Software ist spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts elementarer Bestandteil moderner Gesellschaften. Als Forschungsgegenstand der Soziologie ist sie lange nur punktuell in einzelnen Teilbereichen der Disziplin aufgetaucht (z. B. Suchman 1987; Ortmann et al. 1990; Orlikowski und Robey 1991; Rammert et al. 1998) oder wurde dann zum Thema, wenn aufsehenerregende Gesellschaftsanalysen (z. B. Beniger 1986; Zuboff 1988) die Aufmerksamkeit von Soziolog*innen kurzzeitig auf das Vordringen digitaler Technik in neue gesellschaftliche Bereiche lenken konnten. Mit der Zeit ist so eine Reihe an soziologischen Erkenntnissen über das Thema Software entstanden. Eine Soziologie der Software, also einen permanenten Diskurs und eine systematische Wissensbasis über die Rolle, die Software in modernen Gesellschaften spielt und über Vorgehensweisen, mit denen diese Rolle soziologisch untersucht werden kann, gibt es bisher jedoch nicht. Es ist Zeit, das zu ändern.

Erst in den letzten Jahren ist die Frage, wie der Umgang mit digitaler Technik unsere Gesellschaften verändert, zu einem Dauerthema in verschiedenen soziologischen Debatten geworden. Grundsätzlich scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass die zunehmende Rolle, die digitale Technik in allen Lebensbereichen spielt, für die Soziologie als Ganzes relevante Fragen aufwirft (Jarke 2018). Unklar ist, ob die Beziehung zwischen digitaler Technik und Sozialem sich qualitativ von ihrem Pendant im Analogen unterscheidet (Baecker 2017) oder ob nur allgemeine Zusammenhänge von Technik und Sozialem heute mehr Publikum finden (Dolata 2011), weil digitale Technik uns überall vor Augen führt, wie sehr Soziales und Technisches zusammenhängen. Klar ist jedoch, dass dieser Zusammenhang kein Nischenthema mehr ist, wenn es um digitale Technik geht.

Bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs stellen Soziolog*innen regelmäßig das „Digitale“ heraus (Funken und Schulz-Schaeffer 2008; Kallinikos et al. 2013; Tilson et al. 2010; Hirsch-Kreinsen 2015; Kirchner und Beyer 2016; Kropf und Laser 2019). Dabei identifizieren sie bestimmte Eigenschaften dieses „Digitalen“ als sozial relevante Einflussfaktoren und untersuchen empirisch Veränderungen, die diesen Einflussfaktoren zugeschrieben werden. Ob die gewählten Eigenschaften aber auch widerspiegeln, was das „Digitale“ im Sozialen bedeutsam macht, wird selten thematisiert. Die Frage, was an der digitalen Technik für das Verhältnis zwischen sozialem Handeln und sozialer Ordnung tatsächlich einen Unterschied macht, ist offen. Häufig wird thematisiert, dass digitale Technik nicht nur Informationsverarbeitung und Kommunikation verändert, sondern auch neue Wege eröffnet, um Kontrolle über Soziales auszuüben (Beniger 1986; Kallinikos 2005).

Zwei schwer zu vereinbarende Narrative durchziehen dabei (auch) die soziologische Forschung: Auf der einen Seite betrachten Wissenschaftler*innen digitale Technik als „multi-sited associative or concatenated entity“ (Mackenzie 2006), als Nicht-Technik, ungreifbares Verbindungsglied zwischen sozialen Kontexten, das in nie dagewesener Form Beziehungen über Zeit und Raum hinweg verknüpft, sich dauerhaft und überall verändert und dadurch keine eigene Stabilität besitzt. Auf der anderen Seite zeigen empirische Untersuchungen, dass dieser angeblich so flexible Gegenstand denen, die mit ihm umgehen, häufig erstaunlich dauerhafte Widerständigkeit entgegenbringt (Ortmann et al. 1990).

Dieser scheinbare Widerspruch ergibt sich nicht allein aus der Komplexität des Forschungsgegenstands, sondern auch aus einem fehlenden Austausch zwischen Forscher*innen, die mit verschiedenen Perspektiven auf das Verhältnis von digitaler Technik und Sozialem blicken. Wenn gefragt wird, wie soziale Faktoren die Entwicklung digitaler Artefakte und den Umgang mit ihnen beeinflussen, scheint Software dem engsten Wortsinn nach eine weiche Technik zu sein: extrem wandelbar und geeignet, alle Vorstellungen abzubilden und sich an beliebige Umgebungen anpassen zu lassen. Wenn aber untersucht wird, wie sich privater Alltag, Organisationen und Gesellschaften nach der Einführung von digitaler Technik verändern, werden die „harten“ Aspekte von Software stärker in den Vordergrund gerückt: dass sie bestimmte Umgangsformen vereinfacht und andere erschwert, und zwar aus Gründen, die keineswegs zufällig sind und kaum von den Akteur*innen abhängen, die davon am meisten beeinflusst werden.

Obwohl sich Soziolog*innen spätestens seit der ersten Welle der Informatisierung in den 1980er Jahren mit der Entstehung, Verbreitung und Nutzung digitaler Technik beschäftigen (Zuboff 1988; Orlikowski 1992; Weltz und Ortmann 1992; Rammert et al. 1998; Funken und Schulz-Schaeffer 2008; Bowker 1997; Pollock und Williams 2009; Suchman 1987; Star und Ruhleder 1996; Fulk und Steinfield 1990; Leonardi et al. 2012; Kallinikos et al. 2013; Houben und Prietl 2018), gibt es bis heute kein gemeinsames Forschungsfeld, in dem unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand systematisch zusammengeführt würden. Stattdessen werden traditionell vor allem in der Organisations- und der Techniksoziologie getrennte Debatten über Software geführt, die sich nur gelegentlich und in Teilen berühren. Seit einigen Jahren existiert zwar ein eigenes Feld der Software Studies in den Science and Technology Studies (STS), das punktuell an die vorangehenden Arbeiten anknüpft. In diesem können die soziologischen Diskurse aber nur begrenzt integriert werden, weil die Grundannahmen darüber, was „Soziales“ und „Technisches“ ausmacht, von denen in der klassischen Soziologie abweichen.

Mit der vorliegenden Arbeit stelle ich mir die Aufgabe, Erkenntnisse aus diesen verschiedenen Debatten zusammenzuführen und dadurch eine Antwort auf die Frage anzubieten, wie digitale Technik im Sozialen relevant wird. Ich stelle dabei die Themen Macht und Kontrolle in den Mittelpunkt und betrachte Software als Artefakt, welches immer auch geschaffen und genutzt wird, um die Unsicherheiten des Sozialen zu kontrollieren. Mit diesem Fokus schließe ich an eine Tradition der soziologischen Auseinandersetzung mit digitaler Technik an (Beniger 1986; Zuboff 1988). Gleichzeitig nehme ich dadurch die primär instrumentelle Perspektive auf, mit der Software in der Regel von Informatiker*innen und auch von den meisten anderen Akteur*innen betrachtet wird, die sie konstruieren und nutzen. Diese instrumentelle Perspektive basiert auf einer Annahme, die mit dem konstruktivistischen Blick, mit dem ich in der vorliegenden Arbeit auf Software schaue, deutlich erkennbar wird. Diese Annahme lautet: Soziales kann über Software gezielt kontrolliert werden. Worauf diese Annahme fußt, wer sie aufstellt und welche Auseinandersetzungen geführt werden, um sie aufrecht zu erhalten, wird in dieser Arbeit beschrieben. Mein Ziel ist es, eine soziologische Perspektive auf Software zu entwickeln, mit der diese Auseinandersetzungen sichtbar gemacht werden können. Diese Perspektive soll es Soziolog*innen ermöglichen, die Besonderheiten digitaler Technik ernst zu nehmen, ohne ihre Bedeutung für das Soziale zu überhöhen.

Mein Ausgangspunkt ist dabei die an Max Webers (2005 [1922]) Soziologieverständnis angelehnte Überzeugung, dass eine soziologische Perspektive das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung ins Zentrum stellen muss. Digitale Technik wird dieser Überzeugung nach insofern zum relevanten Forschungsgegenstand der Soziologie, als sie in dieses Verhältnis eingebettet ist. Aus einer in diesem Sinne soziologischen Perspektive wird digitale Technik nicht losgelöst von sozialer Ordnung oder sozialem Handeln betrachtet, auch dann nicht, wenn in konkreten Studien auf einen der Aspekte fokussiert wird. Stattdessen wird digitale Technik als Mittel und Produkt des Verhältnisses von Handeln und Ordnung untersucht und danach gefragt, welche Rolle sie in diesem Verhältnis spielt.

Eine erste Schwierigkeit bei einer allgemeinen soziologischen Auseinandersetzung mit digitaler Technik ist, dass der Gegenstandsbereich so unterschiedliche Phänomene umfasst. Sowohl einfache Geräte (z. B. Digitalwecker) als auch komplexe Systeme (z. B. GPS oder automatisierte Übersetzungsprogramme) beinhalten digitale Technik. Ihr Einsatz ist heute in beinahe jedem sozialen Prozess selbstverständlich (z. B. in der Industrieproduktion) oder zumindest vorstellbar (z. B. bei der Partner*innensuche). Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass digitale Technik komplex ist. Besonders für technische Lai*innen, wie Soziolog*innen es in der Regel sind, ist schwer verständlich, aus welchen Elementen digitale Technik besteht und wie diese Elemente zusammenspielen. In der Soziologie besteht daher keine Einigkeit darüber, was fokussiert werden soll, wenn die komplexen sozio-technischen Phänomene untersucht werden, in denen digitale Technik eine Rolle spielt. Soziolog*innen stellen in ihrer Forschung zum Beispiel Algorithmen (z. B. Seyfert und Roberge 2017), Daten (z. B. Houben und Prietl 2018), Informationssysteme (z. B. Walsham 1993) oder Computer (z. B. Rammert et al. 1998) in den Mittelpunkt und diskutieren die Bedeutung ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände für das Soziale in verschiedenen, größtenteils getrennten Debatten. In jeder dieser Debatten werden plausible Argumente benutzt, um zu begründen, warum der jeweilige Fokus auf digitale Technik deren sozial relevante Charakteristika erfasst. Die möglichen Alternativen, die sich in den anderen Debatten ja finden lassen, werden jedoch nicht diskutiert. So bleibt ungeklärt, in welchem Verhältnis die Forschungsgegenstände der einzelnen Debatten zu einander stehen, was eine Zusammenführung der Ergebnisse erschwert. Daher beginne ich meine Arbeit mit einer Bestimmung der zentralen Begriffe, die in der Soziologie genutzt werden, um die sozial bedeutsamen Charakteristika digitaler Technik zu erfassen, und ihrer Beziehungen zueinander. Wie bereits mit dem Titel der Arbeit signalisiert wird, gehe ich davon aus, dass sich diese Charakteristika mit dem Begriff der Software am besten erfassen lassen. Dies wird im folgenden Abschnitt begründet.

FormalPara Definitionen

In der vorliegenden Arbeit identifiziere ich Software als das Element digitaler Technik, über welches sich ihre Rolle für das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung am besten untersuchen lässt. Unter Software verstehe ich dabei Folgendes:

„Software consists of lines of code: Instructions and algorithms that, when combined and supplied with appropriate input, produce routines and programs capable of complex digital functions. Put simply, software instructs computer hardware – physical, digital circuitry – about what to do (...)“ (Kitchin und Dodge 2011, S. 3)

Wie auch in der Informatik üblich, ist Software damit zuerst über ihren Unterschied zu Hardware bestimmt: Während die Hardware der digitalen Technik aus physischen Bauteilen besteht, die elektrische Spannungen verarbeiten, beinhaltet die Software alle AnweisungenFootnote 1, die diese Bauteile steuern und damit die Funktionen verursachen, die von der Hardware ausgeführt werden. Ein Computer setzt sich aus Soft- und Hardware zusammen, ein Informationssystem besteht wiederum aus möglicherweise mehreren Computern, die auf den gemeinsamen Einsatz in einem sozio-technischen System ausgerichtet sindFootnote 2. In Software wird durch Codezeilen festgelegt, wie ein Computer unter welchen Umständen mit Eingaben verfahren soll, die aus dem Informationssystem oder von dessen Nutzer*innen stammen. Der Begriff Software schließt damit einerseits Daten (als Informationen über die Umwelt in für den Computer bearbeitbarer Form) und Algorithmen (als Anweisungen dafür, wie mit diesen Daten im Computer umgegangen werden soll) als Elemente ein und ist andererseits selbst Element von Computern und Informationssystemen. Wie im Verlauf der Arbeit gezeigt wird, lässt sich die Art und Weise, wie digitale Technik in das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung eingebettet ist, anhand des Softwarebegriffs spezifischer untersuchen, als dies mit den anderen hier erwähnten Begriffen möglich ist. Die statischen Aspekte der Software werde ich als Code (Codezeilen), die dynamischen Aspekte als FunktionenFootnote 3 bezeichnen. Eine Menge aufeinander Bezug nehmender Codezeilen, die dafür geschaffen sind, unter den gleichen technischen Bedingungen ausgeführt zu werden, um bestimmte Funktionen auszulösen, wird in dieser Arbeit Programm genannt.

Nach dieser kurzen Begriffsbestimmung werde ich im Folgenden die zentralen Linien der soziologischen und soziologie-nahen Debatten skizzieren, in denen Forscher*innen sich mit der Rolle von Software im Sozialen beschäftigt haben. Diese Debatten bilden den Hintergrund für die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit und für die soziologische Perspektive auf Software, die hier entwickelt werden soll. Beides wird im Anschluss an den Überblick über die bestehende Forschung ausformuliert.

FormalPara Software in soziologischen Debatten

In der Technik- und der Organisationssoziologie ist die Rolle von Software im Sozialen seit mehreren Jahrzehnten immer wieder thematisiert worden. Forscher*innen in beiden Teildisziplinen haben dabei grundlegende Erkenntnisse darüber produziert, wie soziale Bedingungen beeinflussen, wie Akteur*innen Software entwickeln und nutzen und wie diese Nutzung auf das Soziale zurückwirkt. In beiden Teildisziplinen wurde außerdem Grundlegendes darüber herausgefunden, wie Technik allgemein im Sozialen und speziell in Organisationen bedeutsam wird. Solche Grundlagen, diesmal ausschließlich zu Software und dem Sozialen, finden sich auch in zwei interdisziplinären Forschungsfeldern, nämlich in der Forschung zu Computer Supported Cooperative Work (CSCW) und in den Software Studies. Diese Grundlagen aus den vier Forschungsgebieten betrachte ich als die Basis, auf der eine Soziologie der Software aufgebaut werden kann. Im Folgenden stelle ich diese Basis vor und zeige, welche Forschungslücken ich in den einzelnen Debatten in Bezug auf die Rolle von Software im Sozialen sehe. Im Anschluss an diesen kurzen Überblick werde ich dann ausformulieren, welchen Beitrag ich mit dieser Arbeit leisten will, damit auf dieser Basis eine Soziologie der Software aufgebaut werden kann.

FormalPara Techniksoziologie

Bevor die Besonderheiten digitaler Technik untersucht werden können, ist es nötig, zuerst Klarheit über die Beziehung von Technik und Sozialem im Allgemeinen zu bekommen. Traditionell teilt sich die techniksoziologische Forschung in Arbeiten, in denen die Beziehung von Technik und Sozialem für Prozesse der Technikentwicklung beleuchtet wird, und andere, in denen Prozesse der Techniknutzung im Vordergrund stehen. Nur in wenigen Arbeiten wird beides zugleich betrachtet.

In der Forschung zur Technikentwicklung lassen sich drei Arten von Fragestellungen identifizieren. Sie unterscheiden sich vor allem dadurch, wie genau sie die konkreten Eigenschaften technischer Artefakte thematisieren: (1) Welche sozialen Rahmenbedingungen wirken auf Prozesse der Technikentwicklung ein? (2) Was für übergeordnete Konzepte nutzen Technikentwickler*innen, um die gemeinsame Arbeit zu koordinieren? (3) In welcher Beziehung stehen solche übergeordneten Konzepte zu den konkreten Eigenschaften der technischen Artefakte, die entwickelt werden?

(1) Eine der wichtigsten Grundlagen für die Untersuchung des Einflusses sozialer Rahmenbedingungen auf Prozesse der Technikentwicklung stellt der Ansatz der Social Construction of Technological Systems (SCOT) dar (Pinch und Bijker 1987). Diesem zu Folge entstehen Artefakte quasi-evolutionär dadurch, dass sich verschiedene soziale Gruppen miteinander und mit ihren jeweiligen Vorstellungen von der für ihre Zwecke erwünschten Gestalt der Technik auseinandersetzen. Solche Gruppen bilden sich um die geteilte Interpretation eines entstehenden Artefakts und der von ihm zu lösenden Probleme. Durch eigene Konstruktionen oder Einflussnahme auf Ingenieur*innen und Unternehmer*innen, die die Technik herstellen, wirken diese Gruppen darauf hin, dass das Artefakt für bestimmte Zwecke optimiert wird. Wozu es dienen und nach welchen Kriterien es weiterentwickelt werden soll, kann dabei ebenso von den Vorstellungen kleinerer Nutzer*innengruppen (Pinch und Bijker 1987; Bijker et al. 1987) wie von den ökonomischen und politischen Interessen einflussreicher institutioneller Akteur*innen abhängen (Bijker et al. 1987, S. 199–268). Im Laufe der Zeit setzt sich eine der vielen möglichen Interpretationen des Artefakts durch, die interpretative Flexibilität der Anfangsphase verschwindet und es kommt zur Schließung, also zur diskursiven Einigung auf dominante Zwecke und Funktionen des Artefakts. Beides, interpretative Flexibilität und Schließung, werden vor allem als diskursive Prozesse betrachtet. Konkrete Eigenschaften der Technik sind Ergebnisse dieser Diskurse und nicht „an sich“ sozial bedeutsam, also nicht, ohne dass sie von Menschen in Diskurs oder Praxis aufgegriffen werden (Grint und Woolgar 1992, S. 367)Footnote 4. Dass Artefakte Eigenschaften mitbringen, die den Verlauf der diskursiven Prozesse während der Entwicklung beeinflussen könnten, ist in diesem Ansatz nicht vorgesehen.

(2) Während bei SCOT ursprünglich davon ausgegangen wird, dass sozial relevante Gruppen anhand geteilter Vorstellungen vom Artefakt identifiziert werden können (Pinch und Bijker 1987, S. 30), sind spätere Arbeiten auch der Frage gewidmet, wie diese Vorstellungen innerhalb der sozial relevanten Gruppen entstehen, aufrechterhalten werden und die Kooperation in den Gruppen strukturieren. Auf dieser Ebene der Betrachtung steht der technological frame im Fokus. Als solcher wird eine Sammlung kognitiver und pragmatischer Konzepte bezeichnet, die gemeinsame Problemdefinitionen, Ziele, Heuristiken zu Zweck-Mittel-Zusammenhängen und Designprinzipien umfassen und an denen sich Mitglieder der Gruppe orientieren (Bijker 1995, S. 119 ff). Die Existenz dieses Systems an geteilten Deutungen ist die Voraussetzung dafür, dass für die Technikentwicklung relevante Interaktionen innerhalb der sozial relevanten Gruppe stattfinden können. Die Herausbildung eines gemeinsamen technological frame ist damit ein entscheidender Teil der frühen Technikgenese. Er stellt Einigkeit über den Weg her, der beschritten werden muss, um ein bestimmtes Artefakt herzustellen. Der technological frame ist damit ein soziales Ordnungsmuster auf mittlerer Ebene, das soziales Handeln ermöglicht, indem es den Akteur*innen erlaubt, Fragen nach den Auswirkungen dieses Handelns auf übergeordnete Muster sozialer Ordnung zurückzustellen und einfach tätig zu werden.

Über technological frames werden mögliche Handlungsoptionen für den Umgang mit konkreten Problemen, die im Prozess der Technikentwicklung aufkommen können, definiert und damit die Entscheidungen in diesem Prozess direkt vorstrukturiert. Im Gegensatz dazu stehen beim Begriff des Leitbilds die erwarteten Auswirkungen der Technikentwicklung auf die soziale Ordnung im Vordergrund. Leitbilder sind

„Vorstellungen über gegebene oder herstellbare technische Möglichkeiten [...], die sich zu vorausdeutenden Technikentwürfen verdichten und als wahrnehmungs-, denk-, entscheidungs- und handlungsleitender Orientierungsrahmen für individuelle und kollektive Akteure in technikgenetischen Prozeßnetzwerken wirken.“ (Dierkes et al. 1992, S. 11)

Leitbilder bringen also Erwartungen über mögliche gesellschaftliche Folgen einer (noch zu konstruierenden) Technik zum Ausdruck, an denen sich Akteur*innen orientieren, die durch die Entwicklung von Technik Soziales verändern wollen. In der Technikgeneseforschung wird davon ausgegangen, dass diese gewöhnlich vagen Zukunftsbilder vor allem drei Zwecke erfüllen: Erstens helfen sie dabei, Kommunikationsbarrieren zwischen Akteur*innen mit unterschiedlichen Wissenshintergründen abzubauen, zweitens dienen sie dazu, Ziele und Handlungen zu vereinheitlichen und drittens helfen sie dabei, in Entwicklungsprojekten mit ungewissem Ausgang die Motivation aller Beteiligten aufrecht zu erhalten (Dierkes et al. 1992). Leitbilder ermöglichen es unterschiedlichen Akteur*innen, die bei der Technikentwicklung mitwirken, abstrakte Wert- und Zielvorstellungen mit konkreten, prototypischen Lösungsmustern und damit auch mit den Artefakten in Verbindung zu setzten, die aus ihrer jeweiligen Arbeit hervorgehen (Hellige 1996). Anders als technological frames vereinheitlichen Leitbilder Vorstellungen über die Ziele der Technikentwicklung, legen jedoch die Wege, die dorthin führen, nicht konkret fest. Verschiedene, miteinander unvereinbare Lösungsmuster können unter dem gleichen Leitbild versammelt werden, ohne dass dies den Entwicklungsprozess beeinträchtigen muss (a.a.O., S. 26 f). Dies zeigt, dass Leitbilder für den konkreten Umgang mit der Technik zweitrangig sind: In mehreren Studien zur Entwicklung von „Expertensystemen“ (Rammert et al. 1998) zeigt sich, dass Leitbilder zwar erfolgreich genutzt werden, um im o.a. Sinn das Handeln verschiedener Akteur*innen auf ein gemeinsames Entwicklungsziel hin auszurichten. Der konkrete Bezug zu den Artefakten ist jedoch gering, denn die Leitbilder „prägen stärker die Rhetorik und weniger die Praxis“ (Rammert 2000, S. 90) bei der Technikentwicklung. Sie bieten nur „Visionen der Technisierung“ (a.a.O., S. 86) an, also Fernziele, auf die Akteur*innen hinarbeiten. Die Entscheidungen darüber, wie diese Visionen zu erreichen sind, werden jedoch stärker von größtenteils impliziten „Konzepten der Konstruktion“ (a.a.O.) beeinflusst, die in den professionellen Paradigmen der Entwickler*innen, ihren praktischen Erfahrungen und konkreten Rahmenbedingungen der Arbeit gründen. Während die Konzepte der Konstruktion grundsätzliche Entscheidungen über Eigenschaften der Technik vordefinieren, sind die Details der Konstruktion durch das kulturelle Modell bestimmt. Dieser Begriff bezeichnet die Vorstellungen der Entwickler*innen davon, wie ihre Nutzer*innen sind, was sie können und wollen (a.a.O., S. 87).

(3) In den vorgestellten Ansätzen wird der Stellenwert übergeordneter Deutungs- und Handlungsmuster für die Technikentwicklung thematisiert. Es wird aber wenig darüber ausgesagt, wie diese konkrete Handlungsentscheidungen von Entwickler*innen beeinflussen. Erst über solche Handlungsentscheidungen in den Entwicklungsprozessen werden übergeordnete Deutungs- und Handlungsmuster in konkrete Eigenschaften technischer Artefakte übersetzt. Um den Zusammenhang von sozialen Ordnungsmustern und konkreten technischen Eigenschaften geht es primär in Forschungsarbeiten, in denen untersucht wird, wie das Nutzer*innenbild von Entwickler*innen ihre Entscheidungen über technische Eigenschaften der Artefakte prägt, die sie konstruieren (Grint und Woolgar 1992; Oudshoorn et al. 2004; Hyysalo et al. 2016; Woolgar 1991). Die Grundideen in diesem Forschungsstrang stelle ich hier beispielhaft anhand der Arbeit von Nelly Oudshoorn, Els Rommes und Marcelle Stienstra (2004) vor. Die Autorinnen vergleichen mehrere Entwicklungsprozesse, in denen die Auseinandersetzung mit der Frage, was zukünftige Nutzer*innen ausmachen könnte, entfällt, weil die Technik sich an „everybody“ richtet. Ein solch maximal unspezifisches Nutzer*innenbild führt dazu, dass Entwickler*innen die „Ich-Methodologie“ anwenden: Die explizite Konstruktion der Nutzer*in als „everybody“ führt in der Praxis dazu, dass die Nutzer*in implizit als Spiegelbild der an der Entwicklung beteiligten Gruppe konstruiert wird. Diese Gruppe ist nicht im Geringsten repräsentativ für die tatsächlich anvisierte Gruppe der Nutzenden, was dazu führt, dass die fertiggestellte Technik die Anforderungen der Nutzer*innen in der Praxis nicht erfüllt. Die konkreten Eigenschaften der Technik und damit die Möglichkeiten, die deren Nutzer*innen später im Umgang mit ihr haben, ergeben sich durch dieses Vorgehen aus den unreflektierten Vorlieben der Entwickler*innen. Oudshorn et. al schlussfolgern, dass sich in diesen Eigenschaften mehrere Ebenen sozialer Ordnung widerspiegeln: politische und ökonomische Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass potentielle zukünftige Nutzer*innen nicht in irgendeiner Form in den Entwicklungsprozess einbezogen werden, sowie die Geschlechterordnung. Dieser schreiben die Autor*innen sowohl die Zusammensetzung des Entwicklungsteams als auch die Vorlieben der Entwickler*innen für bestimmte technische Eigenschaften zu (Oudshoorn et al. 2004).

Die Vorstellung, dass Nutzer*innen durch konkrete Eigenschaften der Technik „konfiguriert“ werden (Woolgar 1991) schlägt eine Brücke von der Technikentwicklungs- zur Techniknutzungsforschung. Auch hier finden sich mehrere Strömungen, die sich darin unterscheiden, wie viel Bedeutung konkreten Eigenschaften von Artefakten zugemessen wird, wenn es darum geht zu verstehen, weshalb Nutzende auf eine bestimmte Art mit Technik umgehen. Sehr dominant ist hierbei die Perspektive auf den Konstruktivismus, die von den Anhängern der SCOT vertreten wird. Dieser zu Folge führt die Betrachtung konkreter Eigenschaften von Technik in die Irre, weil davon ausgegangen werden muss, dass diese Eigenschaften nur das Ergebnis einer durch Diskurse und routinisierte Handlungsmuster geprägten Interpretation der Technik durch die Nutzenden sind, aber nicht für sich stehen (David und Pinch 2008; Grint und Woolgar 1992). Auch wenn theoretisch zugestanden wird, dass diese Interpretation nicht vollständig unabhängig von materiellen Bedingungen sein kann, werden diese materiellen Bedingungen in der Forschungspraxis ausgeblendet und verschwinden damit aus dem Bereich der für die Soziologie bedeutsamen Forschungsgegenstände (z. B. David und Pinch 2008, S. 364).

Die meisten Forscher*innen, die sich trotz dieser Einwände auf konkrete Eigenschaften der Technik fokussieren, betrachten die untersuchten Artefakte nicht als Ergebnis bestimmter Verhältnisse zwischen sozialem Handeln und sozialer Ordnung im Entwicklungsprozess. Sie nehmen deren Eigenschaften entweder als faktisch außersoziale Tatsachen hin (z. B. Leonardi 2013) oder wenden sich grundsätzlich gegen den Versuch, Technisches von Sozialem zu unterscheiden. Letztere Herangehensweise stützt sich auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), der zu Folge soziale Phänomene nicht aus einem Verhältnis von Handeln und Ordnung heraus verstanden werden können, in das technische Artefakte eingebettet sind. Vielmehr sollen sie als Effekte heterogener Netzwerke betrachtet werden, die Menschen, Dinge, Handeln, Ordnung und alles andere, was wir beobachten können, hervorbringen, (Latour 2001; Law 1992). In der ANT sind konkrete Eigenschaften von Technik Ergebnis einer Inskription (Akrich 2000): Entwickler*innen eines technischen Artefakts stellen sich nicht nur die Nutzenden, sondern die gesamte Situation der zukünftigen Nutzung vor und gestalten die Eigenschaften des Artefakts so, dass sie optimal in diese projizierte Zukunft passen:

„Designer definieren […] Akteure mit besonderem Geschmack, besonderen Kompetenzen, Motiven, Zielen, politischen Vorurteilen und vielem anderen, und sie nehmen an, dass Moral, Technik, Wissenschaft und Ökonomie sich auf bestimmte Weisen entwickeln werden.“ (Akrich 2006, S. 411)

Bei der Inskription werden Handlungsmodelle, sogenannte „Skripte“ (a.a.O.), in materielle Eigenschaften des Artefakts übersetzt. Die Skripte basieren nicht nur auf Vorstellungen von Bedürfnissen und Kompetenzen der Personen, die Technik nutzen sollen, sondern auch auf Annahmen über die Umstände, unter denen diese mit dem Artefakt umgehen. Sie beschreiben ein Netzwerk aus Menschen, Technik und Rahmenbedingungen. Verwenden die Nutzenden die Artefakte so, wie die Skripte es vorsehen, setzen sie sich selbst und die Technik in die Positionen im Netzwerk, die ihnen die Skripte zuschreiben, und tragen damit dazu bei, dass das Netzwerk, dass Entwickler*innen erdacht haben, in der Nutzungssituation entsteht (a.a.O., S. 420).

Das Konzept der Inskription wird auch in techniksoziologischen Arbeiten aufgegriffen, in denen explizit die Nutzung von Software thematisiert wird. Die Erkenntnisse aus diesen Arbeiten, die für die soziologische Auseinandersetzung mit Software relevant sind, werden in Kapitel 2 verarbeitet.

Insgesamt zeigt sich bei der Betrachtung des Forschungsstands zur Techniknutzung, dass der Versuch, sowohl die Eigenschaften technischer Artefakte als auch den Umgang mit diesen Artefakten als Ausdruck eines Verhältnisses zwischen sozialem Handeln und sozialen Ordnungen zu betrachten, selten unternommen wird. Techniksoziolog*innen berücksichtigen bei der Untersuchung dieses Verhältnisses fast ausschließlich die Aspekte sozialer Ordnung, die sich direkt auf die Technik beziehen: Leitbilder, technological frames, sozial relevante Gruppen und Vorstellungen vom Artefakt, den Nutzenden und der Nutzungssituation. Was größtenteils ausgeblendet wird, ist die Tatsache, dass Technikentwicklung und –nutzung im Rahmen von sozio-technischen Systemen stattfindet. Soziale Ordnung bezieht sich in diesen Systemen nicht nur auf den Umgang mit Technik, sondern auch auf Formen des Handelns, in denen Technik auf den ersten Blick keine Rolle spielt. Die grundsätzliche Bedeutung von Systemen für Technik betont z. B. Ingo Schulz-Schaeffer mit seinem Konzept der Dualität von Ressourcen und Routinen, das Technik mit Expert*innensystemenFootnote 5 gleichsetzt (Schulz-Schaeffer 1999). Die Arbeit ist symptomatisch dafür, wie in der Techniksoziologie häufig mit dem Thema sozialer Systeme umgegangen wird: Die Bedeutung sozialer Systeme für die Funktion der Technik wird zuerst angedeutet, im Anschluss spielen diese dann keine weitere Rolle für das Konzept. Die Arbeit von Schulz-Schaeffer wird in Kapitel 2 vorgestellt; in Kapitel 3 wird die Verbindung von Technik und Expert*innensystemen ausgearbeitet.

FormalPara Organisationssoziologie

Das allgemeine Verhältnis von Handeln und Ordnung in sozialen Systemen ist Kernthema der Organisationssoziologie. Anders als in der Techniksoziologie ist die Frage danach, wie Software (nicht nur Technik allgemein) in das Soziale eingebettet ist, ein Forschungsschwerpunkt in dieser Teildisziplin. In einem Großteil der Forschungsarbeiten mit diesem Schwerpunkt wird die Nutzung von Software analysiert. Eine Grundannahme in den Arbeiten, in denen Technik nicht grundsätzlich als außersozialer Gegenstand betrachtet wird, ist, dass Software das Handeln von Organisationsmitgliedern beeinflusst, aber nicht determiniert. Welche Rolle Software in Organisationen spielt, hängt demnach davon ab, ob und wie Organisationsmitglieder sich die von der Technik vorgegebenen Abläufe aneignen (Orlikowski 2000), sie umgehen (Ortmann et al. 1990, S. 77–170) oder damit unvorhergesehene neue Praktiken realisieren (Boudreau und Robey 2005). Durch die Auseinandersetzung mit Software verändern Organisationsmitglieder ihre Deutungsmuster (Fulk und Steinfield 1990) und Praktiken (DeSanctis und Poole 1994). Auf die Dauer kann diese Veränderung zu neuen Rollen und Interaktionsmustern (Barley 1990), neuen institutionellen Bedingungen des Handelns (Orlikowski 1992) und einer Verschiebung im Machtgefüge der Organisationen (Zuboff 1988) führen.

Angesichts ihrer grundlegenden Perspektive unerwartet ist, dass auch in der Organisationssoziologie verhältnismäßig selten berücksichtigt wird, welche Bedeutung Organisationen als soziale Kontexte mit eigenständigen Regeln und Dynamiken für den Umgang mit Software haben. Nur in wenigen organisationssoziologischen Arbeiten wird zum Thema, dass Organisationen eine eigene Ebene der sozialen Ordnung darstellen, die beeinflusst, wie Nutzende sich der Software nähern und welche Arten und Weisen des Umgang sie entwickeln können (Ortmann et al. 1990; Orlikowski 1992). Auch die Tatsache, dass die Umgangsformen mit Software nicht nur von der Organisation, sondern darüber hinaus auch von den konkreten Eigenschaften der Software abhängen, die die Akteure sich aneignen, wird nur selten untersucht. Wo dies geschieht (D’Adderio 2008; Volkoff et al. 2007) und die Spezifika der Software in die Analyse der Entwicklung von Nutzungsweisen einbezogen werden, erscheint die Software als quasi-neutrales Übertragungsmedium von sozialen Strukturen, also von Ordnungsmustern, die intentional von Entwickler*innen eingebaut worden sind. Als solches füge sie die Strukturen in die Nutzungskontexte ein, wo sie dann Handlungsoptionen beschränken (DeSanctis und Poole 1994).

Eine solch vereinfachende Perspektive auf Software bleibt nicht nur hinter dem Stand der Forschung in der Techniksoziologie zurück, sondern unterschlägt auch, dass Entwickler*innen Software nicht vollständig beliebig gestalten können. Obwohl Code häufig als ein Material betrachtet wird, das einfacher zu manipulieren ist als jeder physische Stoff, müssen Akteur*innen sich bei der Entwicklung von Software ebenso an Regeln orientieren, die ihre Fähigkeiten, ihr Material zu manipulieren, einschränkt, wie bei der Entwicklung jeder anderen Technik. Code ist kein Stahl, aber er besitzt Besonderheiten, die bei der Softwareentwicklung ebenso berücksichtigt werden müssen wie die physischen Gesetze, nach denen sich Maschinenbauer*innen bei ihrer Arbeit richten müssen. Diese Besonderheiten sind schwerer zu fassen, im wörtlichen Sinne: Was die „Materialität“ von Software ausmacht und wie diese in empirischen Analysen gefasst werden kann, ist in der Soziologie umstritten. Wenig überraschend konzentrieren sich daher auch Studien in der Organisationssoziologie auf die Akteur*innen und ihren sozialen Kontext und blenden die technischen Eigenschaften der Software aus. Die Forderung, dies zu ändern und die „Materialität“ von digitaler Technik auch empirisch zu berücksichtigen, wird seit langem regelmäßig erhoben (Monteiro und Hanseth 1996; Orlikowski und Iacono 2001; Orlikowski 2005; Leonardi und Barley 2010), in der Praxis aber nur selten umgesetzt (aber z. B. Mormann 2016).

Eine Ursache dafür liegt in der Konzentration der Arbeiten auf die Einführungs- und Nutzungsphase (Leonardi und Barley 2008, S. 166 f). Dadurch erscheint die Software zu Beginn der Untersuchung primär als Objekt mit statischen technischen Eigenschaften, die erst durch die Interpretationen und Interaktionen der Nutzenden sozial bedeutsam und für Soziolog*innen zugänglich werden (Leonardi und Barley 2008; Leonardi 2009). Um zu prüfen, ob und wie die konkrete technische Ausgestaltung der Software für die Art der Interpretationen und Interaktionen relevant ist, müsste sie als Produkt sozialer Prozesse in die Analysen der Nutzung einbezogen werden. In dieser Hinsicht treffen Organisationssoziolog*innen bei der Untersuchung von Software auf die gleiche Problematik wie Techniksoziolog*innen, auch wenn sie sich dieser vorzugsweise aus der Richtung der Techniknutzung nähern: Entwicklungs- und Nutzungsprozesse sind aufeinander bezogen, lassen sich jedoch aufgrund der Bedingungen der Forschungspraxis (v. a. der zeitlichen und räumlichen Begrenzung von Forschungsprojekten) nur schwer gemeinsam untersuchen.

Dass dies vor allem ein Problem der Forschungspraxis, nicht eines der Theorie ist, zeigt Wanda Orlikowski mit dem Konzept der Dualität von Technik (Orlikowski 1992), das sie in den frühen 1990er Jahren in der Auseinandersetzung mit Organisationssoftware entwickelt hat. Das Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass Formen des Umgangs mit (Informations-)Technik nur verstanden werden können, wenn man die Akteure, die mit Software umgehen, die konkreten Eigenschaften der Technik und die „social and historical circumstances“ (Orlikowski 1992, S. 411), unter denen Technik entwickelt und genutzt wird, gemeinsam berücksichtigt. Die Arbeit, in der das Konzept der Dualität von Technik entwickelt wird, stellt zusammen mit der konzeptionell darauf aufgebauten Studie zur Bedeutung von Nutzungspraktiken (Orlikowski 2000) immer noch eine der meist zitierten Arbeiten im organisationssoziologischen Diskurs um Software dar. Eindringlich werden in diesem Konzept die drei zentralen Aspekte benannt, die betrachtet werden müssen, wenn das Zusammenspiel von Software und Sozialem verstanden werden soll: die Akteur*innen, die mit Software umgehen, die konkreten technischen Eigenschaften der Software und die sozialen Bedingungen, unter denen dieser Umgang stattfindet. Obwohl diese zentralen Aspekte im Konzept klar als solche benannt werden, hat die Prominenz des Konzept der Dualität von Technik bisher nicht dazu geführt, dass die Trias aus Akteur*innen, konkreten technischen Eigenschaften und Bedingungen des Umgangs mit Software bei der soziologischen Untersuchung von Softwareentwicklung und –nutzung regelmäßig in ihrem Zusammenspiel betrachtet worden wäre. Die vorliegende Arbeit knüpft hier an. Das Konzept der Dualität von Technik wird in Kapitel 2 genauer vorgestellt. Es liegt auch der Ausarbeitung des Forschungsrahmens in Kapitel 3 zu Grunde.

FormalPara Computer Supported Cooperative Work

Die naheliegende Verbindung von technik- und organisationssoziologischen Erkenntnissen versuchen Wissenschaftler*innen im Forschungsfeld der Computer Supported Cooperative Work (CSCW) zu leisten. In diesem Feld wird untersucht, wie Softwareentwicklungsprozesse organisiert sind (Rönkkö et al. 2005) und wie sie sich diese Organisation auf Entscheidungen auch über technische Fragen im Prozess der Softwareentwicklung auswirkt (Button und Sharrock 1998). CSCW-Forscher*innen betrachten, wie Software durch die Einbindung zukünftiger Nutzer*innen in den Entwicklungsprozess auf spezifische Weise geformt wird (Egger und Wagner 1993) und welche Faktoren die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Entwickler*innen und potentiellen Nutzer*innen systematisch erschweren (Petersen 2004; Star und Ruhleder 1996). Die große Stärke der CSCW-Forschung für die Frage nach der Rolle von Software im Sozialen liegt darin, dass hier der Fokus auf der Beziehung zwischen Entwicklungs- und Nutzungsphase liegt und technik-, organisations- und auch arbeitssoziologische Ideen zusammengeführt werden, um diese Beziehungen besser zu verstehen. Mehr als in den anderen hier erwähnten Bereichen finden sich in der Forschung zu CSCW auch Anknüpfungspunkte für Informatiker*innen, die ihren Gegenstand als eine besondere und sozial bedeutsame Technologie betrachten. Die Frage, wie konkrete Eigenschaften von Software gestaltet werden können und welche Folgen sie für die Nutzung haben, steht für diese Forscher*innen im Vordergrund (Schmidt und Bannon 2013).

Forscher*innen in den CSCW nehmen das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung vor allem dadurch auf, dass sie die Einbettung von Software in Praktiken fokussieren. Dieser Fokus lässt sich damit begründen, dass sich Praktiken konkret beobachten und rekonstruieren lassen (Schmidt 2018; Pipek und Wulf 2009; Wulf et al. 2018). Als Praktiken werden dabei sich wiederholende, normativ geleitete Aktivitäten verstanden, die Regeln (eine „Theorie“) besitzen und von Akteur*innen unter kontingenten Bedingungen ausgeführt werden. Wenn Akteur*innen mit Software umgehen (in der „Praxis“), berücksichtigen sie im Handeln sowohl die abstrakten Regeln als auch die konkreten Bedingungen, unter denen sie aktuell handeln (Schmidt 2018). Da soziologische Forschung und anwendungsorientierte Softwareentwicklung in der CSCW oft im gleichen Projekt stattfinden, wird in Arbeiten aus diesem Forschungsfeld besonders sichtbar, dass das Verhältnis von Software und Sozialem rekursiv ist: Einmal eingeführt, verändert Software (meist) sowohl die „Theorie“ der Praktiken, die Vorlage für ihre Entwicklung waren, als auch (immer) die Bedingungen, unter denen sie genutzt wird (a.a.O., S. 53). Die CSCW-Forschung zeigt, dass es möglich ist, einerseits zu berücksichtigen, dass Software sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Nutzung in das Verhältnis von sozialer Ordnung und sozialem Handeln eingebettet ist, anderseits aber auch zu untersuchen, welche konkreten Eigenschaften Software hat und wie diese Eigenschaften die Einbettung beeinflussen.

Zwar füllt die CSCW-Forschung durch die Konzentration auf den Zusammenhang zwischen Entwicklungs- und Nutzungsprozessen eine Lücke, die sich zwischen Technik- und Organisationssoziologie auftut, doch sie besitzt auch einen großen blinden Fleck: In aller Regel werden nur kleine Entwicklungsprojekte untersucht, in denen Software für einen Kreis wohl bekannter Nutzer*innen und meist mit ihrer Beteiligung gestaltet wird. Dies führt konzeptionell zu einer Überbetonung der lokalen Besonderheiten des untersuchten Einzelfalls (Monteiro et al. 2013). Dadurch gelingt es zwar, ein tiefes Verständnis über das Zusammenspiel von Software und Sozialem im jeweiligen Fall zu entwickeln, es wird jedoch kaum thematisiert, welche Aspekte dieses Zusammenspiels verallgemeinerbar und welche auf die besondere Entwicklungssituation zurückzuführen sind. Die Erkenntnisse aus solchen Arbeiten lassen sich nur begrenzt auf die aktuell und (absehbar) zukünftig dominanten Formen von Software übertragen. Diese dominanten Formen von Software werden zum einen stark von Standardisierung beeinflusst, sei es durch die Verwendung standardisierter Einzelteile oder durch die Orientierung an gemeinsamen Protokollen und Schnittstellen (mehr dazu in 2.1.3). Zum anderen ist Software, die speziell für eine kleine Gruppe bekannter Personen (oder die Mitglieder einer konkreten Organisation) entwickelt wird, immer stärker durch Standardsoftware verdrängt worden (Sawyer 2001). Diese Verschiebung ist in der soziologisch orientierten Auseinandersetzung mit Software, die ihre Wurzeln in den 1980er Jahren hat, als maßgeschneiderte Software dominant war, noch nicht ausreichend nachvollzogen worden.

Standardsoftware wird für noch unbekannte Gruppen zukünftiger Nutzer*innen konstruiert, deren Praktiken und Rahmenbedingungen nicht beobachtet werden können, sondern im Entwicklungsprozess vorhergesagt werden müssen. Praktiken und Rahmenbedingungen des Umgangs mit Software und die Software selbst müssen dann bei der Einführung aneinander angepasst werden. Neben der Konzentration auf Nicht-Standardsoftware bleibt auch in den CSCW die Tatsache unterbelichtet, dass die Nutzung von Software in sozialen Systemen stattfindet, deren Ordnung den Umgang mit der Technik ebenso beeinflusst wie die konkreten Eigenschaften der Artefakte. Mit der seit den 1990er Jahren anwachsenden Forschung zu Infrastrukturen (Star und Ruhleder 1996; Hanseth und Monteiro 1997; Pollock et al. 2007; Monteiro et al. 2013) soll diese Schwäche ausgeglichen werden. Diese Forschung leidet aber an einer ähnlichen konzeptionellen Unschärfe des zentralen Gegenstands wie die Forschung zum „Digitalen“ (Lee und Schmidt 2018). In Kapitel 2 werden einige zentrale Erkenntnisse der Infrastrukturforschung aufgegriffen und gezeigt, dass damit allgemeine Besonderheiten von Software beschrieben werden.

FormalPara Software Studies

Während in der Technik- und Organisationssoziologie sowie der CSCW konzeptionell zwischen Software und Sozialem unterschieden wird, um die Wechselbeziehungen zwischen beidem zu betrachten, wird diese Unterscheidung in den Software Studies explizit abgelehnt. Adrian Mackenzie schlägt vor, Software nicht als Technik zu betrachten, sondern als „eine Menge an Möglichkeiten, HandlungsfähigkeitFootnote 6 zwischen Menschen, Maschinen und in Code festgehaltenen symbolischen Umwelten zu verteilen“ (Mackenzie 2006, S. 19, eigene Übersetzung). Software wird aus dieser Perspektive nach sozial relevant, weil ihr Code mögliche Beziehungen zwischen Produzent*innen, Empfänger*innen und repräsentierten Phänomenen („Protoypen“, a.a.O., S. 16) beschreibt und der Umgang mit Software solche Beziehungen auf eine Art und Weise verändert, die mit der Beschreibung im Code zusammenhängt. Wie in den CSCW, aber mit größerem Anspruch auf Verallgemeinerung, wird in den Software Studies das rekursive Aufeinander-Bezogen-Sein von Prozessen der Softwareentwicklung und Prozessen der Softwarenutzung ins Zentrum der Theorie gestellt. Der Fokus liegt jedoch nicht auf Praktiken, sondern auf Code. Er wird als Produkt hochgradig organisierter, durch Macht, Deutungsmuster und Formen der Bewertung beeinflusster sozialer Prozesse verstanden, deren Hauptziel die Veränderung des Sozialen ist (a.a.O., S. 173 ff). Die Beziehungen, in denen diese Prozesse stattfinden, und die für sie charakteristische (ungleiche) Verteilung von Handlungsmöglichkeiten, werden durch die Produktion des Codes in die Software „eingefaltet“ (a.a.O., S. 181 f)Footnote 7. Dieses „Einfalten“ darf aber nicht als irgendwie statische Form der Ablagerung verstanden werden, da Software für ihre Ausführung auf ganz bestimmte technische und soziale Bedingungen angewiesen ist, die sich ständig verändern und an die auch der Code ständig angepasst werden muss (a.a.O., S. 12). Der Code regt bestimmte Beziehungskonfigurationen beim Umgang mit Software anFootnote 8, indem er Nutzende, Beziehungen und Formen sozialer Prozesse in abstrakter Form beschreibt (a.a.O., S. 15). Zwischen dem, was der Code beschreibt, und dem, was bei der Ausführung von Software geschieht, klafft jedoch immer eine Lücke, da der Umgang mit Software auch durch die Beziehungskonfigurationen bei der Ausführung beeinflusst wird (a.a.O., S. 177 ff). Die Grenze zwischen Softwareentwicklung und Softwarenutzung ist darüber hinaus nicht allgemein bestimmbar, da Code von Programmierer*innen nicht nur hervorgebracht, sondern auch selbst genutzt wird. Dies führt dazu, dass auch Softwareentwicklung von den Beziehungskonfigurationen beeinflusst ist, die in den Code „eingefaltet“ sind. Dadurch kann Software insgesamt niemals eindeutig einer Beziehungskonfiguration zugeschrieben werden, denn jeder Umgang mit Software ist sowohl von aktuellen als auch von früheren Beziehungen und darin relevanten Formen der Ordnung abhängig:

„Even if a programmer is working on his or her own, the program is implicitly the result of a collective endeavor – the programmer uses a formalized coding language, proprietary coding packages (and their inherent facilities and defaults), and employs established disciplinary regimes of programming – ways of knowing and doing regarding coding practices and styles, annotation, elegance, robustness, extendibility, and so on“ (Kitchin und Dodge 2011, S. 33)

Vertreter*innen der Software Studies konzentrieren sich durch diesen Ansatz konsequenter als alle anderen hier vorgestellten Debatten auf die Einbettung von Software in das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung. Ich werde mich bei der Argumentation in dieser Arbeit daher stark an der hier vorgestellten Perspektive auf Software orientieren. Die soziologische Auseinandersetzung mit Software kann sich jedoch nicht allein auf diese Perspektive stützen. Dies liegt daran, dass die zentrale Fragestellung in den Software Studies die nach der Verteilung von „Agency“ durch Software ist.

Als „Problem der Agency“ bezeichnet Mackenzie die Frage „who or what does what to whom or what“ (Mackenzie 2006, S. 7) und schließt damit an die Grundannahme der ANT an, dass Gesellschaft nicht aus dem aufeinander bezogenen Handeln von Menschen entsteht, die unter Bedingungen handeln, die sie und andere zu einem Großteil selbst hervorgebracht haben, sondern aus Effekten, die durch die Verknüpfung menschlicher und nicht-menschlicher Einheiten produziert werden, die a priori ununterscheidbar sind (Law 1992). „Agency“, im allgemeinen (auch in dieser Arbeit weiter oben) als Handlungsfähigkeit übersetzt, steht damit nicht in vergleichbarer Beziehung zu „sozialem Handeln“, wie in der klassischen Soziologie, denn „Handlungsfähigkeit wird nicht allein menschlichen Personen, sondern auch naturalen und technischen Gegenständen, pflanzlichen und tierischen Lebewesen zugesprochen“ (Kneer 2009, S. 20). Bei der Untersuchung von Software wird auf Basis dieses Konzepts von Agency nicht gefragt, was Menschen warum, wie und unter welchen Bedingungen mit Software tun können, sondern vor allem, was Software oder Code tut und wie beide dazu beitragen, dass auch „machines, technical systems and infrastructures“ sozial Relevantes tun (Kitchin und Dodge 2011, S. 39). Diese Verschiebung des Fokus von menschlicher Handlungsfähigkeit zum Ursprung von beobachtbaren Effekten hat es den Software Studies ermöglicht, die hochgradig komplexen und rekursiven Beziehungen zwischen Entwicklungs- und Nutzungsprozessen, die die Rolle von Software im Sozialen auszeichnen, besser zu durchdringen, als dies Anhänger*innen klassisch soziologischer Perspektiven bisher gelungen ist (Rose et al. 2005). Forscher*innen, die die Perspektive der Software Studies einnehmen, müssen im Austausch dafür jedoch darauf verzichten, menschliches Handeln und die spezifische Art und Weise, wie dieses sozial eingebettet ist, konzeptionell von einem technischen Wirken zu unterscheiden.

FormalPara Ausrichtung der Arbeit

Statt die primär theoretische Kritik von Soziolog*innen an diesem Verständnis von Agency nachzuzeichnen (Kneer 2009), greife ich die Erkenntnisse der Software Studies in dieser Arbeit auf eine Weise auf, die mit der gesellschaftlichen Aufgabe vereinbar ist, die C.W. Mills für die Soziologie formuliert hat. „Social science deals with problems of biography, of history, and of their intersections within social structures“ (Mills 2000 [1959], S. 143). Die Soziologie untersucht dazu, auf welche Weise die Schwierigkeiten der Individuen („private troubles“) und die Probleme der Allgemeinheit („public issues“) verbunden sind (a.a.O., S. 8) und weist auf die Handlungsmöglichkeiten hin, die Individuen haben, wenn sie Schwierigkeiten und Probleme lösen wollen (a.a.O., S. 20). Ich teile Mills Überzeugung, dass Verstehen in der Soziologie kein Selbstzweck ist, sondern letztendlich dazu dienen sollte, Menschen ihre Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Menschliche Handlungsfähigkeit, nicht der Ursprung beobachteter Effekte, spielt für dieses Verstehen die Hauptrolle:

„We study the structural limits of human decision in an attempt to find points of effective intervention, in order to know what can and what must be structurally changed if the role of explicit decision in history-making is to be enlarged. […] We study history to discern the alternatives within which human reason ad human freedom can now make history. […]. Freedom is, first of all, the chance to formulate the available choices, to argue over them—and then, the opportunity to choose. […] Within an individual’s biography and within a society’s history, the social task of reason is to formulate choices, to enlarge the scope of human decisions in the making of history. […] The future is what is to be decided— within the limits […] of historical possibility.“ (Mills 2000 [1959], S. 174)

Ziel soziologischer Forschung ist es herauszufinden, welche sozialen Bedingungen die Entscheidungsfreiheit der Menschen beschränken und was Menschen unter den gegebenen Bedingungen tun können, um ihre Entscheidungsspielräume gezielt auszuweiten. Was Mills mit „history“ und „structural limits of human decision“ bezeichnet, ist das, was in dieser Arbeit „soziale Ordnung“ genannt wird: Die immer spezifischen sozialen Bedingungen, die beeinflussen, wer in welcher Situation was tun kann und wem welche dieser Handlungsmöglichkeiten bekannt sind. Diese Handlungsmöglichkeiten, die „points of effective intervention“, sind einerseits „historisch“ begrenzt, also für alle Zeitgenoss*innen gleichermaßen, andererseits „biographisch“, also für verschiedene Menschen zum gleichen Zeitpunkt auf verschiedene Weise. Aufgabe der Soziologie ist es, herauszuarbeiten, wo diese Grenzen für wen in welchen Situationen verlaufen, welche Handlungsoptionen sich für wen ergeben und welche Konsequenzen für die soziale Ordnung zu erwarten sind, wenn diese oder jene Option gewählt wird. Auf diese Weise können Handlungsoptionen zum Gegenstand bewusster Entscheidung werden. Soziologische Forschung ist also Mittel zum Zweck: sie soll diejenigen, die untersucht werden, über Bedingungen, Folgen und Grenzen ihres eigenen Tuns aufklären.

Folgt man diesem Verständnis von Soziologie, produziert eine Soziologie der Software Erkenntnisse über das Verhältnis von sozialem Handeln und sozialer Ordnung und über die Rolle, die Software darin spielt, um durch diese Erkenntnisse Menschen in die Lage zu versetzen, informierte Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie und andere mit Software umgehen sollten.Footnote 9 Um solche Erkenntnisse zu erlangen ist es notwendig, dass zwischen dem, was Menschen tun, und dem, was Software (Code, Hardware etc.) tut, jederzeit unterschieden werden kann; nicht, weil die Gleichsetzung philosophisches Unbehagen verursacht, sondern weil diese Forschung sich ausschließlich an Menschen richtet. Deren informierte Entscheidungen soll soziologische Forschung ermöglichen. Das ANT-Konzept von Agency mag mit Blick auf diese Aufgabenstellung hilfreich sein, um initial zu verstehen, wie komplexe Technik menschliches Entscheiden in konkreten Situationen beeinflusst; es verdeckt jedoch die Tatsache, dass technisch verursachte Effekte aus menschlichem Handeln und damit auch aus Entscheidungen folgen, die durch soziologische Forschung informiert werden können. In dieser Arbeit setze ich daher voraus, dass menschliche Handlungsfähigkeit nicht allein die Fähigkeit ist, Effekte zu produzieren, sondern immer ein Moment der Handlungsfreiheit beinhaltet. Handlungsfreiheit meint, dass Menschen prinzipiell in der Lage sind, im Rahmen der Bedingungen, die sie vorfinden, (bewusst oder unbewusst) Handlungsalternativen zu entdecken und auszuwählen, und dass ihre Wahl zwar von diesen Bedingungen abhängt, aber nie vollständig von ihnen determiniert wird. Menschliche Handlungsfähigkeit ist damit prinzipiell mit Unsicherheit verbunden, weil Menschen immer auch anders handeln können (Giddens 2008 [1984]). Wie die vorangegangenen Ausführungen zur Aufgabe der Soziologie gezeigt haben, gehe ich weiterhin davon aus, dass Menschen die Bedingungen ihres Handelns durch das, was sie tun, mitgestalten und verändern können.Footnote 10

FormalPara Forschungsfrage und Vorgehen

Die Frage, die ich zu Beginn der Einleitung gestellt habe, war, wie Software im Sozialen relevant wird. In dieser Arbeit will ich diese Frage nicht theoretisch beantworten, sondern eine Antwort finden, die Forschenden weiterhilft, wenn sie die Rolle von Software auf eine im obigen Sinne soziologische Art und Weise untersuchen wollen. Meine Forschungsfrage lautet daher:

Wie wird Software im Sozialen relevant und wie lässt sich untersuchen, welche Rolle Software für soziale Phänomene spielt?

Die Forschungsfrage wird in zwei Schritten bearbeitet. Zunächst werden die Grundlinien einer Soziologie der Software skizziert, indem bestehende Forschungsergebnisse zum Thema aufgegriffen und mit Blick auf den ersten Teil der Forschungsfrage integriert werden (Kapitel 2). Im Anschluss wird aufbauend darauf vorgestellt, wie diese Grundlinien in einen Forschungsrahmen überführt werden können, mit dem konkrete Forschungsfragen an empirischen Gegenständen soziologisch untersucht werden können (Kapitel 3). Die Anwendung eines solchen Forschungsrahmens wird dann anhand einer Fallstudie demonstriert (Kapitel 4).

Mein Hauptkritikpunkt an den bestehenden soziologischen Debatten zum Thema ist, dass diese Softwareentwicklung und –nutzung zu stark isoliert betrachten und damit die zentrale Besonderheit von Software ignorieren, die in den Software Studies so deutlich herausgearbeitet wird: Über Software sind die Bedingungen aller sozialen Kontexte, die das Artefakt im Laufe seiner Existenz durchläuft, aufeinander bezogen. Für das Verständnis der heute gebräuchlichen Formen von Software ist dieser Aspekt besonders relevant, da diese stark auf Wiederverwendung und permanenter Weiterentwicklung basieren und so deutlich mehr soziale Kontexte durchlaufen, als mit der isolierenden Betrachtung sichtbar werden.

Um dieses Argument nachvollziehen zu können, müssen Soziolog*innen verstehen, wie Software funktioniert. In Kapitel 2 rekonstruiere ich daher zuerst, wie Software aufgebaut ist, in welchen Prozessen sie wie von welchen Akteuren entwickelt und genutzt wird und was die Grundlagen ihrer Funktionen sind. Dabei wird dargestellt, welche soziologischen Fragen die Prinzipien und Prozesse aufwerfen, die für den Umgang mit Software relevant sind. Die allgemeinen Ausführungen zu Software werden dabei um Einschübe ergänzt, in denen ich mich vertiefend mit den Besonderheiten standardisierter Organisationssoftware auseinandersetze. Diese Form der Software wird später in Kapitel 4 Gegenstand der empirischen Untersuchung sein. Im Anschluss an die Darstellung des Gegenstands Software gebe ich einen Überblick darüber, welche der im ersten Teil des Kapitels aufgeworfenen Fragen in den bestehenden soziologischen Diskursen zu Software aufgegriffen und wie sie beantwortet werden. Die Erkenntnisse dieser Arbeiten werden zum Abschluss des Kapitels so integriert, dass die Frage, wie Software im Sozialen relevant wird, abstrakt beantwortet werden kann.

Kapitel 3 ist der Frage gewidmet, wie dieses abstrakte Konzept für konkrete Forschungsvorhaben fruchtbar gemacht werden kann. Dazu werden zuerst das Konzept der Expert*innensysteme und die Forschungsperspektive der strategischen Organisationsanalyse zusammengeführt, um auszuarbeiten, auf welche Art von sozialen Ordnungen Software verweist und wie Software die sozialen Ordnungen ergänzt, die das soziale Handeln beim Umgang mit Software beeinflussen. Darauf aufbauend wird beschrieben, wie Forschende einen Analyserahmen entwickeln können, der an konkrete Forschungsfragen und Untersuchungsgegenstände angepasst werden kann. Ich demonstriere die Vorgehensweise durch die Entwicklung eines eigenen Forschungsrahmens, den ich nutze, um zu untersuchen, welche Rolle das standardisierte Krankenhausinformationssystem eMed für die Praxis der OP-Planung in einer großen deutschen Universitätsklinik spielt. Die empirische Untersuchung und die Analyse der Fallstudie folgen in Kapitel 4. Zum Abschluss der Arbeit werde ich in Kapitel 5 rekapitulieren, wie die Zusammenführung der bestehenden Diskurse zu einem Verständnis der Rolle von Software im Sozialen beiträgt, und die Grenzen des von mir skizzierten Vorgehens diskutieren.