1 Personalrisikomanagement

Personalrisikomanagement beinhaltet zunächst einmal allgemein das Risikomanagement aller Personalrisiken, was nachfolgend weiter detailliert und fokussiert werden soll.

1.1 Risikomanagement

Heutzutage nimmt Risikomanagement eine zentrale Rolle für eine erfolgreiche Unternehmenssteuerung ein. Dabei kann das Risikomanagement als Gesamtheit aller Maßnahmen nur durch eine unternehmensweite, ganzheitliche und antizipative Betrachtung sämtlicher Risiken in einem bereichsübergreifenden Prozess sinnvoll betrieben werden.

Der Risikomanagementprozess als Absicherungssystem setzt sich klassisch aus den Prozessschritten Festlegung einer Risikostrategie, Risikoidentifizierung und Risikobewertung, Risikoaggregation und Risikosteuerung zusammen. Die Risikostrategie setzt sich dabei mit

  • der Art des Risikos,

  • der Herkunft des Risikos,

  • dem Zeithorizont der Risikobetrachtung,

  • der Risikotoleranz und

  • der Risikotragfähigkeit

auseinander. Bei der Festlegung der relevanten Risikoarten können unterschiedliche Kategorisierungen angewendet werden (vgl. Rohlfs und Mahnke 2020, S. 32 sowie Rohlfs et al. 2016, S. 99 f.). Die Risikolandschaft von Versicherungsunternehmen wird typischerweise eingeteilt in die

  • Versicherungstechnischen Risiken,

  • Marktrisiken,

  • Forderungsausfallrisiken,

  • Operationelle Risiken und

  • Sonstige Risiken.

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung stehen dabei insbesondere die versicherungstechnischen Risiken sowie die Prozessrisiken innerhalb der operationellen Risiken im Mittelpunkt.

Obwohl Personal von Unternehmensleitern häufig als wesentliche Ressource für den unternehmerischen Erfolg in der Versicherungswirtschaft eingestuft wird, werden die mit dem Personal verbundenen Personalrisiken zwar als Teil der funktionalen oder operationellen Risiken erwähnt, eine systematische Auseinandersetzung im Sinne eines Personalrisikomanagements fehlt allerdings weitgehend in der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Sind Personalrisiken also doch nicht so relevant, weil Personal austauschbar und leicht ersetzbar ist?

Die mit dem Personal verbundenen Risiken lassen sich sehr wohl systematisieren und ihre Relevanz für den unternehmerischen Erfolg lässt sich daran leicht erkennen und daraus wiederum können Konzepte des Personalrisikomanagements abgeleitet werden (vgl. dazu Abschn. 21.1.2). Ein konkretes in vielen Unternehmen relevantes Risikomanagementsystem stellt das Talentmanagementsystem dar (vgl. dazu Abschn. 21.2.1).

Innerhalb des Talentmanagementsystems können dabei Hochschulen als Netzwerkpartner fungieren. Das ivwKöln ist seit 50 Jahren im Rahmen seiner Transferfunktion ein relevanter Netzwerkpartner für viele Unternehmen. Damit leistet das ivwKöln einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung von Personalrisiken der Versicherungswirtschaft (vgl. dazu Abschn. 21.2).

1.2 Management von Personalrisiken

Die Bedeutung der Human Ressources als wertvollste und sensibelste Ressource eines Unternehmens legt es nahe, die Personalrisiken ebenso fundiert zu analysieren, wie das bei anderen Risikoarten praktiziert wird. Entscheidend ist dabei ein systematischer Ansatz, der die Personalrisiken umfassend betrachtet und zu Risikogruppen zusammenfasst. Aus Unternehmenssicht ergeben sich vier Hauptrisikofelder (vgl. Kobi 2012, S. 7 f.).

  • Beim Engpassrisiko fehlen Leistungsträger. Es kann zwischen funktionsbezogenen Bedarfslücken und personenbezogenen Potenziallücken differenziert werden. Fehlendes Potenzial kann intern nachgezogen oder extern rekrutiert werden.

  • Das Austrittsrisiko betrifft vorhandene Leistungsträger. Es gilt dabei, gefährdete Mitarbeitergruppen und Schlüsselfunktionsträger zu erkennen und mit einem gezielten Retention-Management im Unternehmen zu halten.

  • Das Anpassungsrisiko umfasst Mitarbeitende, die falsch qualifiziert sind und nicht mehr zur Erreichung der Unternehmensziele beitragen. Hier sind präventive Um- und Neuqualifizierungen erforderlich.

  • Beim Motivationsrisiko wird die Leistung zurückgehalten. Dies kann in fehlendem Engagement, Ausgebrannt-Sein oder innerer Kündigung begründet sein.

Hiermit sind sicherlich nicht alle Risikofelder abgedeckt. Aber durch diese Hauptrisikofelder wird der überwiegende Teil der Personalrisiken abgebildet.

Entsprechend dem systematischen Ansatz eines Risikomanagementprozesses sind auch für diese Personalrisikofelder die Prozesseschritte

  • Risikostrategie,

  • Risikoidentifizierung,

  • Risikobewertung,

  • Risikoaggregation und

  • Risikosteuerung

anzuwenden. Im Rahmen einer Risikostrategie bezogen auf Personalrisiken sind die für das Unternehmen als relevant eingestuften Risikoarten zu benennen. Die vier wesentlichen Risikoarten (Engpassrisiken, Anpassungsrisiken, Austrittsrisiken und Motivationsrisiken oder eine Teilmenge davon) könnten hierfür den Rahmen bilden. Darüber hinaus ist ebenfalls der Zeithorizont der Risikobetrachtung wesentlich. Mit der Festlegung der eigenen Risikotragfähigkeit legt sich ein Unternehmen darauf fest, inwieweit man bereit ist, zum Beispiel Austrittsrisiken hinzunehmen, da man die Situation der Ersatzbeschaffung sehr zuversichtlich einschätzt. Ein in der Praxis relevanter Ansatz einer Risikostrategie, bei der insbesondere das Engpassrisiko, das Anpassungsrisiko und auch das Motivationsrisiko in den Blick genommen werden, ist die Talentmanagement-Strategie (vgl. dazu Abschn. 21.2.1).

Mit der Kategorisierung der Personalrisiken in die vier wesentlichen Risikogruppen ist bereits eine erste Risikoidentifizierung vollzogen worden. Um einzuschätzen, inwieweit die einzelnen Risiken in einem Unternehmen vorliegen, sind entsprechende Managementmethoden anzuwenden. Durch Analyseansätze wie SWOT-Analysen oder Benchmarks kann zum Beispiel das Engpassrisiko eines Unternehmens mit dem Fokus auf bestimmte Funktionen bzw. Aufgabenbereiche im Unternehmen näher analysiert werden und damit konkret identifiziert werden (vgl. Kobi 2012, S. 47 f.).

Im Rahmen der Risikobewertung müssen die von den identifizierten Risiken ausgehenden Gefahrenpotenziale transparent gemacht werden und die möglichen Auswirkungen offengelegt werden. Am Beispiel des Engpassrisikos bedeutet dies, dass die Auswirkungen einer Nichtbesetzung oder einer zeitlich verzögerten Besetzung einer Funktion im Unternehmen bewertet werden. Die Auswirkungen können dabei in der Verlagerung von Aufgaben auf andere Stellen und damit Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sein oder auch die Nichtwahrnehmung der Aufgaben und damit eventuell verbundene Auswirkungen für andere Arbeitsbereiche oder auch Kundenbeziehungen zur Folge haben. Dabei wird es nur teilweise möglich sein, präzise quantitative Bewertungen vorzunehmen. Die mit der Realisierung des Engpassrisikos, des Austrittsrisikos, des Anpassungs- und auch des Motivationsrisikos verbundenen Kosten oder Erlösminderungen sind nicht exakt bestimmbar (vgl. Kobi 2012, S. 159).

Die Zielsetzung der Risikoaggregation im Rahmen des Risikomanagements ist, grundsätzlich den gesamten Risikokapitalbedarf des Unternehmens zu ermitteln. In der Relation des vorhandenen Risikokapitals zum Gesamtrisikokapitalbedarf lässt sich daraus die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens ermitteln. Dieser Ansatz ist weniger auf ein Personalrisikomanagement übertragbar. Die Begründung liegt darin, dass die Risiken überwiegend eben nicht in rein quantitativen Werten zu ermitteln sind. Vielmehr spielen qualitative Komponenten wie Potenziale, Kompetenzen, Bindungsfaktoren und Motivation eine zentrale Rolle in der Risikobewertung. Diese lassen sich allerdings nicht zu einem Gesamt(Personal-)risiko aggregieren und somit daraus eine quantitative Sicherheitskomponente ableiten.

Die Risikosteuerung in den Ausprägungsformen der Risikovermeidung, der Risikoverminderung oder des Risikotransfers muss für die jeweiligen Personalrisiken daher auch sehr spezifisch ausgestaltet werden. Eine gesamthafte Risikosteuerung zum Beispiel durch Risikotransfer auf eine Personalberatungsagentur ist daher eher unrealistisch, weil wirkungslos.

Die Terminologie des klassischen Risikomanagements ist daher nur begrenzt für Personalrisiken anwendbar. Dies erklärt vermutlich auch, warum in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung Risikomanagementansätze und Personalrisiken weniger in Verbindung gebracht werden.

Im Weiteren wird daher der Talentmanagement-Ansatz als eine mittlerweile verbreitete Personalmanagementstrategie, in der wesentliche Personalrisiken berücksichtigt werden, als eine wesentliche Risikomanagementstrategie dargestellt.

2 Talentmanagement als Risikomanagementansatz und der Beitrag des ivwKöln

Aktuelle Entwicklungen wie der demografische Wandel, der Wertewandel bei jungen Beschäftigten und der steigende Bedarf an hoch qualifizierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie die Internationalisierung lassen das Talentmanagement zu einem immer bedeutenderen Faktor innerhalb des Personalmanagements werden. Im Rahmen des Talentmanagements sollen unternehmensindividuelle Strategien entwickelt werden, um systematisch besonders leistungsstarke Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu identifizieren und weitere potenzielle zu gewinnen, ihre Kompetenzen zu entwickeln, zu fördern, und an das Unternehmen zu binden. Ziel des Talentmanagements ist der Aufbau eines integrativen, zusammenhängenden und ganzheitlichen Systems, indem langfristig und nachhaltig besonders erfolgskritische Rollen und Funktionen mit geeigneten Schlüsselpersonen besetzt sind (vgl. Ritz und Thom 2010, S. 12 sowie Heyse und Ortmann 2008, S. 11 f.).

Die Festlegung der relevanten Schlüsselfunktionen sowie daraus abgeleitet auch das Verständnis von Talenten in einem Unternehmen muss von jedem Unternehmen individuell festgelegt werden. In einem weiten Ansatz können unter Talenten alle Mitarbeitenden verstanden werden. Allerdings ist ein engerer Ansatz weiterverbreitet, bei dem sich der Talentbegriff auf ausgewählte Personen bezieht, die hohes Potenzial und hohe Performance zeigen. Perspektivisch sollen diese durch individuelle Entwicklungsprogramme für die Besetzung von erfolgskritischen Positionen im Unternehmen gefördert werden (vgl. Enaux et al. 2011, S. 13 f.).

2.1 Regelkreislauf des Talentmanagements

Das Talentmanagement ist ein integraler Bestandteil der Unternehmenskultur und mit allen anderen Personalmanagementaktivitäten und -bereichen des Unternehmens verzahnt. Damit werden in diesem System die wesentlichen Personalrisiken (Engpassrisiko, Austrittsrisiko, Anpassungs- und Motivationsrisiko) wahrgenommen und Ansätze zur Risikobewältigung vorgenommen. Bei der Risikobewältigung kooperieren Unternehmen mit verschiedenen Netzwerkpartnern, unter anderem auch mit Hochschulen. Zu einem integralen Ansatz des Talentmanagements gehören üblicherweise die folgenden Prozessschritte:

  • Personalbedarfsplanung – mittel- bis langfristige Festlegung der Anforderungen und der Bereiche mit Schlüsselfunktionen für das Unternehmen,

  • Personalbestandsanalyse – mittel- bis langfristige Analyse von Potenzialträgern in den unterschiedlichen Funktionsbereichen und -ebenen im Unternehmen,

  • Akquisition junger Potenzialträger und Potenzialträgerinnen von den verschiedenen Arbeitsmärkten (Schule, Hochschule und allgemeiner Arbeitsmarkt),

  • Personalentwicklung einschließlich der Analyse der zukünftig relevanten Kompetenzfelder,

  • Motivation und Bindung der Potenzialträger sowie

  • Personaleinsatz in wesentlichen Aufgabenfeldern und schließlich den relevanten Schlüsselfunktionen.

2.2 Beitrag des ivwKöln zum Talentmanagement

Hochschulen können im Rahmen der Talentmanagementstrategie Netzwerkpartner der Unternehmen sein. Moderne Hochschulen weisen heute ein ausgeprägtes und differenziertes Zielsystem aus. Dabei ist der Dreiklang der Zielfelder Lehre, Forschung und Transfer sehr verbreitet. Der Zielbereich „Transfer von Dienstleistungen in die Gesellschaft“ bildet dabei das relevante Pendant zum Talentmanagement der Unternehmen.

Neben Forschungserkenntnissen, die in die Gesellschaft transferiert werden, liegt der wesentliche Transfer der Hochschulen in die Gesellschaft und hier spezifisch in die Unternehmen in Menschen begründet: Menschen, die für eine bestimmte Entwicklungsphase in die Hochschulwelt eintreten und die in dieser Entwicklungsphase und insbesondere danach durch ihre erlangten und entwickelten Kompetenzen einen Transfer in die Unternehmen bzw. in die Gesellschaft leisten (vgl. Präsidium der TH Köln 2017).

Das ivwKöln ist seit 50 Jahren Teil der Technischen Hochschule Köln (TH Köln) und ist in seinen Aktivitäten auf die Geschäftsfelder Risikomanagement und Versicherungswirtschaft fokussiert.Footnote 1

In den Lehr- und Forschungsaktivitäten setzen sich die Professoren und Professorinnen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Studierenden kontinuierlich mit den Herausforderungen und Entwicklungen der Branche auseinander. In den vergangenen 50 Jahren haben dabei ca. 10.000 junge Menschen ihr Studium als Vollzeit-, als duale oder berufsbegleitende Studierende absolviert. Der Transfer der Kompetenzen wurde dabei entweder im Anschluss an das Studium oder bei dualen und berufsbegleitend Studierenden auch bereits während der Studienphase realisiert. Viele Versicherungsunternehmen, Vermittlungsunternehmen, Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaften sowie Unternehmen im Risikomanagement sind hierbei beteiligt.

Neben dem Transfer der Kompetenzen erfolgreicher Absolventen und Absolventinnen können Hochschulen das Talentmanagement der Unternehmen bei drei Prozessschritten wesentlich unterstützen:

  • In der Akquisition von Potenzialträgern und Potenzialträgerinnen,

  • in der Anpassungsentwicklung durch Weiterbildung und

  • in der Bindung durch Motivation durch berufsbegleitende Hochschulqualifikationen und Forschungsaktivitäten.

2.3 Akquisition von Potenzialträgern durch attraktive Studiengänge

Der Talentmanagementprozess ist insbesondere angesichts der demografischen Entwicklung und des damit verbundenen Fachkräftebedarfs ein Risikomanagementsystem, um das Engpassrisiko mittel- bis langfristig zu bewältigen. Aufgrund des steigenden Durchschnittsalters der Beschäftigten in der Versicherungswirtschaft sowie der daraus abgeleiteten hohen natürlichen Fluktuation von Schlüsselfunktionsträgern der Unternehmen in den nächsten Jahren, ist der Bedarf an jungen Nachwuchskräften mit Potenzial seit einigen Jahren in allen Unternehmen angestiegen. Die Digitalisierungsprozesse und die damit wegfallenden Arbeitstätigkeiten wirken hierauf zwar etwas dämpfend; allerdings bleibt der Nachwuchsbedarf bei Schlüsselfunktionen und höherwertigen Aufgaben einschließlich neuer Aufgabenbereiche insbesondere im digitalen Umfeld weiterhin bestehen und wächst tendenziell.

Die frühzeitige Akquisition von jungen Potenzialträgern durch Förderprogramme für Studierende und auch durch duale Studiengangsmodelle ermöglichen es den Unternehmen, in einer frühen Phase attraktive Entwicklungsprogramme für Schulabsolventen und -absolventinnen anzubieten. Das ivwKöln ist seit 50 Jahren hierbei ein verlässlicher Netzwerkpartner. In den Jahren 1971 bis 2000 waren 80 bis 90 Prozent der Studierenden im Anschluss an eine abgeschlossene Ausbildung in der Versicherungswirtschaft nach Köln gekommen. Das fokussierte Studium (auf Risikomanagement und Versicherung) förderte die vorhandenen Potenziale und erweiterte die Kompetenzen für den zukünftigen Einstieg in höherwertige Aufgaben innerhalb der Versicherungsbranche. Durch Förderprogramme, Werkstudententätigkeiten und Praktika konnten die Unternehmen dementsprechend die Nachwuchskräfte während des Studiums für ihr Unternehmen binden oder neu gewinnen.

Mit dem Jahr 2001, also vor 20 Jahren, wurde das integrierte Studienmodell eingeführt, bei dem Ausbildung im Versicherungsbereich und das Studium am ivwKöln parallel absolviert werden. Mittlerweile sind ca. 40 Prozent aller Studierenden in diesem Modell unterwegs. Die Unternehmen haben dabei noch stärker die Möglichkeit, junge Potenzialträger durch Ausbildung und Studium zu entwickeln und zugleich an das Unternehmen für die Zukunft zu binden. Für viele beteiligte Unternehmen ist dieses Programm seit Jahren ein zentrales Instrument, um Nachwuchspotenzialträger zu akquirieren und für zukünftige relevante Schlüsselfunktionen zu entwickeln und zu binden.Footnote 2

Ohne solche Studienangebote fällt es Unternehmen in der Versicherungsbranche zunehmend schwer, ausreichend geeignete Talente über den reinen Ausbildungsweg zu akquirieren.

2.4 Anpassung von Mitarbeiterqualifikationen durch Weiterbildung

Um in einem Talentmanagementsystem Nachwuchstalente zu binden und diese auch mit der Zielsetzung der Besetzung zukünftiger Schlüsselfunktionen zu entwickeln, ist eine kontinuierliche Anpassung der Mitarbeiterqualifikationen durch Weiterbildung erforderlich. Das Spektrum der relevanten Kompetenzen ist dabei sicherlich sehr breit und zugleich auch spezifisch je nach Unternehmen und relevantem Funktionsbereich. Hochschulen bieten hierfür insbesondere durch Masterstudiengänge, Weiterbildungszertifikate und auch laufende Forschungsaktivitäten vielfältige Möglichkeiten der Vernetzung mit der betrieblichen Weiterbildung.

Das ivwKöln hat seit der Umstellung auf die Bachelor-Master-Studiengangstruktur Masterstudiengänge entwickelt, die diese Funktion der Anpassungsentwicklung für zukünftige Schlüsselfunktionen berücksichtigen. Durch die Verknüpfung mit einer beruflichen Teilzeit- oder Vollzeittätigkeit können Unternehmen daher diese versicherungsspezifischen Masterstudiengänge zur Weiterbildung von Nachwuchstalenten nutzen. Darüber hinaus bietet die ivw academyFootnote 3 insbesondere fachliche Weiterbildung bis hin zu Zertifikatskursen an, durch die eine fachspezifische Anpassungsentwicklung unterstützt werden kann.

In der Weiterentwicklung der klassischen Qualifizierung „Versicherungsbetriebswirt/in“ im Rahmen der Weiterbildung der Deutschen Versicherungsakademie (DVA) wurden die berufsbegleitenden Bachelorstudiengänge Insurance Management entwickelt. Für viele beruflich Qualifizierte bieten diese Studiengänge seit 15 Jahren kontinuierlich eine Weiterbildung an, durch die eine Perspektive für höherwertige Tätigkeiten in den Unternehmen und damit auch für die Besetzung von Schlüsselfunktionen möglich wird.Footnote 4

2.5 Motivation und Bindung durch berufsbegleitende Qualifizierung

Neben der Akquisition und der Anpassungsentwicklung junger Nachwuchstalente ist die kontinuierliche Bindung durch Motivation zentrale Herausforderung eines Talentmanagementsystems. Als Motivatoren für die Bindung an das Unternehmen können zahlreich intrinsische und extrinsische Anreize dienen. Hierzu gibt es umfangreiche Forschungsergebnisse, die insbesondere die Wirkung der in der Versicherungswirtschaft verbreiteten Vergütungsanreize infrage stellen. Insbesondere in den Generationen Y und Z sind die inhaltlichen Aufgaben und die daraus resultierenden Anforderungen wesentlich. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeiten steht dabei im Vordergrund.

Hier kann die Vernetzung mit Hochschulen ansetzen. Durch die Verknüpfung in gemeinsamen Projekten, durch Lehraufträge oder durch die Mitwirkung an Workshops oder Symposien kann es zu Horizonterweiterungen bei Potenzialträgern und Schlüsselfunktionsträgern kommen.

Das ivwKöln hat durch die Entwicklung der Forschungsstellen in den Bereichen Rückversicherung, Versicherungsrecht, finanzielles und aktuarielles Risikomanagement (FaRis) sowie Versicherungsmarkt hierzu seit 2008 relevante Felder der Vernetzung aufgebaut.Footnote 5 Das Spektrum der Einbindung von Potenzialträgern aus den Unternehmern reicht von fallweiser Mitwirkung bei Projekten, Workshops oder Symposien über Lehraufträge bis hin zur verbindlichen allerdings zeitlich begrenzten Mitarbeit in einer der Forschungsstellen. So sind in der Forschungsstelle Rückversicherung mehrere Mitglieder als Potenzialträger unterschiedlicher Rückversicherungsunternehmen mit einem begrenzten Zeitbudget in die Forschung eingebunden. Diese Mitwirkung an Forschungsprojekten oder Fallstudienarbeit kann zu einer Stärkung der Potenzialträger für ihr berufliches Aufgabenfeld führen und zudem zu Kreativität und Innovation anregen.

2.6 Integriertes Studium als Talentmanagementansatz

Um das Zusammenwirken von Hochschule und Unternehmen im Rahmen des Talentmanagementansatzes näher zu untersuchen, soll im Folgenden spezifisch auf das Modell des integrierten Studiums eingegangen werden. In diesem Studien- und Ausbildungsmodell werden die unternehmerischen Ansätze des Talentmanagements sehr frühzeitig mit dem Netzwerkpartner Hochschule verbunden. Zur Systematisierung der jeweiligen Erfahrungswerte werden die Prozessschritte eines integrierten Ansatzes des Talentmanagements noch einmal angeführt und anschließend bezogen auf das integrierte Studienmodell angewendet, vgl. dazu Tab. 21.1.

Tab. 21.1 Integrierter Ansatz des Talentmanagements. (Quelle: eigene Darstellung)

Aus den mehr als 20-jährigen Erfahrungen in der Kooperation des ivwKöln mit über 50 verschiedenen Unternehmen und insgesamt ca. 1000 Studierenden lassen sich Erfolgsfaktoren für die Gestaltung eines integrierten Studienmodells als wesentlicher Teil des Talentmanagement-Ansatzes ableiten. Diese werden im Folgenden anhand der Prozessschritte des Talentmanagements erläutert.

Die veränderten Anforderungsprofile zukünftiger Berufsfelder als Teil der qualitativen Personalbedarfsplanung waren beim Start des Studienprogramms in 2001 wesentlicher Auslöser bei den damals drei beteiligten Unternehmen. Insbesondere eine höherwertige über die Ausbildung hinausgehende Qualifikation für das Industrieversicherungsgeschäft und für hochwertige Leistungsbearbeitungen im Bereich der Krankenversicherung waren zwei wesentliche Treiber der beteiligten Unternehmen Gerling-Konzern Versicherungen und Deutsche Krankenversicherung (DKV). In der weiteren Entwicklung waren immer wieder neue Anforderungsprofile und auch konkrete Vorstellungen über den qualitativen und quantitativen mittel- bis langfristigen Personalbedarf wesentliche Grundlagen für die erfolgreiche Umsetzung des Programms mit einer starken Akquisitions- und Retentionswirkung für die Unternehmen.

In den vergangenen Jahren wird diese Personalbedarfseinschätzung deutlich durch den demografischen Wandel verstärkt. Viele Unternehmen sehen durch das hohe und zugleich weiter steigende Durchschnittsalter von Schlüsselfunktionsträgern in vielen relevanten Bereichen einen wachsenden Bedarf an Nachwuchskräften mit entsprechendem Potenzial und entwickelten Kompetenzen. Die zunehmende Digitalisierung unternehmerischer Prozesse mit der Konsequenz von Personalreduzierung hat hierauf nur einen geringen Einfluss.

Frühzeitig war erkennbar, welche Unternehmen hierbei eine klare gemeinsame Vorstellung von Personalmanagement und Fachbereichen hatten. Diese klare Vorstellung des zukünftigen Personalbedarfs und auch das Commitment zwischen Personalmanagement und Fachbereichen waren wesentlich für den Erfolg des Modells im jeweiligen Unternehmen.

Wo diese Personalbedarfsplanung unklar war, kein Einvernehmen mit den Fachbereichen vorlag oder sogar an den Realitäten vorbeiging, war die Umsetzung des Studienprogramms auch nicht erfolgreich.

Bei der Personalbestandsanalyse ist seit vielen Jahren die demografische Entwicklung der zentrale Treiber. Das Durchschnittsalter in den Unternehmen nimmt kontinuierlich zu und insbesondere das Ausscheiden von Mitarbeitern und Führungskräften in Schlüsselfunktionen stellt ein hohes Risiko dar. Das integrierte Studienmodell setzt dabei sehr frühzeitig an. Funktionsbereiche, in denen Mitarbeiterinnen und Führungskräfte in Schlüsselfunktionen altersbedingt ausscheidend, müssen dabei sehr frühzeitig analysiert werden. So können die jungen Talente mittel- bis langfristig in die entsprechenden Zielpositionen entwickelt werden. Die Bedeutung des langfristigen demografischen Einflusses ist besonders deutlich daran zu erkennen, dass viele beteiligte Unternehmen in den vergangenen Jahren trotz Stagnation oder leichtem Abbau der Gesamtbeschäftigtenzahl die Beteiligung am integrierten Modell verstetigt oder auch deutlich ausgebaut haben.

Als nächster Prozessschritt folgt die Personalbeschaffungsaufgabe. Die Akquisition junger Potenzialträger und Potenzialträgerinnen ist für die Versicherungswirtschaft insgesamt seit vielen Jahren eine große Herausforderung. Der Blick junger Menschen auf die Berufsbilder in der Branche, die Vorstellungen von einer Karriere in der Versicherungswirtschaft und auch das Image der Unternehmen selbst sind nicht sehr positiv ausgeprägt. Junge Menschen für eine Ausbildung in der Versicherungswirtschaft zu gewinnen, stellt sich seit einigen Jahren daher zunehmend schwieriger dar. Aktuelle Kampagnen wie diejenige des GDV (werde#insurancer)Footnote 6 sind Beispiele für gemeinsame Aktivitäten, um Talente insbesondere für den Vertrieb zu akquirieren. Eine weitere Verschärfung liegt in dem allgemeinen, mehrjährigen Trend, dass Schüler und Schülerinnen nach erfolgreichem Schulabschluss verstärkt in Richtung Studium statt Ausbildung tendieren.

Das Angebot der Kombination einer Ausbildung mit einem staatlich anerkannten Studiengang mit dem Fokus auf Risiko und Versicherung hat dagegen eine starke Anziehungskraft auf junge Potenzialträger. Wenn die Umsetzung des Programms zudem für die jungen Menschen attraktiv ist und auch eine durchdachte Personalbedarfsplanung dahintersteht, dann können junge Potenzialträger/-innen dafür gewonnen werden.

Wo Studierende das integrierte Modell für sich als attraktiv erleben, können sie selbst zudem in der Akquisition neuer Talente mitwirken. Die aktuellen integrierten Studierenden können zielgruppenorientiert als Multiplikatoren an Schulen oder auch in den sozialen Medien eingesetzt werden.

Die parallele Qualifizierung im Rahmen der betrieblichen Ausbildung und durch die fokussierte Hochschulausbildung ermöglicht den Studierenden in Abstimmung mit den Unternehmen individuell Schwerpunkte in der Entwicklung zu setzen. Durch diese Schwerpunktsetzung − beispielsweise in Geschäftsfeldern wie Risikomanagement, Industrieversicherung und Altersversorgung oder auch in betrieblichen Kompetenzfeldern wie beispielsweise Marketing und Innovation − können zukünftige Stationen des Personaleinsatzes vorbereitet und unterstützt werden.

Unternehmen, denen es seit Jahren gelingt, die Auszubildenden in diesem dualen Prozess zu motivieren und von ihrem Unternehmen zu überzeugen, erreichen hohe Bindungsquoten nach Abschluss des Studiengangs. Dabei nehmen insbesondere die Führungskräfte und Ausbilder in den jeweiligen Fachbereichen eine wesentliche Funktion ein. Die Akzeptanz der Parallelität von Ausbildung und Studium und damit verbunden auch von höheren Abwesenheitszeiten ist dabei eine wesentliche Herausforderung. Zudem ist die inhaltliche Gestaltung der Ausbildung und auch des späteren Personaleinsatzes der jungen Potenzialträger ein wesentlicher Faktor für die Bindungsbereitschaft. Erhalten die Studierenden sukzessive herausfordernde Aufgaben und können sie in der Schlussphase der Ausbildung mögliche attraktive Zielbereiche kennenlernen, so ist eine hohe Bindung erreichbar.

Aufgrund der veränderten Hochschulabschlüsse – Bachelor- und Masterabschluss statt des früheren Diplomabschlusses – stellt sich im Rahmen der Personalentwicklung dabei sehr häufig die nächste Herausforderung.

Diese liegt in der Flexibilität von Personaleinsatz und Personalentwicklung unter Einbindung individueller Vorstellungen über einen anschließenden Masterstudiengang. Dabei ist mittlerweile das Angebot berufsbegleitender oder berufsintegrierender Masterstudiengänge sehr umfangreich und unübersichtlich. Mit dem Master of Science Risk and Insurance, einem konsekutiven betriebswirtschaftlich ausgerichteten Studiengang und dem Master of Arts LLM, der auf das Versicherungsrecht fokussiert ist, bietet das ivwKöln jeweils einen fachlich ausgerichteten berufsintegrierten bzw. berufsbegleitenden Studiengang an.

Ob das integrierte Studienmodell ein wesentlicher Beitrag zum Talentmanagement der Unternehmen ist, zeigt sich schließlich im Personaleinsatz. Gelingt es mittelfristig die jungen Talente aus dem integrierten Programm zu binden und in relevante Schlüsselfunktionen einzusetzen, dann ist das Modell für das Unternehmen und die Potenzialträger erfolgreich. Hierbei ist sicherlich die Entwicklung hin zu agilen Arbeitsformen in vielen Unternehmen hilfreich. Verantwortungsvolle Aufgaben bis hin zu Führungsverantwortung werden auch für jüngere Potenzialträger leichter realisierbar.

Die Erfahrungen aus über 20 Jahren integriertem Studium und auch die Begegnungen mit zahlreichen Absolventen und Absolventinnen sowie Personalmanagern belegen, dass dies in vielen Fällen gelungen ist. Nicht umsonst nehmen aktuell die großen und mittleren Versicherungskonzerne im Umfeld der TH Köln seit mehr als 15 Jahren kontinuierlich am integrierten Studienmodell teil. Für das ivwKöln ist diese Entwicklung Bestätigung und Herausforderung zugleich. Bestätigung für einen relevanten Beitrag zum Talentmanagement der Branche und damit auch zum Personalrisikomanagement. Die Herausforderungen betreffen die zukünftigen Entwicklungen und werden nachfolgend abschließend behandelt.

3 Zukünftige Herausforderungen für das ivwKöln

Die zukünftigen Herausforderungen in der Versicherungswirtschaft verändern auch die relevanten Berufsbilder und damit die Anforderungsprofile zukünftiger Aufgabenfelder. So wird das neue Ausbildungskonzept für Versicherungskaufleute in 2023 umgesetzt.Footnote 7

Veränderte Anforderungsprofile müssen sich daher auch in den vermittelten Kompetenzen des Studiengangmodells wiederfinden. Durch die Erneuerung des Bachelorstudiengang Risk and Insurance mit neuen Modulen (Data Analytics, agile Produktentwicklung oder Innovationsmanagement) sowie neu gestaltete Schwerpunktbereiche (Risikogeschäftsfelder und betriebliche Kompetenzbereiche) werden die neuen Anforderungen abgebildet und sukzessive weiterentwickelt. Zugleich wird die in den Unternehmen stattfindende Veränderung des Arbeitens und Lernens in einer Kombination von Präsenz (im Unternehmen) und Mobil (online vernetzt) ebenfalls in den Lehrmethoden integriert. Aus den Erfahrungen in der Pandemie-bedingten Lockdown-Phase werden die Studienangebote als Blended-Learning-Ansätze weiterentwickelt.

Von der antizipativen Anpassung der vermittelten Kompetenzen an die neuen Herausforderungen zukünftiger Aufgabenfelder in der Versicherungswirtschaft hängt aus Sicht der Hochschule auch der weitere Erfolg des integrierten Modells ab.

Gleichzeitig muss das Instrumentarium der Akquisition neuer Studierender mit hohem Potenzial weiterentwickelt werden. Die Nutzung der Social-Media-Kanäle sowie die generelle stärkere Digitalisierung des Hochschulmarketings sind dabei wesentliche Entwicklungen, die auch in der Kooperation mit den Unternehmen eingeleitet werden.

Darüber hinaus bieten sich insbesondere im Forschungsbereich zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten für eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen jungen Potenzialträgern im Unternehmen und den Forschungsstellen des ivwKöln. Die Mitwirkung an Forschungsprojekten, eigene Forschungsvorhaben aus den Unternehmen heraus, die Teilnahme an Symposien oder Workshops bis zur kontinuierlichen Mitarbeit in den Forschungsstellen sind hierbei wesentliche Gestaltungsformen.

Initiiert durch eine Projektausschreibung des Bundeswissenschaftsministeriums zur Förderung des Nachwuchses an Fachhochschulen bietet die TH Köln ab dem Jahr 2022 sogenannte Tandem-Programme an.Footnote 8

Die Verknüpfung einer unternehmensbezogenen mit einer hochschulbezogenen Personalentwicklung durch kombinierte Beschäftigungsverhältnisse ist insbesondere für Potenzialträgerinnen mit einer Ambition für eine partielle Hochschullaufbahn interessant.

Hochschulen sind auch in Zukunft geeigneter Netzwerkpartner für eine Talentmanagement Strategie der Unternehmen. Damit unterstützen sie auch das Personalrisikomanagement der Unternehmen. Im Rahmen der Transferfunktion wird dies auch in der Zukunft eine wesentliche Zielsetzung des ivwKöln in Kooperation mit den Unternehmen der Versicherungswirtschaft und des Risikomanagements bleiben.