Schlüsselwörter

1 Einleitung

1698 etablierten das zaristische Russland und die österreichische Monarchie diplomatische Beziehungen. 1924 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen der Republik Österreich und der Sowjetunion aufgenommen. Grund für die frühe Anerkennung der UdSSR war das eminente österreichische Interesse, in der Sowjetunion gefangene Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg zurückzubringen. Am 15. April 1955 bekundeten Österreich und die Sowjetunion im Moskauer Memorandum die Bereitschaft, in einem Staatsvertrag der vier alliierten Besatzungsmächte und Österreich, dem Land die volle Souveränität wieder zu geben. Am 26. Oktober 1955 schließlich verabschiedete der österreichische Nationalrat das Gesetz über die immerwährende Neutralität des Landes, zu der sich Österreich im Moskauer Memorandum politisch verpflichtet hatte. Die Beziehungen Österreichs zur Sowjetunion blieben in den folgenden Jahrzehnten pragmatisch, auch wenn die politische Westverankerung Österreichs unter allen österreichischen Parteien im Nationalrat unumstritten war. Österreich sollte schließlich das erste westliche Land sein, das 1968 einen Gasliefervertrag mit der UdSSR unterzeichnet hat. Österreich war zwar politisch klar im Westen verankert, war aber als neutraler Staat Begegnungsstätte für Diplomat*innen der beiden Antagonisten. Im Juni 1961 trafen sich US-Präsident Kennedy und der sowjetische Regierungschef Chruščov in Wien. Im Juni 1979 trafen sich US-Präsident Carter und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR Leonid Brežnev zur Unterzeichnung des Rüstungskontrollabkommens SALT 2 – ebenfalls in Wien.

Ab den siebziger Jahren wurde Österreich zu einer zentralen Transitstation für Jüd*innen, die die UdSSR verlassen wollten (Klein et al. 2011). Das hat 1973 nicht nur zu einem Terroranschlag auf einen Zug mit jüdischen Migrant*innen, sondern auch zu arabischer Kritik an der österreichischen Regierung geführt.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat sich das österreichisch-sowjetische Verhältnis besonders in der multilateralen Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen (UNO) und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und anderer Institutionen vertieft. So konnte sich Österreich in dieser Periode beispielsweise in der Weltraumkommission der Vereinten Nationen durch seinen jahrelangen Vorsitz über dieses Gremium profilieren. Moskau wählte Weltraumfragen bewusst als eines der Themen aus, bei denen es in den Vereinten Nationen Zeichen der Entspannung setzen wollte. Ohne Unterstützung der Sowjetunion hätte das neutrale Österreich in der Weltraumkommission gewiss nicht die zentrale Rolle spielen können, die es dort als ehrlicher Makler zwischen den Supermächten erfolgreich ausgeübt hat.

Ein zweiter Bereich, in dem Österreich Leadership zeigen konnte, war der KSZE-Nachfolgeprozess, bei dem Österreich häufig als Themenführer und Sprachrohr der Verhandlungsgruppe der Neutralen und pakt-ungebundenen Staaten („N+N Staaten“) auftrat. Hier vertrat Österreich mit einer prinzipientreuen Politik in den Bereichen der Menschenrechte und der humanitären Zusammenarbeit („Korb III“) häufig Positionen, die im diametralen Widerspruch zur sowjetischen Haltung standen. Dass es nach beinharten Verhandlungen schlussendlich zu tragfähigen Kompromissen kam, ist nicht zuletzt jenen österreichischen Diplomat*innen (z. B. Botschafter Ceska) zu verdanken, die im Verhältnis zu Moskau die Kunst des Möglichen perfekt beherrschten.

Ein dritter Aspekt, der in den siebziger aber auch in den achtziger Jahren das Verhältnis der damaligen Supermächte USA und UdSSR betraf und bei dem Österreich nicht nur als Go-between fungierte, sondern sich auch als Sitzstaat einer internationalen Organisation etablieren konnte, ist die Tätigkeit des Internationalen Instituts für Vergleichende Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien. Gegründet in den Siebzigerjahren verfolgte die IIASA von Anfang an das Ziel, durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Forscher*innen aus dem Westen und dem Osten Brücken der Verständigung über die Trennlinien des Kalten Krieges zu errichten. Ohne Zustimmung Moskaus wäre das Projekt IIASA mit Sitz in Österreich nicht zustande gekommen.

Der vorliegende Beitrag untersucht, wie Österreichs Politik gegenüber Russland seit 1992 beschaffen war und welche Faktoren die österreichische Russlandpolitik in diesem Zeitraum beeinflusst haben. Dabei stehen die politischen Aspekte der Beziehungen im Vordergrund. Nach anfänglichen Kontroversen über die Rolle Russlands als „Fortsetzerstaat“ der UdSSR, österreichischen Versuchen, Russland keine Rolle im Staatsvertrag von 1955 zuzuerkennen und Debatten über den Beitrittsantrag Österreichs an die EG/EU, haben sich die Beziehungen stabil, eng und freundschaftlich entwickelt. Vor allem wirtschaftlich und kulturell sind beide Länder eng miteinander verflochten. Kontroverse politische Themen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden im bilateralen Dialog jedoch bewußt ausgeklammert. Gerade in den letzten Jahren waren die Bemühungen auf österreichischer Seite sehr stark, eine „Brückenfunktion“ zwischen der EU und Russland einzunehmen. Dieser Ansatz war illusionär und wurde nach politischem Druck auf die österreichische Regierung durch andere Staaten mittlerweile aufgegeben.

Der Beitrag identifiziert zunächst die wesentlichen Themen der bilateralen Beziehungen seit 1992 und ihre Bearbeitung durch beide Staaten. Dabei werden Kontroversen und Übereinstimmungen beleuchtet, Kontinuitäten und Brüche in der bilateralen Beziehung aufgezeigt und die „politische Enthaltsamkeit“ österreichischer Regierungen aufgezeigt. Der Beitrag versucht danach, variable und konstante Faktoren in den Beziehungen beider Länder zu identifizieren. Daran schließt im Fazit eine allgemeine Bewertung der Verbindungen zwischen Österreich und Russland an.

2 Die Beziehungen Österreichs zu Russland seit 1992

2.1 Der Zerfall der Sowjetunion und Russlands Neubeginn

Zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Österreich und Russland ab 1992 erscheint es unentbehrlich, die wichtigsten Fakten in Erinnerung zu rufen, die damals die internationale Politik bestimmten. Zu diesen gehört ohne Zweifel die Gründung der Russländischen Föderation und die förmliche Auflösung der UdSSR am 8. Dezember 1991.Footnote 1 Damit wurde der Schlusspunkt unter eine Reihe historischer Entwicklungen gesetzt, welche in ihrer Gesamtheit die größte politische Umwälzung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen: der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, die Auflösung der militärischen Strukturen des Warschauer „Vertrags über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ (Warschauer Pakt) mit 31. März 1991. Die Entstehung neuer selbständiger Staaten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion (SU) in rascher Folge besiegelten den Zerfall des sowjetischen Imperiums.

Die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 hatte dramatische politische und völkerrechtliche Konsequenzen. In rascher Folge erklärten 1991 alle früheren Unionsrepubliken der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit. Hatte man das Thema der Staatennachfolge nach Ende des Dekolonisierungsprozesses in der Dritten Welt politisch und juristisch mehr oder weniger zu den Akten gelegt, so wurde dieser Fragenkreis nach der politischen Wende in Europa mit einem Male wieder hoch aktuell. In allen Staatskanzleien – darunter auch am Wiener Ballhausplatz – stand man vor dem drängenden Problem, wie man mit der Russländischen Föderation und den anderen Nachfolgestaaten im postsowjetischen Raum verfahren sollte. Der Fragenkreis der Staatennachfolge berührte die Neuordnung der Vertragsbeziehungen, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, die Aufteilung der Schulden und des Vermögens der UdSSR unter den Nachfolgestaaten (Reinisch und Hafner 1995). In der SPÖ-ÖVP Regierung unter Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ) übernahm 1992 das von Vizekanzler Mock (ÖVP) geleitete Außenministerium die Führungsrolle bei der Formulierung der österreichischen Position in Sachen Staatennachfolge in Bezug auf Russland und die anderen Sukzessionsstaaten der SU. Österreich war zu diesem Zeitpunkt bereits Kandidat für eine EG- (später EU-) Mitgliedschaft und hatte in dieser Eigenschaft seine diesbezügliche Haltung mit den europäischen Partnern abzustimmen.

Die internationale Gemeinschaft reagierte auf den Zerfall der Sowjetunion, indem sie in erstaunlich kurzer Zeit zwei Fakten setzte. Zum einen wurde im Rahmen der UNO der Anspruch der Russländischen Föderation anerkannt, dass diese ohne das Erfordernis einer neuen Aufnahmeprozedur, die UNO-Mitgliedschaft der UdSSR einfach fortsetzen würde. Dies hatte unter anderem die politisch bedeutende Auswirkung, dass Russland den ständigen Sitz der UdSSR im Sicherheitsrat mit dem Privileg des Vetorechtes einnehmen konnte. Die Zustimmung dazu entsprach vor allem dem übergeordneten strategischen Interesse des Westens daran, dass Russland die alleinige Verantwortung für die Atomwaffen auf dem Gebiet der früheren UdSSR übernimmt. Als Präsident Jelzin förmlich erklärte, dass die Russländische Föderation die Mitgliedschaft der UdSSR in der UNO mit Unterstützung der GUS fortsetzen würde, wurde dies auf internationaler Ebene ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen. Auch Österreich protestierte nicht dagegen. Zum anderen wurde im Rahmen des Europarates die Position Russlands, generell die Russländische Föderation als Rechtsnachfolger der UdSSR in Bezug auf alle von der UdSSR abgeschlossenen Europarats-Übereinkommen anerkannt. Die Position, der zufolge Russland nicht als neuer Staat zu betrachten sei, sondern in rechtlicher Hinsicht die Existenz der UdSSR einfach fortsetze, hatte sich auch innerhalb der EU durchgesetzt.

Bemerkenswerterweise hat die damalige österreichische Bundesregierung im Unterschied zur Haltung der überwiegenden Mehrheit der europäischen Staaten zur Frage der russländischen Rechtsnachfolge zunächst eine abweichende Meinung vertreten. Maßgeblich beeinflusst von den Völkerrechtsexpert*innen des Außenministeriums vertrat Wien Anfang 1992 die Rechtsmeinung, dass die Russländische Föderation in völkerrechtlicher Hinsicht als neuer Staat zu betrachten sei und daher seine Vertragsbeziehungen grundsätzlich neu begründen müsste. Die völkerrechtliche Begründung für diese Argumentation lieferte die sogenannte „clean slate“ Theorie, wonach im Falle der Staatennachfolge bestimmte, vom Gebietsvorgänger geschlossene völkerrechtliche Verträge ihre Gültigkeit verlieren. Die österreichische Rechtsauffassung hätte in letzter Konsequenz bedeutet, dass der Staatsvertrag von Wien aus 1955 im Verhältnis zu Russland nicht mehr weiter gegolten hätte, was von Moskau naturgemäß heftig bestritten wurde.

Im russländischen Außenministerium reagierte man verärgert darüber, dass Österreich damals als einziger westlicher Staat den russländischen Rechtsanspruch infrage stellte, dem zufolge die Russländische Föderation als „Fortsetzerstaat“ mit der UdSSR identisch sei. Besonders irritiert war Moskau, dass Österreich auf diese Weise offenbar versucht hatte, die Gültigkeit des Staatsvertrags in Bezug auf Russland „auszuhebeln“.

Die österreichisch-russländischen Meinungsdifferenzen konnten schließlich im Gefolge des österreichischen EU-Beitritts ohne viel Aufhebens beseitigt werden, als Österreich den Rechtsstandpunkt der EU übernahm, die Russland als Fortsetzerstaat der UdSSR anerkannt hatte. Damit wurde unter anderem klargestellt, dass der österreichische Staatsvertrag auch in der Relation zu Russland weiterhin Gültigkeit besitzt (Cede und Prosl 2015, 105–111).

Der russländischen Bevölkerung bereitete allerdings weniger die juristische Auseinandersetzung um die Kontinuität des russländischen Staatswesens große Sorgen, als vielmehr der tägliche Kampf ums nackte Überleben in einer Krise, die nach dem politischen Zusammenbruch sämtliche Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens erfasste. Der Übergang von der gescheiterten kommunistischen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft neoliberaler Prägung führte anfangs zu chaotischen Zuständen und zu ernsten Versorgungsengpässen besonders in den Millionenstädten Moskau und Sankt Petersburg, die mehrere westliche Staaten – darunter Österreich – veranlassten, konkrete Hilfsleistungen anzubieten. Aufgrund eines entsprechenden Angebotes wurde am 2. April 1992 eine österreichisch-russländische Vereinbarung unterfertigt, auf deren Grundlage Soforthilfen vor allem für Kinder und ältere Menschen sowie konkrete Hilfsmaßnahmen für die marktwirtschaftliche Neustrukturierung der russländischen Wirtschaft geleistet wurden (Karner und Tschubarjan 2018, 253 ff.).

2.2 Der österreichische EU-Beitritt und Russland

Im Vorfeld der Annäherung Österreichs an die Europäische Gemeinschaft, die durch den EU-Beitritt Österreichs am 1. Jänner 1995 ihren Abschluss fand, kam der Frage der Vereinbarkeit einer EU-Mitgliedschaft mit den Verpflichtungen, die Österreich im Staatsvertrag von 1955 und mit seiner verfassungsrechtlich fixierten Neutralitätserklärung eingegangen war, eine zentrale Bedeutung zuFootnote 2. Bei Österreichs Entscheidung für die Europäische Union galt es, eine politische und juristische Formel zu finden, die es ermöglichte, Österreichs Neutralität mit der EU-Mitgliedschaft in Einklang zu bringen. Diese Frage betraf nicht allein das Verhältnis Österreichs mit seinen Verhandlungspartnern aufseiten der EU und ihrer damaligen Mitgliedsstaaten sondern sehr wesentlich auch die Beziehungen zwischen Wien und Moskau.

Ein Blick auf die Nachkriegsgeschichte erhellt das eminente Interesse der UdSSR an der österreichischen Neutralität: Die Sowjetunion hatte 1955 dem Abschluss des Staatsvertrags im damaligen Kontext des Kalten Krieges bekanntlich nur unter der Bedingung zugestimmt, dass sich Österreich in einem Verfassungsgesetz für immerwährend neutral erklärt. Damit wollte Moskau auf Dauer einen möglichen Beitritt Österreichs zum westlichen Militärbündnis North Atlantic Treaty Organization (NATO) verhindern.

Die Neutralität Österreichs stellte im außenpolitischen Konzept der UdSSR ein wichtiges Element der europäischen Sicherheitsarchitektur dar. Der Neutralitätsstatus des Landes wurde daher aus Moskauer Perspektive als unverrückbarer Bestandteil der europäischen Nachkriegsordnung angesehen. Jede Veränderung, geschweige denn die Rede von einer möglichen Beendigung dieser internationalen Festlegung, löste daher bei der sowjetischen Staatsführung Unbehagen und Missmut aus. Dazu kam, dass man im Kreml an der Doktrin festhielt, der zufolge sich Österreich beim Abschluss des Staatsvertrags 1955 im Moskauer Memorandum völkerrechtlich verbindlich zum Neutralitätsstatus verpflichtet hatte. Diese Rechtsauffassung wurde im Übrigen Jahrzehnte lang ebenfalls von den namhaften österreichischen Völkerrechtler*innen vertreten, die den Konnex zwischen Moskauer Memorandum und der korrespondierenden Neutralitätserklärung Österreichs auf internationaler Ebene als „quasi-völkerrechtlichen Vertrag“ betrachteten.

Die von Österreich völkerrechtlich verbindlich übernommenen Neutralitätspflichten würden sich mit einer EG-Vollmitgliedschaft nicht vereinbaren lassen, so war man damals auch in Wien überzeugt. Von 1955 bis Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts herrschte dieses Credo vor, das allen Bemühungen um einen österreichischen EG-Beitritt entgegenstand. Dazu kam, dass die Sowjetunion das in Artikel 4 des österreichischen Staatsvertrags ausgesprochene Verbot eines „Anschlusses“ an Deutschland ebenfalls als Hindernis für einen EG-Beitritt Österreichs ins Treffen führte. Man brachte diesbezüglich vor, dass ein österreichischer EG-Beitritt im Ergebnis eine so enge politische und wirtschaftliche Verbindung Österreichs mit Deutschland darstellen würde, dass dieser das „Anschlussverbot“ des Staatsvertrags verletze.

Kein österreichischer Politiker und keine österreichische Politikerin hätte es vor den politischen Veränderungen in Europa Ende der achtziger Jahre gewagt, sich über die Ablehnung eines österreichischen EG-Beitritts durch die damals mächtige Sowjetunion hinwegzusetzen. In die festgefahrenen Positionen kam erst Bewegung, als Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ) und Außenminister Mock (ÖVP) 1987 innerhalb der SPÖ-ÖVP Koalitionsregierung angesichts der Veränderungen der sowjetischen Politik unter dem neuen Generalsekretär der Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) Gorbačov zur Einschätzung gelangten, dass Moskau angesichts der Neuausrichtung der sowjetischen Außenpolitik einen EU-Beitritt möglicherweise hinnehmen würde, wenn Österreich der UdSSR unmissverständlich zusicherte, als EU-Mitgliedstaat weiterhin an der Neutralität festzuhalten.

Bei ihren Besuchen in Moskau, die im September/Oktober 1988, d. h. ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer stattfanden, sondierten Außenminister Mock (ÖVP) und Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ) bei ihren sowjetischen Gesprächspartnern Außenminister Ševardnadze und Chef der kommunistischen Partei (KP) Gorbačov in diese Richtung und warben für einen österreichischen EU-Beitritt unter Beibehaltung der Neutralität. Die beiden sowjetischen Spitzenpolitiker rückten zwar wie erwartet nicht von ihren Positionen in Sachen Staatsvertrag und Neutralität ab, dies freilich hinderte die österreichische Bundesregierung nicht daran, am Ziel der EU-Mitgliedschaft festzuhalten und ungeachtet der sowjetischen Bedenken am 14. Juli 1989 in Brüssel den österreichischen Beitrittsantrag zu stellen. Aus Rücksicht auf die sowjetische Position wurde im Text des Beitrittsantrags die Beibehaltung der Neutralität ausdrücklich erwähnt. Kurz darauf überreichte der sowjetische Botschafter in Wien am Ballhausplatz ein Memorandum, in dem die sowjetischen Einwände gegen eine österreichische EG-Mitgliedschaft wiederholt wurden.

Bundeskanzler Vranitzky (SPÖ) stattete zwei Jahre später Gorbačov einen weiteren Besuch ab. Gorbačov, der zu diesem Zeitpunkt formal die Position des Präsidenten der UdSSR innehatte, war nach der Niederschlagung des kommunistischen Putschversuches im August 1991 durch die Anhänger von Jelzin innenpolitisch bereits entmachtet. Dem österreichischen Regierungschef erklärte Präsident Gorbačov bei dessen Besuch Ende September 1991, dass es an Österreich liege, über seinen EG-Beitritt frei zu entscheiden; er sehe diesen Schritt als souveränen Akt Österreichs. Wenige Monate später waren die UdSSR und mit ihr die politische Rolle von Gorbačov Geschichte (Scheich 2005, 60).

Österreichs EU-Mitgliedschaft veränderte grundsätzlich die Rahmenbedingungen für die Gestaltung der österreichisch-russländischen Beziehungen. Die Handlungsspielräume, die Österreich vor dem EU-Beitritt im Verhältnis zu Russland als neutrale Brücke zwischen Ost und West besetzen konnte, wurden angesichts der politischen Vorgaben der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die in der späteren Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der (GASP) der EU weiterentwickelt und verstärkt wurden, weitgehend beseitigt. Von Österreich als einem solidarischen Mitgliedsstaat der EU wurde erwartet, dass es die von der EU im Rahmen der GASP beschlossenen Standpunkte bezüglich Russland mit trägt und keinen davon abweichenden Sonderweg in Richtung Russland beschreitet. Diesbezügliche Versuche, die in den letzten Jahren von einzelnen österreichischen Politiker*innen etwa in der Frage der EU-Russlandsanktionen oder mit der Idee einer neutralen Vermittlungsfunktion Österreichs im Ukrainekonflikt unternommen wurden, erwiesen sich letztlich als erfolglos.

Andererseits eröffnete die EU-Mitgliedschaft für Österreich neue Perspektiven in Bezug auf seine Russlandpolitik. Der regelmäßige Informationsaustausch und das Gebot der Koordinierung der nationalen Positionen im Rahmen der GASP stellen einen durchaus nützlichen Lernprozess dar, der in Wien zu mehr Realismus in der Einschätzung der russländischen Verhältnisse beiträgt. Im Meinungsspektrum der EU-Partner wird Österreich dennoch nach wie vor in das Lager der sogenannten „Russlandversteher“ eingeordnet.

2.3 Die Ära Jelzin – Russland in der Abwärtsspirale

Die Dekade, die der Auflösung der UdSSR folgte, war eine Periode des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs. Beraten von Wirtschaftswissenschafter*innen aus den USA, leitete Russland radikale Reformschritte in Richtung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung ein. Die Vorstellung aber, dass man in Russland mit einem Schlag das westliche Wirtschafts- und Demokratiemodell einführen könnte, erwies sich innerhalb kurzer Zeit als Illusion. An die Stelle der angestrebten Entwicklung in Richtung Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat traten ein ungezügelter Raubtierkapitalismus, Korruption und Kriminalität. Die allen rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechende Umverteilung des Volksvermögens an eine kleine Schicht von „beati possidentes“ bei gleichzeitiger Verarmung der großen Masse von Lohnabhängigen und von Millionen Pensionist*innen bescherte Russland eine soziale Misere mit großer Sprengkraft. Auch die Entwicklung demokratischer Institutionen blieb weitgehend unerfüllt. Präsident Jelzin löste mit seinem verfassungswidrigen Dekret über die Auflösung des Parlamentes am 20. September 1993 einen Putschversuch kommunistischer und nationalistischer Hardliner aus, den die Streitkräfte blutig niederschlugen. Die Bemühungen der westlichen Staatengemeinschaft – darunter Österreich -, von außen zur wirtschaftlichen Stabilisierung Russlands und zum Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat beizutragen, brachten nicht den erhofften Erfolg.

Der geschwächten Position Russlands im Inneren entsprach eine geminderte Stellung Russlands auf der internationalen Bühne. In den westlichen Hauptstädten wurde Russland unter Jelzin nicht mehr als Weltmacht angesehen, mit der man auf Augenhöhe verkehren müsste. Andererseits bemühte man sich in Washington, die Gunst des Augenblicks zu nutzen und Russland in das NATO-Konzept „Partnerschaft für den Frieden“ (Partnership for Peace, PfP) einzubinden, an welchem auch Österreich seit 1995, d. h. seit dem EU-Beitritt teilnimmt. Die USA boten Russland im Bemühen um ein partnerschaftliches Verhältnis im Rahmen der PfP ebenso wie der Ukraine sogar eine engere institutionelle Beziehung als den übrigen PfP-Teilnehmerstaaten an. Für Russland und die Ukraine wurden zu diesem Zweck in der PfP eigene politische Konsultationsgremien (Joint Permanent Council, ab 2002 NATO-Russland Rat, NATO-Ukraine Kommission) geschaffen.

Aus österreichischer Sicht kann diesbezüglich nicht ohne Ironie angemerkt werden, dass Russland auf diese Weise Mitte der neunziger Jahre mit der NATO strukturell enger verbunden war als das neutrale Österreich. Damals, d. h. zu einem Zeitpunkt, als Österreich bereits Mitglied der EU und der PfP war, sprach sich Außenminister Schüssel (ÖVP) ebenfalls für eine Einbindung von Russland in die Konsultationsgremien der NATO aus, weil er im Einklang mit dem Mainstream der westlichen Politiker im damaligen Kontext der internationalen Beziehungen die Meinung vertrat, dass die Entwicklung eines partnerschaftliches Verhältnisses des westlichen Verteidigungsbündnisses mit Russland im Interesse der gesamteuropäischen Sicherheit gelegen wäre.

In dieser kurzen Darstellung der bilateralen Beziehungen darf die Vorbereitung des für April 1995 geplanten Besuches von Präsident Jelzin in Österreich nicht unerwähnt bleiben. Russländischerseits wurde im Hinblick auf diese Visite die Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung vorgeschlagen, in der die politischen Grundsätze für die österreichisch-russländische Zusammenarbeit fixiert werden sollten (Gehler 2005, 656). Bei den Verhandlungen über den russländischen Textentwurf einer solchen Erklärung, die auf österreichischer Seite von Botschafter Grubmayr geführt wurden, konnte man sich letztlich nicht einigen. Die österreichische Seite wollte keinen Formulierungen zustimmen, die es Moskau erlaubt hätten, Österreich in Sachen Neutralität und Staatsvertrag in die Pflicht zu nehmen. Als Konsequenz der gescheiterten Bemühungen um das politische Dokument sagte der Kreml den geplanten Besuch von Präsident Jelzin in Wien kurzfristig ab.

Die „russischen Umbrüche“ (Bauer, ohne Jahresangabe) während der Jelzin Ära hatten in den österreichisch-russischen Beziehungen aber nicht nur negative Folgen. So führte etwa die Politik der Liberalisierung gegenüber dem Westen unter anderem dazu, dass Moskau dem Ersuchen österreichischer Zeithistoriker*innen zustimmte, die sowjetischen Archive in Bezug auf Kriegsgefangene aus verschiedenen Ländern erstmals zu öffnen. Der Erfolg ist eng mit dem Namen von Stefan Karner verbunden, der beim Zugang zu den sowjetischen Archiven für die historische Forschung Pionierarbeit geleistet hat (Karner und Tschubarjan 2018, 257).

Das Chaos beim Übergang von der kommunistischen Planwirtschaft auf ein marktwirtschaftlich ausgerichtetes System ermöglichte es österreichischen Privatfirmen und Unternehmer*innen, in Russland Fuß zu fassen und eine Reihe erfolgreicher Projekte auf den Weg zu bringen, was zu Sowjetzeiten völlig undenkbar gewesen wäre.

Daneben konnten zwischen Russland und Österreich neue Felder der Zusammenarbeit bestellt werden, die in der Vergangenheit brach gelegen waren. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Möglichkeit direkter Kontakte zwischen interessierten Partnern in den Bereichen Wissenschaft, Medien und der regionalen Zusammenarbeit erwähnt. Der frische Wind der Transformation eröffnete zudem völlig neue Perspektiven für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Initiativen. So gehört etwa der systematische Aufbau eines Netzes von SOS-Kinderdörfern in Russland, die durch den Gründer der SOS-Kinderdorf-Bewegung Hermann Gmeiner gemeinhin mit Österreich identifiziert wird, zu den erfolgreichen Projekten, die unter dem Sowjetregime nicht realisierbar gewesen wären.

2.4 Die österreichisch-russländischen Beziehungen im ersten Jahrzehnt der Ära Putin

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger gelang es Putin mit harter Hand den Abstieg Russlands unter dem Zeichen eines neuen Patriotismus aufzuhalten. Die Autonomie der Regionen wurde zurückgenommen, in Tschetschenien warfen die russländischen Militärs die islamistischen Rebellen in einem brutalen Krieg nieder. In der Wirtschaft reduzierte Putin den Einfluss jener Oligarch*innen, die sich gegen ihn stellten. Die frühere Machtelite rund um Präsident Jelzin ersetze Putin innerhalb kurzer Zeit durch den Petersburger Kreis ihm ergebener Funktionär*innen bzw. durch Angehörige des Sicherheitsapparates, der Armee und der Geheimdienste, die er auch an die wichtigsten Schaltstellen der Wirtschaft platzierte. Die unter Jelzin darnieder liegende Wirtschaft erholte sich langsam dank der Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten bei anhaltenden hohen Preisen auf den internationalen Energiemärkten. Aber auch die Währungsabwertung als Ergebnis der Finanzkrise 1998 stimulierte die russische Wirtschaft. Dazu kam die gelungene Steuerreform der Regierung Putin im Jahr 2001. In dieser Situation verfolgte der Kreml mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein systematisch das außenpolitische Ziel, Russlands Stellung als Weltmacht und als ebenbürtiges Gegenüber der USA und Chinas in einem multipolaren System der internationalen Beziehungen wieder herzustellen.

Der Antritt Putins als Präsident Russlands erfolgte nahezu zeitgleich mit dem Beginn der ÖVP-FPÖ Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Schüssel (ÖVP) Anfang 2000. Die politische Ächtung der ÖVP-FPÖ Regierung durch die Sanktionsbeschlüsse von 14 EU-Mitgliedstaaten löste in Moskau unterschiedliche Reaktionen aus. Zum einen wurde nicht ohne Schadenfreude der Umgang der EU-Partner mit Österreich registriert. Dabei wiesen die russländischen Gesprächspartner*innen auf das souveräne Recht Österreichs hin, seine durch freie Wahlen legitimierte Regierung selbst zu bestimmen. Andererseits war man sich im Außenministerium Russlands sehr wohl bewusst, dass Österreichs internationale Position durch die EU-Sanktionen eine Schwächung erfuhr und nützte diese auch aus.

Symptomatisch für den Umgang des Kreml mit Österreich ist in diesem Zusammenhang der OSZE Vorsitz durch Österreich, der ausgerechnet ins „Sanktionenjahr 2000“ fielFootnote 3. In Moskau hatte man erkannt, dass einzelne OSZE-Teilnehmerstaaten, allen voran Frankreich, versucht hatten, Österreich in der OSZE wegen der Sanktionen politisch in die Ecke zu stellen und ihm sogar die OSZE-Vorsitzfunktion streitig zu machen. Es gehört zu den unbestrittenen Leistungen der österreichischen Diplomatie, dass diesen Bemühungen kein Erfolg beschieden war. Österreich hat nach allgemeiner Einschätzung seine OSZE Vorsitzfunktion trotz der schwierigen Rahmenbedingungen professionell und unaufgeregt erfüllt. Russland zählte zu den Unterstützern der österreichischen Präsidentschaft.

Andererseits stand Österreichs OSZE Politik 2000 vor dem Problem, dass die unter Leitung des österreichischen Diplomaten Missong stehende OSZE-Mission für Tschetschenien dem guten Willen der russländischen Seite völlig ausgeliefert war. Die Mission war aus Sicherheitsgründen bereits vor dem österreichischen Vorsitz von Grozny nach Moskau verlegt worden, von wo aus sie ihre Aufgabe nur in einem sehr beschränkten Umfang weiterführen konnte. Die Bemühungen um die Rückführung der Mission nach Tschetschenien, die von Außenministerin Ferrero-Waldner (ÖVP) in ihrer Funktion als Vertreterin des OSZE-Vorsitzstaates vorangetrieben wurden, waren nicht zuletzt dadurch behindert, dass einzelne einflussreiche OSZE-Teilnehmerstaaten, die als EU-Mitglieder an vorderster Front derjenigen standen, die über Österreich eine politische Quarantäne verhängt hatten (z. B. Frankreich oder Belgien), der österreichischen OSZE-Präsidentschaft keinen diplomatischen Erfolg vergönnen wollten.

In Kenntnis dieser Umstände hatte der Kreml leichtes Spiel, der österreichischen Leitung der OSZE-Tschetschenien Mission das Leben schwer zu machen und deren Rückkehr in das Konfliktgebiet mit vorgeschobenen Sicherheitserwägungen zu verhindern. De facto ist es nicht gelungen, die Wiedereröffnung des OSZE-Beobachtungsbüros in Tschetschenien im Jahre 2000 zu bewerkstelligen, auch wenn in Anwesenheit der österreichischen Außenministerin Mitte April 2000 in Znamenskoje – einem kleinen Ort in Tschetschenien – an einem von der OSZE angemieteten Haus symbolträchtig und medienwirksam die OSZE-Fahne gehisst wurde. Die operative Tätigkeit des OSZE Büros musste weiterhin von Moskau aus betrieben werden.

Abgesehen vom beschriebenen OSZE-Problem entwickelten sich die bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und Russland zu Beginn der Putin-Ära prächtig. Der politische Besuchsaustausch zwischen Wien und Moskau florierte, wobei im ersten Halbjahr 2000 der Besucherreigen aus Österreich besonders zunahm. Während die politischen Kontakte mit ÖVP-FPÖ Regierungsmitgliedern aufseiten der „EU-14“ eingefroren waren, fuhren österreichische Politiker*innen gerne nach Moskau, weil sie auf diese Weise die Durchbrechung der internationalen Isolation Österreichs demonstrieren konnten. Auffallend war die rege Besucherfrequenz aus der FPÖ, deren Führung für den neuen starken Mann im Kreml offen Bewunderung hegte. Insgesamt hat sich der politische Besuchsaustausch zwischen Russland und Österreich in den letzten Jahrzehnten derart verdichtet, dass Österreich heute, was die Besuchsfrequenz in der Relation zu Moskau betrifft, im Spitzenfeld anderer westeuropäischer Staaten liegt.

Es gilt zu erwähnen, dass die ohnehin schwachen demokratischen Institutionen in Russland unter Vladimir Putin zurückgebaut wurden. Die staatliche Kontrolle über gesellschaftliche Regungen, die starke Rezentralisierung des Landes, Manipulationen des Parteiensystems und wachsende Kontrolle über Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Medien hat fortwährend zugenommen. Nicht überraschend, aber doch bemerkenswert ist, dass die Beziehungen Österreichs zu Russland davon unberührt geblieben sind.

2.5 Die Medvedev-Ära und die Rückkehr Putins in das Präsidentenamt

2008 wurde Dmitrij Medvedev, ein Zögling Putins, zum Präsidenten Russlands gewählt; Putin rückte als Vorsitzender der Regierung formal in die zweite Reihe. Trotz des Krieges Russlands mit Georgien im August 2008 wurde seine Präsidentschaft von der EU und den USA positiv aufgenommen. Medvedev forderte in Russland vor allem die Überwindung des Rechtsnihilismus, eine allgemeine Modernisierung, in die auch die Bürger miteinbezogen werden sollten und die Bekämpfung der Korruption. In der Praxis konnte Medvedev keines seiner Ziele erreichen. Dennoch wird mit ihm ein liberalerer politischer Diskurs in Russland verbunden sowie, allem voran, der Neustart in den Beziehungen zwischen den USA und Russland. Trotz seiner formalen Unterordnung blieb Putin der dominierende Faktor in der russischen Innen- und Außenpolitik. In der „Tandemokratie“ mit Medvedev hatte er, gestützt auf seine Autorität und seine Unterstützung durch die Bevölkerung, das Sagen.

Die österreichische Russlandpolitik hat durch den Wechsel im russischen Präsidentenamt keine Änderungen erfahren. Kontinuität statt Innovation prägten die österreichische Haltung. Die bilateralen Beziehungen blieben stabil und konfliktfrei. Anders als etwa Deutschland und die USA ließ die österreichische Regierung keine Präferenz für Medvedev als Kandidaten bei den Präsidentenwahlen 2012 erkennen.

Im September 2011 hat die Regierungspartei „Geeintes Russland“ entschieden, dass Putin ihr Kandidat bei den Präsidentenwahl 2012 sein solle. Medvedev musste auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit verzichten. Den Präsidentenwahlen voraus gingen die Parlamentswahlen im Dezember 2011. Mutmaßliche Fälschungen der Ergebnisse führten zu einer unerwartet starken Protestbewegung in Moskau und anderen großen Städten Russlands. Die Demonstrant*innen forderten saubere Wahlen und verlangten den Rücktritt Putins. Die in vielen westlichen Staaten mit Sympathie bedachte Protestbewegung scheiterte aber an eigenen Schwächen und an staatlicher Repression, die der im März 2012 wiedergewählte Präsident Putin einleitete. Dazu zählten Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Verurteilung von Oppositionellen zu Lagerhaft, Verschärfungen des Demonstrationsrechtes und schließlich die Ächtung politisch aktiver NGOs als „ausländische Agenten“, wenn diese Finanzmittel aus dem Ausland erhielten. Die Finanzierung derartiger Initiativen durch die USA wurde gänzlich verboten. 2015 wurde schließlich auch ein Gesetz über in Russland „unerwünschte Organisationen“ beschlossen, mittels dessen die Tätigkeit von internationalen NGOs in Russland verboten werden kann.

Mit dieser repressiven Welle einher ging eine sozial-konservative Wende, die Putin zur Mobilisierung seines traditionalistischen Wählerklientels einleitete. Russland sollte Hort des Christentums, der traditionellen moralischen Werte und der klassischen Familie bleiben und deren Entwertung in den westlichen Staaten entgegentreten. Das Gesetz gegen Homosexuellenpropaganda und das Blaspehemiegesetz waren Teil dieser kulturellen Offensive. Die Betonung traditioneller Werte fand Anklang bei einigen europäischen nationalkonservativen und rechtsnationalistischen Parteien. In Österreich war die FPÖ für derartige Inhalte empfänglich. Aber wie schon während der zunehmenden autoritären Verhärtung in der ersten Putin-Ära hat sich dies nicht auf die österreichische Russlandpolitik niedergeschlagen. Menschenrechtspolitik wurde nicht als notwendiger Teil der österreichischen Russlandpolitik verstanden.

Eine Zäsur in den Beziehungen wurde durch die Ukrainekrise und deren militärische Eskalation durch Russland erreicht. Die EU reagierte auf die Besetzung der Krim mit diplomatischen und personenbezogenen Sanktionen im März 2014. Im Juli 2014 schließlich wurden „restriktive Maßnahmen“ im Wirtschafts- und Finanzsektor beschlossen. Diese Maßnahmen mussten nach EU-Recht einstimmig beschlossen werden. Österreich schloss sich diesem Konsens an und hat bei der Verlängerung der Sanktionen alle 6 Monate immer wieder zugestimmt.

Sanktionen können viele verschiedene Ziele verfolgen – etwa Missbilligung über ein staatliches Verhalten auszudrücken oder einen Staat für sein Verhalten strafen. Das wesentlichste Ziel von Sanktionen aber ist, beim sanktionierten Staat Verhaltensänderungen zu erreichen. Letzteres Ziel haben die Sanktionen bis heute nicht erreicht. Trotzdem wurden die restriktiven Maßnahmen der EU bis heute fortgesetzt. Österreichische Regierungsmitglieder haben zwar nicht anfangs, aber im Laufe der Jahre immer wieder Bedenken über die Sanktionen geäußert. Keine österreichische Regierung seit 2014 hat aber ein Veto gegen die Verlängerung der EU-Sanktionen eingelegt. Der Verdacht drängt sich auf, durch sanktionskritische Äußerungen das Verhältnis zu Russland so wenig wie möglich belasten zu wollen, aber letztlich doch dem Druck der EU-Partner nachzugeben. Nicht überraschend ist, dass sich die FPÖ, die mit der russländischen Regierungspartei „Geeintes Russland“ 2016 ein Kooperationsabkommen abgeschlossen hat, gegen die Sanktionen der EU ausgesprochen hat und darin eine Verletzung der österreichischen Neutralität sieht.

Die Sanktionen haben auch den österreichischen Handel mit Russland betroffen. Viel wesentlicher für die bilateralen Handelsbeziehungen waren aber die massive Rubelabwertung ab der 2. Hälfte des Jahres 2014. Ursache dafür waren zwar auch die Sanktionen, vor allem aber der Verfall der Preise für Energieträger, allen voran von Öl und Gas. Russland als Energieexporteur war davon stark betroffen.

Wenn man sich die bilateralen Handelsbeziehungen der letzten 10 Jahre ansieht, so zeigt sich, dass das Handelsvolumen in Euro heute wieder ungefähr dort liegt, wo es 2010 gewesen war. 2020 war das Handelsvolumen auf dem niedrigsten Stand seit 2009. Der Wert des bilateralen Handels ist bei 4,3 Mrd. EUR gelegen. Am stärksten war der bilaterale Austausch von Gütern und Dienstleistungen im Jahr 2012, als die russländischen Exporte nach Österreich ihren Höhepunkt erreichten. Die österreichischen Exporte stiegen bis zum Jahr 2014, während die russischen Exporte nach Österreich ab 2013 zurückgegangen sind. Wie schon erwähnt sind die österreichischen Exporte durch die Währungs- und Wirtschaftskrise Russlands ab 2014 deutlich zurückgegangen. Der neuerliche Anstieg österreichischer Exporte zwischen 2016 und 2019 – ein Zeitraum, in dem sich die russländische Wirtschaft wieder konsolidierte –, war aber nur vorübergehend. Nicht zuletzt durch die pandemiebedingten wirtschaftlichen Folgen ist der bilaterale Handel 2020 eingebrochen der österreichischen Exporte im Jahr 2020 lag – ohne Inflationsbereinigung – auf dem Stand von 2009 (Siehe Tab. 1).

Tab. 1 Der bilaterale Handel zwischen Österreich und Russland 2009–2020 (in Milliarden Euro)

Außer in den Jahren 2013 und 2014 konnte Russland im untersuchten Zeitraum immer einen Handelsbilanzüberschuss aufweisen. Österreichische Importgüter sind vor allem fossile Brennstoffe und Metalle. Österreich exportiert nach Russland vor allem Maschinen, pharmazeutische Produkte und Transportausrüstung (v. a. für Züge und Autos). Die österreichische Wirtschaft ist in Russland auch ein beachtenswerter Investor. Der Gesamtbestand an Direktinvestitionen in Russland lag 2020 bei fast 5 Mrd. EUR.

Mehr als 70 % des österreichischen Gaskonsums stammt aus Russland. Österreichs Energiekonzern OMV hat sehr enge Beziehungen zum russländischen Gaskonzern Gazprom; beide haben auch Unternehmensanteile getauscht. Die OMV ist auch einer von fünf westeuropäischen Finanzpartnern von Gazprom im Rahmen der Nord Stream 2 AG. Die OMV hat darin fast 900 Mio. EUR investiert. Da überrascht es nicht, dass die österreichischen Regierungen dieses Projekt stark unterstützt haben; dabei aber die Sicherheitsbedenken osteuropäischer Staaten, allen voran der Ukraine, unberücksichtigt ließen.

Abschließend ist zu bemerken, dass auffallend viele ehemalige österreichische Regierungsmitglieder nach dem Ende ihrer Amtszeit wichtige Funktionen in russländischen Staatsunternehmen, vornehmlich in der Energiewirtschaft, übernommen haben.

2.6 Die Russlandpolitik der Kabinette Kurz I und Kurz II: 2017 bis heute

Die Koalition aus ÖVP und FPÖ, die 2017 die Regierung in Österreich übernommen hatte, zeichnete sich durch eine besonders russlandfreundliche Linie aus. Das hing zum einen mit der Regierungsbeteiligung der russlandaffinen FPÖ zusammen. Zum anderen auch mit der neuen Außenministerin Kneissl, die zwar parteifrei war, aber von der FPÖ nominiert wurde. Den russlandfreundlichen Kurs aber alleine auf die FPÖ zurückzuführen, wäre unrichtig. Bundeskanzler Kurz (ÖVP) selbst war der zentrale Gestalter der Russlandpolitik der österreichischen Regierung. Kurz investierte sehr viel politisches Kapital in gute Beziehungen mit Russland und vertiefte persönliche Beziehungen zu Putin. Kurz und Putin haben sich 2018 viermal persönlich getroffen. Das konnte nicht durch die damalige österreichische Ratspräsidentschaft in der EU erklärt werden. Bei den Treffen wurde vielmehr der bilaterale Charakter betont. Im Juni 2018 besuchte Putin zum sechsten Mal als Präsident Österreich. Kurz traf Putin im selben Jahr in Moskau, Petersburg und schließlich am Rande der Hochzeit von Außenministerin Kneissl, zu der diese Putin erstaunlicherweise persönlich eingeladen hatte. Der Besuch Putins in Wien war ein weiterer Mosaikstein im Bemühen Putins, die diplomatische und politische Isolation durch den kollektiven Westen zu durchbrechen.

In privaten Gesprächen wiesen Mitglieder der Regierung und deren Berater*innen darauf hin, dass der Besuchsreigen – auch auf Ministerebene gab es intensive Besuchsdiplomatie – dazu dienen soll, auszuloten, wie der Dialog zwischen Russland und den EU-Institutionen wieder aufgenommen werden könnte. Österreich bemühte sich demnach, eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen der EU und Russland zu verhindern. Kurz sprach wiederholt davon, dass Österreich „Brücken“ zwischen der EU und Russland bauen wolle. Das war zwar durchaus richtig, aber dennoch waren es vor allem bilaterale Interessen – wirtschaftliche und kulturelle – die dabei verfolgt wurden. Im Hinblick auf den Brückenbau wäre auch anzumerken, dass die österreichische Regierung sich diesbezüglich deutlich überschätzte. Auch wenn es auch bei einigen wenigen anderen EU-Staaten Interesse gegeben hatte, die Beziehungen zu Russland zu verbessern, war das kleine Österreich natürlich zu einflussschwach, um eine Neuausrichtung der Russlandpolitik der EU voranzutreiben.

Die Brückenbauer-Initiative enthielt für die österreichische Regierung zwei Risiken. Zum einen war nicht sicher, ob die russländische Führung tatsächlich an einem Dialog mit der EU interessiert war (und ist). Auch machte man sich in Moskau keine Illusionen über das Gewicht Österreichs in der EU. Das Risiko war also, dass die Strategie der Koalitionsregierung erfolglos bleiben würde.

Das zweite Risiko war aber die Interpretation der österreichischen Politik gegenüber Russland bei einigen Mitgliedsstaaten der EU. Gerade osteuropäische Staaten prägten das Bild von Österreich als „trojanisches Pferd Russlands in der EU“. Das Bemühen Österreichs, eine Art spezielle Beziehung mit Russland aufzubauen, sogar einen Sonderweg zu gehen, wurde dort mit großem Misstrauen betrachtet.

Der Besuch Putins in Wien im Juni 2018 fand kurz nach dessen Angelobung zur vierten Amtszeit als Präsident Russlands statt. Putin hatte die Wahlen im März 2018 mit einem Rekordergebnis gewonnen. Die patriotische Mobilisierung nach der Annexion der Krim war noch ausreichend stark, um das Ergebnis dieser nicht völlig freien und fairen Wahl zustande zu bringen. Zu beachten ist, dass der russländische Oppositionelle Aleksej Navalnij als Kandidat bei den Präsidentenwahlen nicht zugelassen worden war. Begründet wurde dessen Verlust des passiven Wahlrechtes durch zwei Gefängnisurteile gegen Navalnij – in Gerichtsverfahren, die doch deutliche politische Züge getragen hatten.

Einwände gegen die Lage der Menschenrechte in Russland waren von österreichischer Seite beim Besuch Putins zumindest öffentlich nicht zu vernehmen. Besonders unkritisch zeigte sich Bundespräsident van der Bellen. Nach dem Treffen mit Putin meinte er, Russland habe kein Glaubwürdigkeitsproblem und es gebe keine „grundsätzliche Vertrauenskrise“ (Salzburger Nachrichten 2018) zwischen der EU und Russland. Diese rhetorische Realitätsverweigerung van der Bellens war außerordentlich. Auch war diese Äußerung des Bundespräsidenten unlogisch. Wenn es angeblich keine Beziehungsprobleme zwischen Russland und der EU gebe, warum will Österreich dann ein Brückenbauer sein? Der österreichische Bundespräsident machte seinen Gegenbesuch in Russland im Mai 2019. Diesmal meinte er, mit dem Treffen wolle Österreich der „weiteren Entfremdung“ zwischen Russland und der EU entgegenwirken.

Noch bizarrer als die Äußerungen van der Bellens war die Inszenierung der Hochzeit von Außenministerin Kneissl im August 2018, an der Putin zugegen war. Der Knicks der Ministerin nach dem gemeinsamen Tanz vor Putin war fatal und verstärkte das Bild Österreichs als unterwürfiger Partner Russlands.

Die Beziehungen wurden im Herbst 2018 durch eine Spionageaffäre belastet. Ein nunmehr pensionierter Angehöriger des österreichischen Bundesheeres hatte offenbar mehr als 20 Jahre lang als russländischer Spion gearbeitet. Der Protest Österreichs war deutlich und Außenministerin Kneissl sagte ihren geplanten Besuch in Russland ab. Aber schon im Februar 2019 wurde der Besuch Kneissls nachgeholt; die zwischenzeitlichen Irritationen schienen ausgeräumt. Während dieses Besuches wurde ein neues Dialogforum zwischen Österreich und Russland vorgestellt – der „Soči-Dialog“. Politiker*innen, Expert*innen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sollten Themen wie Kultur, Sport, Wissenschaft und Bildung erörtern und damit die bilateralen Beziehungen vertiefen. 2019 sollte der Jugendaustausch gefördert werden, die folgenden zwei Jahre wurden der Literatur und dem Theater gewidmet.

Das Dialogforum startete im Mai 2019. Vertreter*innen der unabhängigen Zivilgesellschaft Russlands suchte man bei diesem und nachfolgenden Treffen vergeblich. Politische Themen wurden in dem Dialog ausgespart; sensible Materien wie Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung oder der Schutz der Bürgerrechte blieben ausgeklammert. Im Dialog will man sich zweifellos ausschließlich auf Themen konzentrieren, die keine Kontroversen hervorrufen. Dagegen ist letztlich nichts einzuwenden, aber es verringert doch die Relevanz, die man dem Dialogforum beimessen kann.

Am 19. Mai 2019 ist die Regierungszusammenarbeit zwischen ÖVP und FPÖ beendet worden. Nach Einsetzung einer Übergangsregierung aus Expert*innen, führten die Neuwahlen zum Nationalrat 2019 zu einer Regierungskoalition der ÖVP mit den Grünen zu Beginn des Jahres 2020. Die neue Regierung hat die russlandfreundliche Ausrichtung nicht mehr fortgesetzt. Sicher hängt das auch mit dem Ausscheiden der russlandaffinen FPÖ aus der Regierung zusammen, aber auch mit dem Umstand, dass die Grünen im Hinblick auf die Menschenrechtslage in Russland für größere Distanz zu Russland eintreten. Dazu kam ein neuer Spionageskandal und ein Hackerangriff auf das österreichische Außenministerium, der sehr wahrscheinlich von russländischer Seite ausgeübt wurde. Nicht zuletzt aber war es dem Vernehmen nach auch Druck der deutschen Regierung und der USA auf Österreich, den Sonderweg in den Beziehungen zu Russland zurückzubauen.

Der neue österreichische Außenminister Schallenberg (ÖVP) ist zudem nicht russlandaffin. Er ist vielmehr, neben seinem Bekenntnis zur verdichteten Integration der EU, ein überzeugter Transatlantiker, der die Nähe Österreichs zu den USA sucht und unterstützt.Footnote 4 So überraschte es auch nicht, dass Schallenberg (ÖVP) beim Besuch des russländischen Außenministers Lavrov in Wien im September 2019 zumindest öffentlich sehr kritische Worte zur Lage der Menschen- und Bürgerrechte in Russland gewählt hat. Derzeit ist nicht abzusehen, ob sich daraus eine stärkere Berücksichtigung dieser Fragen in der Russlandpolitik Österreichs ergeben wird. Am 11. Oktober 2021 schließlich wurde Schallenberg (ÖVP) für kurze Zeit zum Bundeskanzler ernannt, nachdem Kurz (ÖVP) am 9. Oktober als Kanzler zurückgetreten war. Die russlandkritische Haltung Schallenbergs (ÖVP) hat dadurch noch noch stärker auf die Russlandpolitik der Regierung Einfluss genommen.

3 Konstanten und Variablen der Österreich – Russland Beziehungen

Über einen längeren Zeitraum betrachtet kann zwischen den dauerhaften Faktoren und den konjunkturellen Veränderungen unterschieden werden, die das bilaterale Verhältnis prägen.

3.1 Konstante Faktoren

3.1.1 Geopolitik

Unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation in Moskau und Wien besitzen Russland und Österreich in der wechselseitigen Wahrnehmung spezifische Alleinstellungsmerkmale. Für Russland ist Österreich geopolitisch nach wie vor ein interessanter und, man kann durchaus sagen, ein wichtiger Partner im Zentrum Europas. Österreich wird weiterhin als neutraler Staat innerhalb der EU betrachtet, mit dem Moskau enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen pflegt. Im System der europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik geht der Kreml davon aus, dass sich in absehbarere Zukunft nichts an der Position Österreichs ändern wird, außerhalb der NATO zu stehen. Die Mitgliedschaft Österreichs in der EU hat der Kreml mittlerweile als Faktum akzeptiert. Sie stellt in den bilateralen Beziehungen kein Problem mehr dar. Für Österreich zählt umgekehrt Russland ungeachtet der fundamentalen Veränderungen durch die Auflösung der UdSSR nach wie vor zu den wichtigsten Weltmächten. In Wien herrscht die Überzeugung vor, dass die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland verwirklicht werden kann. Unter dieser Prämisse setzt Österreichs Diplomatie, auf der Suche nach Lösungen bei den aktuellen Konflikten, in die Russland involviert ist, nicht auf Konfrontation, sondern auf Dialog mit der russländischen Führung. Der Neutralitätsstatus wird in Richtung Moskau sehr elastisch interpretiert. So wird es wohl in nächster Zukunft bleiben.

3.1.2 Wirtschaft

Die Tatsache, dass Österreich über 70 % seiner Erdgasimporte aus Russland bezieht, zeigt allein die Wichtigkeit Russlands für die Wirtschaft, speziell für die Energieversorgung des Landes. Der Stellenwert Österreichs für die russländische und die gesamteuropäische Energiewirtschaft wird durch den Umstand unterstrichen, dass sich die Drehscheibe für die Verteilung der russländischen Erdgaslieferungen im niederösterreichischen Baumgarten befindet. Die enge Kooperation zwischen der OMV und Gazprom wird auf absehbare Zeit weiterhin zu den Konstanten der bilateralen Beziehungen zählen. Dafür spricht weiters die Beteiligung der OMV an der Nordstream 2 Pipeline, die im Herbst 2021 trotz zahlreicher Widrigkeiten fertiggestellt wurde. Neben der Energiewirtschaft haben sich viele andere Sektoren der Wirtschaftsbeziehungen gedeihlich entwickelt. Es kann davon ausgegangen werden kann, dass beide Staaten auf Dauer großes Interesse an deren weiterem Ausbau haben.

3.1.3 Kultur

Man ist verleitet, das österreichisch–russländische Verhältnis im Kulturbereich geradezu als Liebesbeziehung zu bezeichnen. Das wechselseitige Interesse für die Kulturleistungen des Anderen ist riesengroß. Das bezieht sich auf die sogenannte Hochkultur ebenso wie auf die modernen Kreationen der Kulturschaffenden. Es kann ohne Übertreibung behauptet werden, dass aus russländischer Sicht Wien und Österreich gestern wie heute als Kulturzentren von erstrangiger Bedeutung eingestuft werden. Wenn daher von Österreich als kultureller Großmacht gesprochen wird, so findet diese Feststellung in Russland zweifellos allgemeine Zustimmung. Ob es sich um Musik, Literatur oder angewandte Kunst handelt, in Moskau schaut man auf Wien. Umgekehrt hat die russ(länd-)ische Kultur von jeher großen Einfluss auf die europäische und damit verbunden auf die österreichische Kunstszene ausgeübt. Dieses Interesse ist durch die neuen Möglichkeiten der kulturellen Zusammenarbeit neu erwacht. Auch hier entwickelt sich Wien immer mehr zu einem interessanten Treffpunkt.

3.1.4 Das kollektive Gedächtnis

Die europäische Geschichte, die Österreich und Russland im 20. Jahrhundert in den Katastrophen der beiden Weltkriege entzweit hat, wird heute in Russland vor allem von der jüngeren Generation in bemerkenswerter Weise gelassen wahrgenommen und beurteilt. Die Last der Vergangenheit verstellt nicht mehr den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Die erfreuliche Aussöhnung zwischen den Feinden von gestern gehört zu den bemerkenswertesten Phänomenen, die das freundschaftliche Verhältnis der Russ*innen und der Österreicher*innen zueinander kennzeichnen. Einen nicht geringen Anteil daran dürfte auch die finanzielle Entschädigung von ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeiter*innen, die während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet der Republik Österreich ausgebeutet worden waren, im Rahmen des „Versöhnungsfonds der Republik Österreich“ beigetragen haben.

3.1.5 Die Transmissionsriemen der bilateralen Beziehungen

Ein vielfältiges Netzwerk von Institutionen ermöglicht zwischen Russland und Österreich die langfristige Pflege der bilateralen Beziehungen auf den verschiedensten Ebenen. Von den Transmissionsriemen, welche die Beziehungen vorantreiben, seien an dieser Stelle beispielhaft die folgenden genannt:

  • auf der staatlichen Ebene vor allem die beiden Außenministerien und die ihnen unterstellten Unterbehörden (die Botschaften der beiden Staaten in Wien und Moskau und die Konsulate)

  • die Österreichisch–Russische Wirtschaftskommission

  • die Bundeswirtschaftskammer mit ihrer Vertretung in Moskau

  • die Universitäten und speziell die Institute, die sich spezifisch mit Russland bzw. umgekehrt mit Österreich beschäftigen. In Österreich sind das die Institute für Politikwissenschaft und der Slawistik, die das Russischstudium anbieten.

  • Die Österreichisch-Russische Historikerkommission

  • Die Kulturinstitute, d. h. das österreichische Kulturforum in Moskau bzw. das Russische Kulturinstitut in Wien

  • Die Österreichbibliotheken in Russland

  • Die Österreichisch–Russische Freundschaftsgesellschaft in Wien

  • Die Stiftung Pro Oriente

  • Das Institut ICEUR

  • Der Sotschi-Dialog

3.2 Variable Faktoren

3.2.1 Politische Veränderungen

Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Österreich und Russland kennt Schönwetterphasen aber auch Zeiten von Friktionen. Die politische Volatilität und der jeweilige Zustand des EU-Russland Verhältnisses stellen den wichtigsten variablen Faktor der Beziehungen dar. Auch haben innenpolitische Veränderungen wie z. B. ein Regierungswechsel in dem einen oder anderen Partnerstaat Einfluss auf die Außenbeziehungen. In dieser Hinsicht hat in Österreich das Ende der ÖVP-FPÖ Koalitionsregierung 2019 auch eine Auswirkung auf die österreichische Russlandpolitik gehabt.

3.2.2 Der psychologische Faktor

Das persönliche Element zwischenmenschlicher Beziehungen sollte in der internationalen Politik nicht unterschätzt werden. In Bezug auf Russland hat die Chemie etwa zwischen Bundespräsident Klestil und Präsident Putin gestimmt. Dies ist auch gegenwärtig zwischen den österreichischen Spitzenpolitiker*innen und der russländischen Staatsführung der Fall. Dennoch ist das gute persönliche Einvernehmen keine Selbstverständlichkeit und ist deshalb unter die variablen Faktoren der österreichisch-russländischen Beziehungen einzuordnen.

4 Fazit

Die Beziehungen zwischen Russland und Österreich seit 1992 haben sich positiv entwickelt. Streitfragen, die es vor allem am Beginn des neuen Russland zwischen beiden Staaten gegeben hat, wurden gelöst oder entschärft. Die Russlandpolitik Österreichs reagierte zwar immer wieder auf die Änderungen der außenpolitischen Positionen Russlands – in einer pragmatischen und zahmen Weise. Die Änderungen in der innenpolitischen Lage, der zunehmende repressive und autokratische Charakter der politischen Herrschaftsordnung, blieben aber für die österreichische Russlandpolitik bedeutungslos. Die Beziehungen zielen vor allem auf eine enge wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit ab. Kontroverse politische Themen werden bewusst ausgespart. Kritische Worte österreichischer Regierungsmitglieder zur Repression in Russland findet man meist vergeblich. Diese indifferente Haltung zeigt sich auch bei einem Flaggschiff der gegenwärtigen Beziehungen – dem Soči-Dialog. Eine Menschenrechts- oder Rechtsstaatlichkeitsdimension ist und bleibt unerwünscht. Die Illusion, dass Österreich zwischen der EU und Russland eine vermittelnde Funktion übernehmen könnte, ist an der Wirklichkeit gescheitert.

Weiterführende Literatur

Donaldson, Robert, Nogee, Joseph L. und Vidya Nadkarni. 2019. The Foreign Policy of Rusia. Changing Systems, Enduring Interests. 6. Aufl. London: New York, NY: Routledge.

Darin werden Kontinuitäten und Brüche in der zaristischen, der sowjetischen und der russländischen Außenpolitik beleuchtet.

Lo, Bobo. 2015. Russia and the New World Disorder. London; Washington, DC: Chatham House/Brookings Institution.

Das Buch gibt einen leicht lesbaren guten Überblick über die Außenpolitik Russlands seit 1992.

Portisch, Hugo. 2020. Russland und Wir. Eine Beziehung mit Geschichte und Zukunft. Salzburg/München: Ecowin.

Dieses Buch erklärt die geschichtliche Relevanz der Beziehungen zwischen Österreich und Russland.

Stoner, Kathryn E. 2021. Russia. Its Power and Purpose in a New Global Order. Oxford: Oxford University Press.

Dieses Buch erläutert die Ordnungsvorstellungen Russlands für das internationale System und Russlands Status darin.

Tsygankov, Andrei P. 2016. Russia’s Foreign Policy. Change and Continuity in National Identity. 3. Aufl. London: Rowman & Littlefield Publishers.

Das Buch zielt auf die Änderungen der nationalen Identität Russlands und deren Wirkung auf die Außenpolitik des Landes.