1 Vorbemerkungen

Der Begriff „komplex“ stammt aus dem Lateinischen „complexus“, was so viel heißt wie Umarmung oder Umschließung. Im heutigen Sprachgebrauch hat der Begriff „komplex“ im jeweiligen Nutzungszusammenhang jedoch eine vielschichtige Bedeutung.

So gibt es in der Mathematik „komplexe Zahlen“, die Aufgaben lösbar machen können, die mit rationalen oder irrationalen Zahlen nicht lösbar sind. In der Psychologie wird der Begriff „Komplex“ erstmalig von C.G. Jung genutzt, der damit eher eine Zusammenfassung von unterschiedlichen psychischen Teilzuständen im Sinne einer Aggregation bezeichnete (vgl. Wirtz 2021). Im technischen Zusammenhang wird „komplex“ gerne als Steigerung von „kompliziert“ genutzt.

Dabei bezeichnet man als „komplizierte“ Strukturen Bauten, Maschinen und Prozesse, die schwer verständlich und schwer erschließbar sind, deren Interaktion aber durch ihren innewohnenden Zusammenhang vorhersagbar und damit zumindest für Fachleute einigermaßen „verständlich“ bleiben. So dreht sich beispielsweise in einem komplizierten Uhrwerk, dessen Abläufe und Strukturen von außen betrachtet undurchschaubar erscheinen, das Räderwerk aber immer wieder in gleicher Art und Weise, da die Bauteile (die Räder) miteinander verbunden sind.

Wird in Systemen der Bereich des eindeutig Vorhersagbaren verlassen, obwohl Bauteile und Einflussgrößen noch bekannt sind, so werden diese Systeme eher als „komplex“ bezeichnet. Wird auch dieser Bereich verlassen, bezeichnet man Prozesse häufig als „chaotisch“, d. h. sie unterliegen zwar dann immer noch (zumindest die sichtbaren) den Naturgesetzmäßigkeiten und bleiben damit deterministisch, in ihrer (in der Regel nichtlinearen) Dynamik werden sich aber kaum Fachleute finden, die sie als verstehbar oder vorhersehbar bezeichnen.

Bei dieser Auswahl an Prozessbezeichnungen stellt sich die Frage, welcher der Begriffe (kompliziert, komplex oder chaotisch) den Bekämpfungsprozess der aktuellen Corona-Pandemie am besten bezeichnet. Bei der Prozessbetrachtung ist dabei noch von Relevanz, ob es sich um einen rein autark laufenden Prozess handelt, oder ob es noch externe Eingriffs- bzw. Steuerungsmöglichkeiten im Sinne einer „Bekämpfung“ gibt. Fehlende Eingriffs- oder Kontrollierbarkeit erzeugen dabei Angst, insbesondere wenn das Ergebnis der Auswirkungen schädlich ist.

Die aktuelle, von sich aus laufende Corona-Pandemie hatte und hat das Zeug dazu, in uns Angst hervorzurufen, da die Erkrankung Covid-19 (d. h. die von Sars-COV-2 hervorgerufene Krankheit) schwere Krankheitsverläufe, Krankenhausbehandlungen, Behandlungen auf Intensivstationen und Todesfälle verursachen kann und − zumindest initial − keine Instrumente vorhanden waren, die sie kontrollierbar erscheinen ließ.

Im Gegensatz zum Anfang der Pandemie wissen wir allerdings zwischenzeitlich, dass die Corona-Pandemie unter bestimmten Rahmenbedingungen kontrollierbar bleibt. Was problematisch bleibt, ist die Herstellung dieser Rahmenbedingungen, die aus vielen Teilaktionen bestehen, in letzter Konsequenz aber auf der Kontaktverhinderung zwischen Menschen beruhen.

Wir können deshalb die Bekämpfung der aktuellen Corona-Pandemie als „komplexen Prozess“ bezeichnen, wenngleich manches nach wie vor chaotisch anmutet.

In Abb. 12.1 findet sich die Darstellung von drei seit März 2020 täglich in Köln gemessenen Parametern als zeitliche Verlaufskurven.

Abb. 12.1
figure 1

Verlaufskurven von Inzidenzrate, Hospital- und Intensivbelegung. (Quelle: eigene Erstellung, Stand 13.10.2021) (Quelle: IG NRW (Informationssystem Gefahrenabwehr Nordrhein-Westfalen), https://www.ig.nrw.de/IGNRW-Internet/, aufgerufen am 26.11.2021, Zugriff nur für angemeldete Nutzer)

Die rote Kurve ist die 7-Tages-Inzidenzrate von Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner. Die beiden anderen Kurven sind die Sachstandserfassungen der Anzahl der Patientinnen und Patienten im Krankenhaus (blau gestrichelte Kurve)) und derjenigen, die auf den Intensivstationen liegen (blau durchgezogene Kurve). Unschwer ist dabei zu erkennen, dass diese Kurven einen Bezug zueinander haben, d. h. alle Kurven gehen in einem zeitlichen Zusammenhang nach oben und nach unten. Die vier Gipfel repräsentieren die bisherigen vier Pandemiewellen.

Es stellt sich die Frage, welche infektionsbedingten Prozesse und Mechanismen diesen hier gezeigten Kurven (Inzidenzraten, Krankenhaus- und Intensivbelegung) zugrunde liegen und welche Maßnahmen vorhanden bzw. verfügbar sind, um das pandemische Geschehen für die Bevölkerung und jeden Einzelnen beeinflussen und kontrollieren zu können.

2 Prozesse, Mechanismen und Bekämpfungsmaßnahmen

2.1 Ansteckung

Dieser pandemischen Infektion liegt der Ansteckungs-Mechanismus zugrunde, dass das Virus „SARS-CoV-2“ bei Menschen mit „Spike-Proteinen“ an bestimmten Rezeptoren auf der Zelloberfläche andocken kann, die sich u. a. auf Zellen der oberen und unteren Atemwege sowie den Zellen der Augenschleimhäute befinden. Nach Andocken an diesen Zellen schleust die Zelle das Virus aktiv ein und lässt zu, dass sich seine genetische Information in das zelleigene Genom integriert und eine Virussynthese gestartet wird. Die dabei gebildeten Viren werden durch unterschiedliche Mechanismen wieder ausgeschleust, und wenn diese Zellen Kontakt zur Außenwelt haben, werden diese Viren auch in die Außenwelt entlassen bzw. befördert und können damit andere Menschen erreichen und anstecken.

Je nach Andockfähigkeit der Viruspartikel, der Stabilität ihres Trägermediums (zum Beispiel Tröpfchen, Aerosole) und durch den Einfluss von Beschleunigungsvorgängen (Nießen, Husten, Spucken, Luftströmungen, etc.) können die Sars-CoV-2 Viren eine mehr oder weniger große Reichweite erlangen. Dieser wirksame Ansteckungsmechanismus führt dazu, dass überall Ansteckungen stattfinden können, wo infektiöse Personen auf Nicht-Infizierte treffen. Das Infektions- und Krankheitsprofil ist dabei in Verbindung mit den Kontaktmöglichkeiten geeignet, dass die von Sars-CoV-2 ausgelöste Erkrankung Covid-19 sich innerhalb von Wochen weltweit als Pandemie ausbreiten konnte.

2.1.1 Verhinderung von Ansteckung – von außen

Alle Maßnahmen, die ein Andocken von Viruspartikel auf Zielzellen und damit eine anschließende Einschleusung verhindern, sind geeignet, eine Ansteckung zu verhindern. Das reicht von Abstandshaltung (außer Reichweite der Partikel) bis zu mechanischen Barrieren (zum Beispiel Wände, Masken, Brillen, Filteranlagen, etc.), die einen Kontakt mit Viruspartikeln verhindern können. Des Weiteren sind Hygienemaßnahmen zu nennen, die in der Lage sind, Viruspartikel zu entfernen bzw. zu inaktivieren (zum Beispiel Desinfektionsmittel). Die wirksamsten, aber auch umstrittensten Maßnahmen zur Eindämmung der steil ansteigenden Ansteckungen und der drohenden Überlastung der Intensivstationen waren die behördlich angeordneten kontaktreduzierenden Maßnahmen, die summarisch als „Lockdown“ bezeichnet wurden. Diese Maßnahmen dienten dem Erhalt des obersten Schutzziels, eine Überlastung der Intensivstationen zu verhindern, um damit die Bevölkerung mit Leistungen der Intensivmedizin für alle Notfälle, Unfälle, Erkrankungen und Eingriffe versorgen zu können.

2.1.2 Bekämpfung von Ansteckung und Infektion – von innen

Ist das Virus in den Körper eingedrungen und wird dort in Zellen vermehrt, war die Ansteckung erfolgreich und die Infektion kann Fahrt aufnehmen. Dies ist umso leichter möglich, wenn das Immunsystem nicht oder noch nicht darauf vorbereitet ist. Bekanntlich benötigt das Immunsystem eine gewisse Zeit, bis es die Eindringlinge identifiziert hat und so weit aktiviert ist, dass die Bekämpfung wirksam stattfinden kann. Eine „aktive Impfung“ mit abgeschwächten Viren oder von Virusbestandteilen leitet den Identifizierungs- und Aktivierungsprozess des Immunsystems schon vor einer Infektion ein und verlagert damit die Aktivierung des Immunsystems in einen Zeitraum, bevor die „echte“ Ansteckung stattgefunden hat. Damit kann das Immunsystem das Virus kennenlernen und sich darauf vorbereiten, zum Beispiel durch die Produktion von neutralisierenden Antikörpern und Gedächtniszellen (humorales Immunsystem) und Aktivierung von T-Zellen (zelluläres Immunsystem).

Finden SARS-CoV-2 Viren Kontakt zu Schleimhäuten, gibt es vor dem Kontakt zu rezeptorbesetzten Zielzellen (zum Beispiel in den Luftwegen oder Schleimhäuten) eine Barriere aus Schleim, die der Körper auf praktisch allen Schleimhäuten mit Hilfe schleimproduzierender Zellen aufbaut, die Enzyme enthalten, die DNA und RNA zerstören können. Bei geimpften und genesenen Personen gibt es auch Antikörper der Klasse A (kurz IgA), die mit Viruspartikeln reagieren und diese neutralisieren können.

Findet in einem durch Impfung oder Erkrankung vorbereiteten Organismus dennoch eine Ansteckung statt, treffen die Viren auf ein bereits vorbereitetes Immunsystem, das unmittelbar reagieren kann. Im günstigsten Fall werden Krankheitssymptome und Schäden dadurch völlig vermieden oder verlaufen milde, da das vorbereitete Immunsystem die Oberhand behält. Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass das Immunsystem nicht nur aus „Antikörpern“ oder aus einzelnen Abwehrzellen besteht, sondern aus einem umfänglichen Zusammenwirken unterschiedlicher Zellen, Organe und zirkulierenden Faktoren.

Eine weitere Möglichkeit, eingedrungene Viren zu bekämpfen, ist die sogenannte „passive Schutzimpfung“ mit neutralisierenden Antikörpern, die vorher industriell hergestellt wurden und den Infizierten dann als „Medikament“ gespritzt werden können. Diese Möglichkeit gibt es auch für die Bekämpfung von SARS-CoV-2 Viren. Diese Antikörper sollten insbesondere bei Personen Anwendung finden, deren Immunsystem nicht vorbereitet oder schwach ist bzw. auf eine aktive Impfung nicht adäquat reagieren kann (zum Beispiel Immungeschwächte). Nach allem was man bisher weiß, ändert weder eine durchgemachte Infektion noch eine aktive Schutzimpfung noch ein derzeit zugelassenes Medikament etwas an der rezeptortragenden Zielzelle (zum Beispiel in der Rachenschleimhaut), die das Eindringen des Sars-CoV-2 Virus verhindert. Dies mag erklären, dass sowohl geimpfte als auch genesene Personen sich immer wieder mit Sars-CoV-2 anstecken können, wenngleich alle anderen immunologisch wirksamen Mechanismen die Ausbreitung des Virus im Organismus und damit einen schweren Krankheitsverlauf verhindern können, zumindest solange dieser „Impfschutz“ wirksam ist.Footnote 1

2.2 Behandlung der Krankheit Covid-19

Wurde das Immunsystem „überrumpelt“ und breitet sich die Infektion im Körper aus − was leichter gelingt, wenn die Infektion auf das unvorbereitete Immunsystem eines „Ungeimpften“ trifft − kann das Virus Schäden verursachen, die entweder unmittelbar durch das Virus selbst entstehen (zum Beispiel Zelltod) oder durch die daraufhin einsetzenden Abwehrreaktionen des aktivierten Immunsystems.

Diese Abwehrreaktion, die durch die Aktivierung des Immunsystems möglich wird, ist geeignet, Viren zu eliminieren und virentragende Zellen zu töten. Allerdings kann ein derart aktiviertes Immunsystem auch eine schwere Entzündungsreaktion zum Beispiel in der Lunge auslösen, wenn dort sehr viele mit Viren besetzte Zellen vorhanden sind und die Immunaktivierung sozusagen „überschießend“ ist.

Dabei führen Entzündungsfaktoren, die von Immunzellen produziert werden, u. a. zu einer veränderten Blutgerinnung (Thrombosegefahr), womit unspezifische Verletzungen leichter abdichtbar werden. Sie führen aber auch zu einer Erhöhung der Durchlässigkeit des Lungengewebes, was Immunzellen das Eindringen und die Bekämpfung der Viren bzw. der virenbesetzen Zellen erleichtern soll. Gleichzeitig kann dadurch aber auch Wasser eindringen, wodurch das Lungengewebe anschwillt und den Gasaustausch behindert. Die Lungenfunktion wird dadurch beeinträchtigt und der Patient bekommt entweder zu wenig Sauerstoff oder kann das Kohlendioxyd nicht mehr richtig loswerden. Hier wird eine medizinische Behandlung wie zum Beispiel eine künstliche Beatmung mit Sauerstoff notwendig, aber auch eine medikamentöse Bremsung der Immunreaktion, damit die Schwellung wieder abnimmt (zum Beispiel mit Kortison). Weitere Medikamente finden Anwendung, sind in der Entwicklung oder schon in der Erprobung.

2.3 Epidemiologische Aspekte

Steckt eine infizierte Person mehr als eine weitere Person an, breitet sich die Infektion aus. Deutlich wird das an dem sogenannten „R-Wert“, der dann größer als 1 wird. Steckt eine infizierte Person (statistisch) weniger als eine weitere Person an, sinkt der R-Wert unter 1. Breitet sich eine Infektion regional aus, spricht man von einer Epidemie und läuft sie (insbesondere durch Reiseaktivitäten und -möglichkeiten) um die ganze Welt, spricht man von einer Pandemie. Die Ansteckungsfähigkeit einer Viruserkrankung hängt dabei davon ab, wie das Virus zu anderen Menschen gelangen kann und wie leicht es dort an Zellen andocken kann.

Kann es nur schwer an Körperzellen andocken, weil diese schwer erreichbar sind (zum Beispiel Leberzellen) oder weil trotz guter Erreichbarkeit (zum Beispiel Nasenschleimhaut) die Rezeptorendichte klein oder die Andockfähigkeit gering ist, werden mehr Viren oder eine bestimmte Eindringroute (zum Beispiel über den Blutweg) benötigt, um eine Ansteckung erfolgreich herbeiführen zu können.

Bekanntlich gibt es Viren, bei denen nur eine Kopie notwendig ist, um eine Ansteckung erfolgreich umzusetzen, weil die rezeptortragende Zelle weit außen liegt, der Rezeptor und das Virus gut zueinander passen und der Ausschleusungsmechanismus einfach ist (zum Beispiel über die reine Atmungstätigkeit). Dazu gehört das Masernvirus. Viren wie das Sars-CoV-2 Virus haben ihre Ansteckungsfähigkeit durch Mutationen verbessert. Anfänglich (beim sogenannten Wildtyp) schafften es überwiegend nur Tröpfchen, so viele Viren zu transportieren, dass eine Ansteckung wahrscheinlicher wurde. Bei der Alpha-Mutante erfolgte eine Ansteckung deutlich leichter, da das Spikeprotein des Virus sich durch Mutation so veränderte, dass es besser am Rezeptor der Zielzelle andocken kann. In der Delta-Variante kam es zu einer weiteren Mutation (P681R-Locus) am Spikeprotein, die die Ansteckung noch einmal erleichtert und das Virus damit in etwa so ansteckend macht wie Windpocken.

Eine weitere Einflussgröße ist die Jahreszeit. Bereits von der saisonalen Grippe, die durch Tröpfcheninfektion verbreitet wird, weiß man, dass sie bei uns vorwiegend in der Grippesaison (also in den Wintermonaten) auftritt, während sie im Sommer wieder zu verschwinden scheint. Erklärt wird diese saisonale Abhängigkeit mit sehr unterschiedlichen Mechanismen wie beispielsweise:

  1. 1.

    In der Kälte halten sich Tröpfchen besser,

  2. 2.

    im Winter trockenen die Schleimhäute aus, weshalb sie anfälliger für Viren werden und

  3. 3.

    im Winter spielt sich das Leben in den Räumen ab, was Nähe und Ansteckung fördert.

Auch bei Sars-CoV-2 scheint es eine saisonale Abhängigkeit der Ausbreitung zu geben.

Die Ausbreitungsgeschwindigkeit hängt aber nicht allein von der Ansteckungsfähigkeit ab, sondern auch davon, wie viele Personen eine infizierte und ansteckende Person so eng kontaktiert, dass das Virus als Ansteckung auch weitergegeben wird. Enge Kontakte ohne Schutzmaßnahmen dort, wo viele Menschen sind, können dann zu einem Ansteckungshotspot mit dutzenden oder hunderten Neuinfektionen werden. Befördert wird das zusätzlich, wenn die (oft unbemerkt) Infizierten dann noch die Virusverteilung aktiv ankurbeln, zum Beispiel durch Sprechen, Singen oder Schreien.

Vieles zu Sars-CoV-2 wissen wir aber noch nicht, weshalb Aussagen zu den Mechanismen und Prognosen zum weiteren Verlauf schwierig sind.

2.4 Grenzen von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie

Äußere Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckung lassen sich zusammenfassen in „passive“ mechanische Maßnahmen (zum Beispiel Masken, Wände, Filter etc.) und „aktive“ kontaktreduzierende Maßnahmen (zum Beispiel Regularien, Verordnungen, Gesetze, Verfügungen etc.). Funktionieren die passiven mechanischen Barrieren nicht, spricht man von „technischem“ Versagen. Werden die aktiven Maßnahmen (Kontaktreduzierung, das Tragen von Masken, Verbote von Veranstaltungen etc.) nicht eingehalten bzw. durchgeführt und kommt es dabei zu Ansteckungen, spricht man von menschlichem Versagen. Aus der Technik weiß man, dass bei etablierten und funktionierenden technischen Systemen ein Versagen in mehr als 90 Prozent durch menschliches Versagen ausgelöst wird.

Bei den medizinischen Maßnahmen gibt es auch aktive und passive Behandlungsmöglichkeiten. Allerdings ist bei einer medizinischen Behandlung immer die Wechselwirkung zwischen den Maßnahmen und dem Organismus maßgeblich. So stimuliert zum Beispiel eine aktive Schutzimpfung das Immunsystem des Geimpften. Der Schutz hängt dann aber davon ab, wie gut sich das Immunsystem aktivieren lässt und wie lange der Schutz anhält. Bei einem robusten, jungen Organismus funktioniert − nach allem was man bisher weiß − die Aktivierung sehr gut. Wie lange der Impfschutz tatsächlich bei jungen und gesunden Personen anhält, ist jedoch noch nicht abschließend geklärt. Bei älteren Personen scheint er bei den aktuellen Impfstoffen nach ca. sechs Monaten abzunehmen und muss entsprechend erneuert werden (vgl. Nordström et al. 2021; vgl. Gelitz 2021). Besonders problematisch scheint es bei Personen mit einem geschwächten Immunsystem zu sein. Hier kann die Aktivierung des Immunsystems durch die Schutzimpfung insgesamt schwächer ausfallen oder sogar ausbleiben. Ebenso schwer tun sich geimpfte Personen, die zusätzliche Risikofaktoren wie zum Beispiel Diabetes, Bluthochdruck oder sonstige Organerkrankungen mitbringen und deren Organismus mit zunehmendem Alter (als allgemeinem Risikofaktor) schwächer wird.

Ebenso erklärt sich der Mechanismus der Ansteckung bei vollständig Geimpften dadurch, dass die Zielzellen von Sars-CoV-2 weit außen (zum Beispiel in den Schleimhäuten) liegen und es Viren (insbesondere bei hoher Viruslast) dadurch schaffen, diese Zellen tatsächlich zu erreichen, anzudocken und dort so vermehrt zu werden, dass sie auch wieder „auf kurzem Weg“ in die Außenwelt abgegeben werden und andere anstecken können. Bei vollständig Geimpften sind sie dann aber in der Regel nicht (mehr) in der Lage, das aktivierte Immunsystem so weit zu überwinden, dass schwere Verläufe entstehen, die dann eine Behandlung auf der Intensivstation erforderlich machen.

Bei allen hier dargestellten Grenzen der aktiven Schutzimpfung, bleibt sie summarisch die wirksamste medizinische Maßnahme, die präventiv wirkt. Deutlich wird das in Abb. 12.1 in der 4. Welle, in der trotz hoher Inzidenzraten die Hospitalisierung und die Intensivbehandlungen niedrig geblieben sind und das bei einer Virusvariante, die um ein Mehrfaches ansteckender ist als die bisherigen Varianten und die bei Ungeimpften (Stand Oktober 2021) schwerere Verläufe verursacht.

3 Bekämpfung der SARS-CoV-2 Pandemie − kompliziert, komplex oder chaotisch?

Nach der hier vertretenen Auffassung ist diese Pandemie „nur“ komplex, was an drei Beispielen erläutert werden soll.

3.1 Beispiel 1: Kontrollierbarkeit

In Abb. 12.1 ist erkennbar, dass bei der ersten Welle die Belegungszahlen in den Krankenhäusern und den Intensivstationen bereits Mitte März 2020 steil anstiegen. Völlig unklar war damals, wie dieser Anstieg gestoppt werden kann. Aus anderen Ländern kamen Medienberichte zur Überfüllung von Intensivstationen und damit einhergehend zu einer hohen Sterblichkeit. Es gab kaum Schutzkleidung, Schutzmasken etc. und es war unklar, ob und welche Maßnahmen gegen Sars-CoV-2 wirksam sind.

Nach ersten Berechnungen reichten die (bereits aufgestockten) Intensivkapazitäten bis Anfang Mai 2020. Dem Beispiel Chinas und Italiens folgend wurde am 17.03.2020 eine Kontaktreduktion zwischen Menschen behördlich angeordnet (Lockdown), die Ansteckungen verhindern sollte. Die Krankenhauszahlen stiegen in Köln jedoch bis zum 10.04.2020 weiter an und nahmen danach erst wieder ab. Der erste Lockdown bei Ungeimpften ohne wesentliche Schutzmöglichkeiten (zum Beispiel Masken etc.) dauerte 24 Tage. Dieser Erfolg zeigte, dass auch ohne genauere Kenntnisse der zugrunde liegenden Mechanismen und ihrem Zusammenwirken die erste Welle kontrolliert werden konnte.

3.2 Beispiel 2: Lockdown-Eingriff immer kürzer bis zur Wirksamkeit auf den Kölner Intensivstationen

In den ersten beiden Pandemiewellen war noch niemand geimpft, in der dritten Welle mit der ansteckenderen Alpha-Variante waren nur acht Prozent der erwachsenen Kölner/-innen vollimmunisiert. In der ersten Pandemiewelle ohne wirksame Schutzmaßnahmen und ohne Impfung dauerte der erste Lockdown noch 24 Tage, bis die Zahl der Intensivpatienten in Köln sank. In der zweiten Welle mit wirksamen Schutzmasken und erprobten AHA-L Regeln genügten bereits 13 Tage bis zur wirksamen Abnahme der Patientenzahlen auf den Intensivstationen und in der dritten Welle reichten zwölf Tage.

In Tab. 12.1 sind (Stand Oktober 20021) die Belegungen in Krankenhaus-Intensivstationen (KH-ITS) in Köln während der ersten drei Pandemiewellen sowie die Korrelation mit den behördlich angeordneten Maßnahmen während des Lockdowns (LD) dargestellt.

Tab. 12.1 Krankenhaus-Intensivbelegungen in Köln. (Quelle: eigene Darstellung, Stand Oktober 2021)

Hier zeigte sich, dass die getroffenen Maßnahmen weitere Eingriffe wie Lockdown-Maßnahmen nur noch in geringerem Umfang erforderlich machten, um die Wellen zwei und drei zu brechen. Vorhersehbar war das allerdings nicht.

3.3 Beispiel 3: Aktive Schutzimpfung

In der vierten Pandemiewelle, die im August 2021 begann, waren bereits rund 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Köln vollimmunisiert (Kinder konnten sich damals noch nicht ohne Weiteres impfen lassen). Die ersten drei Pandemiewellen konnten nach der hier vertretenen Einschätzung nur durch erhebliche kontaktbeschränkende Maßnahmen (Lockdowns) gebrochen werden. Die vierte Pandemiewelle bedurfte dazu keines Lockdowns mehr. Auch wenn aufgrund der Komplexität des Zusammenwirkens der einzelnen Faktoren (deutlich ansteckendere Delta-Variante, hohe Schutzimpfungsquote, Reiserückkehrer, aufgehobene Regularien, saisonale Einflüsse etc.) noch unklar ist, warum diese Welle wieder abschwang, haben sich die wesentlichen Voraussagen (niedrigere Inzidenzraten, niedrigere Hospitalisierung oder niedrigere Intensivbehandlungszahlen wie in Abb. 12.1 ersichtlich) bestätigt.

Ende 2021 sind die Fallzahlen allerdings sehr stark angestiegen und die Situation ist wieder bedrohlicher geworden; ein Rückgriff auf bewährte Instrumente wie Kontaktreduzierungen wird wieder diskutiert ebenso weitere verschärfte Maßnahmen wie etwa Zwangsimpfungen, wobei die Akzeptanz dieser Maßnahmen bei Politik und Bevölkerung aufgrund der langen Dauer der Pandemie fragil ist.

4 Zusammenfassung

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist nicht nur kompliziert, sondern komplex. Die Komplexität rührt daher, dass Wirkungen und Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen aufgrund des unklaren Zusammenwirkens nicht ohne weiteres vorhersagbar sind.

Die Corona-Pandemie mit ihren bisher bekannten Varianten blieb in Deutschland durch kontaktreduzierende Maßnahmen, die zusätzlich zu Basismaßnahmen (Masken, AHA-L-Regeln) zum Einsatz kamen, selbst bei einem steilen Anstieg der Krankenhausbelegung, die die intensivmedizinische Versorgung gefährdete, bislang beherrschbar.

Die Schutzimpfungen haben in der vierten Pandemiewelle (von August bis September-2021) die Inzidenzraten und die Hospitalisierung soweit „unten“ gehalten, dass zusätzlich zu den Basismaßnahmen keine weiteren kontaktreduzierende Maßnahmen im Sinne eines Lockdowns erforderlich waren, um die intensivmedizinischer Behandlungsmöglichkeiten der Bevölkerung zu gewährleisten. Insofern läuft die der Corona-Pandemie in Deutschland prozessbezogen nicht chaotisch ab, sondern sie war und ist eine komplexe Aufgabe.

Bei der Beurteilung des dynamischen Pandemiegeschehens (mit immer neuen Virusmutationen wie etwa der Omikron-Variante) kann dieses Kapitel allerdings nur eine Momentaufnahme darstellen.