Dieses und das nächste Kapitel haben diejenigen Prämissen zum Gegenstand, die als grundlegende sozialtheoretische Basis für die vorliegende Arbeit dienen und die verfolgte Forschungsperspektive von Anbeginn wesentlich lenkten, indem sie festlegten, was überhaupt als Forschungsgegenstand erkannt und wie sich dieser begrifflich und intellektuell zugänglich gemacht wurde. Die Ausführungen stellen damit so etwas wie eine theoretische Selbstpositionierung dar, indem sie mein diesbezügliches Weltbild explizieren. Ich fasse diese Gedanken und Konzepte unter dem Sammelbegriff Sozialtheorie zusammen und folge damit im Grundsatz den Vorschlägen von Simmel (1992 [1908]: 13–41), Lindemann (2009: 19–26), Knoblauch (2016: 22 f.) und Joas/Knöbl (2004: 9–11), die damit, in Abgrenzung zum Terminus ‚Gesellschaftstheorie‘Footnote 1, die soziologische Theoriearbeit höchster Abstraktionsebene benennen: jene Arbeit, die die Frage nach der Konstitution des Sozialen und der Perspektivierung ihres Forschungsgegenstandes zum Gegenstand hat. Der sozialtheoretische Rahmen betrifft demnach die Fragen, wie gesellschaftliche Wirklichkeit und deren Konstitutionsprinzipien im Grundsatz verstanden werden und auf welche erkenntnis- respektive wissenstheoretischen Thesen, die in der Regel selbst nicht überprüfbar und als mehr oder minder unhinterfragter Ausgangspunkt der Analyse zu verstehen sind, dabei zurückgegriffen wird. Bezogen auf den vorliegend verfolgten Rahmen, handelt dieses Kapitel also von Diskurstheorie, während sich die method(olog)ische Umsetzung desselben, wie sie in Kapitel 4 dargelegt wird, als Diskursanalyse betiteln lässt (vgl. Keller 2011b: 8 f.). In der Begriffsheuristik von Bührmann/Schneider (2008: 15–17) lässt sich ergänzend festlegen, dass hier und in Kapitel 3 die Forschungsperspektive ausgebreitet wird, während in Kapitel 4 der Forschungsstil präsentiert wird.

Obgleich es anderslautende Stimmen gibt, die methodologische Gedanken als Teil der Sozialtheorie fassen (z. B. Lindemann 2009: 21), grenze ich den sozialtheoretischen Rahmen vom method(olog)ischen Rahmen, der in Kapitel 4 erörtert wird, ab. Dieser basiert auf den per se abstrakten Annahmen des sozialtheoretischen Referenzrahmens und hat deren gerechte Über- und Umsetzung in ein methodisches Konzept zum Gegenstand, welches empirische Erkenntnisse mit den theoretischen Grundannahmen zusammenzuführen vermag.

Zwecks Differenz-Illustration zwischen Sozialtheorie und Methodologie kann man sich in modifizierter Form der bekannten, von Popper (1973: 374) eingeführten Metapher des Scheinwerfers bedienen:Footnote 2 Der sozialtheoretische Referenzrahmen ist gleichsam der Scheinwerfer selbst, das jeweilige Fabrikat samt Grundcharakteristika wie Helligkeitseinstellungen etc., der die Fähigkeit des Sehens überhaupt ermöglicht, deren Möglichkeitsraum bedingt und damit den Horizont des so erlangbaren Wissens konstituiert. Der method(olog)ische Referenzrahmen wiederum beschreibt die konkrete Ausrichtung und Helligkeitseinstellung des Scheinwerfers, die mithin bestimmen, in welche Richtung der Lichtkegel gehalten und wie weit und breit die Beleuchtung strahlen wird, somit konstituiert, was (nicht) gesehen werden kann und die Beobachtungsperspektive illustriert.

Die Darstellung des sozialtheoretischen Referenzrahmens ist wie folgt aufgebaut: Zunächst wird der sozialtheoretische Ausgangspunkt, die Idee der diskursiven Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit in Anlehnung an die Wissenssoziologische Diskursanalyse nach Reiner Keller (2011a), dargelegt. Dem folgt die Erörterung der Multimodalität von Diskursen, womit die These gemeint ist, dass Diskurse nicht rein sprachliche Entitäten darstellen, sondern zusätzlich ganz wesentlich aus nicht-sprachlicher körperlicher Tätigkeit (Praxis) und Materialitäten (Artefakte und Dinge) bestehen.

1 Ausgangspunkt: Ontologische Grundlagen und die diskursive Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit

Als sozialtheoretischer Ausgangspunkt fungiert die Annahme von der konstruierten Eigenart gesellschaftlicher Wirklichkeit: In Negation eines essenzialistischen Verständnisses sozialer Phänomene, wird mithin davon ausgegangen, dass soziale Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion aufzufassen ist. Das heißt konkret, ihre Bestandteile als historisch kontingente Tatsachen zu begreifen, die durch kontinuierliche gesellschaftliche Praxis entstehen und durch sie fortlaufend aktualisiert und reproduziert werden. Im Rahmen gesellschaftlicher Interaktions- und Kommunikationsprozesse wird Bedeutung produziert und auf diese Weise soziale Realität erschaffen. Diese ist somit als „institutionelle Wirklichkeit“ im Sinne Searles (1997a; 2012) zu verstehen, denn sie gibt es in dieser Form nur kraft menschlicher Übereinstimmung und beinhaltet folglich Institutionen, die nur bestehen, „weil wir glauben, daß sie existieren“ (Searle 1997a: 11).Footnote 3 Ergänzend lässt sich mit Referenz auf das Diktum von Hulsman zur Entität Kriminalität (1986: 71, 1991: 682)Footnote 4 für alle Topoi gesellschaftlicher Wirklichkeit konstatieren, dass sie keine ontologische Realität darstellen, mithin keine absolute Referenz und keinen natürlichen Ursprung aufweisen. Sie besitzen keinen fixierten Wesenskern, der spezifische Zwangsläufigkeiten voraussetzen würde. Vielmehr leben wir in einer Welt der Kontingenz, in der die Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens und deren Entstehungs- wie Destruktionsprozesse keineswegs unumgänglich sind, sondern sich durch prinzipielle Verlaufsoffenheit – sie sind weder notwendig noch unmöglich – und mithin Arbitrarität auszeichnen (Luhmann 1987: 152).Footnote 5 Die gesellschaftliche Wirklichkeit prozessiert demnach stets in einem zweifachen Modus der Relationalität, da ihre konkrete Ausprägung unmittelbar von der mit ihr verknüpften Gesellschaft und der dortigen Praxis abhängt und auch im zeitlich-historischen Verlauf Variabilität aufweist. Die Möglichkeitsbedingungen der Realisierung bestimmter Instanzen des Sozialen hängen nämlich damit zusammen, welche Bedingungen gegenwärtig herrschen, was wiederum eine historisch gewachsene Konstellation ist. Die von uns gelebte Wirklichkeit ist folglich als das emergente Ergebnis von spezifischen raumzeitlichen Konstellationen zu verstehen (Foucault 1974).

Wenn allerdings anzunehmen ist, dass die Welt, die uns umgibt, nicht auf natürliche Prozesse zurückzuführen ist, und über keinen eigenständigen ontologischen Charakter verfügt, muss freilich geklärt werden, warum ihr trotz allem objektiv-reale Eigenschaften zugesprochen werden müssen und wer diese hervorbringt. In Frageform gewendet: Wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit als soziale Konstruktion im doppelten Sinne aufzufassen ist und ontologisch nicht real ist, worauf gründet sich dann ihre Existenz?

Mit dieser Frage ist der Prozess der sozialen Konstruktion selbst angesprochen. Dieser wird vorliegend der Wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) folgend (v. a. Keller 2005; 2006; 2011a; 2011b) als zweidimensionaler Prozess der Wissenserzeugung verstanden, im Sinne von Bedeutungskonstitution, die auf der Ebene des Individuums und kollektiv im Modus von Diskursen prozessiert. Die Wirklichkeitserfahrung der Menschen, ihr epistemischer Standpunkt und somit ihr Wissen von der Welt geht auf symbolische Ordnungen zurück, die wiederum „in Diskursen gesellschaftlich produziert, legitimiert und transformiert“ (Keller 2009: 45; i. O. m. Herv.) werden. Mit Berger/Luckmann (2009 [1969]) und in der Tradition von Schütz (1971) geht Keller (2006: 117–120) dabei davon aus, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit als sozial konstruiert zu gelten hat, da sie als Folge des gesellschaftlichen Wissensvorrats anzusehen ist, der sich im Verlauf des dialektischen Prozesses zwischen Externalisierung, Institutionalisierung und daraus resultierender Objektivation als Produkt menschlicher Tätigkeit konstituiert und in der Folge dem Individuum als objektive Faktizität gegenübersteht. Mit Berger/Luckmann und insbesondere in der Weiterentwicklung ihres Ansatzes im Rahmen der Hermeneutischen Wissenssoziologie (z. B. Hitzler/Honer 1997; Hitzler/Reichertz/Schröer 1999) wird dabei der doppelte Konstruktionscharakter sozialer Wirklichkeit hervorgehoben: Letztere konstituiert sich einerseits in individuellen Bewusstseinsleistungen auf Basis epistemischer Positionierungen, ist andererseits als objektive, dem Einzelnen vorausgehende gesellschaftliche Konstruktion zu verstehen (Keller et al. 2005: 9; Keller 2011a: 69). Wenn man so will, wird die sozial konstruierte Welt also von jedem Einzelnen über interpretative, gesellschaftlich induzierte Prozesse ein weiteres Mal individuell erfunden und in Auseinandersetzung mit dem bereits strukturell und historisch Gegebenen konstruiert (Kögler 2007: 348). Von Berger/Luckmann werden ferner die Kernbegriffe von ‚Wissen‘, als die Gewissheit, „daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben“, und von ‚Wirklichkeit‘, verstanden „als Qualität von Phänomenen (…), die ungeachtet unseres Wollens vorhanden sind – wir können sie ver- aber nicht wegwünschen“ (Berger/Luckmann 2009 [1969]: 1), übernommen und zum theoretischen Ausgangspunkt gemacht (Keller 2011a: 186). Damit wird auch die Situierung der WDA im interpretativen Paradigma deutlich, dessen Kernannahmen nach wie vor von Blumer (1973: 81) am prägnantesten auf den Punkt gebracht werden: „Menschen (handeln) ‚Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen (…), die diese Dinge für sie besitzen.“ Zudem werden diese Bedeutungen aus sozialen Interaktion abgleitet respektive im Rahmen dieser Situationen entworfen und durch einen interpretativen Prozess individuell verarbeitet und abgeändert (1973: 81). Ähnlich pointiert äußern sich Thomas/Thomas (1928: 572) in dem nach ihnen benannten Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ Betont wird damit die kritische Relevanz von situativ-individueller Bedeutungskonstruktion und deren faktische Wirkmächtigkeit (vgl. a. Thomas 1965: 84 f.; Keller 2011a: 73 f.; Bosančić 2014: 78).

Unter Rückgriff auf die Diskurstheorie im Anschluss an Foucault (insb. 1974; 1981 [1973]; 2012 [1974]) werden in der WDA ergänzend zu dieser Konstruktionsleistung auf individueller Ebene, strukturell-historische Mechanismen in Prozessen der Wissensproduktion betont. Die entsprechenden Kerneinheiten, Diskurse, werden in der Folge als „strukturierte als auch strukturierende Strukturen“ (Keller 2011a: 132) der „Produktivität von Wissen“ (Waldenfels 1991: 287; vgl. a. Bublitz 2003: 55) verstanden, womit Prozesse der diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit in den Fokus rücken (Poferl 2004: 30). Mit Diskursen ist eine sprachliche Regelhaftigkeit impliziert, die als verbale Typik bzw. als typisches Aussageereignis erkennbar wird. Der Begriff des Diskurses fasst die von Individuen getätigten, räumlich und zeitlich verstreuten Äußerungen als nach demselben Muster, nach der gleichen diskursiven Regel strukturierte Ereignisse, die ein und demselben Diskurs zurechenbar sind und diesen in performativer Weise aktualisieren und letztlich perpetuieren. Die „symbolische Sinnwelt“, verstanden als die Grundebene gesellschaftlicher Bedeutungsexistenz, also „das Gesamt der Wirklichkeit, so wie sie durch menschliche Sinnsetzung im Deuten und Handeln bzw. in Interaktionen aufgebaut wird“ (Keller et al. 2015: 302), konstituiert sich „in und durch Diskurse(n)“ (Keller 1997: 315; i. O. m. Herv.). Diskurse arrangieren folglich (Be-)Deutungen, indem sie die gesellschaftlich generierten Assoziierungsfolien und Attribuierungsreferenzen als typisierte und typisierbare Schemata organisieren. Sie implizieren somit bestimmte Taxonomien und die damit unweigerlich verbundenen Bewertungsstandards, womit sie, als „Praktiken“ verstanden, „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981 [1973]: 74; vgl. a. Bublitz 2003: 55).Footnote 6 Fokussiert wird somit der strukturelle Charakter kollektiver Wissensbestände, die, zu Diskursen verdichtet, auf die gesellschaftliche Wissenszirkulation und individuelle Bedeutungsproduktion wesentlich einwirken.

Da Wahrheit nicht als korrekte Abbildung der Realität verstanden, sondern – weil sie „von dieser Welt (ist)“ (Foucault 1978c: 51) – als ein prinzipiell prekäres Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlung und Stabilisierung über Diskurse begriffen wird, ist sie als diskursiver Effekt zu verstehen (Bührmann/Schneider 2008: 27). Es sind die jeweils herrschenden Ordnungen des Wissens, die auf Basis von spezifischen Macht-Wissens-Komplexen ihre jeweiligen Wahrheiten konstituieren (Foucault 2012 [1974]). Es ist dann u. a. eine Frage der Definitionsmacht unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteur*innen, welche Wirklichkeitsinterpretation sich durchsetzen kann.Footnote 7 Angesprochen sind damit die Wissenspolitiken kollektiver bzw. institutioneller Akteur*innen, die – vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen und Strategien – Wirklichkeitsinterpretationen artikulieren und diese in den gesellschaftlichen, wissensbezogenen Herstellungs- und Zirkulationsprozess einspeisen (Bührmann/Schneider 2007: Abs. 11 f.; Keller 2011a: 16 f., 193). Wir haben es bei Diskursen folglich mit „Räume(n) des Wissens und der Macht“ zu tun, „die das Verhalten der Menschen in bestimmter Weise strukturieren, die ihnen erlauben, sich in bestimmter Weise innerhalb dieser Räume zu positionieren und so zu Subjekten in diesen Kontexten werden.“ (Krasmann 2005a: 101) Damit hängen immer auch spezifische Bedingungen des (Un-)Sichtbaren und des (Un-)Sagbaren zusammen, die sich zum einen auf die schiere Möglichkeit beziehen, etwas in den Diskurs hineintragen zu können, andererseits auf die Wahrscheinlichkeit verweisen, mit dem diskursiv kommunizierten Gehör zu finden und nachhaltige Effekte zu generieren (z. B. Waldenfels 1991: 287; Deleuze 2013 [1992]: 69–71; Keller 2011a: 128).

Im Sinne eines Theorieamalgams – aus sozialkonstruktivistischer Wissenssoziologie und Foucault’scher Diskurstheorie – wird die analytische Kernkategorie der WDA, der Diskurs, folglich begriffen als bestehend aus „institutionell-organisatorisch regulierte Praktiken des Zeichengebrauchs“, die um ein spezifisches Handlungs- oder Deutungsproblem respektive Thema kreisen und in deren Rahmen „von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert (wird).“ (Keller 2011a: 12; 2006: 132) Ein Diskurs ist also kein rein „semiotisch prozessierendes System (…), sondern (…) soziale Praxis.“ (Keller 2012: 27) Eine daran orientierte Diskursanalytik „rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion von Sinn-, d. h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteur*innen nicht als singuläre (Aussage-)Ereignisse, sondern als strukturierte Zusammenhänge“ (Keller 2011a: 233). Im Zuge dessen wird unterstellt, dass Diskurse im Sinne von „Ensembles von Praktiken und Bedeutungszuschreibungen“ analytisch und empirisch abgrenzbar sind, indem ein struktureller Zusammenhang zwischen den einzelnen, so zugeordneten Diskursereignissen angenommen wird (Keller 2011b: 59).

Es sind demnach speziell Diskurse, die über ihre bedeutungsgenerierende Funktion, die gesellschaftliche Wirklichkeit konstruieren und strukturieren. Folgerichtig wird soziale Wirklichkeit als ebenso strukturiertes wie strukturierendes Produkt von individuellen wie kollektiven Sinngebungsprozessen verstanden, die die Konstruktion und Stabilisierung von Wissensbeständen und Institutionen implizieren und die stets veränderbare, aber dennoch bemerkenswert durable Hintergrundfolie des menschlichen Erlebens – in Form von institutionalisierten Wahrheits- und Geltungsansprüchen – bilden.

2 Multimodale Diskurse

Auf Basis der oben dargestellten Ausgangsperspektive des „diskursive(n) Konstruktivismus“ (Knoblauch 2016: 12) werden Diskurse indes nicht nur als strukturierte und strukturierende Praktiken des Sprachgebrauchs verstanden, die sich allein durch verbale und schriftliche ZeichennutzungFootnote 8 konstituieren, sondern gleichfalls nonverbales praktisches Tun und materiale Objekte, seien es nun technische Artefakte oder natürliche Dinge, umfassen. Diskurse sind mithin als heterogene Ensembles bedeutungsstiftender Praktiken zu verstehen, in deren Kontext polymorphe Partizipanten wirkmächtig sind. Die diskursive Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit prozessiert wesentlich auch über (nicht-sprachliches) körperliches Tun und die menschliche Nutzung respektive Wahrnehmung von Gegenständen und den Bedeutungen, die diesen Instrumenten dabei in der Entwicklung, Herstellung und Anwendung eingeschrieben und entgegengebracht werden. Mit anderen Worten: Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit gestaltet sich als multimodaler Prozess, Diskurse sind mithin als multimodale analytische Einheiten zu verstehen.

Der Terminus der Multimodalität, der ursprünglich aus der Kommunikationswissenschaft bzw. Zeichentheorie stammt und etymologisch ‚auf viele Weisen‘ bedeutetFootnote 9, ist in diesem Kontext treffend, da er gerade die heterogen-komplexe Medialität von Diskurs(re)produktion betont, also die Anteilnahme verschiedener Arten von Vermittlungsinstanzen (Mediatoren) in Diskursen. Ich ziehe ihn deshalb alternativen Begriffen, wie z. B. „multidimensional“ (van Dyk 2013: 47) vor, obgleich mit der „multimodalen Diskursanalyse“ bereits eine abweichende Verwendung im diskurstheoretischen Feld vorliegt, die sich als Antwort auf die hier ebenfalls angenommene Tatsache versteht, „daß Kommunikation seit jeher nicht allein sprachlich, sondern immer mithilfe unterschiedlicher Zeichensysteme realisiert wird“ (Meier 2011: 500; Galanova/Meier 2014: 274 f.; vgl. a. van Leeuwen 2011), dabei jedoch sozialsemiotisch fundiert ist, hauptsächlich die visuelle Ebene fokussiert und dabei besonders Kommunikationsprozesse in den Blick nimmt.Footnote 10

Die Idee von der Multimodalität impliziert vorliegend im Besonderen die Materialität des Diskursiven, verstanden als die Materialisierung von diskursivem Wissen in Artefakten, Praxis und Körpern, die laut Angermuller (2014: 19) mittlerweile zu einer der Kernannahmen der Diskursforschung zu zählen ist. Zusätzlich umfasst die Idee der Materialität von Diskursen aber die These, dass auch die Prozesse diskursiver Wissensproduktion selbst als multimodal charakterisiert zu denken sind, Artefakte mithin nicht allein passive Adressaten diskursiv bedingter Wissenseinschreibung darstellen, sondern unmittelbar an Sinngebungsprozessen beteiligt sind. Es wird folglich angenommen, dass Dinge allgemein, aber insbesondere technische Artefakte als wirkmächtige Diskurspartizipanten fungieren können, da sie nicht nur – im Sinne von (passiven) Diskursreferenzen – Einschreibefolien von diskursivem Wissen sind. Sie evozieren gleichfalls die an sie adressierten Bedeutungszuschreibungen, die wiederum in Diskursereignisse Eingang finden und auf diese Weise den Verlauf des Diskurses mit prägen. Ferner geben sie die Bedingungen für ihren Umgang in gewissen Grenzen vor und präformieren somit entsprechende diskursive Praktiken. Sie fungieren mithin selbst als ‚Konstruktionsapparaturen‘, da sie – im Sinne von Diskursaktanten – wirksam in diskursive Prozesse der Wissensherstellung und -stabilisierung eingreifen, indem sie bestimmte Handlungen und/oder diskursive Attribuierungen motivieren bzw. inhibieren. Die damit angesprochene soziomaterielleFootnote 11 Dimension von Diskursen wird vorliegend unter Rückgriff auf das Konzept des Dispositivs, enggeführt auf die soziotechnische Herstellung von Wissen, diskursanalytisch inkorporiert. Damit kommt die vorliegende Studie dem Desiderat nach, materiale Objekte bzw. techniksoziologische Gedanken in diskurstheoretische und -analytische Untersuchungen ebenso systematisch wie konsequent zu integrieren.

Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund zunächst mit Rückgriff auf die Foucault’sche Diskurstheorie und deren Rezeption die Multimodalität von Diskursen präzisiert und theoretisch kontextualisiert werden. Daran anschließend wird Bezug auf die damit zusammenhängende Rolle von Materialität respektive technischen Artefakten gelegt.

2.1 Diskurse als multimodale Ensembles der Wirklichkeitskonstruktion

Es ist wahrlich keine neue oder gar außergewöhnliche Erkenntnis (mehr), dass Diskurse Bedeutung nicht nur über Sprache oder Texte generieren, sondern auch über (nicht-sprachliches) körperliches Tun (Praktiken) und materiale Objekte prozessieren (vgl. z. B. Waldenfels 1991; Jäger 2006; Wrana/Langer 2007; Dölemeyer/Rodatz 2010; van Dyk 2010, 2013; Keller 2011a; 2017a; 20; Bosančić/Keller 2019: 2; Lemke 2021). Allerdings verbleibt diese These aus techniksoziologischer Perspektive zu oft im Vagen und wird nur selten spezifiziert. Ebendies soll im Folgenden getan werden. Wenn von Diskursen als multimodale EnsemblesFootnote 12 gesprochen wird, soll dies den komplexen wie dynamischen Charakter von multimodaler Bedeutungsproduktion und darauf bezogener Wirklichkeitskonstruktion verdeutlichen.

Die Stellung von Materialität in der WDA

Mit Blick auf die Wissenssoziologische Diskursanalyse ist zunächst hervorzuheben, dass sie die Multimodalität von Diskursen bereits mit andenkt, insbesondere mit Blick auf das dabei verfolgte Dispositivkonzept (vgl. Abschn. 3.3). Eine alleinige Sprachdeterminiertheit von Diskursen wird mithin nicht vertreten. Im Gegenteil: An mehreren Stellen weist Keller (2007: Abs. 43; 2010: 66; 2011a: 259, 276; 2011b: 80; 2013a: 70) explizit darauf hin, dass Diskurse nicht nur aus Zeichen bestehen, sondern als Praktiken zu verstehen sind, dass Diskursanalyse folglich nicht nur Textarbeit ist und von einer „komplexe(n) Topologie des Sozialen“ (Keller 2010: 51) auszugehen ist. Mithin wird im Rahmen der WDA auch von „komplexe(r) Diskursivität“ gesprochen, die sich durch „Hybridität“ auszeichnet (Bosančić/Keller 2016: 2) und dass die Konstruktion von Wirklichkeit innerhalb von Diskursen dezidiert auch die damit zusammenhängenden Materialitäten beachten muss (Keller 2013a: 70, 91; Bosančić/Keller 2019: 2).Footnote 13

In Auseinandersetzung mit dem Neuen Materialismus, vornehmlich mit den Arbeiten von Barad (2007; 2012), geht Keller (insb. 2017a; 2018; 2019a) in neueren Arbeiten darauf aufbauend noch gezielter als zuvor auf die Stellung von Materialität in Diskursen ein und macht im Zuge dessen deutlich, dass auch er – wie z. B. Lemke (2014; 2015; 2021) – die Kritik von Vertreter*innen des Neuen Materialismus in Richtung Foucault mit Bezug auf seine vermeintlich materialitätsverkennenden Analysen nicht teilen kann. Er liest Foucault vielmehr als Analytiker, der sich immer auch mit der Diskursen innewohnenden bzw. die sie umgebende Materialität auseinandergesetzt hat (Keller 2017a: 22; 2019a: 165; 2019b: 56). Diskurse sind mithin als „material social processes of creation, stabilization and change of social realities, knowledge stocks and knowledge policies“ (Keller 2019a: 166) zu verstehen.

Die WDA bietet somit geeignete konzeptuelle Rahmenbedingungen, die Materialität von Diskursen und die darunter (auch) zu verstehende epistemische Produktivität von Artefakten analytisch zu berücksichtigen und auf diese Weise die Multimodalität von Diskursen fokussiert zu untersuchen. Diese Impulse werden vorliegend aufgenommen und in eine techniksoziologisch informierte Weiterentwicklung der Rolle von Materialität in Diskursen überführt.

Eine solche Weiterentwicklung scheint angezeigt, da bislang das Diktum von Diskursen als heterogene Praxis weitestgehend auf Praktiken der Aussageproduktion, ergo: sprachliche Handlungsvollzüge, bezogen blieb. So schreibt Keller (2013b: 44; Herv. S. E.):

„Die WDA nimmt (…) das Foucaultsche Diktum ernst, Diskurse als Praktiken zu behandeln, welche die Gegenstände bilden, von denen sie handeln: Diskurse sind etwas, was tatsächlich in Aussagen von Sprechern vollzogen wird, und das darin sprachliche bzw. zeichenförmig konstituierte Wissen ist die Art und Weise, wie uns (eine spezifische) Wirklichkeit der Weltverhältnisse gegeben ist.“

Die Rolle von Artefakten in Diskursen sucht Keller (2011a: 237; Herv. S. E.) dabei primär im Sinne eines Diskurseffekts zu berücksichtigen (vgl. a. Abschn. 3.3):

„Die Welt gewinnt ihren je spezifischen Wirklichkeitscharakter für uns durch die Aussagen, die Menschen – in Auseinandersetzung mit ihr – über sie treffen, wiederholen und auf Dauer stellen. Solche Aussagen stiften nicht nur die symbolischen Ordnungen und Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit, sondern sie haben auch reale Konsequenzen: Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Artefakte oder Praktiken bspw. können als Diskurseffekte analysiert werden.“

Noch deutlicher wird diese Engführung von Artefakten als Ergebnis diskursiver Praktiken, wenn Keller (2011a: 237; Herv. S. E.) ein auf die vorab zitierte Passage bezogenes Beispiel vorstellt:

„Die soziale Realität des Hirntods entsteht aus dem typisierbaren Gehalt der Summe aller Äußerungen über den Hirntod, einschließlich derjenigen, die sich auf die Entwicklung und den Einsatz von Messinstrumenten, die Erfassung von körperlichen Stoffwechselprozessen und die Interpretation von Messwerten beziehen.“

Obgleich das zitierte Beispiel sich explizit auf diejenigen Sprachhandlungen bezieht, die über die Entwicklung und den Einsatz medizinischer Messinstrumente getätigt werden, ebenso wie jene, die auf Basis von interpretierten Messwerten entstehen, und damit die oben erwähnte Ebene von Artefakten als Diskursreferenzen angesprochen ist, wird die konstitutive Rolle der Messinstrumente (als Artefakte) und deren Rolle bei der Interpretation der Messwerte nicht gesondert hinterfragt. Indem primär davon ausgegangen wird, dass Materialität als Folgeprodukt von diskursiver Konstruktion anzusehen ist (Keller 2011a: 253; 2012: 31), verbleibt deren (analytische) Rolle letztlich eine passive (vgl. a. Abschn. 3.3). Ferner scheint Materialität ausschließlich auf Effekte außerhalb von Diskursen angelegt zu sein; eine diskursimmanente Wirkung, vor allem nicht in Bezug auf diskursive Wissensproduktion, wird scheinbar nicht mitgedacht. Dies offenbart sich, wenn Dispositive als Vermittler zwischen Diskursinstanzen und Praktiken verstanden werden (Keller 2011a: 258),Footnote 14 oder wenn sie als die Versuche von Diskursen beschrieben werden, „Wirkungen außerhalb ihrer selbst zu erzeugen“ (2011a: 259).

Nicht zuletzt in der Definition von Diskurs als „(e)ine nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen“ (Keller 2011a: 234; Herv. S. E.) wird deutlich, dass, zumindest in der ursprünglichen Version der WDA, eine sprachzentrierte Version von Diskursanalyse vertreten wird, die die Multimodalität von Diskursen nicht konsequent genug berücksichtigt und entsprechende Dynamiken in der Folge nicht adäquat zu analysieren vermag. Wenn beispielsweise von den „verschiedenen Ressourcen und Strategien der Diskursproduktion“ gesprochen wird, die von Diskurs-Akteur*innen genutzt werden, um diskursives Wissen zu produzieren oder zu festigen, werden allein sprachliche Techniken aufgezählt: „Sie erzeugen Faktenwissen, argumentieren, dramatisieren, moralisieren, mobilisieren gängige Alltagsmythen, Klischees, Symbole, BilderFootnote 15 für ihre Zwecke“ (Keller 2011a: 254). In der vorliegenden Arbeit wird hingegen davon ausgegangen, dass Artefakte und Dinge darüber hinaus spezifische Vorbedingungen für eben solche sprachlichen Manöver und deren Erfolgschancen bilden, die es gezielt analytisch zu reflektieren gilt.

Natürlich ist Sprache als „primäre(s) Medium der Wissenskonstruktion“ (Keller 2006: 131) das Kernelement von Diskursen und damit fraglos die Hauptanalyseeinheit der Diskursanalytik. Auch gilt, dass die Multimodalität von Diskursen stets nur per Sprache wissenschaftlich verarbeitet werden kann (Wrana/Langer 2007: Abs. 14; van Dyk 2013: 62; Keller 2019a: 165). Aber, wie Keller selbst betont, „sowohl die Praktiken, die einen Diskurs tragen, als auch diejenigen, die aus ihm folgen, sind nicht notwendig nur sprachlicher Natur.“ (2006: 131) Die damit angedeuteten nicht-sprachlichen Praktiken, die auch Gegenstand von Diskursen sind, sind also nicht nur als (passive) Effekte von Diskursen zu verstehen, sondern gleichermaßen als produktive Generatoren von diskursivem Wissen. Folglich gilt es diese gezielter als bislang in eine entsprechend sensibilisierte Diskursanalytik einzubeziehen, was vorrangig den dezidierten Bezug auf technische Artefakte umfasst (vgl. Abschn. 2.2.3). Erst auf diesem Wege kann das Postulat, die WDA „(nimmt) die Idee der Materialität der Diskurse ernst“ (Keller 2007: Abs. 46) konsequent umgesetzt und die Multimodalität von Diskursen hinreichend analytisch anerkannt werden.

Multimodale Inspirationen aus dem Symbolischen Interaktionismus und der ‚neuen Wissenssoziologie‘ nach Berger/Luckmann

Die Arbeiten Foucaults und seiner Rezipient*innen machen zweifellos hinreichend deutlich, dass Diskurs als multimodal prozessierende Analyseeinheiten aufzufassen sind. Dennoch soll hier gemäß der doppelten theoretischen Basis der WDA – wie oben beschrieben bestehend aus der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie und der Diskurstheorie – auch aus Sicht erstgenannter, bzw. ihrer Grundlagenperspektive, dem Symbolischen Interaktionismus nach Mead und Blumer, ergänzend diskutiert werden, welche produktive und relevante Rolle Artefakte in Bedeutungskonstruktionsprozessen spielen (können).Footnote 16

Bereits die für die Ausgestaltung des interpretativen Paradigmas und für die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie wesentliche Theorie symbolvermittelter Kommunikation von Mead (1980 [1932]; 1969; 1975 [1968]) hat sich dezidiert mit gegenständlichen Objekten auseinandergesetzt (vgl. a. Joas 1980: 143–163; Steets 2010: 177 f.; 2016: 97; Sons 2017: 123–203). Er konstatiert etwa, dass „(d)er Bereich, indem soziale Organisation unmittelbar stattfindet, (…) voll von Gegenständen, physischen Dingen oder Instrumenten (ist).“ (Mead 1969: 221; vgl. a. 1980 [1932]: 119–139) Er schreibt weiter:

„Der Mechanismus der menschlichen Gesellschaft besteht darin, daß leibliche Individuen sich durch Manipulation mit physischen Dingen bei ihren kooperativen Handlungen gegenseitig unterstützen oder stören. In den frühesten Formen der Gesellschaftsentwicklung werden diese physischen Dinge wie Individuen (selves) behandelt, d. h. die sozialen Reaktionen, die wir auch in uns gegenüber unbeseelten Dingen, welche uns nützlich oder hinderlich sind, feststellen können, spielen bei primitiven Völkern eine dominierende Rolle für die soziale Organisation, sofern sie von der Handhabung physischer Dinge abhängig ist. (…) (D)ie leiblichen Individuen der sozialen Gruppe (sind) ebenso eindeutig instrumentell, wie die Instrumente sozial sind. Soziale Lebewesen sind genauso entschieden Dinge, wie physische Dinge sozial sind.“ (1969: 221)Footnote 17

Gegenstände sind laut Mead also als wichtige Konstituenten symbolisch vermittelter Kommunikation zu verstehen, die ebenso wie Gesten und Sprechbeiträge spezielle, sozial vermittelte Reaktionen auslösen, die zur Formierung respektive Aufrechterhaltung von gesellschaftlicher Interaktion beitragen (vgl. a. Mead 1975 [1968]: 116–118, 325–327). Die Dingwelt versteht er dabei wiederum als Produkt gesellschaftlicher Interaktion, da sie – analog zur Rollenübernahme bei Menschen – im Sinne eines körperlich gebundenen Vorgangs durch ein Zusammenspiel von Auge und Hand, durch das Unterstellen eines Inneren von Dingen und der Perzeption von Gegendruck, als materielles Gegenüber wahrgenommen und eine diesbezügliche Rollenübernahme ermöglicht wird (Mead 1980 [1932]: 119–122; vgl. a. Steets 2015: 34 f.; 2016: 97).

In seinem grundlegenden Text zum methodologischen Standort des Symbolischen Interaktionismus verdeutlicht auch Blumer (1973: 81), dass diejenigen Prozesse der Sinngebung, die Menschen in ihren alltäglichen Interaktionen vollziehen, nicht allein auf die Wahrnehmung von anderen Menschen bezogen sind, sondern prinzipiell alle Dinge umfassen, die „der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag“ (1973: 81). Mithin ist zu diesen Objekten „alles zu zählen, was angezeigt werden kann, alles, auf das man hinweisen oder auf das man sich beziehen kann“ (1973: 90). Zu diesen Dingen gehören explizit auch „physikalische Objekte, wie Stühle, Bäume oder Fahrräder“ (1973: 90). Die konkrete Bedeutung dieser Dinge liegt gleichzeitig nicht in ihnen selbst begründet, so Blumers Annahme, sondern resultiert aus den Interaktionen mit Mitmenschen (1973: 81, 90 f.). Diese Sinnzuschreibung wird nicht zuletzt im Rahmen der interpretativen Auseinandersetzung mit diesen Dingen produktiv von den Handelnden verarbeitet (1973: 81, 83 f.). Im Zuge dessen gilt:

„Die Beschaffenheit eines Objektes – und zwar eines beliebigen Objektes – besteht aus der Bedeutung, die es für die Person hat, für die es ein Objekt darstellt. Diese Bedeutung bestimmt die Art, in der sie das Objekt sieht; die Art, in der sie bereit ist, in bezug [sic] auf dieses Objekt zu handeln; und die Art, in der sie bereit ist, über es zu sprechen.“ (1973: 90)

Das heißt, dass die jeweiligen dinglichen Bedeutungszuschreibungen Folgen für die Handlungen der Menschen haben und demnach gesellschaftliche Praxis und Diskurse prägen und verändern. Je nachdem, wie ich ein Artefakt wahrnehme, welche Kompetenzen ich ihm zuschreibe, bin ich auch bereit, von ihm gegebene Informationen, in meine Handlungsvollzüge aufzunehmen und umzusetzen und in der Folge in den Diskurs hineinzutragen. Menschliches Zusammenleben ist aus Sicht Blumers als kontinuierlicher Prozess aus Interpretation und Interaktion zu verstehen, der ganz wesentlich dadurch bestimmt ist, dass gegenständliche und nicht-gegenständliche Objekte geschaffen und verändert werden (1973: 91). Die analytische Aufgabe, die daraus erwächst, wird von Blumer wie folgt auf den Punkt gebracht: „(W)ill man das Handeln von Menschen verstehen, (muss) man notwendigerweise ihre Welt von Objekten bestimmen“ (1973: 91).

Auch Berger/Luckmann (2009 [1969]: 37) heben in einer Passage ihrer wissenssoziologischen Grundlegung die Relevanz von Objekten in Prozessen der Alltagsinteraktion hervor. Dies zeigen sie am Beispiel eines geworfenen Messers, das als Symbol des Zorns einer gegnerischen Konfliktpartei gelesen werden kann, obgleich der Wurf selbst nicht miterlebt wurde. Das Messer als Objekt repräsentiert nämlich den Zorn des Gegenübers, es vergegenständlicht respektive objektiviert ihn (2009 [1969]: 37; vgl. a. Steets 2010: 181; 2015: 7 f.). Auf diese Weise wird die face-to-face-Situation des initialen Streits überdauert, das emotionale Verstehen des Gegenübers – trotz seiner*ihrer Abwesenheit – aktualisiert und in Raum und Zeit ausgedehnt, qua Materialität des Artefakts.Footnote 18 Sie konstatieren überdies:

„Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivation wirklich. Ich bin dauernd umgeben von Objekten, welche subjektive Intentionen meiner Mitmenschen ‚proklamieren‘, obgleich ich manchmal nicht sicher bin, was ein bestimmter Gegenstand eigentlich ‚proklamiert‘. (…) Aber die einfache Tatsache, daß er [der Ethnologe bzw. Archäologe] sie überwinden und aus einem Artefakt auf eine subjektive Intention von Menschen schließen kann, deren Gesellschaft seit Millennien erloschen ist, beweist die Macht und Hartnäckigkeit menschlicher Objektivationen.“ (Berger/Luckmann 2009 [1969]: 37 f.)

Übertragen auf die sozialkonstruktivistische Kernkategorie des Wissens bedeutet dies, zusammenfassend gesprochen: „Wissen wird in Zeichen, Sprache, Artefakten und Technologien objektiviert, die im Handeln jeweils situativ realisiert werden.“ (Knoblauch/Tuma 2016: 380) In diesem Sinne argumentieren auch Bührmann/Schneider (2007: Abs. 45) in ihrer dispositivanalytischen Grundlegung (vgl. Abschn. 3.4), dass die menschliche „Erfahrung des ‚In-der-Welt-Seins‘ (…) viel stärker über die Aneignung von und Auseinandersetzung mit Objekten strukturiert (ist), als es ein ausschließlich auf die Kontinenz des ‚Be-Deutens‘ fokussierender (…) Blick nahelegt.“

Festzuhalten bleibt also bezüglich der dinglichen Auseinandersetzung einiger zentraler Vorfahren der WDA, dass Artefakte und Dinge hier durchaus als explizite Interaktionspartizipanten analytisch integriert werden, sie dabei indes allein als Repräsentationen für subjektiven Sinn respektive gesellschaftliche Wissensbestände verstanden werden und ihre eigenmächtige Relevanz für die Bedeutungskonstruktionsprozesse selbst damit nicht angesprochen wird (vgl. a. Gertenbach 2015: 127 f.).Footnote 19

Die Multimodalität von Diskursen im Anschluss an Foucault

Insbesondere eine an Foucaults Arbeiten anschließende Diskurstheorie kann sich als legitime Nachfahrin verstehen, wenn sie die Multimodalität von Diskursen hervorhebt. Zwar wird Foucault bisweilen – z. B. vonseiten des Neuen Materialismus (z. B. Barad 2007: 135, 235, 2012: 11) – vorgeworfen, die Rolle von Materialität nicht berücksichtigt und zugunsten eines anthropozentrischen Weltbilds verkannt zu haben (vgl. dazu a. Keller 2017a; 2018; 2019a). Bereits Lemke (2014, 2015; 2021) hat indes mit Verweis auf Foucaults gouvernementalitätstheoretischen Arbeiten über die „Regierung der Dinge“ deutlich gemacht, dass diese Vorwürfe in dieser Absolut- und Allgemeinheit haltlos sind. Foucault vertritt ganz im Gegenteil im Verlauf seines Schaffens einen „erweiterten Diskursbegriff“ (Schäfer 2013: 155), wobei er zwar die Materialität in Diskursen selten zum expliziten Gegenstand macht (Dölemeyer/Rodatz 2010: 201), seine Arbeiten für materialitätssensible Ansätze jedoch insgesamt hochgradig anschlussfähig sind (vgl. a. Opitz/Tellmann 2014: 380). Ebendies soll im Folgenden verdeutlicht werden.

Lemke greift dabei im Zuge seiner Argumentation auf die Foucault’schen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität zurück, in deren Rahmen mit einem erweiterten Begriff der Regierung operiert und dieser zum zentralen Instrumentarium einer Analyse der Genese des modernen Staates gemacht wird (vgl. a. Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 8; Krasmann 2003: 71 f.). Foucault stellt dabei das Konzept des Milieus vor, welches das Scharnier zwischen Regierung einerseits, Souveränität und Disziplin anderseits markiert (Lemke 2014: 256; 2015: 9 f.). Dieses wird als „ein Ensemble von natürlichen Gegebenheiten, Flüssen, Sümpfen, Hügeln, und ein Ensemble von künstlichen Gegebenheiten, Ansammlung von Individuen, Ansammlung von Häusern usw.“ definiert (Foucault 2004: 40 f.). In Bezug auf das „Problem der Naturalität“ (2004: 41) spricht Foucault ferner von „einer Multiplizität von lebenden Individuen, die miteinander in einem Ensemble von materiellen Elementen arbeiten und koexistieren, die auf sie einwirken und auf die sie wiederum einwirken.“ (2004: 42) Lemke (2014: 256; 2015: 10) ist zuzustimmen, wenn er mit Blick auf das letztgenannte Zitat hervorhebt, dass dieses zeige, dass Foucault durchaus die These akzeptiere, „dass Handlungsfähigkeit keine exklusive Eigenschaft von Menschen“ sei (vgl. a. Keller 2017a: 17). Denn im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zur Geschichte der Gouvernementalität betont Foucault (2004: 146) mit Rückgriff auf die Begriffsbestimmung von Regierung nach La PerrièreFootnote 20: „Ich glaube nicht, daß es darum geht, die Dinge den Menschen gegenüberzustellen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, daß das, worauf sich das Regieren bezieht, nicht das Territorium ist, sondern eine Art aus den Menschen und den Dingen gebildeter Komplex.“ Wir haben es hier folglich mit einer „Verflechtung zwischen Menschen und Dingen“ (2004: 146) zu tun, mit einem „dynamische(n) Ensemble von Diskursivität und Materie“ (Lemke 2014: 261; 2015: 14). Am Bild des Schiffs veranschaulicht Foucault ebendies: Ein solches erfolgreich zu steuern, setze voraus, sowohl die menschliche Besatzung als auch die nicht-menschlichen Elemente der Natur (wie z. B. Wind und Wasser) in die praktische Umsetzung der Fahrt zu integrieren, sie zueinander in Beziehung zu setzen (2004: 146 f.; vgl. a. Lemke 2014: 258; 2015: 11).

Man muss indes keineswegs so spät in das Foucault’sche Werk einsteigen, um dort multimodale Anschlusspunkte zu finden. So argumentiert er z. B. bereits 1976 in Bezug auf das Filmprojekt La Voix de son maître: Dieses

„verweist auf die Vorstellung, dass der Diskurs nicht für die Gesamtheit der Dinge gehalten werden darf, die man sagt, und auch nicht für die Art und Weise, wie man sie sagt. Der Diskurs ist ganz genauso in dem, was man nicht sagt, oder was sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt. Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwingender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.“ (Foucault 2003b [1976]: 164)

Laut Martschukat (2010: 77) sind die hierbei genannten nicht-sprachlichen Elemente mehr als nur als Effekte von Diskursen zu verstehen. Diese können nämlich „selber den Charakter von Aussagen erlangen“ und auf diese Weise Diskurse wesentlich mitgestalten. Auch Wischmann (2016: 130) betont mit Verweis auf die zitierte Textstelle, dass dort „ganz offensichtlich nicht-sprachliche Praktiken den Diskursen zugeordnet (werden)“. Daraus folgt: Diskurse bestehen zwar aus Zeichen, diese tun aber mehr als nur zu bezeichnen; sie haben handlungsleitende und wirklichkeitskonstituierende Kraft, die nicht auf Sprache und Redepraxis zu reduzieren ist. Ähnlich schreibt Foucault (1976b: 118; Herv. S. E.):

„Tatsächlich ist jeder Punkt der Machtausübung zur gleichen Zeit ein Ort der Wissensbildung. Und umgekehrt erlaubt und sichert jedes etablierte Wissen die Ausübung einer Macht. Anders gesagt, es gibt keinen Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt wird.“

Blickt man ferner auf seine Studien zur Klinik (2005 [1973]) und zum Gefängnis (1994 [1976]), oder vergegenwärtigt sich seine Definition vom Dispositiv, das „Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt“ (Foucault 1978a: 120; ausführlich: Abschn. 3.1), so wird unmittelbar ersichtlich, dass materialitätssensible Gedanken bereits früh das Foucault’sche Werk durchzogen haben (vgl. a. Schäfer 2013: 154 f.). Sei es die durchdachte, auf spezifische Diskurse zurückgehende Gefängnisarchitektur, die im Sinne einer „sozialtechnischen Dressurmaschinerie“ (Lösch et al. 2001: 16) ausgewählte Blicke ermöglicht und andere bewusst unterbindet, oder die instrumentelle Veränderung des ärztlichen Blickes, der neue Sichtbarkeiten und damit Denk- und Redeweisen ermöglicht: Stets liegt ein komplexes und heterogenes Bündel an Diskurspartizipanten vor, die in ihrer wechselseitigen Bedingtheit den jeweiligen Diskurs spezifisch formen und wirklich werden lassen.Footnote 21 Die untersuchten diskursiven Gegenstände, wie Sexualität oder Wahnsinn, sind nicht rein sprachlich, sie haben eine ganz reale Fundierung in der Welt, sie sind wirklich in all der dazugehörenden Materialität (Veyne 2001: 22). Exemplarisch sei folgendes Zitat aus der Archäologie des Wissens angeführt:

„Wenn im klinischen Diskurs der Arzt der Reihe nach der souveräne und direkte Fragesteller, das Auge, das betrachtet, der Finger, der berührt, das Organ der Entzifferung der Zeichen, der Punkt der Integration bereits vollzogener Beschreibungen, der Labortechniker ist, dann deshalb, weil ein ganzes Bündel von Beziehungen ins Spiel gebracht wird. Es sind Beziehungen zwischen dem Raum des Krankenhauses als dem gleichzeitigen Ort des Beistands, der gereinigten und systematischen Beobachtung und der Therapie, die teilweise erprobt, teilweise experimentell ist, und einer ganzen Gruppe von Wahrnehmungstechniken und Wahrnehmungscodes des menschlichen Körpers (…). Wenn man die klinische Medizin als Erneuerung der Gesichtspunkte, der Inhalte, der Formen und sogar des Stils der Beschreibung, der Benutzung von induktiven oder probabilistischen Überlegungen, der Bestimmungstypen der Kausalität, kurz als Erneuerung der Modalitäten der Äußerung betrachtet, so darf sie nicht als Resultat einer neuen Beobachtungstechnik aufgefasst werden (…); noch als Resultat der Suche nach pathogenen Ursachen in der Tiefe des Organismus (…); noch als die Wirkung jener neuen Institution, die die Klinik darstellte (…); noch als das Resultat der Einführung des Begriffs des Gewebes (…). Sondern als das In-Beziehung-Setzen (…) einer bestimmen Zahl von unterschiedenen Elementen, von denen die einen den Status der Mediziner, andere den institutionellen und technischen Ort, von dem aus sie sprachen, andere ihre Position als wahrnehmende, beobachtende, beschreibende, unterrichtende Subjekte betrafen“ (Foucault 1981 [1973]: 79 f., vgl. a. 106, 224; Herv. S. E.).

Bezug nehmend auf die Psychopathologie des 19. Jahrhunderts konstatiert Foucault wiederum an anderer Stelle, dass diejenige „Gesamtheit determinierender Beziehungen“ (1981 [1973]: 66), die die psychologisch fundierte Pathologisierung von Straftäter*innen ermöglicht hat, auch aus Beziehungen besteht, die „zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen hergestellt“ werden (1981 [1973]: 68). Die von ihm so benannten „nicht-diskursiven Praktiken“ sind dabei also keineswegs „(störende) Elemente“, sondern vielmehr „bildende Elemente“ (1981 [1973]: 100) von Diskursen. Er betont ferner das „(komplexe) System von materiellen Institutionen“ (1981 [1973]: 150), mit denen die Identitäten von Aussagen variieren und hebt hervor, dass eine Aussage materiale Substanz benötigt, um als solche erkennbar zu werden; sie bedarf nämlich „eines Trägers, eines Orts und eines Datums“ (1981 [1973]: 147). Er summiert sodann:

„Das System der Materialität, dem die Aussagen notwendig gehorchen, gehört also mehr der Institution zu als der räumlich-zeitlichen Lokalisierung; es definiert Möglichkeiten der Re-Inskription und der Transkription (aber auch Schwellen und Grenzen) mehr als begrenzte und vergängliche Individualitäten.“ (1981 [1973]: 150)

Bereits in seiner Antrittsrede am Collège de France 1970 hat Foucault (2012 [1974]) den per se materiellen Charakter diskursiver Ereignisse verdeutlicht, indem er konstatiert:

„(D)as (diskursive) Ereignis gehört nicht zur Ordnung der Körper. Und dennoch ist es keineswegs immateriell, da es immer auf der Ebene der Materialität wirksam ist, Effekt ist; es hat seinen Ort und besteht in der Beziehung, der Koexistenz, der Streuung, der Überschneidung, der Anhäufung, der Selektion materieller Elemente“.

Obgleich Foucault in den referierten Passagen mit Materialität nicht gegenständliche Objekte oder Artefakte meint, sondern auf die manifeste Realisierung einer Äußerung abzielt, lässt sich mit Lösch et al. (2001: 16) durchaus konstatieren, dass damit „sachtechnische Bedingungen als konstitutive Bestandteile diskursiver Formationen“ denkbar werden, wie sie mit Verweis auf das Modell des Panoptikums und die Foucault’sche Analyse desselben unterstreichen.

An abermals anderer Stelle argumentiert Foucault (1981 [1973]: 74; i. O. m. Herv., Herv. S. E.) in gleichsam explizit multimodaler Diktion:

„Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.“

Letztlich ist also mit Blick auf die Werke Foucaults von einer „implizite(n) Verschränkung von Diskursivem und Physischem im Diskursbegriff selbst“ auszugehen (Bublitz 2003: 53; vgl. a. Angermuller 2014: 25). Diese Implizitheit gilt es vorliegend aufzuheben und – über das Konzept des Dispositivs – in eine Diskursanalytik zu überführen, in der ebenso systematisch wie konsequent Folgendes in Rechnung gestellt wird: „Semiotisch-diskursive und technisch-architektonische Strukturen wirken zusammen und entfalten erst im Zusammenspiel Macht und Wahrheitseffekte.“ (Bublitz 2003: 52) Analog betont Waldenfels (1991: 282 f.):

„Wenn er [Foucault] sich gegen die Inanspruchnahme einer prädiskursiven Erfahrung wendet, so gewiß nicht, um die Ordnung allein in die Sprache zu verlegen; zur Ordnung der Dinge gehören ebenso Blickraster, Tableaus, Handlungsfelder, Körperkarten und Bewegungsformen.“

Waldenfels (1991: 291) argumentiert weiter, dass diskursive Ordnungsbildung als auf „die verschiedenen Verhaltensregister des Menschen verteilt“ anzusehen ist, „auf sein Reden und sein Tun, aber auch auf seinen Blick, auf seine Leibessitten, seine erotischen Beziehungen, seine technischen Hantierungen, seine ökonomischen und politischen Entscheidungen, seine künstlerischen und religiösen Ausdrucksformen und anderes mehr“. Und letztlich gilt: „Es ist nicht einzusehen, warum irgendein Bereich von der Funktionalität verschont bleiben soll, die Foucault einseitig von der Aussage her entwickelt.“

Eine der ersten dezidierten Argumentationen für eine, wenn auch verkürzte, Multimodalität von Diskursen offeriert Jäger (2006)Footnote 22, indem er verdeutlicht, dass sich die Gestaltung von Wirklichkeit über diskursive Praktiken – verstanden als Sprachhandlungen –, nicht-diskursive Praktiken – begriffen als „tätiges Umsetzen von Wissen“ (2006: 97) – sowie Sichtbarmachungen bzw. Objektivierungen – also „(konkrete) Vergegenständlichungen von Gedankenkomplexen“ (2006: 95) – vollzieht, die er im Konzept des Dispositivs miteinander verknüpft (2006: 89, 108; vgl. a. Abschn. 3.2). Seine Kritik an Foucaults Diskurstheorie als zu sprachzentriert erläutert er dabei mit dem Hinweis, dass Akteur*innen in der diskursiv strukturierten Auseinandersetzung mit der Welt konkrete Produkte ihres Wissens erschaffen, die mithin als „‚Materialisationen durch Arbeit‘ vergangener Rede bzw. vorangegangener Diskurse“ (2006: 92) zu verstehen sind und ohnehin die „materielle Seite der Wirklichkeit“, also die „natürlichen Dinge“, dabei einen wichtigen „Rohstoff dar(stellen), den sich der gestaltende Mensch zu Nutze macht.“ (2006: 90) Was Foucault vergesse: „Wissen ‚haust‘ auch im Handeln von Menschen und in den Gegenständen, die sie auf der Grundlage von Wissen produzieren.“ (2006: 92) Ähnlich konstatieren auch Lösch et al. (2001: 16): „Der Bereich des Diskurses ist keineswegs auf einen rein semiotisch aufzufassenden Aussagegehalt beschränkt, sondern integral auf Praktiken und materielle Anordnungen (Dispositive) bezogen, in deren Kontext der Diskurs aktualisiert wird.“ (i. O. m. Herv.)

Auch Wrana/Langer (2007: Abs. 5 f., 26) kommen in ihrer Foucault-Exegese zu dem Schluss, dass dieser mitnichten – sie wehren sich hier gegen die oben dargestellte Sprachzentrismus-Kritik von Jäger (2006: 91, 97) – Diskurse als rein sprachliche respektive textuelle Phänomene versteht. Vielmehr lässt gerade sein Buch Archäologie des Wissens deutlich werden, dass die von ihm beschriebenen diskursiven Beziehungen keineswegs nur sprachlich konstituiert sind. Im Gegenteil: Es geht ihm gerade um die Verbindung des Sprachlichen mit dem Nicht-Sprachlichen, die wechselseitig das Diskursive konstituieren und deshalb kaum voneinander zu trennen sind (vgl. a. Langer 2008: 55). An konkreten empirischen Beispielen illustrieren Wrana/Langer (2007: Abs. 61) ihre These, indem sie in Bezug auf die Dimensionen Macht, Alltagspraxis und Körper verdeutlichen, dass Diskurse in der Tat als Praktiken zu verstehen sind, die indes nicht nur aus sprachlichen Handlungen bestehen, sondern eben auch aus den sonst als ‚nicht-diskursiv‘ gekennzeichneten Praktiken. In ähnlicher Weise und obgleich sie die Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verteidigen (vgl. a. Abschn. 2.2.2), konstatieren auch Bührmann/Schneider (2008: 49), dass „(d)as Diskursive (…) als eine je angebbare Formierung von sprachlichen wie nicht-sprachlichen Praktiken bezeichnet werden (kann)“.

Ebenso argumentiert auch van Dyk (2010; 2013), wenn sie betont, dass der Bereich des Diskursiven all das umfasst, was in Diskursen relevant wird bzw. werden kann, da sich die Sinnhaftigkeit sprachlicher Zeichen – die das Fundament von Diskursen bilden – immer auch mit Referenz auf nichtsprachliche Elemente konstituiert und demnach „Außersprachliches (…) einem Diskurs immer schon eingeschrieben (ist)“ (van Dyk et al. 2014: 357), Sprachliches und Nicht-Sprachliches letztlich stets miteinander wechselseitig verflochten und demnach nicht zu trennen sind (vgl. a. Denninger et al. 2010: 211; 2014: 28 f.). Van Dyk rekurriert dabei auf die diskurstheoretischen Überlegungen von Laclau/Mouffe, die zwar einen anderen, weiten Diskursbegriff verwenden (s. u.), nichtsdestominder aber pointiert die hier vertretene Vorstellung der Multimodalität von Diskursen unterstützen, da sie „den materiellen Charakter jeder diskursiven Struktur“ (2012 [1991]: 145) akzentuieren und folglich konstatieren: „Es ist evident, daß selbst die materiellen Eigenschaften der Gegenstände Teil dessen sind, (…) was wir Diskurs nennen.“Footnote 23 (2012 [1991]: 145) Deshalb kann diskursive PraxisFootnote 24 „nicht bloß aus rein sprachlichen Phänomenen bestehen (…); sie muß vielmehr die gesamte materielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale und Praktiken durchdringen, durch die eine Diskursformation strukturiert wird.“ (2012 [1991]: 146; vgl. a. Nonhoff 2006: 39; 2007: 9) Ergänzend dazu konstatiert Laclau (1981: 176): „Unter dem ‚Diskursiven‘ verstehe ich nichts, was sich im engen Sinne auf Texte bezieht, sondern das Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet.“

Zusammenfassend können drei Hinweise auf die Multimodalität von Diskursen aus Foucaults Arbeiten und seiner Rezeption deduziert werden, die sich allesamt auf die Ebene der Materialität beziehen (vgl. dazu a. Schrage 2006: 1806; Glasze/Mattissek/Meier 2014: 258 f.): Zum Ersten in Bezug auf die realen Effekte von Diskursen, die sich in Form von manifesten, in diesem Sinne materialen Folgen in der Welt zeigen. Diskurse werden in ihrer weltlichen Macht greifbar, indem sie handfeste Wirkungen generieren und unabhängig individueller und/oder kollektiver Begehren objektive Effekte zeigen. Zum Zweiten bestehen sie aus materialen Elementen mit Referenz auf die konkrete Realisierung diskursiv strukturierter Aussagen, die sich immer nur als gegenständlich fundiert von den Diskursakteur*innen wahrnehmen lassen – auditiv als gesprochenes Wort oder visuell als geschriebener Text. Zum Dritten und im Sinne der vorliegend vertretenen diskursiven Multimodalität, werden Diskurse als nicht nur aus sprachlichen und/oder textlichen Inhalten bestehend verstanden, sondern gleichzeitig nonverbales körperliches Tun und vergegenständlichte Objekte als konstitutive Teile von Diskursen gefasst. Es lässt sich in diesem Kontext treffend von einer Verkörperung und Materialisierung von Diskursen sprechen, die einerseits umfasst, dass diskursives Wissen in körperliche PraktikenFootnote 25 und materiale Entitäten eingeschrieben, also in materiale Formen übersetzt wird. Artefakte beispielsweise sind ja nichts anderes als vergegenständlichte soziale Konstrukte, die auf Basis gesellschaftlicher und diskursiver Wissensbestände konstruiert und produziert werden (vgl. Abschn. 2.2.3). Anderseits impliziert die Multimodalität von Diskursen noch eine weitere Facette der Materialisierung, die bislang noch kaum zum systematischen Gegenstand gemacht wurde. Sie inkludiert ferner, dass (nicht-sprachliches) körperliches Tun und Artefakte auch an der (Re-)Produktion von diskursivem Wissen beteiligt sind, indem sie diskursiv geformte Arten des Denkens und entsprechenden Sinnsetzungen sowie Sichtweisen auf die Welt in sinnlich – insbesondere haptisch, auditiv und optisch – perzipierbare Form transformieren und dadurch objektiveren, was mit erheblichen epistemischen Effekten verbunden ist und folglich den Prozess diskursiver Wissensproduktion ebenso nachhaltig wie ganzheitlich zu prägen vermag.

Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit ist somit ein ko-konstruktiverFootnote 26 Prozess, der auf verbalen, nicht-sprachlichen Praktiken und gegenständlichen Wegen prozessiert und im Folgenden als dispositive Konstruktion von Wirklichkeit konzeptualisiert wird.Footnote 27 Dafür werde ich ergänzend Leitgedanken der Science and Technology Studies, insbesondere in der Lesart von Bijker/Pinch sowie Bruno Latour, heranziehen (vgl. Abschn. 2.2.3).Footnote 28

Multimodale Diskurse als ‚Körper-Artefakt-Wissens-Ensembles‘

In den einschlägigen Rezeptionen (z. B. Jäger 2006: 87 f.; van Dyk et al. 2014: 352) wird hinsichtlich der proklamierten Heterogenität von Diskursen regelmäßig auf eine Dreiteilung rekurriert: Diskurse bestehen demnach aus Sprache respektive sprachlicher Praxis, nicht-sprachlichem körperlichem Tun und materialen Vergegenständlichungen. Es ist vorwiegend die letztgenannte Dimension, die vor dem Hintergrund der hier vertreten Multimodalität von Diskursen und mit Blick auf die bis dato untergeordnete diskurstheoretische und -analytische Beschäftigung mit (technischer) Materialität von besonderem Interesse ist und an vorliegender Stelle primär diskutiert werden soll. Insbesondere die Dimension der materialen Vergegenständlichungen soll also in ihrer epistemisch-produktiven Rolle im Verlaufe dieser Arbeit konkret ausgeleuchtet und über eine dispositivanalytische Konzeptualisierung diskursanalytisch fruchtbar gemacht werden.

Es kann bis dato folgendes festgehalten werden: Diskurse sind mit Rückgriff auf Foucault als multimodale Entitäten zu verstehen, die nicht nur sprachliche Elemente, sondern auch nicht-sprachliche Praktiken und Artefakte umfassen, da auch „Außersprachliches (…) einem Diskurs immer schon eingeschrieben (ist)“ (van Dyk et al. 2014: 357). Mit anderen Worten: Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit prozessiert multimodal, die entsprechende Herstellung und Stabilisierung von Wissen realisiert sich auf verschiedenen Wegen, in sprachlichen Akten – in mündlicher wie schriftlicher Form –, per körperlichem nicht-sprachlichem Tun sowie in der Produktion und Handhabe von technischen Artefakten. Damit verbunden ist die Annahme, dass Wissenskonstruktion auch vorsprachlich, vermittelt über implizite Sinnzuschreibungen, prozessiert und sich folglich auch auf präreflexive Quellen, z. B. körperliche Erfahrungen, beziehen kann (Reckwitz 2006: 707; Steets 2010: 182 f.; 2015: insb. 184, 192). Wirklichkeitskonstruktion operiert mithin nicht allein auf kognitiver Ebene, menschliche Typisierungsprozesse und die folgende Einarbeitung ihrer Produkte in Diskurse haben ihren Ausgang auch in (zunächst) nicht-zeichenhaften, physisch-körperlichen Vorgängen, die es gleichfalls zu reflektieren gilt (Hörning 2001: 166 f.). Der Begriff des Wissens, wie Steets (2010: 183; 2016: 97) mit Blick auf Praxistheorie und Akteur-Netzwerk-Theorie zu Recht konstatiert, lässt sich somit „auf körperliche Formen des Verstehens und auf die Materialität der Dingwelt erweitern.“

Hierzu ein Beispiel: Wenn jemand einen (materialen) Drogenschnelltest in der Hand hält und ihn auf Basis seines (diskursiven) Vorwissens und seiner haptischen Wahrnehmungen als materiales Artefakt erkennt und entsprechend einordnet, geht die betreffende Person mit dem Instrument in bestimmter Weise um und reagiert demgemäß spezifisch auf die vom Test generierten Resultate – und zwar anders, als sie es bei menschlich hervorgebrachten Ergebnissen tun würde (vgl. Kap 6. u. 7). Diese Reaktion wiederum hat konkrete Folgen – z. B. eine Exklusionsentscheidung im Rahmen eines Bewerbungs- bzw. Zulassungsverfahrens –, und hat folglich Auswirkungen auf die Reproduktion von entsprechenden Diskursen, beispielsweise wenn es sich um sicherheitsbedingte Testeinsätze handelt. Die situativ aktualisierte Ablehnung von Bewerber*innen, die als drogenpositiv getestet und demnach als Sicherheitsrisiken perzipiert werden, wirkt im Sinne eines routinisierten Alltagshandelns auf die Existenz der ihnen zugrunde liegenden Diskurse – die ja allesamt als kontinuierlich performativ herstellte Praxisgebilde zu verstehen sind – zurück, mindestens in reproduzierender, also die Realität der Diskurse weiter stabilisierender Manier (vgl. Kap. 5). Neben der passiven Diskursreproduktion oder -aktualisierung kann die artefaktgebundene Testhandlung im genannten Beispiel aber auch, in demgegenüber aktiver Weise, diskursiv-epistemische Transformationen bewirken, indem es auf den diskursiven Wissenshaushalt zurückwirkt respektive grundsätzlich die Potenz dazu besitzt, indem das genutzte Artefakt spezifische, auf seine Materialität zurückgehende epistemische Effekte zeitigt (vgl. insb. Kap. 6). Bei der Testnutzung – um bei diesem Beispiel zu bleiben – handelt es sich folglich um ein diskursives Ereignis im doppelten Sinne: Sie basiert auf diskursiven Wissensbeständen, repräsentiert eine der mannigfaltigen Gestalten, in denen ein Diskurs in Erscheinung tritt, wirkt aber gleichzeitig auf diesen zurück, mindestens als stabilisierendes Aktualisierungsereignis, potenziell auch als wissensgenerierendes diskursives Ereignis.

Korrekt ist dabei die Erkenntnis, dass „(j)ede wahrgenommene Entität (…) nur durch ihre Zeichenhaftigkeit wahrgenommen werden kann.“ (van Dyk et al. 2014: 350 f.) Trotzdem gilt es auch die epistemische Rolle (zunächst) nicht-zeichenhafter Praktiken und diejenigen materialen Effekte, die (einstweilig) nicht im Modus des Zeichenhaften prozessieren, als Reservoir bzw. Konstruktionsmasse für zeichenhafte diskursive Bedeutungs(re)produktion zu verstehen, die wiederum mit spezifischen Eigenarten verbunden ist. Denn in der Tat gilt: „Unterschiede [zwischen verschiedenen Wirklichkeiten] gibt es in der Qualität des Zeichenhaften, also in der Frage, wie Materielles semiotisch ‚kodiert‘ ist“ und folglich diskursiv – aber auf spezifische Art und Weise! – Bedeutung erlangt (van Dyk et al. 2014: 351, 357).

In diesem Sinne sind multimodale Diskurse in Anlehnung an Reckwitz (2008a: 318; 2016: 152) als Körper-Artefakt-Wissens-Ensembles zu verstehen, deren im Namen genannte Elemente in wechselseitiger Relation, über gemeinsame Wissensformen und kollektiv ausgestaltete Handlungsräume bzw. Interaktionsgefüge (Steinbrecher 2014: 47), diskursive Ordnungen konstituieren.Footnote 29 Nicht-sprachliche Praktiken und Artefakte werden dabei nicht allein als nachgeordnete Diskurseffekte verstanden, die a posteriori in den Diskurs einbrechen und damit allein „passives Objekt von Sinnbezügen“ (Wieser 2008: 423) sind, sondern als prinzipiellFootnote 30 gleichrangige „Bauelemente“ (Soeffner 2006: 57) des diskursiven Konstruktionsprozesses selbst. Auch (nicht-sprachliches) körperliches Tun und Artefakte sind mithin potenziell signifikante „Vehikel der Wirklichkeitserhaltung“ (Berger/Luckmann 2009 [1969]: 163). Körper und Gegenstände können also ebenso „Medi(en) der gesellschaftlichen Sinnorganisation“ und „Speicher der Wissensvorräte“ sein, wie es Keller (2013a: 78) für die Institution der Sprache konstatiert und somit können sie gleichermaßen zum produktiven Bestandteil von Wissensordungen und Wahrheitspolitiken werden. Damit sind sie – um eine architektursoziologische Diktion von Delitz (2009: 85, 90; 2010: 11–27) zu übernehmen – eben nicht nur als (passive) Einschreibefläche gesellschaftlicher Wissensprozesse aufzufassen, sondern gleichfalls als Medien des Sozialen (vgl. a. Hörning 2001: 166 f., 216). Im Zuge dessen ist zu betonen, dass keiner einseitigen Überakzentuierung der menschlichen oder materialen Seite in Prozessen diskursiver Bedeutungskonstruktion das Wort geredet werden soll, kein wie auch immer gearteter Determinismus intendiert ist, der – im Sinne eins Nullsummenspiels – die eine Seite gegen die andere ausspielt. Der Mensch ist und bleibt, und damit bleibe ich auf dem Boden der WDA respektive deren Fundament des interpretativen Paradigmas, die wesentliche Konstruktionsquelle gesellschaftlicher Bedeutungskonstitution – ohne menschliche Beteiligung sind Diskurse nicht denkbar. Es ist hier vielmehr eine wechselseitige Vermittlung anvisiert. Auf diese Weise wird es möglich, die bis dato vorherrschende Frontstellung von (wissenssoziologisch argumentierender) Diskursanalyse und neuerer artefakttheoretischer bzw. techniksoziologischer Arbeiten ebenso theoretisch stimmig wie empirisch fruchtbar aufzulösen.Footnote 31

Die wesentliche analytische Pointe besteht nun darin, dass das Portfolio der an der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit beteiligten Entitäten nicht einfach (deskriptiv) erweitert wird, sondern gleichzeitig angenommen wird, dass sich die Prozesse der Wissensbildung und Bedeutungskonstruktion im Zuge der Multimodalisierung transformieren: Die Materialisierung von diskursivem Wissen reproduziert nicht schlicht diskursives Wissen in unveränderter Weise, letzteres wird im Zuge dessen verändert, da „Dinge (…) auf ihre eigene Art und Weise und nicht analog zur Sprache (kommunizieren)“ (Wieser 2008: 423; vgl. a. Dölemeyer/Rodatz 2010: 205). Bestimmte Wissensbestände entstehen etwa zum Teil erst unter Rückgriff auf entsprechend in Stellung gebrachte technische Artefakte, was mit einer erheblichen Transformation – im Sinne einer diskursiven Formatierungsleistung – der epistemischen Rahmenbedingungen verbunden sein kann. So z. B. wenn ausgesuchte Testverfahren auf Basis diskursiv motivierter Sicherheitskontrollen genutzt werden, um Personen in Hinsicht auf spezifische Kriterien hin zu klassifizieren, was sodann entsprechende, auf die jeweilige Kategorisierung bezogene Folgehandlungen provoziert, die sich auf die vom Testinstrument hergestellten (Un-)Sichtbarkeiten beziehen. Die Nutzung des jeweiligen Testartefakts hat dabei einen epistemischen Effekt, da die Herstellung entsprechenden Wissens nicht vom (mit-)herstellenden Testobjekt zu trennen ist. Folglich können Artefakte erhebliche Relevanz für die tatsächlichen Machtwirkungen eines Diskurses und mithin für die Wahrheitsspiele, die sich auf multimodalem Wege und im Kontext technikbeladener Wissensproduktion (Hirschauer 2008a: 182) entfalten, besitzen. Angesprochen ist damit die spezifische Typizität derjenigen multimodalen Prozesse, die unter Rückgriff auf das Dispositiv-Konzept und in Anlehnung an die WDA als dispositive Konstruktionen von Wirklichkeit verstanden werden (Bührmann/Schneider 2008: 85).Footnote 32

Je nach Untersuchungsobjekt und der verfolgten Untersuchungsperspektive ist es dann jeweils eine Frage des Forschungsgegenstands, wie dominant die materiale Rolle in der diskursiven Sinnproduktion tatsächlich ausbuchstabiert werden kann. Diskursivität zeigt sich auf mannigfaltige Arten und Weisen und ist stets unterschiedlich auf die beteiligten Entitäten verteilt. Hier soll folglich keineswegs vertreten werden, dass diskurstheoretische und -analytische Arbeiten immer spezifisch auf die Rolle von Materialität fokussieren müssen. Es sind unzählige Fragestellungen und Forschungsperspektiven innerhalb entsprechender Studien denkbar, im Zuge derer es nicht notwendig ist, Diskurse konkret als multimodale Einheiten zu untersuchen. Betont werden soll hier lediglich, dass Diskurse grundsätzlich als solche hybride Entitäten zu verstehen sind und in vielen Fällen z. B. technische Artefakte und körperliches Tun signifikanten Einfluss auf die Herstellung, Stabilisierung und Aktualisierung von diskursivem Wissen und den sich daraus ergebenden Ordnungen haben. Folgerichtig wäre es analytisch kontraproduktiv, a priori sprachzentriert an empirisch identifizierte Diskurse heranzutreten und die heterogenen Diskurspartizipanten zu übersehen. Es wird, kurz gesagt, eine „materiale Form von ‚Diskursanalyse‘“ (Dölemeyer/Rodatz 2010: 199) benötigt, die vorliegend als Dispositivanalyse konzeptualisiert wird.

2.2 Multimodalität von Diskursen und die Ränder des Diskursiven

Bevor ich dazu übergehe, die Rolle technischer Artefakte in Diskursen unter Rückgriff auf die Science and Technology Studies gesondert zu explizieren, soll zunächst auf die diskurstheoretische Frage nach den Rändern respektive Grenzen von Diskursen eingegangen werden, die durch die angenommene Multimodalität von Diskursen virulent wird, da auf diese Weise ein weiter Diskursbegriff propagiert wird, dem ein entgrenzender Impuls immanent ist. Dieser unterscheidet sich wiederum von jenem, der von (poststrukturalistischen) Diskursforscher*innen in Anschluss an die Arbeiten von Laclau/Mouffe (insb. 2012 [1991]) genutzt wird und bis dato das dominante Referenzkonzept für die Erweiterung des Ensembles an Diskurspartizipanten dient (s. z. B. Wrana/Langer 2007: Abs. 13; van Dyk 2010: 174 f.; 2013: 47; van Dyk et al. 2014: 347, 350). Da vorliegend, in Abgrenzung zur Diskurstotalität nach Laclau/Mouffe, auf Basis einer wissenssoziologisch fundierten Diskurstheorie argumentiert wird, scheint es angezeigt, das hier vertretende Verhältnis zum Außer-Diskursiven näher zu erläutern. Meine, eigenen vorherigen Ausführungen widersprechende (s. Egbert/Paul 2018: 134),Footnote 33 These ist dabei, dass es nicht zwingend einen weiten Diskursbegriff nach Laclau/Mouffe benötigt, um die Multimodalität von Diskursen anzunehmen. Auch mit der WDA und ihrem engeren Diskursbegriff als Ausgangspunkt kann sie stringent theoretisiert werden. Ohnehin birgt die Debatte zum Status des Nicht- oder Außer-Diskursiven einigen Klärungsbedarf – z. B. in Bezug auf den ontologischen Status des Außer-Diskursiven und der Rolle des Nicht-Diskursiven im Rahmen der WDA –, was als ein weiterer Grund dient, im Folgenden die Frage nach den Grenzen von Diskursen und dem Status des Nicht-Diskursiven zu erörtern.

Wo liegt das Außen von Diskursen?

Widmen wir uns zunächst dem weiten Diskursbegriff nach Laclau/Mouffe (2012 [1991]) und seiner Verbindung mit der Multimodalität des Diskurses: In ihrer Diskurstheorie, die eigentlich eine Theorie des Politischen ist und sich vor allem um die Begriffe Demokratie und Hegemonie dreht (Nonhoff 2007: 8), verstehen Laclau/Mouffe im Anschluss an die sprachtheoretisch-strukturalistischen Überlegungen Saussures (1967 [1931]) die Grundoperation der Sinnkonstitution als Differenzbildung zwischen bezeichenbaren Elementen, die vornehmlich über die Praxis der Artikulation prozessiert (Laclau 2007 [1993]: 542). Die aus dieser Praxis hervorgehende „strukturierte“ bzw. „relationale Totalität“ bezeichnen sie als „Diskurs“ (Laclau/Mouffe 2012 [1991]: 141–152). Und da sie gleichzeitig festhalten, dass die Elemente der Welt allein auf dem Wege der Artikulation, also innerhalb des Raumes der Diskursivität, für den Menschen als sinnhafte, erkennbare Entitäten erscheinen, konstituiert sich bei ihnen das Soziale schlichtweg aus dem Diskursiven – es ist gar „gleichbedeutend“ mit ihm (Laclau 1981: 176; vgl. a. Nonhoff 2006: 32 f.; 2007: 9). Dieser weite Diskursbegriff impliziert also eine Entgrenzung des Diskursiven im Sinne seiner Totalisierung und der vollständigen Gleichsetzung des Sozialen mit diskursiver Bedeutungsproduktion. Zwecks besserer Unterscheidbarkeit von dem vorliegend vertretenen, ebenfalls weiten Diskursbegriff und in Rückgriff auf Landwehr (2008: 88) kann in diesem Zusammenhang auch von einem offenen Diskursbegriff gesprochen werden. Aus diesem ergibt sich, dass Laclau/Mouffe (2012 [1991]: 143) die bei Foucault zu findende Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verwerfen, da „kein ObjektFootnote 34 außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist“ und „jede soziale Praxis Produktion von Sinn ist“ (Laclau 1981: 176). Aus der angenommenen Diskurstotalität folgt wiederum ihre bereits oben skizzierte Haltung, Diskurse nicht nur als rein sprachliche Gebilde zu verstehen, sondern als heterogene Ensembles der Bedeutungsproduktion.

Keller (2011a) wiederum geht im Rahmen seiner Wissenssoziologischen Diskursanalyse zwar auch davon aus, dass alles, was der Mensch wahrzunehmen vermag, über gesellschaftlich vermittelte Wissensbestände prozessiert (z. B. Keller 2011a: 238, 269, 323; Bosančić 2014: 90). Nur nutzt er zur Bezeichnung dieser Sinndimension nicht den Begriff des Diskursiven, sondern jenen der „symbolischen Sinnwelt oder Lebenswelt“, die er somit als bedeutungsbezogene „Grundebene“ versteht, welche die „Gesamtheit statthabender Kommunikationen“ enthält (Keller et al. 2015: 302, 305). Diskurse sind dann eine Ebene darunter angesiedelt. Es gibt für ihn nur ‚die Diskurse‘ oder ‚den Diskurs‘, aber nicht ‚das Diskursive‘. Diskurse werden in der WDA verstanden als empirisch identifizierbare, themenzentrierte und kollektiv strukturierte Aussagepraktiken, die einen Teilausschnitt der gesamten, mit Bedeutung versehenen (Symbol- oder Lebens-)Welt bilden (Bosančić 2014: 90; Keller et al. 2015: 298, 302).Footnote 35 Deshalb bezieht sich die analytische Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken in der WDA nicht auf eine ontologische Annahme. Auch ist damit keineswegs eine Separierung in sprachliche und nicht-sprachliche Praktiken gemeint, obgleich dies bisweilen nahegelegt wird (s. z. B. Keller 2011b: 68; 2017a: 26; s. a. Schneider/Hirseland 2005: 253; Bührmann/Schneider 2007: Abs. 14 f.; 2008: 47, 50, 112).Footnote 36 Die in der Tat missverständliche Terminologie von nicht-diskursiven Praktiken (van Dyk et al. 2014: 352) meint vielmehr, dass die damit bezeichneten (Sprach-)Handlungen in Bezug auf den jeweils untersuchten Diskurs nicht unmittelbar an seiner (Re-)Produktion beteiligt sind, da sie keine diskursspezifische Bedeutung im engeren Sinne generieren, mithin nicht direkt an dessen Wahrheitsproduktion mitwirken (Keller 2011a: 256; 2017a: 26; Keller et al. 2015: 303–309; vgl. a. Schneider/Hirseland 2005: 271 f.; Bührmann/Schneider 2008: 47).Footnote 37 Es handelt sich dabei also um eine heuristisch-analytische Entscheidung, die für ein möglichst differenziertes Analysevokabular Sorge tragen soll (Bührmann/Schneider 2007: 47, 51; Keller et al. 2015: 300, 306; 2017a: 29; Bosančić 2014: 90).Footnote 38 Wenn alles Diskurs ist, so kann die terminologische Zielsetzung pointiert werden, ist es schwer, Diskurse differenziert und gegenstandsnah zu untersuchen (vgl. a. Bührmann/Schneider 2008: 46; van Dyk et al. 2014: 351). Eine ähnliche Sichtweise legen Brown/Cousins (1980: 254) in Bezug auf Foucault nahe:

“He [Foucault] makes no distribution of phenomena into two classes of being, Discourse and the Non-Discursive. For him the question is always the identity of particular discursive formations. What falls outside a particular discursive formation merely falls outside it. It does not thereby join the ranks of a general form of being, the Non-Discursive.”

Dabei ist anzumerken, dass Foucault zwar in der Tat an mehreren Stellen (z. B. 2003 [1977]: 395 f.; 1978a: 124 f.; 1981 [1973]: 100) zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken unterscheidet, diese Handhabe aber einerseits inkonsistent ist (z. B. Kammler 1986: 159 f.; Bublitz 1999: 90; Jäger 2006: 94–97; Wrana/Langer 2007: Abs. 10; Laclau/Mouffe 2012 [1991]: 143; Bröckling/Krasmann 2010: 24; van Dyk 2010: 171), da, obgleich die Terminologie der ‚nicht-diskursiven‘ Praktik dies durchaus nahelegt, dieses Tun von Foucault eigentlich nicht als außerhalb von Diskursen seiend verstanden wird (Langer 2008: 65). So konstatiert er in Bezug auf den medizinischen Diskurs als Praxis, dass dieser

„sich an ein bestimmtes Feld von Gegenständen wendet, der sich in den Händen einer gewissen Zahl von statutarisch bezeichneten Individuen befindet, der schließlich bestimmte Funktionen in der Gesellschaft zu erfüllen hat, sich über Praktiken artikuliert, die ihm äußerlich und selbst nicht diskursiver Natur sind.“ (Foucault 1981 [1973]: 234; Herv. S. E.)

Andererseits wird die Unterscheidung von ihm für unwichtig in Hinblick auf sein analytisches Interesse mit dem Dispositiv-Begriff erklärt und somit in seiner Relevanz heruntergespielt:

„Aber für das, was ich mit dem Dispositiv will, ist es kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht. Vergleicht man das architektonische Programm der Ecole Militaire von Gabriel mit der Konstruktion der Ecole Militaire selbst: Was ist da diskursiv, was institutionell? Mich interessiert dabei nur, ob nicht das Gebäude dem Programm entspricht. Aber ich glaube nicht, daß es dafür von großer Bedeutung wäre, diese Abgrenzung vorzunehmen, alldieweil mein Problem kein linguistisches ist.“ (Foucault 1978a: 125; vgl. a. Bührmann/Schneider 2008: 47 f.; van Dyk 2013: 48)

Aufgrund der Missverständlichkeit des Begriffs der ‚nicht-diskursiven Praktiken‘, folge ich dem von Spitzmüller (Keller et al. 2015: 310) dargelegten Vorschlag, diese – vorausgesetzt, sie werden nicht als nonverbale Praktiken verstanden – als ‚nicht-diskursrelevante Praktiken‘ zu betiteln, um den genannten Fehlinterpretationen vorzubeugen.Footnote 39 Lediglich gemäß der jeweiligen Untersuchungsperspektive und Fragestellung, die auf ausgesuchte Diskurse fokussiert, ist bei so benannten Praktiken von einer Irrelevanz auszugehen, weil sich die betreffende Praktik auf einen anderen Diskurs bezieht.

Diese neu justierte Terminologie bietet sich auch deshalb an, da der ursprüngliche Begriff der nicht-diskursiven Praktiken unausweichlich die Konnotation enthält, dass die so benannte Praxis keinem Diskurs – welcher auch immer das sein mag – zugerechnet werden kann, was wiederum zu bestreiten ist: Jede Handlung, sei sie nun sprachlich oder nicht-sprachlich, ist in irgendeiner Form in (unterschiedliche) Diskurse verwickelt und trägt zu deren (Re-)Produktion und Aktualisierung bei. Dies wird von einschlägigen Verfechter*innen der Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auch überhaupt nicht zurückgewiesen (z. B. Bührmann/Schneider 2008: 47; Keller et al. 2015: 295–312). Die von ihnen vertretene Grenzziehung entstammt eben nicht theoriestrategischen, sondern forschungspraktischen Erwägungen. Ich bin aber der Meinung, dass bei dieser pragmatischen Entscheidung die begrifflich-theoretische Verhältnismäßigkeit nicht gegeben ist, weil die konzeptuellen Kosten zu hoch erscheinen. Denn es tut sich ein massives Abgrenzungsproblem auf, da zunächst konkret bestimmt werden muss, welche Praxis die Bedeutung eines Diskurses in sich trägt, diesen demnach performativ aktualisiert und somit sein Fortbestehen garantiert. Und überhaupt: Ich sehe nicht, wie die Geste des Bekreuzigen, die von Schneider (Keller et al. 2015: 295–297; Bührmann/Schneider 2008: 112) als Beispiel einer nicht-diskursiven Praktik angeführt wird, nicht zur Reproduktion eines religiösen Diskurses beiträgt, da sie diesen doch gerade durch diese hoch symbolische und nach diskursiven Regeln exekutierte Geste perpetuiert (vgl. a. Link 2009: 99; Keller et al. 2015: 301).Footnote 40 Gänzlich missverständlich wird es, wenn von nicht-diskursiven Praktiken gesprochen wird, „die durch ihren Vollzug den Diskurs stützen, aktualisieren oder auch verändern“ (Bührmann/Schneider 2008: 50). Warum als „nicht-diskursiv“ betiteln, wenn sie den Diskurs stützen oder gar aktualisieren, also unmittelbar mit ihm zusammenhängen?Footnote 41

Es sind weitere theoretische Probleme mit der Unterscheidung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu registrieren: Zunächst kann eine „Konnotationskette“ beobachtet werden, die das Nicht-Diskursive mit Nicht-Sprachlichkeit zu assoziieren neigt und aus der heuristischen Unterscheidung eine (latente) theoretische macht (Langer 2008: 66), wie sich dies z. B. bei den Dispositiv-Konzeptionen von Jäger, Keller und Bührmann/Schneider andeutet (vgl. Kap. 3). Eine weitere Krux, die zu identifizieren ist: Warum wird angenommen, dass die als nicht-diskursiv bezeichneten, routinisierten Alltagspraktiken nicht an der (Re-)Produktion und Aktualisierung von Diskursen beteiligt sind? Es sind doch gerade die subtilen, alltäglichen Handlungs- und Denkvollzüge, die die spezifische Wirkmächtigkeit von Diskursen ausmachen (ähnlich: Wrana/Langer 2007: Abs. 46; Bröckling/Krasmann 2010: 24);Footnote 42 es ist doch gerade das bemerkenswerte Faktum, dass wir Menschen als gesellschaftliche Wesen unzählige Dinge in unserem Alltag tun und denken, über die wir kaum bewusst reflektieren und die diskursiv bedingt sind. Ebendiese Phänomene voreilig aus der Sphäre der Diskurse terminologisch zu verbannen, halte ich für theoretisch inkongruent und – mit Blick auf mögliche Fragestellungen sowie Untersuchungsgegenstände – geradezu fahrlässig. Die theoretische Problematik sehe ich insbesondere deshalb, da Diskurse als performative und zugleich höchst instabile Entitäten angesehen werden, die nur existieren, da sie kontinuierlich (re-)aktualisiert werden (z. B. Keller 2011a: 233; 2013a: 74; 2017b: 25 f.).Footnote 43 Und dies tun sie gerade auch über routinisierte Alltagspraktiken.

Es lässt sich resümieren, dass aus der Überlegung, dass sich die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit multimodal vollzieht, nicht per se folgt, dass damit ein weiteres Diskursverständnis als im Rahmen der WDA formuliert, z. B. im Sinne Laclau/Mouffes (2012 [1991]), verbunden sein muss, wie bisweilen postuliert. Diskurse können durchaus auf der von Keller vorgeschlagenen Abstraktionsebene liegen – also als empirisch identifizierbare Einzeldiskurse, die unterhalb der Gesamtheit vollzogener Kommunikationen lokalisiert sind – sie müssen lediglich systematisch um die Komponenten (körperliche) PraxisFootnote 44 und Materialität erweitert werden.

Letztlich unterscheiden sich beide Diskursbegriffe – der weite respektive multimodale und der offene – bei genauerer Betrachtung wenig voneinander, zumindest auf die Frage nach der prinzipiellen Wahrnehmbarkeit der Welt bezogen. In beiden Ansätzen geht es um die Herstellung von Realität, und zwar jeweils aus anti-essenzialistischer, konstruktivistischer Perspektive (Stäheli 2009: 258). Und in beiden geht es nicht nur um sprachliche Handlungen. Für die vorliegende Analyse sind die dargelegten Differenzen – gerade hinsichtlich der Frage nach diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken – am Ende von untergeordneter Relevanz, da hier auf der Ebene von einzelnen Diskursen analysiert wird und die Differenz somit für die vorliegende Analyse letztlich eine rein terminologische ist und keine analytischen Auswirkungen hat. Aus Sicht der hier verfolgten Fragestellung ist es nämlich nicht relevant, ob bestimme Elemente, Akteur*innen, Entitäten etc. in Bezug auf andere Diskurse als nicht-diskursiv bzw. nicht-diskursrelevant zu bezeichnen sind und damit insgesamt gesehen als Phänomene zu verstehen sind, die der symbolischen Sinnwelt zuzurechnen sind und gleichzeitig keinem Diskurs zugeordnet werden können. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass die dahinter stehende Frage nach den Grenzen von Diskursen keineswegs zu den „theoretischen Turnübungen“ (Keller et al. 2015: 297) zu zählen ist, wie von Schneider angemerkt, und die „wenig hilfreich (sind)“, wie Keller (2017a: 29) meint, sondern im Gegenteil als grundlagentheoretische Aufgabe der Diskurstheorie aufzufassen ist, die unbedingt weiterer Elaborationen bedarf, z. B. in Bezug auf die Frage, was konkret unter diskursiver (Re-)Produktion oder Aktualisierung zu verstehen ist und welche empirischen Bedingungen dafür erfüllt sein müssen.

Diskursimmanenz ≠ Diskursontologie

Einerlei, welchen Diskursbegriff man am Ende nutzt und wo man entsprechende die Grenzen des Diskursiven respektive von Diskursen zieht – für beide Varianten gilt es, ein weitreichendes Missverständnis zu eliminieren: Die Annahme, dass jegliche menschliche Wahrnehmung nur auf Basis diskursiv strukturierter Attribuierungsfolien vollzogen werden kann und mithin gesellschaftlich unvermittelte Erkenntnis nicht möglich ist, heißt keineswegs, dass außerhalb dieses sozialen Bedeutungsuniversums per se nichts existiere (z. B. Blumer 1973: 102 f.; Wrana/Langer 2007: Abs. 61; van Dyk 2013: 48 f.; Denninger et al. 2014: 28 ff.; van Dyk et al. 2014: 352; Keller et al. 2015: 302; Keller 2017b: 23). Mit van Dyk (2010: 173–176; 2013: 48) ist hierbei vielmehr von einem „Kategorienfehler“ auszugehen: Die „radikale Diskursimmanenz“ (2013: 49) im Sinne Laclau/Mouffes oder das Diskursverständnis der WDA, das in diesem Zusammenhang ‚partielle Diskursimmanenz‘ genannt werden kann, repräsentiert eine epistemologische und keine ontologische Aussage (vgl. a. Denninger et al. 2010: 213 f.; 2014: 29 f.). In den Worten Laclau/Mouffes (2012 [1991]: 144 f.; vgl. a. 1990: 103–109; Nonhoff 2006: 39):

„Die Tatsache, daß jedes Objekt des Diskurses konstituiert ist, hat überhaupt nichts zu tun mit dem Gegensatz von Realismus und Idealismus oder damit, ob es eine Welt außerhalb unseres Denkens gibt. Ein Erdbeben oder der Fall eines Ziegelsteins sind Ereignisse, die zweifellos in dem Sinne existieren, daß sie hier und jetzt unabhängig von meinem Willen stattfinden. (…) Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten.“

DiskursimmanenzFootnote 45 ist mithin nicht mit DiskursontologieFootnote 46 zu verwechseln: Eine rohe Realität außerhalb des Diskursiven bzw. der Gesellschaft wird keineswegs bestritten, es wird lediglich behauptet, dass diese Welt nicht diskursiv ungefiltert erkennbar ist. So besteht laut van Dyk (2013: 49) dann auch nicht die Notwendigkeit, dieses nicht-diskursive Außen über das Konzept der nicht-diskursiven Praktiken wieder einzufangen (vgl. a. Denninger et al. 2014: 30). Erkenntnistheoretisch gesprochen hängt mit dem so verfolgten methodologischen Primat des Diskurses keineswegs ein idealistisches Verständnis von Bedeutungskonstruktion zusammen, welches die Materialität der Welt allein als Produkt der menschlichen Sinngebungsprozesse versteht. Vielmehr wird ein dem Realismus zuzuschreibendes Modell vertreten, dass in Rechnung stellt, dass auch außerhalb des menschlichen Sinnkosmos’ Phänomene unabhängig davon existieren (Kögler 2007: 350; van Dyk 2010: 173 f.; 2013: 49; van Dyk et al. 2014: 351 f.).

Die Wichtigkeit der Auflösung des genannten Kategorienfehlers ergibt sich insbesondere vor dem Hintergrund, dass durch die Differenzierung von erfahrbarer Welt einerseits und ‚wirklicher‘ Welt andererseits augenfällig wird, dass die Multimodalität von Diskursen wirkmächtigen, objektivierenden Charakter besitzt, indem im Rahmen von diskursiven Körper-Artefakt-Wissens-Ensembles die wirkliche Welt erfahrbar gemacht und dadurch verändert wird. Zudem wird auf diese Weise deutlich, dass Diskurse nicht rein sprachliche Phänomene sind, sondern soziomaterielle Gebilde, die auf ko-konstruktive Prozesse der Bedeutungsproduktion zurückgehen. Ein unvermittelter Blick auf die Welt ist nicht möglich. Gerade deshalb haben nonverbale Praxis und Materialität eine beeinflussende Rolle, wie sich dieser Blick konkret konstituiert und in Diskursen manifestiert.Footnote 47 Denn die Annahme von Diskursimmanenz impliziert gerade nicht, dass nicht von einer potenziellen materialen Eigenmächtigkeit ausgegangen wird. Im Gegenteil: Vielmehr kann in Abgrenzung zur Diskursontologie betont werden, dass Artefakte und körperliches Tun eigenlogische Sinnrelevanz besitzen, die explizit auch in ihren materialen Qualitäten begründet liegen. Wie dies konkret zu verstehen ist, wird mit Fokus auf technische Artefakte im folgenden Kapitel aufgezeigt.

2.3 Diskursives Wissen in und durch technische Artefakte: Diskursive Multimodalität, techniksoziologisch gelesen

Die angenommene Multimodalität von Diskursen impliziert, dass auch gegenständliche Objekte und vor allem technische Artefakte als Teile von Diskursen verstanden werden. Was ist aber damit genau gemeint und welche forschungsperspektivischen Konsequenzen hat dies? Mit Rückgriff auf die Science and Technology Studies (STS) und spezifisch deren Teilschule, die Sociology of Technology, soll im Folgenden dargelegt werden, wie Gegenstände in Diskursen gedacht werden können und inwiefern sie sich dabei an Prozessen diskursiver Wissensproduktion beteiligen.Footnote 48 Ich werde mich dabei, wie auch im gesamten weiteren Verlauf der Arbeit, stets auf technische Artefakte konzentrieren, die im Vergleich zu natürlichen Dingen gerade aufgrund ihrer Artifizialität, des in sie eingeschriebenen diskursiven Wissens von Interesse und ohnehin aufgrund ihrer komplexeren Funktions- sowie weitverbreiteten Anwendungszusammenhänge gesellschaftlich relevanter scheinen.

Disziplingeschichtliche Hintergründe und die Entwicklung der neuen Techniksoziologie Footnote 49

Bevor ich zur Darstellung der Grundannahmen der neuen Techniksoziologie („new sociology of technology“, Bijker/Pinch 2012: xiv), als wesentlicher Teil der Science and Technology Studies, komme, soll vorab geklärt werden, von welcher ‚alten‘ sich die ‚neue‘ Techniksoziologie aus welchen theoretischen Gründen absetzt, was einen skizzenhaften Blick in die Geschichte der Wissenschafts- und Technikforschung sinnvoll macht. Dies ist auch deshalb angezeigt, da die Kontroversen (v. a. die Chicken Debate) hinter dieser disziplinären Entwicklung wichtige Frontlinien mit der Diskussion von ANT und Diskurstheorie spiegeln (vgl. z. B. Kneer 2010).

Die Geschichte der Techniksoziologie, verstanden als die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Technik, kann grob in drei Phasen differenziert werden: in eine technikdeterministisch vorgehende Anfangs-, eine sozialdeterministisch verfahrende Zwischen- und eine soziotechnisch argumentierende Gegenwartsphase (f. v. Lösch 2012: 254 f.): Während die ersten Versuche techniksoziologischen Engagements – s. z. B. Ellul (1964), Schelsky (1965), Ogburn (1969) – primär die Wirkungsrichtung Technik gen Gesellschaft im Blick hatten und dabei die analysierten Technologien als Blackboxes behandelten, diese demnach nicht selbst zum Analysegegenstand machten und deshalb technikdeterministisch argumentierten (vgl. z. B. Degele 2002: 99), kam es in der Folgephase, deren Beginn auf Mitte der 1980er-Jahre datiert werden kann, zu einer sozialdeterministischen Wende. Diese prägte vor allem der Social Construction of Technology (SCOT)-Ansatz von Pinch/Bijker (1984), der aufgrund seiner (zunächst) nur einseitigen Fokussierung auf die gesellschaftliche Aufladung technischer Artefakte, allen voran von Repräsentant*innen der Akteur-Netzwerk-Theorie, kritisiert wurde (s. u.). Die entsprechende Diskussion hat schließlich zu der aktuellen soziotechnischen Perspektive geführt, die den derzeitigen state of the art in der Techniksoziologie markiert und als gemeinsamer Fluchtpunkt der Science and Technology Studies gilt (Bijker/Pinch 2012: xvii).

Im Folgenden werde ich mich vor allem auf eine Teilschule der Science and Technology Studies konzentrieren, die new sociology of technology, die sich insbesondere aus dem SCOT-Ansatz, der Akteur-Netzwerk-Theorie und der makrosoziologisch orientierten, technikhistorischen Herangehensweise von Hughes (1983; Hughes/Mayntz 1988), zusammensetzt (Bijker/Pinch 2012: xiv). Letztere wird im Folgenden indes nicht gesondert behandelt, da Hughes zum einen keine systematischen Arbeiten zur Mensch-Artefakt-Interaktion vorgelegt hat, zum anderen die geschichtlich-genetische Dimension an dieser Stelle keine prägende Rolle spielt und diese ohnehin durch den SCOT-Ansatz hinreichend ins analytische Blickfeld gerät.

Die gesellschaftliche Konstruktion technischer Artefakte – der Social Construction of Technology (SCOT)-Ansatz

Der Social Construction of Technology-AnsatzFootnote 50 wurde wesentlich von Trevor Pinch und Wiebe E. Bijker, allen voran mit ihrem 1984 veröffentlichten programmatischen Aufsatz The Social Construction of Facts and Artefacts, geprägt.Footnote 51 Sie plädieren darin dafür, dass jener sozialkonstruktivistische Ansatz der Wissenschaftssoziologie, wie er allen voran von Bloor (1991 [1976]) und Collins (1983) unter dem Titel „strong programme“Footnote 52 geprägt wurde, auf die Analyse von Technologien zu übertragen ist, technische Artefakte demnach ebenso wie wissenschaftliches Wissen als gesellschaftliche Produkte zu verstehen sind, deren Entstehungsprozesse soziologisch rekonstruierbar sind (Pinch/Bijker 1984: 399). Ausgangspunkt war ihre Kritik an technikdeterministischen Herangehensweisen, welche die Rolle sozialer Faktoren bei der Analyse von Technologien gänzlich vernachlässigten und allein die technologischen Effekte auf das gesellschaftliche Umfeld zum Thema machten (Pinch/Bijker 1984: 404–408). Mit dieser Herangehensweise ist gleichzeitig die Annahme verbunden, dass sich technische Artefakte autonom entwickeln und einer immanenten Logik folgen, was soziologisch unhaltbar ist (Bijker 2006: 683). Eine konsequente Techniksoziologie, so ihre Forderung, behandelt Technik demgegenüber als Explanandum und in Abhängigkeit der sie umgebenden sozialen Kräfte, begreift technische Artefakte folglich – durchaus im Sinne Berger/Luckmanns (Pinch 1998: 7) – als soziale Konstrukte (Pinch/Bijker 1984: 406).

Anknüpfend an die Untersuchungsschritte, die Collins (insb. 1981, 1983) in seinem „Empirical Programme of Relativism“ (EPOR) zur empirischen Analyse der Entwicklung von wissenschaftlichem Wissen ausarbeitet, offerieren Pinch/Biker (1984: 421) ein Analysemodell, dass (1) die interpretative Flexibilität technologischer Artefakte aufzeigt –, also deren kontingenten und gesellschaftlich gemachten Charakter verdeutlicht, (2) jene Mechanismen herausarbeitet, die eine Debatte um ein technisches Artefakt (vorläufig) beenden und das Artefakt am Ende stabilisieren („closure and stabilization“) (1984: 424) und (3) das Artefakt auf dessen gesellschaftlichen Entstehungskontext bezieht („wider context“) (1984: 428; vgl. a. Potthast 2017a: 100, 104 f.). Im Anschluss an die drei Ebenen des EPOR-Models, ist laut Pinch und Bijker zunächst herauszufinden, welche gesellschaftlich verhandelten Probleme und Lösungen von einem technischen Artefakt repräsentiert werden und welche „relevant social group(s)“ dabei eine Rolle spielen (1984: 411, 414). Denn es gilt: „a problem is only defined as such, when there is a social group for which it constitutes a ‘problem’“ (1984: 414) – was freilich auch für dessen Lösung gilt. Als ‚relevante soziale Gruppe‘ können sowohl Organisationen als auch Kollektive von Individuen gelten, die untereinander die gleichen Bewertungsmuster bezüglich des betreffenden Artefakts teilen (1984: 414). Dass es verschiedene Einschätzungen eines Artefakts gibt, hängt nicht nur damit zusammen, dass die betreffenden Gruppen unterschiedliche Ansprüche an dieses haben, sondern auch damit, dass die konkrete Ausgestaltung des Artefakts selbst flexibel ist: „There is not just one possible way, or one best way, of designing an artefact“ (1984: 421). Die Diskussion um die adäquate Ausgestaltung des Artefakts mündet früher oder später in der vorläufigen Stabilisierung einer bestimmten Form des Artefakts und damit in der Schließung der einschlägigen Debatte (1984: 416, 424 f.). Dabei unterscheiden Pinch und Bijker zwei Schließungsmechanismen: Einerseits die „rhetorische Schließung“, der zugrunde liegt, dass das Artefakt stabilisiert und dass das Problem, welches die relevanten sozialen Gruppen mit dem Artefakt verbinden, als gelöst gilt (1984: 426 f.). Andererseits ist eine Schließung der Debatte durch die Redefinition des mit dem Artefakt zusammenhängenden (Haupt-)Problems möglich (1984: 427 f.). Auf die Entwicklung des Fahrradreifens bezogen, zeigen sie exemplarisch, wie ein solcher Schließungsmechanismus aussehen kann: Ging es bei der Entwicklung des luftgefüllten Fahrradreifens zunächst vor allem um die Frage des Vibrationsproblems, dass die Gruppen von Hochrad- und Niederrad-Fahrer*innen unterschiedlich bewerteten, so wurde die Aufgabe des Luftreifens im weiteren Verlauf umgedeutet und dessen Funktionalität auf eine andere Problematik bezogen: die der Fahrgeschwindigkeit. Da die Luftbereifung hinsichtlich letzterer einen deutlichen Vorteil genießt, konnte sie sich durch die Redefinition des Vibrations- in ein Geschwindigkeitsproblem am Ende durchsetzen. Diese Prozesse der Stabilisierung und Schließung sind aber nicht als ‚natürlich‘ oder ‚logisch‘, sondern stets und unvermeidlich als abhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu begreifen (1984: 428). Die dritte und letzte Ebene des von Pinch und Bijker formulierten Forschungsprogramms, die mit „wider context“ (1984: 428) überschrieben ist, betont schließlich die analytische Aufgabe, den Inhalt eines technischen Artefakts konkret auf den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu beziehen. Vor allem hinsichtlich der relevanten sozialen Gruppen gilt es dabei den Zusammenhang der entscheidenden Probleme und Funktionen, die mit dem jeweiligen Artefakt verbunden sind, mit dem erweiterten gesellschaftlichen Umfeld abzugleichen (1984: 428).

Die alleinige Fokussierung auf die Rekonstruktion des gesellschaftlichen Entwicklungsverlaufs eines Artefakts wurde, in Auseinandersetzung mit der Symmetrieforderung der ANT (s. u.), im weiteren Verlauf der Debatte aufgeben. Dieses Gebot aufnehmend und auf das SCOT-Modell anwendend, entwickelt Bijker zunächst das Konzept des „technologischen Rahmens“ (1997 [1987]: 159; 1995: 122), um die Analyse von der Mikro- auf die Meso- sowie auf Makro-Ebene zu heben (Bijker 2009: 90) und generalisierende Aussagen über Artefaktgenesen zu ermöglichen (Bijker 1993: 120). Der ‚technologische Rahmen‘ eines technischen Artefakts setzt sich demzufolge u. a. aus Theorien, impliziten Wissensbeständen, technischen Praktiken, Problemdefinitionen, Zielen und Nutzungspraktiken der ‚relevanten sozialen Gruppen‘ zusammen – also allem, was die Wahrnehmung des Artefakts seitens der Akteur*innengruppen bedingt und aus der Interaktion ebendieser entsteht (vgl. Bijker 1995: 123, 191 f.; 1997 [1987]: 168, 172). Der SCOT-Ansatz soll, so das Ziel von Bijkers SCOT-Reformulierung, durch die Einführung des ‚technologischen Rahmens‘ dynamisiert und der Fokus mehr vom einzelnen Artefakt weg hin zum Prozess des technologischen Wandels gelenkt werden (1995: 191).

Die Entwicklung des Konzepts vom ‚technologischen Rahmen‘ ist somit der erste Schritt, die wechselseitige Beziehung zwischen sozialer und materialer Welt im Rahmen des SCOT-Programms konzeptuell zu berücksichtigen. In einem weiteren Schritt führt Bijker die Idee vom „soziotechnischen Ensemble“ ein (Bijker 1993: 125, 1995: 269). Diese betont, dass das Technische nicht vom Gesellschaftlichen und das Gesellschaftliche nicht vom Technischen zu trennen ist: „The technical is socially constructed, and the social is technically constructed“ (Bijker 1995: 273). Einerseits, so die Annahme, gilt es vor diesem Hintergrund zu erörtern, inwieweit technische Artefakte mit den ihnen immanenten Eigenheiten Interaktionen beeinflussen, andererseits ist zu analysieren, wie das Artefakt seinerseits durch soziale Interaktionen und das gesellschaftliche Umfeld präformiert wird (Bijker 1996: 140). Das soziotechnische Ensemble ist somit nicht lediglich als Kombination beider Sphären zu verstehen, sondern als emergente Kategorie („sui generis“, 1996: 274), denn beide bilden zwei Seiten einer Medaille (1996: 274; 1993: 125). Das in der SCOT-Ursprungsfassung von Bloor (1991 [1976]: 4 f.) übernommene SymmetrieprinzipFootnote 53 ist konsequenterweise auf eine allgemeinere und an die ANT angelehnte Symmetrisierung zu erweitern, welche fordert, dass „die Konstruktion von Wissenschaft und Technologie und der Gesellschaft mit den gleichen Begriffen erklärt werden sollen“ (Bijker 1995: 273 f.; vgl. a. 1993: 125; Übers. S. E.).Footnote 54 Dem zuvor eingeführten Konzept des ‚technologischen Rahmens‘ kommt nun die Aufgabe zu, die heterogene Struktur des soziotechnischen Ensembles und die neuen analytischen Differenzierungen, die eben nicht auf der grundlegenden Unterscheidung von sozial und technisch fußen, analytisch zu integrieren (Bijker 1995: 276 f.) und letztlich die Entwicklung der Ensembles zu erklären helfen (Bijker 1996: 140). Aus diesen Entgrenzungsüberlegungen folgt konsequenterweise, dass die neue Untersuchungseinheit des SCOT-Ansatzes nicht mehr lediglich das einzelne technische Artefakt ist, sondern vielmehr das soziotechnische Ensemble insgesamt, das beide Wirkungsrichtungen umfasst und deren Interaktionseffekte zu berücksichtigen vermag (Bijker 1993: 125; 1995: 274; 1996: 140).

Auf forschungsprogrammatischer Ebene hat das folgende Auswirkungen: Bleiben die ersten beiden Untersuchungsebenen – das Aufzeigen der interpretativen Flexibilität eines technischen Artefakts und die Rekonstruktion ihres Stabilisierungsprozesses – unverändert, so wird nun im Rahmen des dritten Analyseschritts, der ursprünglich mit dem Terminus „wider context“ tituliert wurde, auf den ‚technologischen Rahmen‘ als führendes heuristisches Konzept zurückgegriffen, um die Erkenntnisse aus den ersten beiden Schritten vor dem Hintergrund eines weitreichenden gesellschaftstheoretischen Kontexts zu interpretieren (Bijker 2009: 90 f.). Es bildet deshalb „den Dreh- und Angelpunkt in der Analyse sozio-technischer Ensembles“ (Bijker 1996: 140), womit man in der Lage ist, die Verteilung von Aufgaben und Fähigkeiten innerhalb eines solchen Ensembles zu rekonstruieren (vgl. a. Bijker 1993: 126).

Die von Bijker angeregte Erweiterung des SCOT-Programms und die damit einhergehende Reformulierung der im Fokus stehenden Analyseeinheiten, wird auch in neueren Schriften von Pinch (2009, 2010) reflektiert und hinsichtlich der Wirkmächtigkeit von Materialität präzisiert. Im Gegensatz zu Bijker konzipiert Pinch seine Argumentation allerdings in deutlich kritischerer Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansätzen – namentlich Verbeek (2005) und Latour (1992) – und setzt sich dabei nicht nur stärker für die Beibehaltung des SCOT-Ansatzes in seiner ursprünglichen Form, sondern ebenso für die Bewahrung allgemeiner sozialkonstruktivistischer Annahmen angesichts der Rolle menschlicher Akteur*innen bei der Zuschreibung von Bedeutung und den daraus hervorgehenden Wissensordnungen ein (Pinch 2010: 86 f.). Er akzentuiert, dass die – von ihm nun ebenfalls kritisch hinterfragte – anfängliche Alleinfokussierung des SCOT-Programms auf die soziale Verfasstheit von Technologien durch die Betonung der „wechselseitigen Konstruktion“ (2009: 45; Übers. S. E.) von Technologie und Gesellschaft zu ersetzten ist. Denn in der Tat sei anzunehmen, dass „Technologie, Gesellschaft und Materialität in fortdauernder Interaktion stehen“ (2009: 45; Übers. S. E.). Soziale Prozesse sind nämlich grundsätzlich eingebettet in die „materielle Welt der Sachen“ (Pinch 2010: 81; Übers. S. E.) und diese Sphäre hat unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen. Dass damit das in den Science and Technology Studies debattierte Verhältnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen und die Frage der Handlungsträgerschaft von Technik in den Vordergrund rücken, macht es Pinch (2009: 44, 51) zufolge notwendig, auch die SCOT-Programmatik in Bezug auf ihre Haltung zu materialen Objekten zu reflektieren.

Die Einsicht, dass auch die Dinge selbst ihre Effekte haben und die Interaktion mit menschlichen Akteur*innen auch von ihrer Seite aus bedingen, führt jedoch Pinch folgend nicht zwangsläufig zur Notwendigkeit einer Symmetrisierung, wie sie in von der ANT vorgeschlagen wird (s. u.), nämlich das Menschen und Dinge als analytisch gleichrangig zu behandeln sind (2009: 51; 2010: 829). Demgegenüber will er weiterhin daran festgehalten, dass es „kein Entkommen aus der (…) Welt menschlicher Bedeutung (gibt)“ (2009: 86) und dass es vor allem die „bedeutungsvollen menschlichen Entscheidungen sind“, die es im Rahmen der soziotechnischen Analyse zu berücksichtigen gilt (2009: 87; Übers: S. E.), da „(menschliche) Bedeutungspraxis und Materialität (…) immer einen interaktiven Prozess (formen)“ (2009: 80; Übers: S. E.). Statt der Frage nach materialer Handlungsträgerschaft findet Pinch die Frage wichtiger, „wie und unter welchen Umständen Nicht-Menschen und ihre Wirkungen überhaupt erst sichtbar gemacht werden“ (2009: 51; Übers. S. E.).

Zusammenfassend gesprochen hat das ursprünglich formulierte SCOT-Modell also die konstitutive Rolle der gesellschaftlichen Rahmenbedienungen in der Entwicklung und Herstellung von technischen Artefakten betont und damit einen wichtigen Beitrag für die Soziologisierung der Technikforschung geleistet. Dabei gab es allerdings eine alleinige Fokussierung des Entwicklungsprozesses von technischen Artefakten und zunächst kein Interesse, die materialen Wirkungen auf soziale Akteur*innen und ihre Praktiken zu analysieren. Damit geht eine Haltung einher, die als Sozialdeterminismus – insbesondere vonseiten der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (s. z. B. Latour 1992; Callon 1986; Law 1986; vgl. a. Belliger/Krieger 2006: 21, 30; Wieser 2012: 52) – kritisiert und später auch von Bijker selbst als „soziale(r) Reduktionismus“ (1996: 140) etikettiert wurde. Auch Pinch akzentuierte schließlich, dass die anfängliche Fokussierung des SCOT-Programms allein auf die soziale Verfasstheit von Technologien nun der Betonung der „mutual construction“ (2009: 45) von Technologie und Gesellschaft zu weichen habe. Soziale Prozesse seien nämlich stets eingebettet in die „material world of things“ (2009: 45) und diese Sphäre habe unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen und die gesellschaftliche Ordnungsbildung (Pinch 2010: 81).

Soziotechnische Vermittlung – artefaktsoziologische Gedanken Bruno Latours

Insbesondere Bruno Latour (insb. 1996; 2002a; 2010) tat sich durch seine Lesart der Akteur-Netzwerk-TheorieFootnote 55 als Anwalt der Artefakte hervor, in dem er nachhaltig für die konsequente analytische Berücksichtigung ihrer Materialität eintrat. Er hob die konstitutive Rolle, die sie in sozialen Interaktionen einzunehmen vermögen, u. a. in mehreren Gedankenexperimenten zu Alltagsgegenständen, beharrlich hervor und baute dies zu einer (Prozess-)Soziologie der Übersetzung respektive der kollektiven Assoziation aus.Footnote 56 So verdeutlicht er beispielsweise, wie Straßen- bzw. Bodenschwellen – auch „schlafend(e) Gendarmen“ (Latour 1996: 9; 2002a: 229) genannt – moralische Imperative zur Geschwindigkeitseinhaltung überzeugender einzuklagen vermögen, als es Polizist*innen je tun könnten, weil die Autofahrer*innen Sorge um das (materielle) Wohl ihrer Fahrzeuge haben und daher vor der Bodenschwelle auf die Bremse treten (1998: 42–47; 2002a: 226–228). Die fehlende moralische Integrität der Menschen muss ebenso der speziell konzipierte Schlüsselanhänger in Hotels neutralisieren, indem er die von den Hotelier*innen unerwünschte Mitnahme der Schlüssel seitens der Gäste durch sein Gewicht und Volumen, das ihn als außerhäuslichen Begleiter lästig macht, unterbinden soll (Latour 1990a; 1996: 53–61). Gleiches gilt für den sogenannten Berliner Schlüssel, der zwei Bärte besitzt und aufgrund seiner ausgetüftelten Konzeption, die vorschreibt, dass er erst abziehbar ist, wenn die Tür verschlossen wurde, dafür Sorge tragen soll, dass die Bewohner*innen von Mehrfamilienhäusern tagsüber die Haustür nicht absperren, über Nacht aber zwangsläufig verriegeln müssen (Latour 1996: 37–51; 2015). Die defizitäre Moral des Menschen muss ebenfalls die Warnanlage im Auto kompensieren, die mit einem schrillen und auf Dauer nervtötenden Signalton den*die Fahrer*in nötigt, sich anzuschnallen (1992: 227; 1996: 28–36). Dies gilt in ähnlicher Weise für den hydraulischen Türschließer, der dauerhaft und zuverlässig – im Gegensatz zum Menschen – Türen fachgerecht schließt (1988; 1992: 227–234; 1996: 16–21, 62–73). Gerade aufgrund ihrer Ausdauer sind Artefakte laut Latour Garanten für die Härtung des Sozialen und damit für die Stabilisierung von Gesellschaft. Kurzum: „(T)echnology is society made durable“ (Latour 1990a). Denn „(j)edes Mal wenn eine Interaktion in der Zeit andauert und sich im Raum ausweitet, dann heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat.“ (Latour 2002a; 248; vgl. a. Schulz-Schaeffer 2008: 124–129)

Diese Fallstudien und der dabei konsequent auf die jeweiligen Artefakte gerichtete Blick haben ihren Ursprung in den wissenschaftsethnografischen Studien Latours zur laboratorischen Konstruktion von Wirklichkeit (Latour/Woolgar 1986; Latour 1987),Footnote 57 in denen nicht nur die kreativ-produktive Faktenherstellung von Wissenschaftler*innen detailliert beobachtet und protokolliert, sondern auch die wirkmächtige Rolle, die technische Artefakte bzw. laboratorische Instrumente dabei spielen, herausgearbeitet wurde. So wird mit dem Begriff der Inskription, der von Derrida (1998 [1974]) übernommen wird (Latour/Woolgar 1986: 88; Latour 1996: 174; 2002a: 375), jener Prozess beschrieben, wie in naturwissenschaftlichen Laboren aus materialen Substanzen und entsprechenden Experimenten schriftliche Analyseergebnisse werden (Latour/Woolgar 1986: 51; Latour 1993: 83). Eine wesentliche Rolle in diesen Inskriptionsprozessen spielen die im Zuge dessen genutzten „Inskriptionsgeräte“ („inscription device(s)“, Latour/Woolgar 1986: 51),Footnote 58 die transformierende Effekte haben, indem die textlichen bzw. visuellen Ergebnisaufbereitungen, die am Ende des Übersetzungsprozesses stehen, in neuer Form räumlich und zeitlich ver- und bearbeitet sowie problemlos kombiniert werden können. Auf diese Weise konstituieren sie laboratorische Analyseresultate als „unveränderlich mobile Elemente“ („immutable mobiles“, Latour 1987: 227, 236 f.; 1990b: 26–35), „which have the properties of being mobile but also immutable, presentable, readable and combineable with one another.“ (Latour 1990b: 26; i. O. m. Herv.) Damit geht einher, dass die zuvor eingebrachte Arbeit im Labor dekontextualisiert und von ihr abstrahiert wird, indem auf sie im Rahmen der rhetorischen Nachbearbeitung nicht mehr Bezug genommen wird, sondern nur mehr die laboratorischen Ergebnisse – ein Diagramm, ein Graph etc. – zur (Außen-)Kommunikation und Diskussion herangezogen werden (Latour 1990b: 39; 1996: 236; vgl. a. Wieser 2012: 32–34).Footnote 59 Die wissenschaftliche Tätigkeit, bestehend aus unzähligen sukzessiven Manipulationen, wird also zu einer black box, nur noch das Endresultat ist von Belang und Bezugspunkt der Folgeinteraktionen (Latour 1996: 187; 2002a: 222).

Der den Inskriptionen zugrunde liegende soziotechnische Prozess verläuft dabei in einer Kaskade ebenso zahlreicher wie transformierender Zwischenschritte. Er ist keineswegs linear und bildet im Endergebnis eine „zirkulierende Referenz“ (Latour 2002a: 36; 1996: 172), die nicht als völlig korrespondierende Referenz mit der ursprünglichen Materie aufzufassen ist (Latour 1990b: 40). Vielmehr bildet sich auf diese Weise etwas Neues aus, das nicht als einfache Abbildung der Ursprungsreferenz anzusehen ist, sondern selbst im Rahmen wissenschaftlicher Praktiken – über eine „Serie von Transformationen“ (Latour 1996: 236) – erzeugt wird (Latour/Woolgar 1986: 65; Latour 1996: 192, 238–247): „(J)eden Punkt (muss man) als eine Vermittlung begreifen, das heißt als ein Ereignis, das weder über die Investition noch über die Leistung, weder über die Gründe noch über die Konsequenzen definiert werden könnte.“ (Latour 2002a: 246)

Diesen Vorgang hat Latour in seiner wiederum ethnografischen Studie einer Expedition von Bodenkundler*innen (Pedolog*innen) im Amazonasgebiet des brasilianischen Boa Vista treffend illustriert (1996: 191–248; 2002a: 36–95). Er zeichnet dabei die Reise nach, die von der Entnahme von Bodenproben bis zur Anfertigung eines Abschlussberichts reicht, an deren Ende die Frage beantwortet werden soll, ob der Regenwald in die Savanne vordringt oder letztere in ersteren vorstößt. U. a. der im Zuge dessen genutzte und leicht transportierbare Pedokomparator, ein Kasten, der schachbrettartig in Schachteln unterteilt ist, in die die gesammelten Bodenproben platziert und schriftlich markiert werden (Latour 2002a: 61), ermöglicht in diesem Zusammenhang die ebenso kreative wie graduelle Umwandlung der ursprünglichen Bodenproben in ein schriftlich dokumentierbares, gleichzeitig stark abstrahierendes wie leicht distribuierbares Abschlussergebnis.

Latour bezeichnet die Arbeit der beteiligten Wissenschaftler*innen und der dabei genutzten Instrumente auch als „Kette von Übersetzungsprozeduren“ (1996: 194), was auf die Kernidee seiner wissenschafts- und techniksoziologischen Arbeiten verweist: die der Übersetzung, die sich in Form verschiedener Arten der Vermittlung zeigt (s. u.). Übersetzung heißt, in Anschluss an Serres (1992) und Callon (1980; 1986), keineswegs neutrale Übertragung. Sie ist viel mehr als produktiver Prozess zu verstehen, der mit einer Veränderung der jeweiligen Ausgangsbedingungen der beteiligten menschlichen wie nicht-menschlichen Entitäten einhergeht (Latour 1987: 108; 1998: 34; 2002a: 105–107, 217 f.). Übersetzung birgt „eine Verschiebung oder Versetzung, eine Abweichung, Erfindung und Vermittlung, die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert.“ (Latour 1998: 34)Footnote 60 Pointiert formuliert: Keine Übertragung von Information ohne Deformation (Latour 1999a: 153).

Wie Latour in seinen Gedankenexperimenten zu Alltagsgegenständen und durch ethnografische Erkundungen der Wissenschaftspraxis zeigt, sind gesellschaftliche Praktiken stets soziotechnisch konstituiert, d. h. sie bestehen aus Koalitionen menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten. Und es sind gerade die letztgenannten, so Latour, die nicht nur viel zu lange soziologisch missachtet wurden, sondern im Zuge gesellschaftlicher Interaktionszusammenhänge eine überaus signifikante, weil effektvolle, Rolle einnehmen. Technischen Artefakten, verstanden als vollwertig beteiligte Handlungsentitäten, wird aufgrund ihrer materialen Widerständigkeit und Eigenlogik ein produktiv-formierenden Charakter zugeschrieben, welcher die Konditionen der zugehörigen soziotechnischen Praxis verändert (Latour 1998: 32). Sie sind demgemäß als Vermittler zu verstehen, die spezifische Übersetzungsleistungen vollziehen und an sie delegierte Funktionen und Rollen ausüben (Latour 1998: 33). Und diese Vermittlungsprozesse implizieren stets Modifikationen, Verschiebungen und Verzerrungen, die durch die Hinzunahme der Artefakte erfolgen, was sich auch auf die Anwender*innen selbst bezieht (1999a: 151).

Im Sinne einer emergenten Reaktion entsteht aus der Kombination von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten etwas Neues. Latour nennt sie Hybride (Latour 1998: 34 f.; vgl. a. Roßler 2016: 22–24).Footnote 61 Dies macht Latour u. a. am Beispiel der Waffendiskussion in den USA rund um die Frage deutlich, wer denn nun für die anhaltend hohe Zahl an Tötungsdelikten durch Schusswaffengebrauch verantwortlich sei (1998: 31–35; 2002a: 214–219). Sind es die zahlreichen feindseligen Menschen, die Waffen für einschlägige Taten missbrauchen, wie es die Lobbyist*innen der National Rifle Association (NRA) nahelegen? Oder ist es schlicht die vielfache Existenz und einfache Zugänglichkeit der Waffen, die als Ursache des Gewaltproblems der USA festzumachen ist, wie Waffengegner*innen konstatieren? Latour hat eine dritte Antwortoption parat, im Rahmen dessen Schusswaffen weder als für sich genommen neutrale Technik verstanden werden, die mit den Tötungsakten selbst nichts zu tun haben, noch als alleiniger Grund für solche Taten. Vielmehr, so Latour, handelt es sich bei Situationen des Waffengebrauchs um die Verschmelzung von Waffe und Täter*in, die einen dritten Agenten hervorbringt, einen „Hybrid-Akteur aus Waffe und Schütze“ (1998: 35; 2002a: 218 f.): „Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist in deiner Hand nicht mehr dieselbe Waffe. Du als Subjekt und die Waffe als Objekt haben sich verändert, da ihr beide miteinander in eine Beziehung getreten seid.“ (1998: 34 f.)

Die Art von Vermittlung, die im Beispiel des Waffengebrauchs stattfindet, bezeichnet Latour als Interferenz bzw. Zielübersetzung, in deren Rahmen sich das HandlungsprogrammFootnote 62 – also das eingebaute Skript, was Interessen antizipiert und auf bestimmte Nutzungsweisen ausgerichtet ist (Latour 2002a: 375; vgl. a. Akrich 1992) – eines Artefakts mit den Intentionen der Nutzer*innen verknüpft. Sie ist die erste von insgesamt vier Arten technischer Vermittlung, die Latour identifiziert: (1) Interferenz, (2) Zusammensetzung, (3) Zusammenfalten von Raum und Zeit, (4) Überquerung der Grenze zwischen Zeichen und Dingen (Latour 1998: 33–45; 2002a: 216–232). Während mit Interferenz der Mechanismus benannt wird, der durch die Kombination von Mensch und Artefakt eine dritte Zieloption emergieren lässt, die sich von den solitären Vorsätzen der beteiligten Entitäten unterscheidet (1998: 33–38; 2002a: 216–219), bezieht sich die zweite Bedeutung von Vermittlung, die Zusammensetzung, auf die Kompositionen soziotechnischer Handlungen. Letztere müssen über die konkrete Zusammensetzung der beteiligten Entitäten rekonstruiert werden, was insbesondere deren Austausch von Kompetenzen in den Fokus rücken lässt (1998: 38–40; 2002a: 219–221). Drittens rekurriert Latour mit Vermittlung auf das Zusammenfalten von Raum und Zeit (oder „reversibles Blackboxing“, 2002a: 225) und verweist damit auf die Mannigfaltigkeit der zum Gelingen von Techniknutzung notwendigen Bestandteile, von denen viele im Normalbetrieb als black boxes auftreten – als unsichtbare, stumme Entitäten, die nur auffallen, wenn man das jeweilige Artefakt dekomponiert, beispielsweise im Falle einer Störung. Tut man dies tatsächlich, so zeigt sich, dass jede black box wiederum aus weiteren (unzähligen) black boxes besteht. Würde man all diese Bestandteile identifizieren wollen, müsste man Latour zufolge weit in die Zeit zurückgehen und einen weit entfernten Raum ausleuchten (1998: 40–42; 2002a: 222–226). Als vierten und wichtigsten Vermittlungsmechanismus stellt Latour die Überquerung der Grenze zwischen Zeichen und Dingen, auch Delegation genannt, vor (1998: 42–46; 2002a: 226–230). Im Zuge dessen werden nicht nur Handlungsziele übersetzt, es findet zusätzlich ein Wechsel der Ausdrucksformen, bisweilen eine materiale Veränderung, statt, indem technischen Artefakten bestimmte Funktionen übertragen werden. Wie im Falle der Bodenschwelle, die dafür sorgen soll, dass Autofahrer*innen an bestimmten Stellen zuverlässig abbremsen: „Die Ingenieure haben das Handlungsprogramm [des Abbremsens] an Beton delegiert“ (Latour 2002a: 227) und damit eine „(aktorial[e]) Verschiebung“ (2002a: 229) in Gang gesetzt, die eine räumliche und zeitliche Transformation impliziert, da die Norm der zu reduzierenden Fahrgeschwindigkeit nun zu jeder Zeit und unabhängig vom Aufenthaltsort der normierenden Institutionen respektive deren Repräsentant*innen durchgesetzt werden kann (2002a: 228–231).

Diese Arten der Beteiligung technischer Artefakte im Rahmen von Vermittlungsprozessen verdichtet Latour schließlich zu zwei möglichen Typen: Sie können einerseits als Zwischenglieder oder Mittler respektive Mediatoren aufgefasst werden, wobei erstere Kategorie deutlich seltener anzutreffen ist: „Historisch betrachtet hat es nie ein Zwischenglied gegeben, tatsächlich waren alles immer Mediatoren.“ (Latour 2013: 87; vgl. a. 2002a: 382; 2015: 24) Der Terminus Zwischenglied kennzeichnet solcher Art Artefakte, die ohne Veränderung übermitteln, also „präzise über(tragen)“ (Latour 2013: 84; vgl. a. 2002a: 223, 382; 2010: 70; 2013 [1995]: 104 f.), während Mittler bzw. Mediatoren , im Sinne produktiver Transformation, übersetzen: „Der Mediator ist derjenige, der unterbricht, verändert, Komplikationen verursacht, ablenkt …“ (Latour 2013: 84; vgl. a. 2010: 70; 2013 [1995]: 105, 109; 2015: 23).Footnote 63

In Abgrenzung zum herkömmlichen soziologischen Begriff für die Ausführenden von Handlungen schlägt Latour in der Folge seines Vermittlungsmodells vor, die nicht-menschlichen Partizipanten statt als Akteur*innen als AktantenFootnote 64 zu benennen, um den anthropozentrischen Kurzschluss, dass allein Menschen als handlungsmächtige Entitäten auftreten können, zu vermeiden (Akrich/Latour 1992: 259; Callon/Latour 1992: 347; Latour 1998: 35, 2001: 251; 2002a: 219). Der Aktantenbegriff – wie so viele andere Begriffe der ANT auch (Inskription, Präskription, Skript etc.)Footnote 65 – stammt aus der Semiologie nach Greimas (z. B. Greimas/Courtés 1982: 5)Footnote 66 und zielt auf all jene Figuren – seien sie nun menschlich oder nicht-menschlich – die in einer Narration als Partizipanten auftreten. Er verweist in seiner techniksoziologischen Wendung insbesondere darauf, dass Menschen und Artefakte gleichermaßen an Interaktionsvollzügen beteiligt sein können (Latour 1998: 35; 2002a: 372; 2012: 285). Auch, und das ist einer der wesentlichen analytischen Pointen der ANT, nicht-menschliche Entitäten werden mithin zu Handlungsträgern, indem auch ihnen die Potenz beigemessen wird, die Mit-Partizipanten um sie herum zu verändern. Handlungsfähigkeit wird somit als verteilt angesehen (Latour 2017: 90); Artefakte können als „etwas tuend, oder ein Tun veranlassend“ (Latour 2010: 92) verstanden werden, insbesondere wenn sie als Delegierte fungieren und ihnen aufgetragene Aufgaben vollziehen: „Die Dinge machen etwas, sie sind nicht nur die Fläche oder die Projektoren unseres sozialen Lebens.“ (Latour 2001: 245) Auch Artefakte können folglich „ermächtigen, ermöglichen, anbieten, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren, ausschließen und so fort“, was Latour mit dem Oberbegriff der Affordanzen – nach Gibson (1982: 137–156) – überschreibt (2002a: 250; 2010: 92).Footnote 67 Damit sind die Handlungsangebote benannt, die von Artefakten ausgehen und die Realisierung bestimmter Verhaltensweisen provozieren oder inhibieren.Footnote 68 Ein Mensch mit Hammer sei eben ein anderer als ohne entsprechendes Werkzeug (Latour 2002b: 250). Auch Artefakte sind mithin fähig, „eine gegebene Situation [zu] veränder(n), indem (…) [sie] einen Unterschied mach(en).“ (Latour 2010: 123) Dafür ist das Vermögen zur Intentionalität – wie es laut Latour bis dato in der soziologischen Theorie gemeinhin als entscheidender Indikator gelesen wurde – kein relevantes Zuweisungskriterium für Handlungsträgerschaft mehr, sondern die Fähigkeit, jenen Handlungskontext, in den der Aktant eingebettet ist, verändern zu können, auch agency genannt (Latour 2001: 246 f.; 2010: 123).Footnote 69 Handeln ist folglich keine exklusive Fähigkeit des Menschen, es ist vielmehr eine „Eigenschaft verbundener Einheiten“ und somit stets assoziativ konstituiert: „Handeln ist nicht einfach ein Vermögen von Menschen, sondern von einer Verbindung von Aktanten.“ (Latour 1998: 38; 2001: 246; 2002a: 221; 2010: 77–80)

Um diese theoretischen Prämissen methodologisch umsetzen zu können, plädiert Latour für die Beachtung eines generalisierten Symmetrieprinzips: Die an einem jeweils analysierten Kollektiv beteiligten Entitäten gilt es ohne vorherige Differenzierung, speziell hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zum intentionalen Handeln, als prinzipiell gleichrangige und potenziell gleichermaßen wirkmächtige Entitäten zu analysieren (Latour 1998: 38 f.; 2013 [1995]: 122 ff.; 2010: 131; 2013 [1995]; Law 2012 [1987]: 124). Er spitzt damit ein Prinzip zu, das Callon (1986: 200) bereits in kritischer Bezugnahme auf Bloors (1991 [1976]: 4 f.) Symmetriepostulat, wonach wissenschaftliche Wahr- und Unwahrheiten gleichermaßen erklärungsbedürftig sind, auf nicht-menschliche Handlungsträger erweitert (vgl. a. Latour 2013 [1995]: 126; Wieser 2012: 19; Gertenbach 2015: 170, 262). Ich lese das von Latour formulierte Symmetrieprinzip dabei als methodologische Heuristik und nicht als ontologische Unterscheidung,Footnote 70 was allen voran bedeutet, dass mit diesem nicht per se eine Trivialisierung des soziologischen Akteur*innenbegriffs verbunden ist, deren Identifizierung Ausgangspunkt zahlreicher kritischer Latour-Rezeptionen ist.Footnote 71 Teile dieser Kritik basieren aber auf einem Missverständnis, da Latour mitnichten konstatiert, dass Menschen und Nicht-Menschen vollständig respektive in Bezug auf ihre Intentionalitätskapazität per se gleichartig seien (vgl. a. Latour 1998: 55; 2002a: 236; 2013 [1995]: 128):

„ANT ist nicht, ich wiederhole: ist nicht, die Behauptung irgendeiner absurden ‚Symmetrie zwischen Menschen und nicht menschlichen Wesen‘. Symmetrisch zu sein bedeutet für uns einfach, nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalem Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen.“ (Latour 2010: 131; vgl. a. Callon 1992: 80)

Es geht also beim Symmetrie-, wie auch beim Aktantenkonzept lediglich darum, sowohl Menschen wie Nicht-Menschen im Sinne ihrer Handlungsmacht in soziotechnischen Interaktionskontexten in gleicher Weise Rechnung zu tragen und deren wirkmächtige Rolle nicht a priori zu negieren und folglich analytisch zu exkludieren (vgl. a. Schüttpelz 2008: 242 f.; Kneer 2010: 319 f.; Gertenbach 2015: 221; Laux 2017: 184–186).

Die soziotechnischen Übersetzungsprozesse, vornehmlich die Rolle von technischen Artefakten als Mittler, bilden den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der (frühen) ANT, weshalb Latour betont, dass „Mediologie“ eine überaus treffende Überschrift für das mit ihr verfolgte Forschungsprogramm darstellt (Latour 2013: 86).Footnote 72 Kurzum: Die Akteur-Netzwerk-Theorie in Latour’scher Diktion konstituiert eine Soziologie der soziotechnischen Übersetzung, die das Ensemble der an gesellschaftlichen Praktiken beteiligten Partizipanten auf nicht-menschliche Entitäten erweitert und analytische Konzepte bereitstellt, solche Konstellationen fokussiert und gegenstandsnah zu untersuchen.Footnote 73 Auf ebendiese Lesart der ANT stütze ich mich vorliegend und möchte sie, in Kombination mit dem Rückgriff auf den SCOT-Ansatz, für die Diskursforschung nutzbar machen.

Im weiteren Verlauf seines Schaffens hat Latour seine artefakt- und übersetzungssoziologischen Arbeiten zu einer stärker ontologisch argumentierenden Sozialtheorie erweitert, die vorliegend indes von untergeordneter Bedeutung ist, da sie einerseits Fragen behandelt, die hier nur am Rande relevant sind, andererseits einige kritische Zuspitzungen enthält, die mit einer multimodal-diskursiven Fassung von gesellschaftlicher Welt nur schwer kompatibel sind. Insbesondere mit den Weiterentwicklungen ist nämlich die grundlegende Reformulierung zentraler Begriffe der (sozial-konstruktivistischen) Soziologie verbunden: Allen voran plädiert Latour nämlich dafür, den Begriff von Gesellschaft abzulegen und durch jenen des Kollektivs und letztlich der Netzwerke zu ersetzen (z. B. 2002a: 236; 2010: 223–230).Footnote 74 Nicht zuletzt mit diesen Forderungen ist eine weitreichende Reformulierung der gängigen Sozialtheorie verbunden, wie es insbesondere Latour in der Ausweitung der ANT als politische Philosophie (2005; 2012) und allgemeiner Sozialtheorie (Latour 2010, 2014) deutlich macht (vgl. a. Gertenbach 2016; Laux 2016; Schulz-Schaeffer 2017: 273, 291).Footnote 75 Neben dem durchaus polemischen Schreibstil Latours und den zumeist holzschnittartigen Verweisen auf konkurrierende Ansätze, hat gerade die besagte Ausweitung der ANT über die Welt der Wissenschaft und Technik hinaus zu einer zunächst eher abwehrend-kritischen Rezeption seiner Schriften in der deutschsprachigen Soziologie geführt. Die nach der Ausweitung entstandenen Schriften haben wiederum die frühen, genuin wissenschafts- und techniksoziologischen Ansätze Latours rezeptionsmäßig in den Schatten gestellt,Footnote 76 da es in den auf Latours Schriften bezogenen Debatten zumeist nur noch um eine gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung ging (s. z. B. die Beiträge in Voss/Peuker 2006 u. Kneer/Schroer/Schüttpelz 2008). Dies gilt auch für die Diskurstheorie (s. z. B. Keller/Lau 2008; Keller 2017a), in deren Kontext – sicherlich auch als direkte Folge der chicken debateFootnote 77, in der die Frontstellung von ANT und Sozialkonstruktivismus überaus pointiert hervortrat – die (früheren) wissenschafts- und techniksoziologischen Konzepte von Latour bis dato nicht systematisch integriert wurden. Zumal mit dem Neuen Materialismus und insbesondere mit den Arbeiten von Barad (2007; 2012) bereits ein neuer Sparringspartner gefunden wurde (s. Keller 2017a; 2019; Lemke 2021). Diese grundlagentheoretischen Debatten sind natürlich fraglos angebracht und wichtig, sie haben allerdings dazu geführt, dass die analytischen Werkzeuge, die insbesondere der frühe Latour zur Verfügung stellt, kaum beachtet wurden und letztlich ein Versuch, Diskurstheorie und neue Techniksoziologie miteinander zu verbinden, bis dato nicht konsequent genug realisiert wurde.

New Sociology of Technology: Zusammenfassung und Kernannahmen

Anschließend an die Neuakzentuierung des SCOT-Ansatzes und mit Verweis auf die Kerngedanken der ANT, ist die analytische Losung der new sociology of technology (und der STS allgemein) also nicht mehr, die Rolle von gesellschaftlichen Faktoren in techniksoziologischen Erklärungskonzepten einseitig hervorzuheben. Vielmehr wird nun eine Analyseperspektive eingenommen, die beide Seiten gleichermaßen einbezieht. Die bis dato „missing masses“ (Latour 1992) bekommen folglich ihren gerechten Platz in der (technik-)soziologischen Analyse: Beide Sphären, Technik und Gesellschaft, sind mithin als „seamless web“ (Hughes 1986), als untrennbar miteinander verwobene Bereiche, zu verstehen und es gilt „that we think simultaneously about the social and the technological“. Denn: „(S)ocial and technical change come together, as a package, and (…) if we want to understand either, then we really have to try to understand both“ (Bijker/Law 1992: 4, 11; vgl. a. Bijker 1993: 125, 127).

Trotz aller Differenzen zwischen den unter dem Rubrum der new sociology of technology vereinigten Strömungen sind wesentliche Gemeinsamkeiten auszumachen. So teilen die Ansätze die Grundprämisse der antipositivistischen, (epistemisch-)konstruktivistischen Haltung gegenüber Technologien und der notwendigen Sensibilität gegenüber der Relevanz von Artefakten in der Gesellschaft (Bijker/Pinch 2012: xvii). Vor diesem Hintergrund und auf Basis der obigen Ausführungen sind folgende Kernannahmen der neuen Techniksoziologie festzuhalten:

  • Gesellschaft in Technik: Technologische Artefakte sind nicht rein technisch und nicht als unabhängig von gesellschaftlichen Wissensbeständen und Interessen zu verstehen. Sie weisen vielmehr spezifische, gesellschaftlich aufgeladene Inhalte auf, die sich auf den von den Entwickler*innen bzw. Investor*innen anvisierten Platz des Artefakts in der Welt beziehen und mit spezifischen Interessenlagen, Problematisierungen und Legitimierungsstrategien verbunden sind. Technik ist in diesem Sinne nie rein technisch, sondern stets – Akrich (1992) folgend – scripted technology.

  • Technizität in Gesellschaft: Gesellschaftliche Ordnungsbildung vollzieht sich unentwegt in Folge soziotechnischer Interaktionen, womit sie niemals als rein menschlich betrachtet werden kann, da stets technische Eigenarten die Interaktionen in ihrem konkreten Vollzug bedingen. Technische Artefakte haben dabei eine produktive Rolle, indem sie Übersetzungsprozesse vollziehen, die stets mit transformierenden Eingriffen einhergehen. Soziotechnische Interaktion ist folglich mit emergenten Effekten verbunden, die sich aus der spezifischen Dynamik von Mensch-Artefakt-Zusammenspielen ergeben.

  • Relationale Wissensanalyse und prozessuale Faktenproduktion: Trotz aller Unentschiedenheit in Bezug auf die (ausbleibende) Eigenapostrophierung als (sozial-)konstruktivistisch sind sich die neueren techniksoziologischen Ansätze darin einig, dass Wissenserzeugung und -stabilisierung ein soziotechnischer Prozess ist – „les faits sont faits“ (Latour 2003: 34)Footnote 78 –, der keinen unvermittelten Blick auf die Welt generiert, sondern in performativer Weise Erkenntnisgegenstände und Tatsachen herstellt und somit Realität unmittelbar und in spezifischer Weise konstituiert.

Wie können die vorgestellten Kerngedanken der new sociology of technology nun mit der Multimodalität von Diskursen verknüpft werden?

Soziotechnische (Ko-)Konstruktion diskursiven Wissens

Die Analyseperspektive der new sociology of technology gilt es nun auch für die Untersuchung multimodaler Diskurse einzunehmen. Dies bedeutet zum einen, anzuerkennen, dass technische Apparaturen mit diskursivem Wissen aufgeladen sind, da sie aus diskursiven Wissensordnungen heraus entstehen. Zum anderen impliziert dies, dass sie auch in Diskursen als Übersetzungsinstanzen (Mediatoren) fungieren, folglich auch in Diskursen „als vermittelnd(e) und transformierend(e) Aktant(en)“ (Passoth 2010: 313) anzuerkennen sind.

Technische Artefakte sind, wie besprochen, stets und unumgänglich soziotechnische Produkte, daher stets in Diskurse verwickelt. In vielen Fällen heißt dies, dass ihr innovatorischer Ursprung (un-)mittelbar auf definitionsmächtige Diskurse zurückgeht, indem die dort präsentierten Problematisierungen die Entwicklung des technischen Instruments initiiert und forciert haben. Dies schließt ein, dass ihr entsprechender Entstehungsprozess nicht teleologisch, sondern als (nicht lineare) Genese zu begreifen ist, die von diskursiven Rahmenbedingungen und sozialen Dynamiken, mithin durch Disruptionen und Diffusionen, gekennzeichnet ist. Auf technische Geneseprozesse bezogen zeigt sich die soziotechnische Hybridität von Artefakten im Aushandlungsprozess zwischen all jenen sozialen Akteur*innen- und Aktantengruppen, die einen Einfluss auf die Gestaltung, Funktionen und Einsatzzwecke der Technologie haben respektive die als Zielgruppen für den Einsatz der Technologie anvisiert werden. Dies umfasst u. a., die Einsatzrationale und Nutzer*innenerwartungen, einschließlich deren diskursiven Wissenshintergründe, zu berücksichtigen, ebenso wie zu reflektieren, welch eminente Rolle ästhetische Bezüge und Kosten-Nutzen-Kalkulationen im Entwicklungsprozess von technischen Systemen spielen (z. B. Rammert 2010: 40). All dies wirkt schließlich ein auf die Ausformung der Technologien, schreibt sich ein in jene Produkte, die am Ende des Innovationsprozesses stehen, womit diese immer auch „Ausdruck von sozialen Sinnbezügen“ und damit stets „Träger von kollektiven Wissens- und Wertschemata“ (Hörning 2001: 73) sind bzw. „kommunikativ(e) Sinnvorschl(äge)“ (Lindemann 2014: 184) darstellen, die den angemessenen Gebrauch eines Instruments und deren „standardisierte Sollnutzungen“ (2014: 186) kommunizieren.Footnote 79 Ebendiesen Punkt macht Akrich (1992: 208; 1995) mit ihrem Konzept vom „Skript“ stark, indem sie damit auf die „Vision (oder Prognose von) der Welt“ seitens der Entwickler*innen von technischen Artefakten hinweist, die sich in letztere einschreibt. Denn die an Innovationsprozessen beteiligten Personen antizipieren – im Sinne von Erwartungserwartungen (Lindemann 2017: 266) – die mögliche Rolle des Artefakts in der zukünftigen Welt und die Wünsche, Neigungen, Interessen und Probleme ihrer potenziellen Nutzer*innen. Dies geht in die Konzeption und Ausgestaltung des technischen Endprodukts ein, präformiert sein Design und seine Funktionalität in weitgehendem Maße (Akrich 1995: 168). Einem Filmskript ähnelnd, enthalten technische Artefakte mithin spezifische Vorentscheidungen, die einen artefaktbezogenen Handlungsrahmen vordefinieren, womit sie keineswegs als neutrale Aktanten in Erscheinung treten, sondern stets ausgesuchte Perspektivierungen repräsentieren, die im Rahmen ihrer Nutzung reproduziert werden. Damit erfährt das so material eingeschriebene diskursive Wissen eine physische und räumliche Ausdehnung (Krasmann 2005b: 18). Ganz im Sinne von Latours Diktum „technology is society made durable“ (1990a) hängt damit eine genuine Stabilisierungsleistung materialer Diskursträger zusammen, die „dauerhafte Depots sozialen Wissens, sozialer Fähigkeiten und Zweckmäßigkeiten“ (Schmidt 2012: 63) darstellen.

In einem weiteren Schritt ist anzuerkennen, dass technische Artefakte auch in Diskursen als Übersetzungsinstanzen auftreten und an diskursiven Prozessen der Wissensproduktion partizipieren. Dies hat zur Folge, dass das Ensemble der an der Herstellung und Stabilisierung von diskursivem Wissen beteiligten Entitäten auch auf nicht-menschliche Aktanten und speziell technische Artefakte zu erweitern ist. Denn – in Modifikation eines Zitats von Rammert/Schulz-Schaeffer (2002: 16) – es ist anzunehmen, dass die Verfügungsmacht über den Ablauf und die Existenz von Diskursen nicht allein unter menschliche Lenker*innen verteilt ist.Footnote 80 Es gilt somit, auch in der Diskursanalyse ein distributives oder relationales Verständnis von Handlung (Hirschauer 2017: 93 f.) bzw. „ein Konzept der verteilten Handlungsmacht“ (Laux 2011: 290) zu verfolgen, was keineswegs die Analyse von Interaktionen in dem Sinne verflachen soll, als nur die situative soziotechnische Performanz untersucht und keine vorgängigen Einflussfaktoren berücksichtigt würden. Damit wird vielmehr insistiert, dass Handlungsrealisierungen stets in multimodalen diskursiven Konstellationen stattfinden und dass die emergenten soziotechnischen Wechselwirkungen zu studieren sind, statt alleinig von den Intentionen des menschlichen Handelnden und ihrer diskursiven Präformierungsleistung auszugehen. Beides ist freilich höchst relevant, bildet indes nicht die einzige Handlungsquelle respektive die alleinige Quelle diskursiver Wissensproduktion (Wieser 2006: 103). Die Annahme der exklusiven Fähigkeit des Menschen, intentionale Handlungen zu vollziehen, bleibt von einer solchen Herangehensweise unberührt. Sie gilt nur nicht mehr als die alleinige Konstituente von Handlungen oder Diskursen. Dass soziotechnische Interaktionen als Kontexte verteilten Handelns begriffen werden, impliziert keineswegs, dass innerhalb dieser Relation Symmetrie herrscht respektive herrschen muss. Vielmehr ist, z. B. Schatzki folgend (2002: 105–122; 2016), trotz materialitätssensibler Perspektive davon auszugehen, dass der Mensch als Bedeutungskonstrukteur weiterhin die dominante bedeutungsproduzierende Rolle spielt.Footnote 81 Dies gilt vor allem in Diskursen, die zwar auf mannigfaltige Weise durch technische Artefakte gestützt und formiert werden, aber keineswegs allein nur aus Materialitäten bestehen. Vielmehr bedarf es zwingend menschlicher Praxis der Sinnkonstitution, um Diskurse als mehr oder minder auf Dauer gestellte Instanzen zu erschaffen und stabilisieren (vgl. a. Schmidt 2012: 69).Footnote 82

(Soziotechnische) InteraktionFootnote 83 ist folglich stets „verteiltes Handeln“ (Rammert 2016: 148), technische Artefakte fungieren mithin als wirkungsmächtige Mithandelnde in Diskursen, da sie nicht nur – im Sinne von (passiven) Diskursreferenzen – diskursive Wissensproduktion indirekt bedingen, indem sie beispielsweise an sie menschlicherseits adressierte Bedeutungszuschreibungen evozieren, die wiederum in Diskursereignisse Eingang finden und auf diese Weise den Verlauf von Diskursen prägen (z. B. in Bezug auf die Legitimierung von Kontrollmaßnahmen auf Basis der angenommenen objektiven Resultate der dabei genutzten Instrumente) (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002: 13). Sie fungieren vielmehr auch als (Ko-)Konstruktionsapparaturen, da sie – im Sinne von (aktiven) Diskurspartizipanten – wirksam in ihrer „bedeutungsprovozierenden und handlungsorientierenden Kraft“ (Hörning 2001: 76) wirkmächtig in Diskurse eingreifen.Footnote 84 Dieses transformative Vermögen von technischen Artefakten ist ein gleichermaßen situativ-performativ wie diskursiv konstituiertes, da u. a. die Anwendungsweisen und Attribuierungsmuster seitens der menschlichen Partizipant*innen, die wiederum mit situativen und diskursiven Kontext- bzw. Vorbedingungen einhergehen, diese Potenz wesentlich bedingen. Aktanten sind „Effekte gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse und aktive Kräfte.“ (Laux 2011: 295; Herv. S. E.)

Technische Artefakte als Mithandelnde zu begreifen, bedeutet, ihnen Wirkungs-Footnote 85 bzw. Handlungsmacht zuzuschreiben.Footnote 86 Sie haben – im Sinne „verändernde(r) Wirksamkeit“ (Schulz-Schaeffer 2008: 111) – die Kapazität, Verhaltens- und Bedeutungsmodifikationen hervorzurufen und folglich Handlungen und damit auch Diskurse zu verändern, indem sie die anderen Partizipanten dieser Interaktionen in ihren sinngebenden Aktivitäten beeinflussen – aus Handlungsmacht ergibt sich somit folgerichtig Diskursmächtigkeit.Footnote 87 Ich folge somit einer relationalen respektive distributiven Lesart von agency, die sich als emergentes Resultat von soziotechnischen Interaktionen realisiert. Agency wird im Folgenden als Wirkungs- bzw. Handlungsmacht verstanden, da agency erstens ein in der Tat uneindeutiger Begriff ist, zweitens oft mit Intentionalität respektive subjektivem Sinn verknüpft wird, die vorliegend ja gerade nicht als Zuweisungskriterien dienen sollen. Handlungsmacht ist somit auch nicht mit dem Terminus Handlungsfähigkeit zu verwechseln. Denn mit Verweis auf die distributive Deutung von Handlungen soll technischen Artefakten zwar durchaus Handlungsträgerschaft zugeschrieben werden, da sie im Rahmen von soziotechnischen Interaktionsgefügen wesentlich zu ihrer Realisierung beitragen und diese folglich mit ‚tragen‘ (Roßler 2007: 183).

Dabei implizieren technische Artefakte spezifische Eigenlogiken und materiale Widerständigkeiten, die bestimmte Hantierungshorizonte vorgeben und somit Praktiken der Diskurs(re)produktion mit lenken: Es ist nun mal nicht möglich, alles mit ihnen zu machen, nur ausgewählte Anwendungen sind mit ihnen (zweckdienlich) ausführbar. Zwar sind die menschlichen Anwender*innen nicht zwanghaft festgelegt auf ausgewählte Nutzungsweisen – was wiederum eine technikdeterministische Lesart implizieren würde – dennoch kann mit einem technischen Artefakt nicht beliebig umgegangen, dieses nicht gleichermaßen Erfolg versprechend für beliebige Ziele eingesetzt werden (Oudshoorn/Pinch 2003: 1 f.). In den Worten Lindemanns (2014: 187): „Der kreativen Rezeption von Technik sind (…) gewisse technische Grenzen gesetzt.“ So wird es mit einem Drogenschnelltest nicht zuverlässig möglich sein, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Umgekehrt wird es wenig gewinnbringend sein, mit einem Hammer Personen auf ihren Drogenkonsum prüfen und daraus gesellschaftlich durchsetzbare respektive diskursiv legitimierbare Interventionen abzuleiten. Technische Instrumente sind also nicht beliebig austauschbar, wodurch deren Präformierungsleistung offenkundig wird (Reckwitz 2008a: 147). Dies ist bisweilen mit einer „Handlungsmacht der Natur“ (Cuntz 2012: 34) verknüpft, die sich z. B. auf physikalische Prozesse bezieht und mitunter die Erweiterung menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit durch sinnliche Bereicherung, z. B. durch die Sichtbarmachung dem menschlichen Auge unsichtbarer Zustände, bedeuten kann. Diese physikalischen Bedingungen bedingen aber auch, ob ein technisches Artefakt funktioniert oder nicht und was mit ihm tatsächlich möglich ist.

Technische Instrumente geben auch in diskursiven Zusammenhängen spezifische Affordanzen vor, die beispielsweise durch ihr Design – im Sinne einer „Gebrauchssuggestion“ (Hirschauer 2016: 52) bzw. durch „Benutzbarkeitshinweise“ (Hausendorf/Kesselheim 2016: 64) – spezifische Verwendungsweisen nahelegen und damit die Einübung und Stabilisierung entsprechender Routinen begünstigen (Schmidt 2012: 64; Reckwitz 2016: 93). Dies gilt nicht nur für die praktische Handhabung, sondern ebenfalls für begleitende kognitive Operationen, da sie auch bestimmte Interpretationen und Sinnsetzungen nahelegen (ähnlich: Schmidt 2012: 66). Nichts anderes besagt Kaplans (1964: 28)Footnote 88 „law of the instrument“: „Give a small boy a hammer, and he will find that everything he encounters needs pounding.“ Und er ergänzt: „It comes as no particular surprise to discover that a scientist formulates problems in a way which requires for their solution just those techniques in which he himself is especially skilled.“ (1964: 28) Es findet also eine Adaption von Präferenzen und Denkbewegungen statt, eine „Verengung des Fokus’“ (Marx 2001: 15509; Übers. S. E.), in unmittelbarer Anlehnung an die Denkangebote und Interpretationsvorschläge des Artefakts, womit letzteres als Resonanzkörper für spezifische Sichtweisen, Problematisierungen und/oder Interpretationen fungieren kann.

Für Diskurse gilt also in gleichem Maße das, was Hirschauer (2017: 94) für Situationen konstatiert: Sie „sind mit Dingen, Menschen und Zeichen angefüllte Gelegenheiten, die uns etwas tun machen oder lassen.“ Man kann ergänzen: die uns etwas sehen, denken und/oder sagen lassen, indem Denk- und Blickachsen eröffnet oder verwehrt werden (Wischmann 2016: 132). Technische Artefakte fordern bestimmte Verhaltensweisen heraus, animieren zu ausgesuchten Denkbewegungen, indem sie einen spezifisch kanalisierenden Aufforderungscharakter besitzen. Dadurch wirken sie auf Diskurse ein respektive zurück (wenn sie bereits als materialisierter Ausdruck diskursiver Sinnbezüge verstanden werden), indem sie diskursive Deutungskämpfe stimulieren und gar ganze Diskurse auslösen können (Hörning 2001: 68), entsprechende Praktiken zusammenhalten sowie auf Dauer stellen und auf diese Weise als wesentliche Ressourcen zur (Re-)Produktion von Wissensordnungen in Erscheinung treten.

Die Eigenlogik technischer Artefakte, die hier als objektspezifische Typizität verstanden wird, sich eigenmächtigFootnote 89 in soziotechnischen Zusammenhängen als transformative „Ingredienzien“ (Gehring 2008: 165 f.; vgl. a. Löw 2008: 42) einzubringen. Diese Eigenlogik technischer Artefakte sollte aber nicht nur negativ definiert werden, im Sinne einer Reduktion menschlicher Handlungs- und Wissensmöglichkeiten. Viel wichtiger ist es, ihre produktive epistemische Kapazität herauszustellen, indem ihre Fähigkeit betont wird, neue Formen von Wissen, neue Sag- und Sichtbarkeiten, und damit nicht zuletzt „objektvermittelte [epistemische] Macht“ (Popitz 1992: 31) zu kreieren. Denn: Technische Artefakte sind „Mittler, die andere Mittler dazu bringen, Dinge zu tun. ‚Dazu bringen‘ ist nicht dasselbe wie ‚verursachen‘ oder ‚tun‘: Im Zentrum dieser Tätigkeit gibt es eine Verlagerung, eine Verdoppelung, einer Übersetzung, die sofort das ganze Argument modifiziert.“ (Latour 2010: 374) Die jeweils in Diskursen genutzten materialen „‚Träger‘ haben ihre eigene Logik. Sie ‚repräsentieren‘ immer das Transportierte, verändern es aber dabei.“ (Dölemeyer/Rodatz 2010: 207)

In diesem Sinne agieren Artefakte (gerade) auch in Diskursen als Interferenten, also als Beeinflussungsinstanzen sowie als potenzielle Motivatoren, indem sie ausgesuchte Verhaltensweisen und Akte der Sinngebung evozieren und auf diese Weise spezifisch kanalisierte Wissensproduktion und -stabilisierung in Diskursen bewirken.Footnote 90 Gleichermaßen können sie auch als Inhibitoren agieren, indem sie ausgewählte Handlungs- und Denkweisen blockieren, hemmen oder unwahrscheinlicher machen.

(Technische) Artefakte oder technische Systeme sind somit – der Terminologie Latours folgend – als Diskursaktanten zu begreifen, die ebenso wie menschliche Akteur*innen an diskursiven Wissensprozessen beteiligt, mithin ebenfalls als Diskursträger zu lesen sind. Der Ausdruck Aktant bietet sich an, da er – wie erläutert – eine methodologische Symmetrie von Menschen und Nicht-Menschen postuliert, die aber gerade nicht auf Basis einer Einebnung des soziologischen Kernbegriffs ‚Akteur*in‘ vollzogen wird, der von seinem wissenssoziologischen Fundament und der damit verbundenen starken Stellung individueller Sinngebungsprozesse keineswegs abgetrennt werden soll. Mit dem Aktantenbegriff soll vielmehr, in Anknüpfung an den erzähltheoretischen Herkunftskontext, das gesamte Ensemble der an Diskursen beteiligten Entitäten ins analytische Blickfeld geraten; und zwar ohne vorgefertigte Differenzierungsschablonen – z. B. hinsichtlich ihrer Fähigkeit zum intentionalen Handeln. Denn (auch) für diskursanalytische Studien ist es zunächst einerlei, auf welcher Basis der Eingriff eines technischen Artefakts in einem gegebenen Aktionszusammenhang stattfindet – ob die Intervention bewusst vollzogen wird oder ihr eine automatisierte Zielauswahl o. ä. zugrunde liegt. Wichtig ist zunächst allein, dass eine Einflussnahme stattfindet und diese wirkmächtige diskursive Folgen besitzen kann. Als Diskursaktanten sind somit alle in Diskursen wirkungsmächtige und an ihnen partizipierende Entitäten zu verstehen, wobei es keinen Unterschied macht, auf welchen Kompetenzen und Fähigkeiten sich ihre Diskursträgerschaft im Einzelnen bezieht. Als Diskursakteur*innen wiederum bezeichne ich all die menschlichen Diskurspartizipanten, die auf Basis von zeichenhafter und nicht-zeichenhafter Bedeutungsproduktion (weiterhin) wesentlichen Anteil an der Produktion und Stabilisierung von Diskursen haben. Sie sind somit als Unterklasse der Gesamtheit von Diskursaktanten zu verstehen, die aus menschlichen wie nicht-menschlichen Diskurspartizipanten besteht. Indem vorliegend also Teile der Latour’schen materialitätssensiblen Herangehensweise übernommen werden, geht damit keineswegs eine (ontologische) Reformulierung zentraler Begriffe der (Wissens-)Soziologie und/oder Diskurstheorie einher. Es wird folglich nicht geleugnet, dass zwischen Mensch und Artefakten substanzielle Unterschiede bestehen und vor allem wird nicht negiert, dass der Mensch regelmäßig die zentrale schöpferische Kraft im Rahmen von diskursiven Zusammenhängen ist. Es soll lediglich betont werden, dass Materialität die Sinngebungsprozesse des Menschen beeinflusst, aktiv in sie hineingreift und mithin im Rahmen diskurstheoretischer Vorgehensweisen konsequent zu berücksichtigen ist.

Diskursaktanten, so die weiterführende Überlegung, können direkte (‚harte‘) wie indirekte (‚weiche‘) Diskurseffekte zeitigen: Mit direkten Wirkungen sind jene Eingriffe von Artefakten in Diskurse bezeichnet, die unmittelbar über sie selbst transportiert werden und in ihrer Initialwirkung keiner menschlichen Zwischenschaltung (mehr) bedürfen, so wie z. B. die materiale Widerständigkeit im Sinne des Blockierens von Zugangswegen durch Betonbarrieren. Natürlich benötigen letztere menschliche Teilnahme, um überhaupt konzipiert und installiert zu werden. Sind sie allerdings einmal aufgestellt, haben sie völlig selbstständig einen (situativen) Effekt: Unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung werden sie das jeweilige Auto beschädigen, falls nicht rechtzeitig ausreichend gebremst wird. Damit wird also keineswegs negiert, dass die Konzeption und Produktion von solchen Durchfahrtsperren durch und durch eine soziale Angelegenheit wäre. Fokussiert wird dabei allein auf diejenigen Effekte, die solche Objekte zeitigen können, wenn sie denn einmal aufgestellt wurden. Sie verrichten ihre Aufgabe dann gänzlich unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung. Ich kann mir durchaus wünschen, sie würden mein Auto nicht beschädigen, wenn ich ungedrosselt über sie hinweg fahren würde, sie werden es gleichwohl tun. Freilich bedarf es wiederum menschlicher Bedeutungstätigkeit, damit solche direkten materialen Effekte diskursive Wirkungen entfalten, indem sie aus der jeweiligen Situation heraus in den allgemeinen diskursiven Zusammenhang getragen werden.Footnote 91 Als indirekter Effekt ist wiederum eine stets über Menschen mediatisierte Diskurswirkung des technischen Artefakts zu verstehen, so z. B. die gemeinhin angenommene Kompetenz von maschinellen Detektionsinstrumenten, objektive Ergebnisse zu generieren, die diese zu besonderen diskursiven Referenzen machen, da ihnen bestimmte Qualifikationen und Problemlösungsfähigkeiten zugeschrieben werden, was wiederum mit einer Veränderung diskursiver Bedingungen einhergeht (vgl. Kap. 7).

Aus der dargelegten Multimodalität von Diskursen folgt, mit Rückgriff auf die neue Techniksoziologie, zusammenfassend gesagt, dass die Rolle von materialen Objekten in der Diskursanalyse fokussierter zu beobachten ist und auch deren bedeutungsgenerierende respektive -verändernde (Mit-)Wirkung in Rechnung zu stellen ist. Technische Artefakte sind nicht lediglich als (zweitrangige) diskursive Effekte zu verstehen, sondern als diskursive Partizipanten, die gleichermaßen an situativer Diskurs(re)produktion beteiligt sein können wie Menschen und damit potenziell ebenfalls Effekte auf Diskurse und ihre Dynamiken haben. Auch in Diskursen treten sie als Agenzien auf, als treibende epistemische Kräfte und ebenso wirk- wie wirkungsmächtige Entitäten. Die konzeptuelle Umsetzung einer solchen soziotechnisch-diskurstheoretischen Perspektive kann – wie im Folgekapitel diskutiert wird – treffend mit Rückgriff auf den von Foucault geprägten Dispositivbegriff geschehen.