Zur Beantwortung der in Abschnitt 5.2 dargestellten Forschungsfrage

Welche Handlungsmuster und Strukturen lassen sich in Unterstützungssituationen bei der Förderung leistungsschwacher Schüler*innen durch angehende Mathematiklehrkräfte identifizieren?

wurden Unterrichtsstunden von Studierenden der Experimentalgruppe für eine Annäherung an die Unterrichtsrealität videografiert und ausgewertet. Der zentrale Fokus liegt dabei auf Unterstützungssituationen im Rahmen des Förderunterrichts. Es werden Unterstützungsmuster identifiziert und beschrieben, mit denen solche Unterstützungssituationen klassifiziert werden können. Über die Identifikation und Analyse der Unterstützungsmuster hinaus soll ein Einblick in weitere mögliche Einflussfaktoren für das Gelingen von Unterstützungssituationen gegeben werden. Von besonderer Bedeutsamkeit für gelungene Unterstützungssituationen erscheinen besonders die Form der Kommunikation und die Materialauswahl (s. Abschnitt 2.3 und Kapitel 4). Anhand von Fallbeispielen werden Einblicke in die beiden Aspekte ermöglicht und illustriert.

Im folgenden Kapitel wird zuerst das Vorgehen bei der Datenerhebung und -auswertung beschrieben (Abschnitt 12.1) und ein Einblick in den strukturellen Aufbau von Unterstützungssituationen gegeben (Abschnitt 12.2).

12.1 Datenerhebung und -auswertung

12.1.1 Entstehung des Datenkorpus

Im Rahmen des in Kapitel 6 beschriebenen Veranstaltungskonzepts wurden etwa zur Mitte der Förderzeit in den beteiligten Gruppen einer der drei Kooperationsschulen ein bis zwei Förderstunden videografiert. Die Schüler*innengruppen an dieser Kooperationsschule stammen jeweils aus einer Klasse und wurden von ihren Mathematiklehrkräften danach zusammengestellt, dass alle einen Bedarf an zusätzlicher mathematischer Förderung haben und die Schüler*innen sich untereinander kennen und verstehen. Im Förderkonzept der Schule sind sog. Trainingsstunden in den Hauptfächern fest verankert, in denen die Schüler*innen im Klassenverband in selbstständiger Arbeit die Inhalte vertiefen oder nacharbeiten können. Die Schüler*innen der Fördergruppen haben statt an den Trainingsstunden am Förderunterricht teilgenommen. Sie mussten also keine zusätzliche Zeit investieren.

Der Termin für die Videoaufnahme wurde mit den Studierenden abgesprochen und es wurde mit ihnen vereinbart, dass sie die ohnehin geplante Förderstunde durchführen sollen. Die Schüler*innen wurden mit dem Einverständnis ihrer Eltern von ihren Förderlehrer*innen über die Videoaufnahme und entsprechende Hinweise zur Anonymisierung der Daten informiert. Der Forschende (I in Abbildung 12.1) war als nicht-teilnehmender Beobachter zu jedem Zeitpunkt mit im Raum und nahm keinen Einfluss auf die Fördersitzung.

Gefilmt wurde mit zwei Kameras, von denen eine auf die Lehrkräfte (B1 und B2) und die Tafel gerichtet war und die andere auf die Schüler*innen (S1-S6), die entweder in Reihen oder an Gruppentischen saßen (s. Abbildung 12.1). Darüber hinaus wurde mit einem weiteren Audio-Aufnahmegerät auf jedem Gruppentisch versucht, auch leise Interaktionen aufzuzeichnen. Für die weiteren Auswertungsschritte, wie die Transkription, wurden beide Kameraperspektiven in einem Video zusammengeschnitten, sodass für die Transkription und Auswertung stets beide Ansichten präsent waren.

Abbildung 12.1
figure 1

Erhebungssetting Videos, B1/B2 sind die Förderlehrkräfte, S1-S6 die Schüler*innen und I der Forscher

12.1.2 Beschreibung des Datenkorpus

Insgesamt wurden neun Unterrichtsvideos der Länge von 00:46:10 bis 01:01:11 Stunden mit ergänzenden Audioaufnahmen erstellt. In fünf der Unterrichtsstunden fördern zwei Förderlehrer*innen gemeinsam zwischen vier und sechs Schüler*innen mit mathematischem Förderbedarf. In den anderen 2 × 2 Videos fördert jeweils eine Lehrkraft zwischen zwei und vier Schüler*innen in zwei Unterrichtsstunden. In Tabelle 12.1 ist ein Überblick über die Videos gegeben.

Zusätzlich wurden die Planungsunterlagen der Lehrkräfte gesammelt. Diese umfassen einen Dokumentationsbogen (Thema, Ziel, Begründung des Themas, eingesetzte Materialien, Begründung der Material- und Methodenwahl), einen Stundenverlaufsplan und die eingesetzten Materialien, wie Arbeitsblätter oder Spielmaterialien. Da die Studierenden diese für die Erbringung der Studienleistung ohnehin erstellen mussten, hatten sie dadurch keinen Mehraufwand.

Tabelle 12.1 Übersicht über den Datenkorpus

12.1.3 Aufbereitung des Datenkorpus

In einem ersten Schritt wurden die Videos der Unterrichtsstunden mithilfe des Transkriptionsprogramms f4 nach Kuckartz (2018) transkribiert, vereinheitlicht und in MAXQDA importiert. Anschließend wurden die Transkripte dem Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. ebd.) folgend in einer initiierenden Textarbeit durchgearbeitet und zusammengefasst.

Als Analyseeinheiten wurden Unterstützungssituationen festgelegt, also vollständige Interaktionen, in denen mindestens eine Lehrkraft mit mindestens einer*m Schüler*in ein oder mehrere Probleme ggf. zergliedert in Teilprobleme bearbeitet (vgl. Abschnitt 12.2). Alle anderen Stellen, z. B. Spielsituationen, in denen keine Probleme auftreten, Reflexionsrunden oder Lehrervorträge ohne Schüler*innenbeteiligung, wurden von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Insgesamt wurden 193 Unterstützungssituationen identifiziert. Dabei ist zu beachten, dass es gemäß des Fokus der Forschungsfrage nur um die von den Lehrkräften ausgehenden Unterstützungsmaßnahmen geht und die von Mitschüler*innen ausgehenden Hilfestellungen ausgeblendet werden.

In einem ersten Kodierprozess des gesamten Materials wurde versucht, deduktiv mittels der in Zech (2002) dargestellten Formen von Hilfestellungen für das ProblemlösenFootnote 1 als Hauptkategorien ganze Unterstützungssituationen zu kodieren. Bei diesem Kodierprozess sind drei Schwierigkeiten aufgetreten. Erstens waren die Kategorien von Zech (2002) für die Analyse realer Unterstützungssituationen nicht konkret genug operationalisiert, zweitens konnten nicht alle Unterstützungssituationen danach beschrieben werden und drittens hat es die Komplexität der Unterstützungssituationen erschwert, jeder Unterstützungssituation eine einzelne Kategorie zuzuordnen.

Als Reaktion auf die aufgetretenen Schwierigkeiten wurde zum einen für den weiteren Kodierprozess ein induktiveres Verfahren angestrebt, um auch offen für neue Kategorien zu sein. Und zum anderen wurden in einem weiteren theoretischen Schritt Unterstützungssituationen im Allgemeinen hinsichtlich ihrer strukturellen Merkmale analysiert und beschrieben (vgl. Abschnitt 12.2). Dadurch ergaben sich Folgen für das weitere Vorgehen:

  • Erstens wurden nicht mehr ganze Unterstützungssituationen, sondern darin enthaltene Unterstützungsmuster kodiert, in denen die Lehrkräfte ihre Schüler*innen auf eine bestimmte Art und Weise unterstützen. Innerhalb einer Unterstützungssituation können somit mehrere Unterstützungsmuster auftreten und kodiert werden.

  • Zweitens wurden die Unterstützungssituationen in den Videos präziser charakterisiert, indem über das Unterstützungsmuster hinaus Anlass, Art des Problems, personeller Rahmen, Lernmaterial und Kommunikationsmuster kodiert wurden.

Die zusätzliche genauere Beschreibung der Unterstützungssituationen und die Analyse der Unterstützungsmuster gestaltete sich vergleichbar zur induktiven Bestimmung von Subkategorien am Material nach Kuckartz (2018, S. 116ff). In mehreren Kodierdurchgängen durch das gesamte Material wurde der im Anhang einsehbare Kodierleitfaden induktiv entwickelt. Zur Überprüfung des Kodierrasters auf Intercoder-Reliabilität wurden von zwei KodierernFootnote 2 je ca. 18 % des Materials (entspricht 35 Unterstützungssituationen) kodiert. Als Maß der Übereinstimmung wurde jeweils Cohens Kappa berechnet. Die Kappa-Werte betragen 0,733 und 0,681 und liegen mit Landis und Koch (1977) im Rahmen einer substantiellen Übereinstimmung. Den Abschluss bildete ein letztes Kodieren des gesamten Materials mithilfe des fertigen Kategorienrasters. Die identifizierten Handlungsmuster werden in Abschnitt 13.2 dargestellt und erläutert.

12.1.4 Darstellung des Kategorienrasters

Tabelle 12.2 Kategorienraster

12.2 Struktureller Aufbau der Unterstützungssituation als Analyseeinheit

Unterstützungssituationen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Lehrkraft mit einzelnen oder mehreren Schüler*innen ggf. über das aktuell genutzte Lernmaterial moderiert in eine Interaktion über ein zu lösendes Problem tritt. Das Problem bzw. der Unterstützungsbedarf kann sich auf inhaltlich mathematische Aspekte, prozessbezogene Kompetenzen sowie Aufgabenstellungen und Arbeitsaufträge beziehen. Die Unterstützungshandlung im speziellen ist dann die kommunikative Bearbeitung des Problems. Die identifizierten Handlungsmuster beschreiben, wie die eigentliche Unterstützungshandlung gestaltet wird. Hierbei sind verschiedene Kommunikationsmuster auf einem Kontinuum zwischen eng geführten und offenen Interaktionen denkbar. Das wohl bekannteste Kommunikationsmuster in Unterstützungshandlungen ist das sog. Trichtermuster als Verengung und zunehmend stärkere Lenkung eines Gesprächs, das von Bauersfeld (1978) beschrieben wurde. Das Trichtermuster ist demnach eine Bewegung auf dem Kontinuum in Richtung enger geführter Kommunikation.

Eingeleitet werden kann die Unterstützungshandlung sowohl von der Lehrkraft, z. B. wenn diese einen Fehler in den Unterlagen der Schüler*innen sieht, als auch von den Schüler*innen selbst, z. B. durch das Stellen einer Frage. Im Anlass der Unterstützungssituation spiegelt sich das Problem wider, welches im Folgenden bearbeitet wird. Jede Unterstützungssituation wird mehr oder weniger klar abgeschlossen. I.d.R. wird die Lehrkraft, nachdem sie von Schüler*innenseite Verstehen signalisiert bekommen hat, die Unterstützungssituation beenden und zu einer*m anderen Schüler*in gehen. Sie kann aber auch im Misserfolg enden, z. B. wenn ein*e Schüler*in die Aufgabe trotz Unterstützung nicht lösen kann. Eine weitere Möglichkeit für den Abschluss einer Unterstützungssituation ist die Ablenkung der Lehrkraft durch einen anderen Reiz, beispielsweise durch eine Unterrichtsstörung oder eine weitere Frage.

Unterstützungssituationen spielen sich im unterrichtlichen Rahmen ab. Dieser konstituiert sich zum einen durch die unterrichtliche Organisationsstruktur, also Organisations- und Sozialform, Offenheit der Lernsituation, Individualisierung der Lernwege etc. und zum anderen durch die von den anwesenden Schüler*innen und Förderlehrkräften konstituierte Lernatmosphäre, die sich durch ein mehr oder weniger lernförderliches Klima auszeichnen kann.

Die Abbildung 12.2 verdeutlicht den strukturellen Aufbau einer prototypischen Unterstützungssituation.

Abbildung 12.2
figure 2

Struktureller Aufbau einer Unterstützungssituation

Es ist wichtig zu bemerken, dass es in dieser Arbeit nicht um die Analyse des Erfolgs oder der Qualität einzelner Maßnahmen geht. Es sollen lediglich Handlungsmuster im Rahmen von Unterstützungssituationen identifiziert werden, mit denen die Unterstützungssituationen charakterisiert werden können. Für eine Analyse des Erfolgs der Unterstützungen ist die Datenbasis nicht geeignet. Da im Regelfall die Schüler*innen nach einer Unterstützungssituation still weiterarbeiten, kann über den Erfolg der Hilfestellung keine Aussage getroffen werden. Bei der Analyse der Unterstützungsmuster und der Darstellung der Ergebnisse dazu ist zu beachten, dass diese keine hierarchische Struktur aufweisen. Es gibt keine grundsätzlich besseren oder schlechteren Unterstützungsarten, sondern vielmehr zu einer Situation passende oder nicht passende. Zur Beurteilung der Passung eines Unterstützungsmusters zur Unterstützungssituation ist die Datengrundlage ebenfalls nicht in allen Fällen aussagekräftig genug.

Um einen bestmöglichen Einblick in die Unterstützungssituationen zu bekommen, werden im Folgenden alle beschriebenen Unterstützungshandlungen so gerahmt, dass Anlass und Abschluss der Situation ersichtlich werden, da die Handlungsmuster oft nur im Prozesskontext verständlich sind. Bei der Betrachtung der Unterstützungsmuster ist zu beachten, dass grundsätzlich alle Muster eine motivations- bzw. selbstwirksamkeitsförderliche Wirkung haben können, indem sie den Weg der Schüler*innen zum Erfolgserleben erleichtern. Das Muster motivationaler Zuspruch (s. Tabelle 12.2) ist demnach nur eine Form der motivationalen Unterstützung.