermietungsstrategien und Bemühungen der Verwaltungen und Behörden um ‚Durchmischung‘ der Mieterschaft.Footnote 3

3 Bestrebungen um Durchmischung

Die Förderung einer ‚guten Durchmischung‘ als Antwort auf bestehende Segregationsprozesse ist breit akzeptiert: Aus Sicht kommunaler Sozialpolitik und Stadtentwicklung gilt es, eine allzu große räumliche Konzentration von Menschen mit Benachteiligungen zu vermeiden, um soziale Probleme in einem überschaubaren Rahmen zu halten respektive ‚kontrollieren‘ zu können. Aus Perspektive der Liegenschaftsverwaltungen ist eine ‚gute Durchmischung‘ zentral, um Schwierigkeiten bei der Wohnungsvermietung und Mieterbetreuung möglichst gering zu halten. Dies führt dazu, dass die Förderung von ‚Durchmischung‘ in Politik und Wohnungswirtschaft oft als unbestrittener Lösungsansatz für das gute Funktionieren und Zusammenleben in einem Quartier oder einer Siedlung gilt, getragen von der Annahme, dass damit positive Effekte auf Benachteiligte einhergingen. Die Implikationen dieser Norm werden jedoch selten hinterfragt und oft bleibt unklar, was denn genau ‚gemischt‘ werden soll (vgl. Zychlinski et al., 2015, S. 3). In der sozialwissenschaftlichen Segregationsforschung finden sich entsprechend verschiedene Stimmen, die das hinter diesem Konzept liegende normative Verständnis kritisch hinterfragen und den Blick vielmehr auf strukturelle soziale Ungleichheiten und sozialräumliche Mechanismen der Exklusion und Ausgrenzung richten (vgl. etwa Harlander, 2012, S. 310 f.; Häußermann, 1998, S. 159; Kronauer, 2010, S. 71). Sie beziehen sich dabei auch auf die Erkenntnis, dass räumliche Nähe nicht automatisch zu sozialer Nähe führt (Bourdieu, 1997, S. 165). Bestrebungen, die Mischungsziele mit der Förderung von mehr Gemeinsinn verknüpfen, haben in heterogenen Wohnsiedlungen denn oft auch einen schweren Stand.

Interviewanalysen zeigen, dass Verwalter*innen und Eigentümer*innen ihre Bemühungen um ‚Durchmischung‘ in den untersuchten Überbauungen meist einseitig im Hinblick auf den Ausländeranteil thematisieren und damit implizite Wertungen verbinden. So wird mit einer ‚guten Durchmischung‘ in der administrativen Logik in der Regel auf ein Haus verwiesen, in dem nicht zu viele ‚Ausländer*innen‘ wohnen. Menschen mit nichtschweizerischer Herkunft werden damit einhergehend als potenzielles Problem definiert, während Schweizer*innen implizit als ‚unproblematisch‘ gelten und deren Beimischung der Entwicklung eines ‚Ghettos‘ entgegenwirken sollen. Die Vielseitigkeit (post-)migrantischer Erfahrungen und deren Verwobenheit als integraler Teil der Gesellschaft wird dabei verkannt. Auch bleiben soziale Ungleichheiten aufgrund von Einkommen, Bildung, sozialer Schicht/Milieu etc. ausgeblendet. Dies lässt sich mit dem Einfluss einwanderungsfeindlicher populistischer Politiken in der Schweiz erklären, die sich auf Migrant*innen konzentriert, diese problematisiert und zur Zielscheibe politischer Instrumentalisierungen macht (vgl. Maiolino, 2020; Schär, 2018a; Skenderovic & D’Amato, 2008), aber auch mit der in der Schweiz verbreiteten Tabuisierung und Stigmatisierung von Armut und prekären Lebenslagen (vgl. Bray et al., 2019; Hümbelin, 2016, 2018; Schär, 2018b; Däpp, 2011).

4 Vielseitige Migrationserfahrungen vor Ort

In der Wohnbevölkerung beider Überbauungen lässt sich eine breite Vielfalt an Herkunftsländern ausmachen.Footnote 4 Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft hat sich seit dem Erstbezug verändert. Der Zuzug neuer Herkunftsgruppen spiegelt dabei gewissermaßen auch die Einwanderungsgeschichte der letzten 50 Jahre wider und ist Resultat der Schweizer Migrationspolitik und weltpolitischer Ereignisse. In den 1960er und 1970er Jahren kamen die meisten Einwandernden aus südeuropäischen Ländern, insbesondere aus Italien, Spanien und Portugal, und zogen in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs zum Arbeiten in die Schweiz. In Folge der postjugoslawischen Kriege hat sich in den 1990er Jahren der Anteil an Bewohner*innen aus südosteuropäischen Ländern (Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Serbien und Montenegro) in beiden Überbauungen stark erhöht. Zunehmend zogen ab Mitte der 1990er Jahre Menschen aus der Türkei und Sri Lanka sowie aus verschiedensten anderen außereuropäischen Ländern hinzu. Die Bewohner*innen heute kommen von allen Kontinenten. Die Wohnbevölkerung diversifizierte sich dadurch stark aus und es bildeten sich etablierte und neuere Einwanderergenerationen hinaus.Footnote 5

Die Rede von den vielen ‚Ausländer*innen‘ oder ‚Migrant*innen‘ in den Bauboom-Überbauungen erfolgt in öffentlich-politischen und alltäglichen Diskursen meist problemorientiert und geht mit vereinfachenden Zuschreibungen einher, die den vielseitigen Migrationserfahrungen nicht gerecht werden. Menschen, die heute aus süd(ost)europäischen Ländern in die Schweiz einwandern, machen zum Beispiel ganz andere Erfahrungen als vor dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren. Die Vielzahl an binationalen Paaren zeigt außerdem, dass die Vorstellung von ‚Ausländer*innen‘ oder ‚Migrant*innen‘ als in sich geschlossenen Gruppen in den Quartieren nicht zutrifft und die Verbindungen von Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern bis in die familiären Strukturen gemischt sind. Nicht selten werden auch ‚Secondos*as‘ aus der zweiten Einwanderergeneration noch pauschalisierend mit diesem Etikett versehen – womit Ausgrenzungsmechanismen einhergehen, die ihnen nicht zugestehen, voll und ganz dazuzugehören.

Migration ist ein komplexes System, aus dem vielseitige transnationale Netzwerke und zunehmend auch multilokale Lebensformen hervorgehen. Im Nachbarschaftskontext von Großwohnbauten macht sich Multilokalität etwa durch regelmäßige wochen- oder monatsweise Abwesenheiten bemerkbar, in denen im Herkunftsland oder andernorts Familien besucht, Ferien gemacht, Teilzeit gearbeitet und/oder zeitweise eigene Häuser oder Wohnungen bewohnt und unterhalten werden. Eine Hochhausbewohnerin meint im Interview etwa: „Ich war soeben zwei Monate in Italien und das war schön, weil ich habe mein Haus dort, aber was mir fehlt, ist der Kontakt mit Menschen, den ich hier habe (…) meine Nachbarin ist jetzt drei Monate hier, dann vier Monate in Bosnien, dann kommt sie wieder zurück (…) aber ich schaue zu ihrer Wohnung, gehe die Post holen oder so, das habe ich schon für einige gemacht.“ Diese Aussage verweist darauf, dass aktive Nachbarschaftskontakte auch bei sehr ausgeprägter Multilokalität gepflegt werden (Menzl et al., 2011, S. 64) – und dass in der multilokalen Situation des Hier und Dort unterstützende und zuverlässige Personen in der Nachbarschaft wertvoll sind, die sich während der eigenen Abwesenheit darum kümmern, dass in der eigenen Wohnung alles in Ordnung bleibt.

5 Postmigrantische Nachbarschaften

Diese verschiedenen Beobachtungen machen deutlich: Um sich von reduzierenden Zuschreibungen zu lösen, ist eine differenzierte Perspektive erforderlich, die vielseitige Migrations- und Mobilitätserfahrungen und die damit einhergehenden Inklusions- und Exklusionsprozesse, aber auch die hybriden und sich verändernden Zugehörigkeiten von Menschen in den Fokus nimmt. Mit einem solchen Perspektivwechsel lassen sich Nachbarschaften in Großwohnbauten auch als Ausdruck unserer postmigrantischen Gesellschaft betrachten.

Der Begriff des Postmigrantischen, wie er in der jüngeren Migrationsforschung verwendet wird, plädiert für einen neuen Zugang in der Betrachtung von Migration als gesamtgesellschaftlicher Realität. Von Shermin Langhoffs „postmigrantischem Theater“ in Berlin als „subversiver und antirassistischer Begriff der Neuaushandlung von kategorialen Zuschreibungen“ etabliert (Foroutan, 2018, S. 16), geht es in erster Linie um eine Positionierung, die bestehende Machtverhältnisse und Diskurse über ‚Fremde‘ und ‚Minderheiten‘ kritisch hinterfragt (vgl. Bojadžijev & Römhild, 2014, S. 16), Migrationserfahrungen normalisiert und Diversität, Hybridisierung und Ambivalenz als konstitutive gesellschaftliche Realität anerkennt (vgl. Yildiz & Hill, 2015; Yildiz, 2018, S. 43 ff.). Der Begriff verweist demnach nicht einfach auf die Phase und individuelle Erfahrungen nach der Migration, sondern auch auf gesamtgesellschaftliche Aushandlungsprozesse um Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe in heterogenen Gesellschaften (Foroutan, 2019, S. 216). Doch wie funktionieren solche Aushandlungsprozesse im Kontext von postmigrantischen Nachbarschaften? Wie wird mit Diversität umgegangen?

6 Wahrnehmung und Produktion von Differenzen

In Interviews mit Menschen, die in den untersuchten Überbauungen wohnen und arbeiten, wird deutlich, dass die Narrative zur Diversität im Nachbarschaftskontext mit ganz unterschiedlichen Wertungen einhergehen. Einige heben insbesondere die Vorteile einer ‚multikulturellen‘ Nachbarschaft hervor, andere äußern eher ihr Befremden gegenüber ‚den Anderen‘ von nebenan.

Narrative der Bewohner*innen, die die Internationalität bzw. das ‚Multikulturelle‘ als etwas Besonderes ihrer Überbauung darlegen, berichten vom Potenzial, in alltäglichen Begegnungen kulturelle Vielfalt erfahren zu können: „Was ich sehr schön finde, sind die unterschiedlichen Kulturen hier“, meint etwa eine Frau, die mit ihrer Familie in der Telli wohnt und berichtet: „Als unsere Tochter noch kleiner war, habe ich manchmal sudanesische Spezialitäten auf dem Spielplatz serviert bekommen. Also ich muss (…) keine Weltreise machen, um etwas von anderen Kulturen mitzubekommen.“ Die Präsenz verschiedener Kulturen erscheint in diesem Narrativ als Bereicherung, wird aber zugleich auf bestimmte, oft auch stereotype Merkmale wie folkloristische oder touristische Vorstellungsbilder reduziert. Die große weite Welt ist so nicht nur auf Reisen erfahrbar, sondern liegt direkt vor der eigenen Haustür. Der unmittelbare Austausch wird nicht unbedingt gesucht. Für die positive Einschätzung genügt allein das Wissen, in einem ‚multikulturellen‘ Umfeld zu wohnen. Der oder die ‚Andere‘ wird dabei zum Teil auch romantisiert oder verklärt. Zugleich schwingt in diesem Narrativ eine tolerante Grundhaltung mit, die ein wohlwollendes Nebeneinander unter Nachbarn ermöglicht, ohne einander zu nahe treten zu wollen. Wie aus der Nachbarschaftsforschung bekannt, kann dies durchaus auch gute Nachbarschaftskontakte fördern. Ist doch „beim alltäglichen Nachbarschaften-Machen“ (Reutlinger et al., 2015, S. 245) als „soziale Organisation von Nähe“ (Hengartner, 1999, S. 287), die Distanznorm, die wohl „wichtigste Norm gutnachbarlichen Verhaltens“ (Siebel, 1997, S. 51). Oder mit den Worten des Kulturanthropologen Heinz Schilling anders formuliert: „Die Idealnachbarschaft besteht in unserer Gesellschaft offenbar aus Menschen, die füreinander da sind, wenn es die Situation erfordert, sich aber ansonsten in Ruhe lassen“ (Schilling, 1997, S. 10).

Verbreitet sind aber auch Narrative, die aufgrund von wahrgenommenen kulturellen Differenzen deutlichere Distanzierungen zu Nachbar*innen vornehmen. Eine ältere Interviewpartnerin, die seit vielen Jahren in Unteraffoltern II lebt, meint zum Beispiel: „Es gibt halt schon Unterschiede, einfach auch von den Nationen und von den Sprachen (…) und der anderen Mentalität her. Das wäre für mich schon ein großer Schritt, Kontakt aufzunehmen … auch vom Glauben her denke ich, also Moslems und ich als Frau, ich weiss nicht so ganz.“ Nicht dieselbe Sprache zu sprechen und sich möglicherweise auf andere Wert- und Referenzsysteme zu beziehen, erschwert die Nähe unter Nachbar*innen. Deutlich wird in dieser Aussage aber auch eine Ungewissheit. Durch den Fokus auf kulturelle Differenzen scheinen zwar Vorbehalte gegenüber dem ‚Fremden‘ nebenan hervor, auf was sich diese Unterschiede aber genau beziehen, bleibt vage. Angesprochen wird vielmehr ein diffuses Gefühl des Befremdet-Seins, das sich nicht genau benennen lässt. Gerade Muslime und insbesondere kopftuchtragende muslimische Frauen werden in verschiedenen Interviews als Beispiel dieses ‚sichtbar Anderen‘ dargelegt. Die Wahrnehmung solcher Differenzen fördert distanzierte Nachbarschaftskontakte. Die Distanzierungsmechanismen können dabei unterschiedliche Formen annehmen, von einem wohlwollenden sich zur Kenntnis nehmen und Sein-Lassen bis zu offener Fremdenfeindlichkeit. Wenn Nachbarschaftsbeziehungen von Misstrauen und Ablehnung geprägt sind, kann dies Konflikte schüren.

Ob kulturelle Diversität nun als Bereicherung dargelegt oder mit Befremden thematisiert wird, beide Narrative ähneln sich darin, dass sie auf Unterschiede fokussieren – und diese damit auch (re-)produzieren. Differenzen werden in der Regel kulturell konnotiert, wobei meist implizit auf ein essenzialistisches Verständnis von Kultur zurückgegriffen wird. Im essenzialistischen Sinn wird eine ‚andere Kultur‘ als ein ‚natürliches‘, geschlossenes und von anderen unterscheidbares, homogenes Ganzes imaginiert und oft mit nationalen bzw. ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten gleichgesetzt (vgl. Caglar, 1997, S. 175). Die Rede ist dann beispielsweise von der anderen Kultur von Türken, Schweizern, Albanern, Muslimen etc. Im Nachbarschaftskontext werden einzelne wahrnehmbare Aspekte herausgegriffen und in stereotyper Weise als ‚andere Kultur‘ vermittelt. Der heterogene, veränderbare und fluide Charakter von menschlichen Identitäten, Praktiken und sozialen Verbindungen hingegen bleibt ausgeblendet (Glick Schiller & Caglar, 2011, S. 65).

Die Produktion von Differenzen dient immer auch der Abgrenzung und damit einhergehend der Vergewisserung des eigenen Selbstverständnisses einer Wir-Gruppe. Angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisen- und Unsicherheitserfahrungen gewinnt der Bezug auf gruppenbezogene Selbst- und Fremdbilder und Differenzen an Bedeutung (vgl. Bauman, 2001, S. 145–160). Diese werden in postmigrantischen Nachbarschaften allerdings nicht nur (re-)produziert, sondern auch hinterfragt.

7 Widerspruch gegen reduzierende Zuschreibungen

Gerade Betroffene, die sich in den essenzialisierenden Zuschreibungen nicht wiedererkennen, widersprechen diesen teils vehement. Entweder heben sie dabei das Vielfältige und Ambivalente innerhalb einer so bezeichneten Gruppierung hervor oder sie betonen universale Gemeinsamkeiten.

Beide Argumentationsstrategien machen deutlich, dass es bei der Betrachtung von Nachbarschaften in Großwohnbauten wichtig ist, nicht voreilig vereinfachende Bilder von homogenen Gemeinschaften von Migranten*innen aufzugreifen, sondern die vielschichtigen und biografisch unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu berücksichtigen. Diese Erfahrungen werden von vielen Faktoren beeinflusst, wobei die Bildung (und Anerkennung eines Bildungsabschlusses im Einwanderungsland), städtische oder ländliche Herkunft, Sprachkenntnisse, Aufenthaltsstatus, berufliche Tätigkeit, Einkommen und soziale Schicht, Geschlecht, Phänotyp, Hautfarbe, Alter, Lebensphase und familiäre Situation wichtige Dimensionen darstellen.

Die erste Argumentationsstrategie wird gerade von Bewohner*innen angewandt, die sich in ihrem Selbstverständnis von anderen desselben Herkunftslandes distanzieren und etwa betonen, dass sie andere Werte, Lebensstile oder politische Vorstellungen als viele ihrer ‚Landsleute‘ haben – oder dass sie sich seit ihrer Einwanderung verändert und von Vielem emanzipiert haben. Sie würden es zwar schätzen, mit Nachbarn in ihrer Muttersprache sprechen zu können, oder diese gelegentlich treffen, seien aber auch froh, wenn sie im guten nachbarschaftlichen Mit- und Nebeneinander eine gewisse Distanz zu ihnen wahren könnten.

Die zweite Argumentationsstrategie fokussiert auf das Verbindende. „Viele sagen ja, hier hat es viele Ausländer, aber ich habe keine Probleme deswegen, (…) ich bin selber Ausländer und für mich sind alle Leute gleich. Überall gibt es gute Menschen und schlechte Menschen.“ Im Widerspruch gegen die Problematisierungen der „vielen Ausländer“ in der Überbauung greift diese Bewohneraussage aus Unteraffoltern II auf ein humanistisch-universalistisches Weltbild zurück. Wir sind als Menschen letztlich „alle gleich“ und so miteinander verbunden. Eine Person aus der Telli betont: „Ich habe mich daran gewöhnt, dass es hier ganz viele verschiedene Nationalitäten gibt, und sehe nicht mehr, wer was ist. Ich sehe einfach, wie jemand charaktermässig ist. Und wenn es passt, dann passt es. Und wenn nicht, dann eben nicht.“ Viel wichtiger als Zugehörigkeitskonstruktionen sind die Persönlichkeit und Sympathie. Dies entspricht einer Haltung, gemäß der Unterscheidungen nach Gruppenzuschreibungen in den Hintergrund rücken und die Bereitschaft, sich auf die Gemeinsamkeiten, aber auch auf individuelle Eigenarten einer Person einzulassen, wichtiger wird.

8 Vermitteln und Differenzen überwinden

In den untersuchten Überbauungen pflegen viele gerade langjährige Bewohner*innen Nachbarschaftskontakte, bei denen die Herkunft kaum mehr eine Rolle spielt. Eine besondere Bedeutung für den Austausch und die Verständigung kommt dabei der Sprache zu. Fehlende Sprachkenntnisse bzw. keine gemeinsame Sprache erschweren die Kommunikation unter Nachbar*innen und führen zu distanzierten Nachbarschaftsverhältnissen. Und es ist schwierig, vertiefter in Kontakt miteinander zu kommen. Im Wohnalltag sind vielfach aber auch pragmatische Verständigungsstrategien beobachtbar, in denen man sich auf die unterschiedlichen, teils auch mangelnden Sprachkenntnisse anderer einstellt und nach Möglichkeit mit kleinen Übersetzungsdiensten entgegenkommt. Kinder und Jugendliche der zweiten Generation spielen dabei oft eine wichtige Rolle, indem sie Übersetzungsaufgaben übernehmen – was nicht nur unproblematisch ist, wenn sie in Konflikten moderieren sollen, in denen sie selbst involviert sind. Das Wechseln-Können von einer Sprache zur anderen setzt nicht nur vielseitige linguistische Kenntnisse voraus und ermöglicht es, sich in verschiedenen Sprachwelten zu bewegen, sondern kann auch das Verständnis gegenüber Fremdsprachigen im eigenen Wohnumfeld erleichtern. Menschen mit Migrationserfahrung in Quartiervereinen oder anderen lokalen Aktionsgruppen sowie binationale Familien übernehmen oft auch solche Übersetzungs- und Vermittlungsarbeiten im Umgang mit sprachlichen oder kulturellen Differenzen – bzw. Imaginationen von ‚anderen Kulturen‘ –, verbinden sie doch in ihrem direkten Wohnumfeld häufig Menschen unterschiedlicher Herkunft miteinander und können so im Kleinen auch dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis zu fördern.

Gesten und Kommunikationsstrategien, die auf das Verbindende fokussieren und bei Differenzen oder sprachlichem Unverständnis vermitteln, stärken dabei auch die soziale Kohäsion einer Nachbarschaft – selbst wenn oder gerade weil diese stigmatisiert wird.

9 Innenperspektiven ernst nehmen

Die Geschichte der untersuchten Überbauungen verdeutlicht, dass im Laufe der Jahre Krisensituationen und Stigmatisierungen nachbarschaftliche Bezüge schwächen, aber – gewissermaßen als Gegenreaktion – auch stärker zusammenschweißen und resilienter machen können. So unterscheiden sich die Darlegungen zum Wohnen in Großwohnbauten von Bewohner*innen in der Regel grundlegend von den mehrheitlich negativen Außenbildern. Diese Diskrepanz zwischen Innen- und Außensicht ist für viele Groß- und Hochhaussiedlungen aus den Bauboomjahren dokumentiert (vgl. etwa Bäschlin, 2004; Bielka & Beck, 2012; Gaberell, 2007; Glaser, 2013; Harnack, 2017; IBA-Symposium, 2012). Bewohner*innen berichten in Interviews des Öfteren, dass sie vor ihrem Einzug selbst Bedenken oder negative Einstellungen gegenüber Großwohnbauten hatten, diese aber schnell revidiert hätten und heute gern da wohnen würden. Solche positiven Gegendarstellungen – als Momente der Infragestellung und des Widerstands gegenüber bestehenden Negativzuschreibungen – stärken dabei auch die Identifikation mit dem Ort und die nachbarschaftlichen Bezüge im Innern der Überbauungen.

Die teils auffallend positiven Darlegungen und Gegenbilder können bis zu einem gewissen Grad als Strategie im Umgang mit den verbreiteten Problematisierungen verstanden werden: Um der Stigmatisierung des eigenen Wohnorts etwas entgegenzuhalten, werden die guten Seiten beleuchtet. Dieser Erklärungsansatz allein greift aber zu kurz, begründen Bewohner*innen ihre Einschätzungen doch mit vielseitigen Wohn- und Lebensqualitäten, die sie hier erfahren. Dazu gehören etwa über Jahre gewachsene gute Nachbarschaftskontakte und ein abwechslungsreiches – durch Gemeinwesenarbeit gestütztes – Quartierleben, weitläufige und verkehrsfreie Außenräume, eine vielseitige Nahversorgung, aber auch verschiedene gemeinschaftliche Einrichtungen und Begegnungsmöglichkeiten auf dem Siedlungsareal – wie Spiel- und Fußballplätze, Mehrzweckräume, Sitzbänke, Tische, Grillplätze, Siedlungsgärten etc. Von Relevanz sind aber auch die günstigen Mieten in diesem Baubestand sowie Unterhaltsarbeiten und vollamtliche Hauswart*innen, die sich um Häuser und kollektive Siedlungsräume – und im Idealfall auch um die Anliegen der Bewohner*innen – kümmern.

Wenn diese Qualitäten – vor allem in Kombination – nicht gegeben sind, können umgekehrt Krisen und unfreiwillige Segregationsdynamiken in Gang gesetzt werden, die die Stigmatisierung der Orte verstärken. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Großwohnbauten städtebaulich ausgegrenzt werden (z. B. hinter einer Schnellstraße liegen), wenn es keinen Anschluss an den öffentlichen Verkehr gibt oder die Nahversorgung ungenügend ist, wenn die Wohnungen einseitig sind und zu beengten Wohnverhältnissen führen, wenn die Abfallentsorgung sowie der Unterhalt der Gebäude und kollektiven Räume vernachlässigt werden etc. – und wenn in der Folge soziale Ungleichheiten und Exklusionsmechanismen ihre Wirkung in diesem Sozialraum entfalten.

10 Entmarginalisierung in Fachdiskursen beginnen

Lebenswelten in Großwohnbauten sind komplexer und dynamischer, als verbreitete Klischees gemeinhin suggerieren. Als Forschende geht es darum, die Marginalisierung dieser Quartiere als Ausdruck struktureller Ungleichheit zu erkennen – und zugleich keine stereotypen Bilder über diese Orte zu reproduzieren, die die Stigmatisierungen noch verstärken. Hierzu bedarf es eines differenzierten Blicks, der die alltagspraktischen Wohnerfahrungen und vielseitigen lokalen Perspektiven ernst nimmt. Und es geht auch darum, zu verstehen, dass verbreitete Narrative über ‚Ghettos‘ oder ‚Ausländersiedlungen‘ nicht nur reduzierende und essenzialistische Zuschreibungen vornehmen, sondern auch die sich im Stadtraum entfaltenden, breiteren sozioökonomische Machtverhältnisse verschleiern.

Eine postmigrantische Perspektive ermöglicht es, die Diversität in den Nachbarschaften als Potenzial anzuerkennen, Migrationserfahrungen zu normalisieren und den veränderbaren, hybriden Charakter von lokalisierten Selbst- und Fremdbildern in den Blick zu nehmen. Dies öffnet den Blick auch dafür, Nachbarschaften „als Räume fluider und oftmals konkurrierender politischer, ökonomischer, sozialer und zivilgesellschaftlicher Erwartungen“ (Drilling et al., 2016, S. 317) zu verstehen – und Interventionen in Anerkennung „verschiedener Rationalitäten zu planen“ (ebd.).

Wenn wir die Marginalisierung benachteiligter Nachbarschaften aufbrechen wollen, müssen wir demnach bei uns selbst – auch in unseren Fachdiskursen – anfangen und unsere eigenen, auch persönlichen Vorurteile und Stereotypen konsequent hinterfragen, wir müssen aber auch bestehende sozialräumliche Machtverhältnisse kritisch reflektieren – und den Narrativen der Menschen vor Ort in ihrer Vielschichtigkeit genau zuhören. So erfahren wir, dass sich hier nicht nur Geschichten der Marginalisierung, sondern auch Geschichten der Resilienz erzählen lassen.