1 Einleitung

Im Rahmen der digitalen Transformation ist es für Unternehmen unabdinglich, den damit einhergehenden Veränderungsprozessen rasch und flexibel und vor allem unter Ausnutzung des sich ergebenden Optimierungspotenzials möglichst gut vorbereitet zu begegnen. Dies schließt nicht nur die üblichen operativen Prozesse mit ein, sondern auch die Entwicklungs- und Auswahlprozesse für Produkte und Dienstleistungen und der sie unterstützenden Softwaresysteme. Vor allem in Branchen und Unternehmen, in denen der Informationsverarbeitung eine besondere Bedeutung zukommt, bietet sich dabei auch die Nutzung von (IT-) Standards an. Im Projektmanagement kann man dazu schon lange auf etablierte Modelle zurückgreifen, sodass hier bereits von einer starken Durchdringung ausgegangen werden kann.Footnote 1

In der Umsetzung von IT-Projekten sind Requirements Engineering und Testen zwei fundamentale Phasen, für die mit IREB und ISTQB entsprechende Standards mit Zertifizierungsschemata zur Verfügung stehen.Footnote 2 Diese bedürfen jedoch einer zielgerichteten Einführung, um wertschöpfend sein zu können.

Im Folgenden sollen daher zunächst die organisatorische Sicht der Beteiligten sowie im Anschluss die entsprechenden Ausbildungs- bzw. Zertifizierungsschemata dargestellt werden. Danach werden die zentralen inhaltlichen Konzepte beider Standards aufgezeigt. Im Anschluss wird auch auf die besonderen Vor- und Nachteile eingegangen. Zum Schluss werden die Erkenntnisse unter Aufarbeitung des Optimierungspotenzials zusammengefasst.

2 Standards für Test und Anforderungsmanagement

Obwohl in Projekten das Testen bereits auf dem Anforderungsmanagement aufsetzt, wird zunächst ISTQB als Standard für den Softwaretest vorgestellt, weil er der bekanntere ist, und im Anschluss IREB für das Anforderungsmanagement erläutert.Footnote 3

2.1 Akkreditierung und Zertifizierung von ISTQB und IREB

Standards wären gefährlich, wenn sie nicht auch inhaltlich qualitätsgesichert wären. Da es sich bei ISTQB und IREB zudem um prozessorale Standards handelt, die in die Organisation eines Unternehmens eingebettet werden, bieten sich zusätzlich Akkreditierungen und Zertifizierungen an, damit auch eine Qualitätssicherung im Hinblick auf die Ausbildung der Mitarbeiter*innen in diesen Standards gewährleistet ist. Akkreditierung ist gewissermaßen die Prüfung der Ausbilder*innen und der ausbildenden Unternehmen sowie des Ausbildungsprozesses zu den beiden Standards, während sich die Zertifizierung auf die individuelle Prüfung der Mitarbeiter*innen bezieht.

Abb. 19.1 zeigt das Zusammenspiel in der Aufgabenverteilung der an der Akkreditierung und Zertifizierung beteiligten Unternehmen, Organisationen sowie der Teilnehmenden an den Schulungsmaßnahmen.

Abb. 19.1
figure 1

Aufgabenverteilung bei der Zertifizierung. (Quelle: eigene Darstellung; vgl. Spillner und Linz 2019, S. 2)

Während die internationalen Boards, also in diesem Fall IREB und ISTQB, üblicherweise die Lehrpläne zusammen mit den nationalen Boards erarbeiten und das Prüfungsverfahren regulieren (einschließlich der Erstellung der Prüfungsfragen), kümmern sich die nationalen BoardsFootnote 4 unter anderem um die Anerkennung der Trainingsprovider. Den Trainingsprovidern − meist Unternehmen, die bereits im Schulungssektor tätig sind − obliegt die Aufgabe, die entsprechende Kursprogramme einschließlich der dazugehörigen Kursunterlagen (vor allem Foliensätze und Aufgaben) aufzubauen und bei einer dafür zuständigen Zertifizierungsstelle akkreditieren zu lassen. Dazu gehört unter anderem ein Review über die Kursunterlagen durch Zertifizierungsstellen, um eine gleichartige Qualität der Kursprogramme zu gewährleisten.Footnote 5

Des Weiteren führen die Trainingsprovider die Ausbildungskurse bzw. Schulungen für die Teilnehmenden durch. Die Zertifizierungsstellen nehmen wiederum die Prüfungen ab.Footnote 6 Die Anzahl der Prüfungsfragen zu den einzelnen Themen orientiert sich dabei strikt an der Komplexität der Kapitel, um eine gerechte Prüfung für beide Seiten zu ermöglichen. Bei Bestehen der Prüfung erhalten die Teilnehmenden ein Zertifikat ohne Note, das zum Beispiel im Foundation Level zeitlebens gültig ist. Eine Prüfung im Anschluss an eine Schulung ist nicht obligatorisch. Ebenso können die Prüfungen auch ohne vorherige Kursteilnahme absolviert werden, obwohl dies aufgrund des Praxisbezugs der Inhalte nicht empfehlenswert ist.

2.2 ISTQB-Standard

ISTQB (International Software Testing Qualifications Board) wurde als gemeinnützige Zertifizierungsstelle für Softwaretester und -testerinnen bereits im Jahr 2002 von europäischen Gremien ins Leben gerufen. Es ist eine gemeinnützige Einrichtung, deren Experten und -innen ehrenamtlich agieren. ISTQB verfolgt das Ziel, professionelles Testen auf Basis eines internationalen Standards zu etablieren. Dazu werden Zertifizierungsprüfungen angeboten, die in Deutschland von unabhängigen Prüfstellen wie die isqi, gasq oder dem TÜV Süd abgenommen werden. Mit über 641.000 Zertifizierungen in 120 Ländern (Stand: Dezember 2018) ist es eines der erfolgreichsten Qualifikationsschemata weltweit.

Abb. 19.2 zeigt das modulare Ausbildungs- und Zertifizierungsschema. Basis ist der Certified Tester Foundation Level (CTFL), in dem bereits die wichtigsten Grundelemente für erfolgreiches Testen und Testmanagement vermittelt werden.

Abb. 19.2
figure 2

ISTQB-Zertifizierungsschema. (Quelle: GASQ 2021)

Grundsätzlich kann man sich den CTFL wie auch das gesamte Zertifizierungsschema als ein Framework vorstellen. Es wird zwar ein detailliert beschriebener Testprozess als zentrale Struktur vorgegeben sowie die wichtigsten zum Testen notwendigen Methoden und Verfahren, allerdings lässt ISTQB nicht nur eine Adaption dieses Prozesses zu, sondern fordert diese gewissermaßen auch. Damit soll nicht nur der Individualität von Projekten Rechnung getragen werden, sondern auch unterschiedlichen Vorgehensmodellen wie zum Beispiel Scrum als agile Methode.

In gewisser Weise ist ISTQB mit dem Baukastensystem von Lego vergleichbar. Es werden zahlreiche unterschiedliche Bausteine und auch Bauanleitungen vorgegeben, jedoch bleibt die Möglichkeit, diese in vorgegebenen Grenzen zu kombinieren − insbesondere für große Unternehmen und Konzerne wie aus der Versicherungsbranche.

Darüber hinaus greift ISTQB immer wieder auf bewährte Standards wie das V-Modell oder Scrum bzw. auf Normierungen wie DIN, IEEE oder ISO zurück (vgl. Oberbörsch 2019, S. 7 ff. und S. 19). ISTQB ist also keine vollständige Neuentwicklung, sondern seinerseits ein Konzept, das Neuartiges mit Bewährtem kombiniert.

Neben dem CTFL gibt es diverse Spezialisierungen und Vertiefungen, zum einen den Agile Tester, zum anderen weitere thematische Spezialisierungen wie Usability Testing, Test Automation Engineer oder der Security Tester. Da sich dieses Schema − wenn notwendig − anpasst, sind weitere Spezialisierungen und Vertiefungen in Vorbereitung, andere werden überarbeitet. Während es für die Teilnahme beim Foundation Level keine Voraussetzungen gibt, ist der Einstieg in den Advanced und Expert Level schwieriger. Die Prüfungen sind ebenfalls dem Level entsprechend anspruchsvoller.

Im Mittelpunkt aller Zertifizierungen steht der Testprozess, der sich wie in Abb. 19.3 illustriert aus Aufgaben des Testmanagements (Testplanung, Testdurchführung und -überwachung sowie Testabschluss) sowie der übrigen Tester zusammensetzt.

Abb. 19.3
figure 3

Struktur des Testprozesses. (Quelle: eigene Darstellung; vgl. Spillner und Linz 2019, S. 21)

Wie eingangs erwähnt ist dieser Prozess anpassbar. Grundsätzlich wird von der vorgegebenen Struktur ausgegangen und auch die Arbeitspakete innerhalb der einzelnen Schritte sind vordefiniert.

Allerdings sind insbesondere die Auswahl der Testverfahren und die Reihenfolge variierbar. Zudem können Schritte bspw. beim explorativen Testen zusammengelegt werden. In agilen Vorgehensweisen gibt es üblicherweise deutlich mehr, dafür jedoch kleinere Zyklen zwischen den einzelnen Schritten.

Optimales Testen setzt normalerweise auf einer qualitativ hochwertigen Testbasis auf. Wesentlicher Gegenstand der Testbasis sind Anforderungen, die von den Testern auf Vollständigkeit und Testbarkeit zu überprüfen sind. Häufig fehlen diese jedoch oder sind nur sehr unzureichend vorhanden, sodass Tester vor der Aufgabe stehen, etwas zu testen, zu dem es häufig keine oder nicht genügend testbaren Vorgaben gibt.

2.3 IREB-Standard

An dieser Stelle setzt die Notwendigkeit eines systematischen Requirements Engineering an, wobei sich die Notwendigkeit nicht nur in Bezug auf das Testen ergibt, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Realisierung oder die Auswahl eines Systems. Im Übrigen gibt es auch einen Bezug in die andere Richtung: bereits in der Konzeptionsphase sollten Anforderungen getestet werden, um Fehler frühzeitig zu erkennen und Kosten im Wertschöpfungsprozess zu verringern (vgl. Oberbörsch 2019, S. 21 ff., vgl. Pohl und Rupp 2021).

Wie Abb. 19.4 zeigt, verfolgt IREB ein vom Konzept her mit dem ISTQB vergleichbares modulares Ausbildungsschema.

Abb. 19.4
figure 4

CPRE-Ausbildungsmodell. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an IREB 2021)

Auch die zeitliche Entwicklung ist vergleichbar, wenngleich IREB in der heutigen Form später entstanden und weniger verbreitet ist. Die Grundlage bildet hier ebenfalls ein Foundation Level, bei dem es für die Teilnehmenden im Foundation Level keinerlei Voraussetzungen sowie im Falle einer Prüfung ein zeitlebens gültiges Zertifikat gibt. Im Advanced Level können die Themen

  • Ermittlung (Requirements Elicitation),

  • Verwaltung (Requirements Management) sowie

  • die modellbasierte Dokumentation (Requirements Modeling)

vertieft werden. Wie beim ISTQB werden agile Methoden bereits im Foundation Level behandelt, können jedoch aber im RE@Agile detaillierter behandelt werden (der RE@Agile Primer ist ein alternatives Modul ohne Voraussetzungen). Den Abschluss bildet der Expert Level, für den normalerweise das Bestehen des Foundation Level sowie dreier Advanced Level Voraussetzung sind.

Der in Abb. 19.5 dargestellte Requirements Engineering Prozess ist gewissermaßen der Vorgang der „Wunschzettelerstellung“ an ein System und besteht aus den Schritten Anforderungsermittlung, Anforderungsdokumentation, Anforderungsvalidierung und Anforderungsverwaltung.

Abb. 19.5
figure 5

Struktur des RE-Prozesses. (Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an IREB 2021)

Die Arbeitsergebnisse aus dem Requirements Engineering – zumeist fachliche Anforderungen − gehen nicht nur in die nachfolgende Realisierung ein und bilden somit die fachliche und technische Realisierungsbasis, sondern sie sind auch Ausgangspunkt und Ergebnis für die technischen Entwürfe eines Systems und (wie bereits erwähnt) das Testen. Daneben können sie einen nicht unwesentlichen Input für die Planung innerhalb des Projektmanagements darstellen. Sind also die Anforderungen unvollständig und fehlerhaft, können auch die Realisierungen und das Testen nicht vollständig und fehlerfrei sein. Damit ist klar, dass Requirements Engineering und Testen nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.

3 Vor- und Nachteile sowie Nutzen

Wie zuvor gezeigt sind sowohl systematisches und zielführendes Requirements Engineering als auch ein entsprechender Testprozess wesentliche Faktoren für erfolgreiche IT-Projekte − zumal bei zusätzlichem Rückgriff auf einen Standard „das Rad nicht neu erfunden werden muss“. Dennoch obliegt eine kritische Betrachtung.

In Tab. 19.1 sind daher ohne Anspruch auf Vollständigkeit wesentliche Vor- und Nachteile von Zertifizierungen auf Basis von Standards für Unternehmen (U) sowie Mitarbeiter*innen (MA) gegenübergestellt.

Tab. 19.1 Vor- und Nachteile von Zertifizierungen. (Quelle: eigene Darstellung)

Woraus ergeben sich nun besondere Nutzeffekte für die Unternehmen? Durch eine standardisierte Qualifikation mit modularem Aufbau ist das Thema gut skalierbar und der Aufwand im Unternehmen planbar. Ferner gibt es durch die Standardisierung weniger Kommunikationsverluste an den Schnittstellen im Projekt, sodass Fehlerbeseitigungskosten sinken. Ein spezifisches Vokabular muss nicht mehr aufgebaut werden und die Methoden können als ausgereift angesehen werden, sodass hier Entwicklungsaufwand bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung reduziert wird. Weniger Missverständnisse und eine bessere Kommunikation in den Projekten beschleunigen diese und es gibt weniger Fehler. Eine internationale Akzeptanz ist bei internationalen Projekten wichtig. Zudem kann die Anwendung dieser Standards als Alleinstellungsmerkmal eines Unternehmens gelten.

Der Nutzen für die Mitarbeiter*innen besteht vor allem in qualitativ besseren Arbeitsergebnissen und damit einhergehend einer höheren Zufriedenheit sowie eines höheren beruflichen Mehrwerts.

Wesentlicher Nachteil bleibt der zu knappe Zeitrahmen, der nicht nur für Mitarbeiter*innen bedeutsam ist, sondern auch für das Unternehmen, weil für eine solide Einarbeitung weiterer Aufwand entstehen kann. Die vermeintlich starr erscheinenden Konzepte relativieren sich, wenn sie als anpassbare Konzepte verstanden und gelebt werden. Auch die Konkretisierung ergibt sich normalerweise bei ausreichender Reflexion sowie zwangsläufig im operativen Part eines Projektes. Dass gängige Modelle zum Teil nicht behandelt werden, ist der großen Anzahl an Modellen geschuldet. Allerdings sind die Modelle meist recht ähnlich, sodass der Einarbeitungsaufwand in einen neuartigen Modelltyp eher als gering einzustufen ist.

4 Fazit

Standards werden schon seit langem zur Vereinheitlichung und Strukturierung von Prozessen und Produkten herangezogen, nicht nur im IT-Projektmanagement. Bereits die unternehmerische Entscheidung zwischen Standard- oder Individualsoftware, also dem Kauf eines vorgefertigten Produkts oder einer maßgeschneiderten Eigenentwicklung, beschäftigt sich mit dieser Frage. Die Kriterien zur Auswahl von Softwareprodukten können dabei analog auf die zur Auswahl von Standards im Softwarelebensentwicklungsprozess übertragen werden. Dabei kommen dem Requirements Engineering und dem Testen in den IT-Projekten aus Sicht des Fachbereiches eine besondere Bedeutung zu, denn dieser ist meist nicht nur mit großen Einflussmöglichmöglichkeiten direkt beteiligt, sondern verfügt zudem als eine der wichtigsten Stakeholdergruppen über ein berechtigtes Eigeninteresse an optimalen Ergebnissen.

Benefits im Hinblick auf Standards ergeben sich vor allem dadurch, dass mit der Entscheidung dafür ein strukturierter Prozess sowie das Vokabular für diesen Prozess, an denen man sich orientieren kann, mit- und vorgegeben werden. Gleichwohl gilt es, auch die Risiken abzuwägen. Hier ist insbesondere eine inhärente Starrheit in Bezug auf Veränderungsprozesse zu nennen.

Insofern liegt der goldene Mittelweg darin, auf Standardisierungen zurückzugreifen, die einerseits eine feste Orientierung bieten, andererseits aber auch eine hinreichende Flexibilität zulassen, sodass insbesondere in Branchen, in denen die Fähigkeit zur Individualisierung einen wesentlichen Wettbewerbsfaktor darstellt – wie zum Beispiel der Versicherungsbranche – diesem Ansatz entsprochen werden kann.

ISTQB bietet eine Art Framework, das heißt ein „Baukastensystem“, für das Testen. IREB stellt das Pendant für das Requirements Engineering zur Verfügung. Beide sind international anerkannt und etabliert und liefern daher insbesondere international tätigen Konzernen und Unternehmen mehr als hinreichende „Baupläne“ mit der Möglichkeit, diese im Hinblick auf die Besonderheiten der eigenen Projekte und Vorgehensmodelle zu individualisieren, um damit schließlich weitere Optimierungspotenziale bei der Entwicklung und Einführung neuer Softwaresysteme auszuschöpfen.