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1 Auf der Suche nach dem Gemeinsamen der Dienstleistungsarbeit

In Deutschland sind inzwischen 80 % aller Erwerbstätigen in Dienstleistungsberufen tätig (Baethge 2011, S. 447). Dienstleistungstätigkeiten sind durch eine doppelte Heterogenität gekennzeichnet (Baethge 2011, S. 447), da sie sich erstens in inhaltlich-funktionaler Hinsicht nach Berufsfeldern und ihrer Qualifikationsstruktur ausdifferenzieren. Demnach kann Dienstleistungsarbeit nach Funktionsclustern in personenbezogene, unternehmensbezogene, markt- kommunikationsvermittelnde Dienstleistungstätigkeiten sowie Dienstleistungsarbeiten zur Sicherung sozialer bzw. wohlfahrtsstaatlicher Infrastrukturen unterschieden werden (Oberbeck 2013, S. 166). Zweitens lässt sich Dienstleistungsarbeit in institutioneller Perspektive nach ihren Organisationsformen unterscheiden: Dienstleistungstätigkeiten werden erbracht in Organisationsformen der (Allein-)Selbstständigkeit, privatwirtschaftlicher Unternehmen, staatlicher Organisationen oder Non-Profit-Organisationen (Baethge 2011, S. 447; Oberbeck 2013, S. 166).

Diese Heterogenität verweist auf die Problematik der Arbeits- und Dienstleistungsforschung, sich auf eine einheitliche wie aussagekräftige Definition von Dienstleistungsarbeit zu verständigen. Dienstleistungsarbeit wird überwiegend negativ bestimmt, d. h. in Abgrenzung zu industrieller Produktionsarbeit. Hierbei wird auf ihre nicht-materiellen Ergebnisse, ihre Nicht-Lagerfähigkeit und Nicht-Transportierbarkeit sowie das Uno-Actu-Prinzip verwiesen, wonach Produktions- und Konsumtionsprozesse zeitlich und räumlich zusammenfallen und Kund:innen an der Dienstleistungserstellung beteiligt sind (vgl. Nerdinger 2011, S. 15; Littek 1991, S. 265; Oberbeck 2013, S. 165 f.). Ältere soziologische Versuche, Dienstleistungsarbeit positiv zu bestimmen, betonten die gesellschaftliche Gewährleistungsfunktion von Dienstleistungen als ihren gemeinsamen Bezugspunkt (vgl. Berger und Offe 1981). Die Kritik an dieser Definition richtete sich u. a. darauf, dass Dienstleistungsarbeit auf den Erhalt der materiellen Produktion funktionalisiert und hierbei die Dynamik des Tertiarisierungsprozesses ausgeblendet wurde (vgl. Jacobsen 2010, S. 214). Neuere Versuche, bei aller Heterogenität das Gemeinsame der Dienstleistungsarbeit zu bestimmen, erkennen dies in ihrer Interaktivität, die fast alle Dienstleistungstätigkeiten kennzeichnet und ihren Kerngehalt bildet (Baethge 2011, S. 450 f.). Demnach beziehen sich Dienstleistungstätigkeiten als interaktive Arbeit auf „ein konkretes Gegenüber“ (Baethge 2011, S. 451): „Das Bedürfnis des Gegenübers …zu präzisieren und gemeinsame Wege zu seiner Befriedigung zu erarbeiten, macht den Kern der Interaktivität von Dienstleistungsarbeit aus. Das Gegenüber ist nicht nur Adressat, sondern zugleich Mitproduzent der Tätigkeit…“ (Baethge 2011, S. 451). Bei diesem Gegenüber kann es sich aus Sicht der Dienstleistenden um organisationsexterne Kund:innen, Patient:innen oder Klient:innen handeln.

Dienstleistungstätigkeit als interaktive Arbeit wurde seit den 1990er Jahren näher konzeptualisiert. Diese konzeptionellen Rahmungen umfassen u. a. die psychologische Konzeption dialogisch-interaktiver Erwerbsarbeit (Hacker 2009), die soziologischen Konzepte interaktiver Arbeit (Dunkel und Weihrich 2012) und der front-line service work (vgl. Bélanger und Edwards 2013) sowie das integrierte Konzept der Interaktionsarbeit (vgl. Böhle et al. 2006; Böhle und Weihrich 2020). Letzteres verknüpft vier Dimensionen der Interaktionsarbeit, die an relevante Forschungstraditionen und Konzepte anschließen, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen. Interaktionsarbeit als Arbeit mit bzw. am Menschen umfasst die Dimension der Emotionsarbeit im Sinne der Arbeit an den eigenen Gefühlen, d. h. der intrapsychischen Regulation von Gefühlen und ihrer Darstellung gemäß vorgegebener Gefühlsregeln der Dienstleistungsorganisation (vgl. Hochschild 2006; Goffman 1983), Kooperationsarbeit als Herstellung bzw. Pflege von Kooperationsbeziehungen mit Dienstleistungsnehmenden (vgl. Dunkel und Weihrich 2012), Gefühlsarbeit als aufgaben- und zielorientierte Beeinflussung der Gefühle anderer Menschen (Strauss et al. 1980) und das subjektivierende Arbeitshandeln als Umgang mit Unwägbarkeiten, die sich aus dem Arbeitsgegenstand Mensch, d. h. der Subjektivität des Gegenübers und den Interaktionsdynamiken zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden ergeben (vgl. Böhle 2017).

2 Flexibilisierung von Dienstleistungsarbeit und ihre gesundheitliche Relevanz

Interaktive Dienstleistungsarbeit ist eingebunden in eine grundlegende Dienstleistungstriade aus Dienstleistenden, Dienstleistungsorganisation und Dienstleistungsnehmenden (vgl. Nerdinger 2011; Bélanger und Edwards 2013): Die Dienstleistungsdyade zwischen Dienstleistenden und Dienstleistungsnehmenden wird ergänzt um Beziehungen zwischen Dienstleistenden und der Dienstleistungsorganisation sowie um Beziehungen zwischen letzterer und Dienstleistungsnehmenden. Dienstleistungsorganisationen versuchen das Verhalten der Dienstleistungsnehmenden durch betriebliche Servicekonzepte und Marketingmaßnahmen zu steuern (vgl. Voswinkel und Korzekwa 2005; Nerdinger 2011). Die Beziehung der Dienstleistenden zur Dienstleistungsorganisation, vertreten durch das Management, wird durch das arbeitsvertraglich geregelte Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis konstituiert (vgl. Bélanger und Edwards 2013). Dieses weist Unbestimmtheitslücken auf, die sich einer arbeitsvertraglichen Regelung entziehen. Unbestimmtheitslücken bestehen zum einen hinsichtlich der Leistungsbereitschaft von Beschäftigten zur situationsgerechten Problemlösung, Kooperation und Innovation (vgl. Deutschmann 2002, S. 98) und zum anderen aufgrund der Dispositionshoheit des Managements, Beschäftigte – in gewissen Grenzen – flexibel für unterschiedliche Aufgaben einsetzen zu können (vgl. Marsden 1999). An Beschäftigte werden betriebliche Anforderungen gestellt, den ökonomischen Mehrwert der Dienstleistung zu steigern (vgl. Bélanger und Edwards 2013). Aufgrund ihrer Nähe zu den Dienstleistungsnehmenden richten sich Beschäftigte jedoch oft stärker am Gebrauchswert der Dienstleistung aus, um für Dienstleistungsnehmende Nutzen zu stiften (vgl. Bélanger und Edwards 2013; Böhle et al. 2015).

Im Vergleich zur Industriearbeit wird Dienstleistungsarbeit ein größerer Rationalisierungsrückstand bescheinigt, der u. a. damit verbunden ist, dass Dienstleistungen auch dann vorzuhalten sind, wenn sie nicht aktiv in Anspruch genommen werden (vgl. Berger und Offe 1980, S. 48 f.; Jacobsen 2010, S. 214). Betriebliche Rationalisierungsstrategien richten sich darauf, die ökonomische Effizienz der Dienstleistungsarbeit zu erhöhen. Im Anschluss an Berger und Offe (1980, S. 60 ff.) können drei grundlegende Rationalisierungsstrategien von Dienstleistungsarbeit unterschieden werden: die Technisierung in Gestalt ihrer Substitution durch Mechanisierung bzw. Automatisierung (z. B. durch KI-Systeme) sowie der Produktivitätssteigerung durch die Digitalisierung von Dienstleistungsarbeit, d. h. durch eine digitale Rahmung, Vernetzung, Steuerung und Kontrolle von Arbeitsprozessen (vgl. Flecker 2017, S. 202 ff.), die organisatorische Rationalisierung, z. B. durch eine Standardisierung von Dienstleistungsaufgaben und -prozessen oder eine Flexibilisierung der Dienstleistungsarbeit, sowie ihre Externalisierung, z. B. auf die Selbstbedienung von Kund:innen. In der Praxis kombinieren Dienstleistungsorganisationen diese basalen Rationalisierungsstrategien oft.

In diesem Band fokussieren wir die organisatorische Rationalisierungsstrategie der Flexibilisierung von Dienstleistungsarbeit mit Blick auf ihre gesundheitlichen Folgen und gesundheitsförderlichen Gestaltungsoptionen. Flexibilität ist darauf gerichtet, (unterstellte) Rigiditäten vorhandener Strukturen, einschließlich des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses, zu überwinden, um die Anpassungs- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen zu fördern. Die Flexibilisierung von Arbeit und Beschäftigung gewann auch im Dienstleistungssektor seit den 1980er Jahren an Bedeutung, da sich seither der Flexibilitäts- und Anpassungsdruck auf Unternehmen infolge zunehmender ökonomischer Wettbewerbsintensität und der Deregulierung von Finanz- und Kapitalmärkten erhöht hat. Die Flexibilisierung von Arbeit und Beschäftigung dient Unternehmen zur Kostensenkung, der Anpassung an die erhöhte Wettbewerbsdynamik bzw. zur Sicherung von Kapitalrenditen (vgl. Flecker 2007; Horgan 2022); sie umfasst vier basale Formen (Flecker 2007, S. 29):

  • die zeitliche Flexibilisierung orientiert sich daran, die Arbeitszeiten und damit auch die Personalkapazitäten möglichst an den aktuellen betrieblichen Personalbedarf anzupassen;

  • die räumliche Flexibilisierung zielt darauf ab, Arbeitskräfte an unterschiedlichen Arbeitsorten einzusetzen;

  • die funktionale Flexibilisierung zielt auf eine erhöhte Personaleinsatzflexibilität, um den betrieblichen Personalbedarf insgesamt zu senken;

  • die finanzielle Flexibilisierung intendiert eine variable Gestaltung des Arbeitsentgelts mit Blick auf die veränderliche Ertragslage von Unternehmen.

Diese unterschiedlichen Formen können Unternehmen mit Strategien der internen und der externen Flexibilisierung umsetzen (vgl. Hohendanner und Bellmann 2006, S. 241 f.): Die interne Flexibilisierung richtet sich auf betriebliche Anpassungen im Rahmen existenter, relativ stabiler Beschäftigungsverhältnisse, z. B. durch flexible Arbeitszeitmodelle bzw. -konten oder die Einführung selbstorganisierter Projektarbeit auf Teambasis. Die externe Flexibilisierung erfolgt über den Markt, wie die Auftragsvergabe an Fremdfirmen oder aber durch die betriebliche Nutzung atypischer Erwerbsformen, d. h. Befristung, Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Alleinselbstständigkeit bzw. Honorartätigkeit. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie vom Normalarbeitsverhältnis, das durch unbefristete und sozialversicherungsrechtlich eingebundene abhängige Vollzeitbeschäftigung geprägt ist, abweichen. Das Ausmaß dieser Abweichung variiert stark zwischen atypischen Erwerbsformen und korrespondiert mit der Verlagerung von Risiken der Erwerbsarbeit auf Erwerbspersonen. Sie ist besonders stark bei Alleinselbstständigkeit bzw. Honorartätigkeiten ausgeprägt, da hierbei nahezu jeglicher Sozialschutz, der mit dem Status abhängiger Beschäftigung verbunden ist, entfällt (vgl. Bleses 2008).

Die Flexibilisierung von Beschäftigung ging in der Tertiärökonomie mit der Entwicklung eines Niedriglohnsektors einher, der nicht nur durch atypische Beschäftigung, sondern oft auch durch prekäre Arbeit geprägt ist (Oberbeck 2013, S. 168), wie in Bereichen der Lieferdienste, Gebäudereinigung und haushaltsnaher Dienste. Prekäre Arbeit ist gekennzeichnet durch eine unzureichende soziale Absicherung gegenüber Risiken der Erwerbsarbeit (Dörre 2009), ein für die materielle Existenzsicherung zu geringes Erwerbs- und Haushaltseinkommen, hohe Beschäftigungsinstabilität, geringe Autonomiespielräume bei hohen physischen Arbeitsanforderungen und unzureichende soziale Anerkennung; sie birgt daher erhöhte psycho-physische Gesundheitsrisken (vgl. Mümken und Kieselbach 2009; Tophoven und Tisch 2016).

Doch die Flexibilisierung von Arbeit und Beschäftigung enstehen auch in Dienstleistungsbranchen und -segmenten, in denen das Normalarbeitsverhältnis und (hoch)qualifizierte Dienstleistungsarbeit dominieren, erhöhte psychosoziale Belastungen und Gesundheitsrisiken (vgl. Oberbeck 2013, S. 169). So ist die Projektarbeit als Spiegel funktionaler Flexibilisierung in den IT-Services oft durch widersprüchliche Arbeitsanforderungen sowie hohen Zeit- und Innovationsdruck geprägt (vgl. Becke 2020a), der Arbeitsintensivierung und überlange Arbeitszeiten begünstigt (Gerlmaier 2006). Überdies erleben Beschäftigte im Normalarbeitsverhältnis die externe Flexibilisierung häufig als Droh- und Verunsicherungspotenzial ihres beruflichen Status (Flecker 2007).

3 Das FlexiGesA-Verbundprojekt – Fragestellungen und Forschungsdesign

Das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundprojekt „Flexible Dienstleistungsarbeit gesundheitsförderlich gestalten“ (FlexiGesA) untersucht den Zusammenhang zwischen arbeitsbezogenen Flexibilitätsanforderungen und interaktiver Dienstleistungsarbeit am Beispiel von technischen und sozialen Dienstleistungen. Das Verbundprojekt setzt damit an einer Forschungslücke an, denn bisher existieren kaum empirische Studien, in denen die gesundheitliche Bedeutung von Flexibilitätsanforderungen für interaktive Dienstleistungsarbeit mit Blick auf gesundheitsförderliche Gestaltungsoptionen untersucht wurde. Im Mittelpunkt des FlexiGesA-Verbundprojekts standen dabei folgende Forschungsfragen:

  • Mit welchen Flexibilitätsanforderungen ist interaktive Dienstleistungsarbeit in den ausgewählten Dienstleistungsbereichen konfrontiert?

  • Welche psychischen Gesundheitsrisken ergeben sich für Beschäftigte daraus?

  • Inwiefern tragen mit interaktiver Dienstleistungsarbeit verbundene Gesundheitsressourcen dazu bei, vielfältige Flexibilitätsanforderungen zu bewältigen?

  • Welche Interventionskonzepte eignen sich dazu, flexible und interaktive Dienstleistungsarbeit gesundheitsförderlich zu gestalten? Inwiefern kann hierzu das Verfahren der psychischen Gefährdungsbeurteilung angewandt bzw. adaptiert werden?

Das FlexiGesA-Verbundprojekt widmete sich der gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung bei flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit aus sehr unterschiedlichen Teilbranchen: der männlich dominierten und hochqualifizierten (agilen) IT-Entwicklung auf der einen Seite und den ambulanten haushaltsnahen Dienstleistungen auf der anderen Seite, die überwiegend von Frauen in Privathaushalten pflege- und hilfsbedürftiger Klient:innen ausgeübt werden und als sogenannte Einfacharbeit kein formales Qualifikationsniveau voraussetzen. Da im Feld der ambulanten Pflege bereits Erkenntnisse zur Arbeitssituation und zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung existieren (vgl. Krenn et al. 2010; Bleses und Jahns 2016; Bleses und Busse 2020; Treviranus et al. 2021), wurde der Fokus der Analyse und Intervention auf den diesbezüglich kaum untersuchten Bereich der haushaltsnahen Dienste gerichtet.

Die beiden Interventionsunternehmen, die Teil des Verbundes sind, repräsentieren exemplarisch das breite Spektrum flexibler und zugleich interaktiver Dienstleistungsarbeit. Bei beiden wird Interaktionsarbeit als Arbeit mit Kund:innen oder Klient:innen als relevante Nebenaufgabe geleistet, die eng verwoben ist mit der eigentlichen Primäraufgabe, d. h. der Softwareentwicklung oder den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten (siehe Becke in diesem Band). Diese unterschiedlichen Formen interaktiver Dienstleistungsarbeit sind mit spezifischen Flexibilitätsanforderungen verbunden:

  • Im Fokus der IT-Entwicklungsarbeit stehen funktionale Flexibilitätsanforderungen, die sich auf die Selbstorganisation der IT-Entwicklungsteams bei weitreichender Integration der Kund:innen in den Entwicklungsprozess beziehen. Damit verbunden sind Anforderungen an ein technisch vermitteltes, örtlich verteiltes bzw. ortsflexibles Arbeiten, sei es im Homeoffice, im Rahmen hybrider Arbeitskonzepte, an den Betrieb gebundene remote work oder aber Arbeiten bei Kund:innen. In der IT-Entwicklung überwiegt das Normalarbeitsverhältnis.

  • Hingegen dominieren bei den hauswirtschaftlichen Tätigkeiten Anforderungen an ein ortsflexibles Arbeiten in unterschiedlichen Privathaushalten, das überwiegend in Teilzeitarbeit ausgeübt wird. Die mobilen haushaltsnahen Dienstleistungen erfordern nicht nur arbeitszeitliche Flexibilität, sondern sind aufgrund des relativ breiten Tätigkeitsspektrums auch mit situativ-funktionalen Flexibilitätsanforderungen verbunden. Die haushaltsnahen Dienstleistungen werden für unterstützungs- und pflegebedürftige Klient:innen erbracht, die während der Arbeitstätigkeit in ihrer privaten Häuslichkeit anwesend sind. Die Haushaltshilfen sind daher in ihrer Arbeitstätigkeit mit Anforderungen an die Interaktionsarbeit mit den Klient:innen konfrontiert.

4 Die Verbundarchitektur und der Forschungsansatz

Im Folgenden soll der Verbund in seinem Aufbau mit den Akteur:innen dargestellt und der Forschungsansatz näher erläutert werden.

Das FlexiGesA-Verbundprojekt wird gefördert innerhalb der Richtlinie zur „Förderung von Forschungsverbünden zur Gesundheit in der Arbeitswelt“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die Bekanntmachung zur Förderlinie erfolgte am 23. Mai 2016 (BMBF/Bundesanzeiger vom 07.06.2016) in der Förderinitiative „Gesund – ein Leben lang“.

Ein übergeordnetes Ziel der Förderlinie ist es, einen „wichtigen Beitrag für eine gesundheitsförderliche Arbeitswelt zu leisten“ und zwar durch die Entwicklung und Erprobung von Konzepten, die „psychische Belastungen im Arbeitsleben reduzieren und individuelle Bewältigungsressourcen steigern“ sollen. Dabei greift die Förderlinie bewusst die Herausforderungen auf, die sich mit der fortschreitenden Digitalisierung in der Arbeitswelt ergeben (BMBF 2016).

Erstmals wird eine Verbindung von arbeits- und gesundheitswissenschaftlicher sowie arbeitsmedizinischer/arbeitsepidemiologischer Perspektive innerhalb einer Förderlinie zusammengeführt. Eine Förderung fand bislang disziplinär getrennt voneinander statt. Das zentrale Ziel ist die Bearbeitung von Fragestellungen, die einen maßgeblichen Wert für die praktische Gesundheitsförderung in den Betrieben haben und die schlussendlich nur durch eine Zusammenarbeit von Hochschulen und Betrieben in Kooperation sinnvoll bearbeitet werden können.

Aufgabe war es zudem, eine Verknüpfung von quantitativer und qualitativer Forschung innerhalb der Projekte herzustellen und dabei einen partizipativem und transdisziplinären Forschungsansatz zu verfolgen. Insbesondere der Wissenstransfer im Projekt, der besonders durch die aktive Einbindung von betrieblichen Praxispartnern gewährleistet werden sollte, stellte einen zentralen Aspekt für die Förderfähigkeit dar. Dieser war bzw. ist eng verknüpft mit der Sicherstellung einer nachhaltigen Verwertung aufseiten der betrieblichen Praxispartner und durch die übrigen Verbundpartner. Zudem musste die Arbeitsmedizin/-epidemiologie aktiv eingebunden werden. Voraussetzung war ebenfalls eine ausgewiesene Genderorientierung innerhalb der Verbünde als auch eine elaborierte Disseminationsstrategie, die auch eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Betriebe garantieren sollte.

Das FlexiGesA-Verbundprojekt ist im Rahmen der Förderlinie dem Themengebiet ‚Präventionsforschung zur Vermeidung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz‘ zugeordnet. Das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt wurde von 02/2018 bis 07/2022 gefördert (FKZ: 01GL1753A bis 01GL1753E).

4.1 Zielsetzung des Verbundprojektes FlexiGesA

Gesündere Arbeitsbedingungen, insbesondere die Förderung der psychischen Gesundheit bei flexibler Interaktionsarbeit in Dienstleistungsunternehmen, stellen das übergeordnete Ziel des Verbundprojekts dar. Dies sollte exemplarisch am Beispiel der IT‐Services, als männlich dominierte Branche, und der ambulanten sozialen Dienste, als weiblich dominierte Branche, untersucht werden (vgl. Becke 2018, S. 7 sowie Ausführungen weiter oben).

Partizipativ und gendersensibel sollten „integrierte verhaltens‐ und verhältnisorientierte Interventionen zur Reduzierung psychischer Gesundheitsrisiken mit Konzepten zur Stärkung der personalen, sozialen und organisationalen Gesundheitsressourcen bei flexibler Interaktionsarbeit“ verknüpft werden (Becke 2018, S. 7).

Dieses Gesamtziel wird durch sieben zentrale Teilziele konkretisiert:

  1. 1.

    „Quantitative, qualitative und arbeitsmedizinische Analyse psychischer Belastungen bei flexibler Interaktionsarbeit

  2. 2.

    Entwicklung und Erprobung verhaltens- und verhältnisorientierter Interventionskonzepte

  3. 3.

    Formative und summative, quantitative und qualitative Evaluation der entwickelten und erprobten gesundheitsbezogenen Interventionen unter Einbindung der arbeitsmedizinischen Expertise

  4. 4.

    Durchführung einer Regionalanalyse zur Vornahme von Aussagen zur Übertragbarkeit der Ergebnisse

  5. 5.

    Regionale und zielgruppenspezifische Verbreitung der Interventionskonzepte (Breiten- und Tiefentransfer) einschließlich Erfolgskontrolle

  6. 6.

    Entwicklung von Praxishilfen für kleine und mittlere Unternehmen (Handlungsleitfäden, Unternehmenscheck)

  7. 7.

    Erarbeitung eines arbeitswissenschaftlichen Rahmenkonzepts zur gesundheitsförderlichen Gestaltung flexibler Interaktionsarbeit“ (Becke 2018, S. 8).

Das Verbundprojekt FlexiGesA wurde durch das Institut Arbeit und Wirtschaft (Universität Bremen) koordiniert. Die Gesamt- und Teilziele im Verbundprojekt verfolgen die Beteiligten durch die gemeinsame Bearbeitung der drei Teilprojekte, wie aus der Abb. 1 deutlich wird:

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Übersicht der Projektstruktur mit Verbundpartnern, zentralen Gremien als auch der drei Teilprojekte.

  • Im Teilprojekt 1 „Gesundheitsbezogene Bestandsaufnahme und Evaluation“, das durch die Jade Hochschule koordiniert wird, steht die Frage im Zentrum, welche psychischen Arbeitsbelastungen, Gesundheitsressourcen und Bewältigungsmuster von Beschäftigten im Rahmen der qualitativen und quantitativen, gesundheitsbezogenen Bestandsaufnahme bei den Unternehmenspartnern identifiziert werden können.

  • Im Teilprojekt 2 „Entwicklung und Erprobung gesundheitsförderlicher Interventionskonzepte“, in der Federführung des Instituts Arbeit und Wirtschaft (Universität Bremen), wird der Frage nachgegangen, welche gesundheitsförderlichen Interventionskonzepte und Praxishilfen können in Bezug auf flexible Interaktionsarbeit und psychische Belastungen auf Unternehmensebene entwickelt werden.

  • Im Teilprojekt 3 „Regionale Transferstrategie“, geleitet durch die Gesundheitswirtschaft Nordwest e. V., wird der Frage nachgegangen, wie die entwickelten Interventionskonzepte und Praxishilfen regional und zielgruppenspezifisch übertragen, evaluiert und verbreitet werden können.

4.2 Das Studiendesign des Verbundprojektes

Zu Beantwortung der umfassenden Fragestellungen wurde ein Mixed-Methods-Design zugrunde gelegt, dass sich aus den drei Teilprojekten zusammensetzt und mithilfe unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Methoden bearbeitet wurde (Becke 2018, S. 9 ff.).

Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, richtet sich der Fokus im Teilprojekt 1 auf die qualitative wie quantitative Bestandsaufnahme von Arbeitsbelastungen, Gesundheitsressourcen und Bewältigungsmustern von Beschäftigten aus den Teilbranchen IT‐Services und ambulante soziale Dienste. In die Bestandsaufnahme wurden arbeits‐ und gesundheitswissenschaftliche Erhebungen und die arbeitsmedizinische Sichtung bereits vorhandener Gefährdungsbeurteilungen in den Unternehmen integriert. Ergänzt wurden diese betrieblichen Bestandsaufnahmen durch eine qualitativen Regionalanalyse. Durch diese Befragung wurden die Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf die Prävention psychischer Belastungen in der interaktiven Dienstleistungsarbeit sowie die regionale Vernetzung der Unternehmen und strategischen Partner ermittelt (Stange et al. 2022). Des Weiteren sollte überprüft werden, inwiefern sich vor dem Hintergrund der Projektergebnisse arbeitswissenschaftliche Kriterien humaner Arbeitsgestaltung für flexible und interaktive Dienstleistungsarbeit eignen bzw. weiterzuentwickeln sind. Überdies sollte ein Rahmenkonzept für die gesundheitsförderliche Gestaltung flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit erarbeitet werden (siehe Becke in diesem Band).

Innerhalb des Teilprojekt 2 erfolgte auf Basis der betrieblichen Bestandsaufnahmen die Auswahl betrieblicher Gestaltungsfelder aufseiten der Unternehmenspartner HEC und vacances. In diesen wurden gesundheitsförderliche Interventionskonzepte unter Beteiligung von Beschäftigten wie Führungskräften sowie in Kooperation mit dem iaw und dem Arbeitsmediziner forschungsbasiert entwickelt und erprobt. Die Arbeitsforschung orientierte sich hierbei am Forschungsansatz der dialogorientierten Praxisforschung, der auf die Selbstaufklärung von Beschäftigten und Führungskräften über ihre Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen abzielt und diese als Subjekte der Forschungs-, Entwicklungs- und Gestaltungsprozesse beteiligt (vgl. Becke und Senghaas-Knobloch 2011; Bleses und Busse 2020). Die Interventionskonzepte wurden abschließend auf ihre Transferfähigkeit hin geprüft.

Aufbauend auf den ermittelten lokalen und branchenspezifischen Bedarfen wurden im Teilprojekt 3 zwei Praxisleifäden zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung in ambulanten sozialen Diensten und zur agilen IT-Entwicklungsarbeit und ein online-Unternehmenscheck zur psychischen Gefährdungsbeurteilung konzipiert und die regionale Vernetzung gestärkt. Innerhalb des Teilprojektes bildete der regionale und branchenspezifische Breiten- und Tiefentransfer der Projektergebnisse eine Kernaufgabe. Der Tiefentransfer der Projektergebnisse und Interventionskonzepte richtete sich an die Referenzunternehmen und wurde qualitativ evaluiert (siehe hierzu Pöser und Becke 2022).

Im Teilprojekt 1 ist die summative und formative Evaluation, die sich auf quantitativen wie qualitativen Methoden und Auswertungsverfahren stützt, angesiedelt. Die Bestandsaufnahme fand bei den zwei Unternehmenspartnern HEC und vacances (Interventionsbetriebe) und fünf Referenzbetrieben zum ersten Erhebungszeitpunkt (t0) statt. Geplant war ursprünglich, unmittelbar im Anschluss an die zweijährige Entwicklung und Erprobung betrieblicher Interventionen bei den beiden Unternehmenspartnern, zwei weitere Erhebungszeitpunkte nach Abschluss der Interventionsphase (t1) und ein halbes Jahr später (t2) anzuschließen. So sollten Aussagen über die Wirksamkeit der Maßnahmen möglich sein, die im Teilprojekt 2 entwickelt und erprobt wurden. Diese wurden mithilfe des COPSOQ, z. B. anhand der Parameter Burnout und Präsentismus ermittelt (siehe Beitrag von Gerdau-Heitmann et al. in diesem Band). Parallel sollten auch die Referenzbetriebe befragt werden, um so einen unmittelbaren Vergleich zwischen den Betrieben mit und ohne Intervention zu erhalten. Aufgrund der Pandemie ließ sich dieses Vorgehen aber nicht wie ursprünglich geplant umsetzen (siehe Ausführungen weiter unten).

Als Referenzbetriebe konnten folgende Unternehmen gewonnen werden:

  1. 1.

    Aus dem Bereich der IT-Dienstleistungen:

    • Atacama Software Holding, Standort Bremen

    • Kommunale Datenverarbeitung Oldenburg (KDO)

  2. 2.

    Aus dem Bereich ambulanter sozialer Dienstleistungen:

    • Ambulante Pflege Landdienste GmbH (Dötlingen)

    • Johanniter-Unfall-Hilfe e. V., Landesverband Niedersachsen/Bremen (Elsfleth) und

    • Convivo Holding GmbH (Bremen).

Die Umsetzungspartner

Die Begleitung des Verbundprojekts fand während der gesamten Laufzeit engmaschig durch projektbezogene Umsetzungspartner statt. Bei der Gewinnung der Umsetzungspartner spielte einerseits der regionale Bezug eine Rolle, andererseits der Verantwortungsbereich, der möglichst alle bedeutsamen Akteure betrieblicher Gesundheitsförderung/Prävention und Interessensvertretungen abdecken sollte.

Erfreulicher Weise konnten so die AOK Niedersachsen mit Sitz in Hannover, die hkk Krankenkasse Bremen, die Arbeitnehmerkammer Bremen, der bpa – Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e. V. Bremen/Bremerhaven, die VBG Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (Hamburg), die BGW – Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (Hamburg), ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Hauptverwaltung Berlin) als auch die Kooperationsstelle Universität/Gewerkschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gewonnen werden.

Der Projektbeirat

Der Beirat sollte das breite inhaltliche wie methodische Spektrum des Verbundprojektes abdecken. Mit der Besetzung der Beiratsmitglieder aus der VBG (Hamburg) (Dr. Monika Keller), der Arbeitnehmerkammer Bremen (Wolfgang Groß/Dr. Dennis Wernstedt), der BGW Hamburg (Dr. Maren Kersten), der hkk Bremen (Dr. Wolfgang Ritter) als auch den beiden hochschulischen Vertreter:innen Prof. Dr. Nadine Pieck (Hochschule Magdeburg/Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft der Universität Hannover) und Prof. Dr. Thomas Geisen (Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten/CH) ist dies erfolgreich gelungen. Auf den jährlichen Projektkonferenzen wurde der Beirat eingeladen mitzudiskutieren und in den sich daran anschließenden Beiratssitzungen Empfehlungen für die weitere Arbeit auszusprechen. Diese engmaschige Begleitung wurde von allen Projektpartnern als sehr positiv und gewinnbringend bewertet sowie als sehr konstruktiv und lösungsorientiert erlebt. Insbesondere die durch die Pandemie bedingten Anpassungen konnten so gemeinsam reflektiert werden.

5 „Lessons learned“ – Forschung und Entwicklung in der Pandemie

Forschungs- und Entwicklungsprojekte, wie der FlexiGesA-Verbund, bilden zielorientierte, zeitlich begrenzte und komplexe Kooperationsgefüge, in denen neuartige Problemlösungen forschungsbasiert entwickelt, erprobt, evaluiert und möglichst prozessbegleitend in spezifische Anwendungsfelder transferiert werden sollen. Ihr Gelingen setzt zumindest tendenziell eine transdisziplinäre Kooperation zwischen wissenschaftlichen Forschungs- und betrieblichen Praxis- sowie Transferpartner:innen voraus. Das ist kein selbstlaufender Prozess. Vielmehr erfordert die Projektkooperation von allen Beteiligten, unterschiedliche Interessen, Motive und Perspektiven wechselseitig anzuerkennen, die Zusammenarbeit und dabei auftretende Probleme sowie Herausforderungen der Projektarbeit gemeinsam zu reflektieren, sodass differenzverträgliche wie konstruktive Forschungs- und Entwicklungsbeziehungen entstehen können (vgl. Nolten und Obermeyer 2021). Die vor Pandemiebeginn gemeinsame einjährige Kooperationsbasis erwies sich als bedeutsame Ressource dafür, ab März 2020 die neuen, pandemiebedingten Herausforderungen im Projektverbund konstruktiv zu bewältigen.

Die COVID-19-Pandemie stellte das FlexiGesA-Verbundprojekt vor tiefgreifende Herausforderungen, die zwei zentrale und miteinander verwobene Adaptionsleistungen der Forschung und Entwicklung erforderte:

  1. 1.

    Die Anpassung des Forschungsdesigns und der Forschungsmethoden: Hierbei bestand die besondere Herausforderung darin, das Design, die Methoden und den Forschungsprozess krisenbedingt so zu adaptieren bzw. weiterzuentwickeln, dass sich die originären Ziele des Forschungsvorhabens weiterhin realisieren ließen und zugleich die Bedarfe der Unternehmenspartner zur pandemiebedingten Krisenbewältigung berücksichtigt wurden.

  2. 2.

    Die Pandemie als Gegenstand der Forschung zu adressieren: Eine zentrale Anpassungsleistung bestand darin, zu entscheiden, inwieweit im Zuge der Coronapandemie emergente Veränderungen der Arbeitssituation und -bedingungen aufseiten der Unternehmenspartner und damit verbundene Ansätze des betrieblichen Krisenmanagements analysiert und im weiteren Forschungs- und Entwicklungsprozess berücksichtigt werden sollten. Hierbei galt es, den Spagat zwischen der Orientierung an den originären Zielstellungen des Verbundprojekts auf der einen Seite und den neuen thematischen Herausforderungen der Coronapandemie auf der anderen Seite – bei begrenzten Forschungs- und Entwicklungskapazitäten – zu bewältigen.

5.1 Adaption des Forschungsdesigns und der Forschungsmethoden

Die Pandemie und die darauf bezogenen gesetzlichen Vorgaben zur Eindämmung des Infektionsgeschehens hatten zur Folge, dass aufseiten der Unternehmenspartner vorrangig negative ökonomische Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungssicherheit (z. B. infolge von Auftragseinbrüchen) so weit wie möglich zu begrenzen sowie zugleich Hygiene- und Infektionsschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen waren. Diese Herausforderungen absorbierten gerade zu Beginn der Pandemie weitgehend die betrieblichen Kapazitäten. In Kombination mit dem zeitweiligen und wiederholten Lockdown volkswirtschaftlicher Bereiche hatte dies zur Folge, dass Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zwischen März und Mai 2020 nicht realisiert, ja zumindest bis in das Frühjahr 2021 hinein lediglich unter erschwerten Bedingungen und teilweise mit deutlichen zeitlichen Verzögerungen angegangen bzw. fortgeführt werden konnten. Besonders betroffen davon war die Entwicklung und Erprobung von Interventionen, die ein höheres Maß an zeitlich-räumlicher Kopräsenz der Beteiligten voraussetzten, wie die neu eingeführten Dienstbesprechungen im Bereich der ambulanten hauswirtschaftlichen Dienste oder die teambezogene Auslastungsplanung per Legoboards im Rahmen der agilen IT-Entwicklung.

Für die Anpassung des Forschungsdesigns erwies sich vor allem eine engmaschige Abstimmung zwischen den Projektbeteiligten als förderlich. So konnte die Fortentwicklung des Forschungsdesign – je nach Verlauf der Pandemie und der aktuellen gesetzlichen Vorgaben – adaptiv und reflexiv erfolgen. Bereits in 2020 wurde deutlich, dass die eingetretenen zeitlichen Verzögerungen der quantitativen wie qualitativen Forschungsarbeiten sich bei anhaltender Pandemie nicht ohne weiteres würden auffangen lassen. Daher erwies sich die Unterstützung des Projektträgers DLR als sehr hilfreich und zielführend, das Verbundprojekt und dessen Teilvorhaben um ein halbes Jahr verlängern zu können. Dies ermöglichte es, die originären Projektziele weitgehend zu realisieren und noch offene Arbeitspakete zu beenden.

Die Coronakrise erforderte es, nicht nur das Forschungsdesign insgesamt, sondern auch konkrete Forschungsmethoden anzupassen. Dies betraf vor allem den Bereich der qualitativ orientierten Arbeitsforschung. Ursprünglich in zeitlich-räumlicher Kopräsenz geplante Gruppendiskussionen mit Beschäftigten bzw. Führungskräften im Bereich der IT-Entwicklung erfolgten aus Gründen des Infektionsschutzes nun mediatisiert, d. h. mithilfe von Videokonferenzsystemen, oder im Rahmen neu zu entwickelnder hybrider Erhebungsformate, bei denen ein Teil der darin involvierten Beschäftigten und Führungskräfte sich vor Ort im Betrieb befand, ein anderer Teil online per Videokonferenzsystem zugeschaltet wurde. Diese Erhebungsformen sind mit Blick auf ihre Angemessenheit für die intendierte qualitative Arbeitsforschung ambivalent zu beurteilen: Auf der einen Seite ermöglichen sie ein „Notprogramm“ (Schiek et al. 2022, S. 28) zu verfolgen, d. h. sich in der Pandemie auf die den widrigen Umständen entsprechenden Methodenoptionen zu beschränken. Aus einer solchen Perspektive geraten vor allem methodische Begrenzungen mediatisierter im Vergleich zu raum-zeitlich kopräsenten Formen der Datenerhebung in den Blick. Solche Begrenzungen wurden bei mediatisierten bzw. hybriden Formen der Gruppendiskussionen deutlich. So ermöglicht die Nutzung von Videokonferenzsysteme zwar, Gruppendiskussionen bei Gleichzeitigkeit mit örtlich verteilten Teilnehmenden durchzuführen. Die Qualität der erhobenen qualitativen Daten ist hierbei aber in zumindest zweifacher Weise beeinträchtigt:

  • Die an mediatisierten Gruppendiskussionen teilnehmenden Personen lassen sich nur ausschnitthaft wahrnehmen, da ein umfassenderer Wahrnehmungszugang, der die Leiblichkeit der Personen einschließlich ihrer Mimik und Gestik umfänglicher einschließt, nicht möglich ist (vgl. Tratschin 2020). Dies bedeutet, dass mimische und gestische bzw. leibliche Reaktionen und Darstellungsweisen von Teilnehmenden hier nur begrenzt erfasst werden können. Damit entfällt eine für die qualitative Forschung relevante Datenquelle, die es erlaubt, Aussagen des Teilnehmenden stärker zu kontextualisieren und vertiefend zu interpretieren.

  • Eine weitere Begrenzung mediatisierter Gruppendiskussionen resultiert daraus, dass der Zugang zur „gemeinsamen kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Reichertz 2021, S. 322) eingeschränkt ist. So lässt sich in Gruppendiskussionen mithilfe von Videokonferenzsystemen nicht beobachten, wie die Teilnehmenden in der Gesprächssituation miteinander interagieren und sich wechselseitig aufeinander beziehen, insbesondere über ihr körperliches Ausdrucksverhalten und ihren Blickkontakt, d. h. das „Einander-Anblicken“ (Reichertz 2021, S. 324) als informelle Form der Handlungskoordination. Gerade die Beobachtung der Interaktionsdynamik zwischen den Beteiligten kann jedoch eine für die qualitative Arbeitsforschung relevante Datenquelle bilden, da sie z. B. Einblicke in informelle Machtasymmetrien oder in wechselseitige sozioemotionale Verstrickungen zwischen Beteiligten (vgl. Goffman 2001) gewähren kann. Überdies gelingt es – nach unserer Erfahrung – in durch zeitlich-räumliche Kopräsenz geprägten Erhebungssituationen eher, introvertierte Interviewpartner:innen angemessen einzubeziehen als bei technisch vermittelten Erhebungen.

Gleichwohl können sich technisch vermittelte Erhebungen je nach Kontext durchaus als situativ angemessene Erhebungsformate erweisen, insbesondere wenn sie an betriebliche Arbeitskulturen anschlussfähig sind. So wurden im FlexiGesA-Verbundprojekt pandemiebedingt Videokonferenzsysteme zur psychischen Gefährdungsermittlung eingesetzt. Als Beispiel lässt sich die ,Gesundheitsretrospektive‘ anführen, die als moderierter und geschützter Dialograum gestaltet war, in dem Mitglieder eines IT-Entwicklungsteams ihre Arbeitssituation reflektierten und Ideen zur gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung erörterten. In dieser mediatisierten Gesprächssituation, die von Forschenden passiv-teilnehmend beobachtet wurde, brachten Teilnehmende auch für sie ,heikle‘ Arbeitsbelastungen zur Sprache. Dies weist darauf hin, dass Beschäftigte in der ,digitalen Arbeitskultur‘ des Unternehmens durchaus auch mediatisierte und geschützte Dialogräume für einen vertrauensbasierten Austausch nutzen, dieser also aus ihrer Sicht nicht zwingend zeitlich-räumliche Kopräsenz voraussetzt. Spätestens seit Beginn der Pandemie sammelten Beschäftigte Erfahrungen mit einem digital gerahmten vertrauensbasierten kollegialen Austausch im Rahmen projektbezogener Retrospektiven.

5.2 Thematische Adaption der Forschung und Entwicklung in der Pandemie

Die Pandemie bedeutete – wie bereits beschrieben – eine gravierende Irritation des Forschungs- und Entwicklungsprozesses, zumal sie allen Verbundpartnern ein hohes Maß an Unsicherheit zumutete. Hierbei stellte sich die Frage, wie forschungsstrategisch mit der Pandemie und den damit verbundenen Veränderungen der Arbeitsbedingungen umzugehen sei. Die Verbundpartner:innen entschlossen sich dazu, die Herausforderungen der Pandemie aktiv in den Forschungs- und Entwicklungsprozess zu integrieren. Hierzu wurden zum einen – wie beschrieben – vorhandene Erhebungsmethoden angepasst und z. T. auch neue kreiert, wie quantitative Kurzbefragungen in beiden Interventionsunternehmen oder so genannte ,Corona-Workshops‘ mit Beschäftigten der ambulanten sozialen Dienste; beide Formate dienten dazu, Veränderungen der Arbeitssituation während der Pandemie zu erfassen, um die Entwicklung gesundheitsförderlicher Interventionen daraufhin zu adaptieren. Grundlage dafür bildetet eine Ergänzung und Erweiterung des Themenfokus im Rahmen des Verbundprojekts: ins Blickfeld der Forschung wurden nun auch die betriebliche Krisenbewältigung und die pandemiebedingte Veränderung der Arbeitsqualität der Beschäftigten in beiden Interventionsbetrieben genommen, einschließlich ihrer psychosozialen Belastungssituation und der Veränderung von Gesundheitsressourcen (vgl. Becke et al. 2021, 2022). Diese Entscheidung der Fokuserweiterung erwies sich als innovativer Schritt, da u. a. durch die Pandemie induzierte Veränderungen der Arbeitsorganisation, wie die Entwicklung hybrider Arbeitskonzepte, in den Blick genommen werden konnten.

6 Übergreifende Gemeinsamkeiten gesundheitsförderlicher Arbeitsgestaltung

Trotz der Verschiedenheit interaktiver und flexibler Dienstleistungsarbeit in der agilen IT-Entwicklung und in ambulanten haushaltsnahen Diensten für pflege- und hilfsbedürftige Klient:innen lassen sich gestaltungsorientierte Gemeinsamkeiten identifizieren. Zu vermuten ist, dass die Gestaltungsansätze sich gerade aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Arbeitsformen für ein breiteres Spektrum flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit als relevant erweisen. Vier übergreifende Gemeinsamkeiten für eine gesundheitsförderliche Gestaltung flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit werden im Folgenden beschrieben:

  • Anschlussfähige sozial innovative Strukturen entwickeln,

  • Grenzregulation unterstützen und Interaktionsspielräume erweitern,

  • Sinnansprüche an Arbeitsqualität und Gebrauchswertorientierung anerkennen,

  • Gesundheitsressourcen entwickeln

6.1 Anschlussfähige sozial innovative Strukturen entwickeln

In beiden Interventionsunternehmen wurden im Rahmen des FlexiGesA-Verbundprojekts gesundheitsförderliche Strukturen und Verfahren geschaffen, die auf der einen Seite an etablierte betriebliche Praktiken sowie Arbeits- und Kooperationsroutinen anschlossen, auf der anderen Seite soziale Innovationen hervorbrachten. Soziale Innovationen bezeichnen hier „die intendierte Entwicklung neuer und die Rekombination vorhandener sozialer Praktiken in spezifischen sozialen Handlungsfeldern und auf deren unterschiedlichen Handlungsebenen, welche die Fähigkeiten von Akteuren erhöhen, mit Herausforderungen besser als zuvor umgehen zu können“ (Becke et al. 2016, S. 15 f.). Im Falle des IT-Dienstleisters wurde beispielweise die in Scrum-Verfahren übliche und betrieblich etablierte Kommunikations- und Reflexionsroutine der projektbezogenen Retrospektive aufgegriffen, um diese zur Gesundheitsretrospektive weiterzuentwickeln. Gesundheitsretrospektiven werden auf Teamebene und für spezifische Tätigkeitsgruppen eingesetzt, um eine kontinuierliche Durchführung psychischer Gefährdungsbeurteilungen bei agiler IT-Entwicklung zu ermöglichen. Innerbetrieblich gestützt und koordiniert wird die Anwendung dieses Instruments durch eine kleine Arbeitsgruppe, die betriebliche Fachpromotor:innen und Entscheidungsträger:innen vereint (siehe hierzu Rolfes und Brandes in diesem Band). Diese sind in allen betrieblich relevanten Gremien vertreten, sodass Aspekte der gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung als Querschnittsinhalte in diese Gremien eingebracht werden können.

Bei dem ambulanten sozialen Dienstleister wurden sozialen Praktiken des Personalmanagements, die bereits im Geschäftsfeld der ambulanten Pflege verankert waren, gesundheitsorientiert adaptiert auf den Bereich der ambulanten hauswirtschaftlichen Dienste. So wurde dort u. a. die Praktik der regelmäßigen, durch Führungskräfte moderierten Dienstbesprechungen mit Mitarbeitenden eingeführt (siehe hierzu Garbers in diesem Band). Der sozial-innovative Charakter der Dienstbesprechungen bestand darin, dass diese die Möglichkeit boten, die Grenzen der Alleinarbeit bei haushaltsnahen Dienstleistungen zurückzunehmen, indem Möglichkeiten des Austausches zwischen Beschäftigten sowie zwischen diesen und ihren Führungskräften geschaffen wurden. Dieser neue Dialograum ermöglichte es den Haushaltshilfen auch, psychisch belastende Arbeitssituationen zu reflektieren, sich mit Rat und Ideen beiseite zu stehen, um besonders herausfordernde Arbeitssituationen in Privathaushalten besser zu bewältigen und schließlich durch die Anerkennungskommunikation und Unterstützung der Führungskräfte soziale Wertschätzung zu erfahren. Die in FlexiGesA entwickelten sozialen Innovationen wirkten zum Teil auch auf den Bereich der ambulanten Pflege zurück, wie das Beispiel der neu ausgerichteten und gesundheitsorientierten Jahresgespräche zwischen Mitarbeitenden und ihren Führungskräften verdeutlicht, die zunächst im Geschäftsfeld der haushaltsnahen Dienste erprobt, dann aber für die ambulante Pflege adaptiert wurden.

6.2 Grenzregulation unterstützen und Interaktionsspielräume erweitern

Beide Arbeitsformen interaktiver und flexibler Dienstleistungsarbeit sind durch relativ große zeitliche und arbeitsinhaltliche Autonomiespielräume gekennzeichnet. Jedoch erweist sich die Arbeitsautonomie per se nur begrenzt als gesundheitsförderliche Ressource. Vielmehr wird sie teilweise durch die interaktiven Arbeitsanforderungen eingeschränkt, denn die Interaktionsarbeit mit Kund:innen und Klient:innen bedeutet u. a., deren Anliegen zu berücksichtigen und sich mit diesen abstimmen zu müssen. Dies kann unter Umständen die Arbeitsautonomie und die damit verbundenen Möglichkeiten der gesundheitserhaltenden Handlungsregulation beeinträchtigen: sei es, weil Beschäftigte ihre eigenen Belastungsgrenzen überschreiten, um einen möglichst hohen Gebrauchswert für Kund:innen und Klient:innen zu realisieren; sei es, weil Kund:innen und Klient:innen bestrebt sind, einen Zusatznutzen für sich zu realisieren, der das vertraglich vereinbarte Leistungsspektrum überschreitet. Überdies können auch Kolleg:innen oder Führungskräfte die Autonomiespielräume von Teams oder Arbeitspersonen beschränken, indem sie versuchen, ihnen nicht vorher eingeplante Arbeitsaufgaben zu übertragen. Solche Einschränkungen der Arbeitsautonomie bei flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit konnten im Falle der agilen IT-Entwicklung bzw. der haushaltsnahen Dienste identifiziert werden.

Gesundheitsförderliche Gestaltungsansätze, die im FlexiGesA-Verbundprojekt in Bezug auf diese Problematik entwickelt wurden, setzen erstens daran an, die Grenzregulation der Beschäftigten in der interaktiven und flexiblen Dienstleistungsarbeit gegenüber Kund:innen, Klient:innen oder betrieblichen Kooperationspartner:innen zu stärken und zu unterstützen. Zweitens orientieren sie sich daran, Beschäftigten arbeitsbezogene Interaktionsspielräume zu gewähren bzw. diese auszuweiten. Interaktionsspielräume in der Arbeit bezeichnen Freiheitsgrade, über die Beschäftigte in der interaktiven Dienstleistungsarbeit verfügen, um die Arbeit mit bzw. an Dienstleistungsnehmenden selbstgesteuert zu gestalten (vgl. Becke in diesem Band; Dormann et al. 2002).

Im Rahmen des FlexiGesA-Verbundprojekts wurde die Grenzregulation der selbstorganisierten IT-Entwicklungsteams durch die Einführung von Legoboards gestärkt. Diese ermöglichten ihnen auf Teamebene eine erhöhte Transparenz über ihre kurz- und mittelfristige Arbeits- und Auslastungsplanung. Das Legoboard konnten sie intern für eine verbesserte Auslastungs- und Anforderungssteuerung einsetzen und auch bei externen oder internen auftragsbezogenen Anfragen als Argumentationshilfe verwenden, um solche Anfragen im Abgleich mit der Verfügbarkeit eigener bzw. teambezogener zeitlicher Kapazitäten und Arbeitsmenge zu beantworten. Dadurch ließ sich die Handlungssicherheit der Projektteams im Umgang mit auftragsbezogenen Anfragen erhöhen (vgl. Rolfes und Brandes in diesem Band).

Im Falle der haushaltsnahen Dienste wurde die Grenzregulation der Hauswirtschaftskräfte gegenüber Klient:innen und deren Angehörigen gestärkt, indem sie bei Konflikten mit Klient:innen auf die soziale Unterstützung der Koordinator:innen als neu geschaffener Führungsgruppe zurückgreifen konnten. Die Koordinator:innen erwiesen sich auch im Arbeitsalltag der Haushaltshilfen als stets ansprechbar, um sich über arbeitsbezogene Probleme auszutauschen oder Unterstützung zu erhalten. Eine solche Grenzregulation durch mittlere Führungskräfte im Falle der Konflikteskalation existiert auch innerhalb des IT-Dienstleisters. Eine unterstützende Grenzregulation durch Führungskräfte hat allerdings spezifische Voraussetzungen, wie entsprechende (zeitliche) Ressourcen und (trianguläre) Kompetenzen der Führungskräfte, um diese Aufgabe wahrnehmen zu können (vgl. Becke 2020b).

Bei beiden Interventionsunternehmen verfügten die Beschäftigten über arbeitsbezogene Interaktionsspielräume zur Gestaltung ihrer Interaktionsarbeit mit Kund:innen oder Klient:innen. Diese bestanden vor allem in ihren hohen Freiheitsgraden für ein situativ-flexibles Verhalten gegenüber Dienstleistungsnehmenden. Dies schloss auch die Möglichkeit ein, sich gegenüber letzteren abzugrenzen. Damit verbunden war die Möglichkeit, je nach Situation auch negative Arbeitsemotionen (z. B. Verärgerung) gegenüber Dienstleistungsnehmenden auszudrücken. Überdies konnten die Haushaltshilfen die weitere Kooperation mit Klient:innen ablehnen, wenn sie durch diese diskriminiert oder sexuell belästigt wurden oder die Kooperations- und Vertrauensbasis durch Konflikte erodiert war.

6.3 Sinnansprüche an Arbeitsqualität und Gebrauchswertorientierung anerkennen

Bei interaktiver Dienstleistungsarbeit beziehen sich Sinnansprüche von Beschäftigten nicht nur auf eine gute Arbeitsqualität im Sinne existenzsichernder, persönlichkeits- und gesundheitsförderlicher Arbeit, sondern auch darauf, für Dienstleistungsnehmende einen hohen bzw. angemessenen Gebrauchswert zu realisieren. Die betriebliche Anerkennung der Gebrauchswertorientierung von Beschäftigten bildet daher einen wichtigen Ansatzpunkt gesundheitsförderlicher Arbeitsgestaltung bei interaktiven Dienstleistungen (vgl. Böhle et al. 2015). Sie bildete auch in beiden Interventionsbetrieben eine gesundheitsförderliche Ressource, da Beschäftigte auf dieser Basis zugleich ihre (berufs)ethischen Ansprüche an die Dienstleistungsarbeit zu realisieren vermochten. Im Falle der IT-Entwicklungsarbeit bestanden diese Ansprüche z. B. darin, für Kund:innen Software mit möglichst hohen Nutzenpotenzialen zu entwickeln. Im ambulanten hauswirtschaftlichen Bereich erkannten die Führungskräfte, die Sinnansprüche der Beschäftigten an, sich in ihrer Arbeit auch fürsorglich um die pflege- und hilfsbedürftigen Klient:innen kümmern zu können. Diese Anerkennung richtete sich damit auf einen Tätigkeitsbereich der Haushaltshilfen, der im Vergleich zu ihren instrumentellen Arbeitstätigkeiten quasi unsichtbar ist, aber für die Arbeitsorientierung der Beschäftigten von zentraler Bedeutung ist.

Die Bedeutung der Gebrauchswertorientierung als Gesundheitsressource kann allerdings beeinträchtigt werden, wenn Beschäftigte im Sinne ,interessierter Selbstgefährdung‘ (vgl. Peters 2011) ihre eigenen Belastungsgrenzen überschreiten, um für Dienstleistungsnehmende einen möglichst hohen Nutzen zu stiften. Gesundheitsorientierte Reflexions- und Dialogräume, wie Gesundheitsretrospektiven oder Workshops zur Arbeitssituationsanalyse, können dazu beitragen, solche problematischen Bewältigungsmuster von Arbeitsanforderungen zu reflektieren und zu verändern.

6.4 Gesundheitsressourcen entwickeln

Im Rahmen des FlexiGesA-Verbundprojekts war die Entwicklung und Erprobung gesundheitsförderlicher Interventionen eingebunden in eine Vorgehensweise, die sich am Verfahren der Gefährdungsbeurteilung orientierte. Generell fokussiert die (psychische) Gefährdungsbeurteilung gesundheitsbezogene Gefährdungspotenziale und -risiken. Die Gefährdungsbeurteilung als ein zentrales Instrument des Arbeitsschutzes orientiert sich an der Leitidee der Prävention, d. h. der Vermeidung und Verhütung von Gesundheitsrisken für Beschäftigte und der Gefahrenabwehr. In dieser Perspektive werden arbeitsbezogene Gesundheitsressourcen oftmals eher nachrangig betrachtet. Gesundheitsressourcen bezeichnen „Faktoren in der Person und in der Umwelt, auf die das Individuum bei Bedarf zurückgreifen kann, um die Gesundheit zu erhalten oder, bei einer Störung, wiederherzustellen“ (Greiner 1998, S. 50).

Die Interventionsstrategie des FlexiGesA-Verbundprojekts verfolgte eine duale Orientierung, die sich an der Prävention bzw. Reduzierung psycho-physischer Gesundheitsgefährdungen sowie an der Entwicklung und Regeneration von Gesundheitsressourcen ausrichtete; der projektbezogene Schwerpunkt lag auf verhältnispräventiven Maßnahmen. Neben psycho-physischen Gesundheitsgefährdungen, wie Arbeitsintensivierung oder Lärm am Arbeitsplatz, wurden auch systematisch arbeitsbezogene Gesundheitsressourcen ermittelt. So enthielten die quantitativen wie qualitativen Erhebungsinstrumente stets Fragen zu möglichen Gesundheitsressourcen. Darüber hinaus wurde im Projekt das dialogorientierte Verfahren der Ressourcenlandkarte entwickelt und in einem Workshop mit Beschäftigten des IT-Dienstleisters erprobtFootnote 1.

Ebenso zielte die Entwicklung und Erprobung gesundheitsorientierter Interventionen darauf ab, ermittelte Gesundheitsgefährdungen zu reduzieren und Gesundheitsressourcen zu entwickeln. Beispiele hierfür sind die Förderung der Handlungssicherheit von Beschäftigten mit Blick auf zu bewältigende Arbeitsanforderungen flexibler und interaktiver Dienstleistungsarbeit oder die Stärkung der Arbeitsautonomie und der Grenzregulation von Beschäftigten an Schnittstellen zu internen Kooperationspartner:innen wie zu Dienstleistungsnehmenden. Die Ressourcenorientierung der FlexiGesA-Interventionsstrategie kommt schließlich in ihrem partizipativen Gestaltungsansatz zum Ausdruck, denn Mitarbeitende beider Interventionsbetriebe waren an der Ermittlung von Gesundheitsgefährdungen und -ressourcen sowie an der Entwicklung und Erprobung gesundheitsförderlicher Maßnahmen systematisch beteiligt. Der partizipative Gestaltungsansatz ermöglichte den einbezogenen Mitarbeitenden Selbstwirksamkeit und Anerkennung als Gestaltungssubjekte ihrer Arbeitsbedingungen zu erfahren.

Die Coronapandemie verdeutlichte allerdings, dass einmal entwickelte bzw. vorhandene Gesundheitsressourcen nicht als zeitlich stabil vorausgesetzt werden können. Ein Beispiel bildet die Schwächung der Unterstützungsressource sozialer Zugehörigkeit durch die Verlagerung von IT-Entwicklungsarbeiten ins Homeoffice der Beschäftigten (vgl. Zenz et al. in diesem Band). Vielmehr können neue (pandemiebedingte) Anforderungen Gesundheitsressourcen beeinträchtigen. Daher kommt es in der Unternehmens- und Gestaltungspraxis darauf an, die ressourcenorientierte Aufmerksamkeit nicht nur auf die Entwicklung von Gesundheitsressourcen, sondern auch auf ihren Erhalt bzw. ihre Regeneration zu lenken (vgl. Hobfoll et al. 1990).

7 Zum Aufbau des Herausgeberbands

Der vorliegende Herausgeberband ist untergliedert in drei größere Bereiche. Der erste Bereich umfasst diesen einführenden Beitrag sowie die konzeptionellen Überlegungen und explorative empirische Befunde zu betrieblichen Interaktionsordnungen interaktiver und flexibler Dienstleistungsarbeit. Im Mittelpunkt des zweiten Bereichs steht die Präsentation arbeits- und gesundheitswissenschaftlicher Kernergebnisse des FlexiGesA-Verbundprojekts. Davon bezieht sich ein Beitrag auf die quantitativen Evaluationsergebnisse zu den erfolgten Interventionen, während in drei Beiträgen qualitative Kernergebnisse des Verbundprojekts präsentiert werden. Überdies werden in einem Beitrag die transferbezogenen Erkenntnisse aus dem FlexiGesA-Verbundprojekt vorgestellt. Diese projektbezogenen Beiträge werden ergänzt um einen Beitrag, der sich auf Einfacharbeit im Dienstleistungssektor der Schweiz bezieht. Das FlexiGesA-Verbundprojekt nahm die Perspektive der Einfacharbeit in sozialen Dienstleistungen auf, da Einfacharbeit als Arbeitstypus, der keine formalen Qualifikationen voraussetzt, im Bereich der ambulanten haushaltsnahen Dienste dominierte.

Der dritte Teil dieses Bands umfasst vier Beiträge, die primär gestaltungsorientiert ausgerichtet sind und sich auf das FlexiGesA-Verbundprojekt beziehen. Ihr gemeinsamer Fluchtpunkt bildet die Frage, wie interaktive und flexible Dienstleistungsarbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden kann. Dabei werden unterschiedliche Ansatzpunkte und Facetten der gesundheitsförderlichen Gestaltung verfolgt: Sie beziehen sich – aus der Perspektive der betrieblichen Praxis – auf primär verhältnisorientierte Maßnahmen der gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung in den Bereichen agiler IT-Entwicklungsarbeit und ambulanter sozialer Dienste. Dieser Teil des Bands wird abgerundet durch zwei gestaltungsorientierte und zugleich konzeptionelle Beiträge, die sich mit der Kompetenzentwicklung für selbstgesteuertes Arbeiten im Homeoffice sowie mit Gender als zentraler Kategorie der gesundheitsfördernden Gestaltung von Interaktionsarbeit befassen.

Die einzelnen Beiträge weisen Zusammenfassungen auf, sodass hier darauf verzichtet wurde, die Beiträge zu skizzieren.

Wir möchten uns an dieser Stelle besonders bei den Führungskräften und Beschäftigten der Unternehmenspartner:innen und der Referenzunternehmen sowie des Transferpartners für die gute Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit bedanken. Des Weiteren möchten wir den wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen und Kolleg:innen, sowie den studentischen Mitarbeitenden für die konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit bzw. Unterstützung sehr danken. Das FlexiGesA-Verbundprojekt hat durch die Kooperation mit institutionellen Umsetzungspartner:innen, Expert:innen im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie durch die reflektierte und sehr konstruktive Begleitung durch den Projektbeirat sehr gewonnen. Ihnen allen möchten wir an dieser Stelle sehr danken. Herrn Dr. Michael Ebert vom Projektträger DLR gilt unser besonderer Dank für die sehr konstruktive und stets hilfreiche Begleitung des FlexiGesA-Verbundprojekts.