Die Alterung einer Gesellschaft ist im Gegensatz zu anderen langfristigen Entwicklungstrends zwar relativ gut prognostizierbar, die zugrunde liegenden Zusammenhänge und Auswirkungen sind allerdings ausgesprochen komplex, da sie alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betreffen. Entsprechend sind ganzheitliche Analysen und Strategien notwendig. Zivilgesellschaftliches Engagement und Inklusion zählen zu den zentralen Anliegen holistischer Lösungsansätze. Die Beiträge in dieser Sektion zeigen auf, wie die Inklusion älterer Menschen gelingen kann, welche Rolle lokale Gemeinschaften bei der pflegerischen Versorgung im häuslichen Umfeld spielen können und welche Vorteile entsprechende Lösungen bieten. Dabei wird deutlich, dass Inklusion auf kommunaler Ebene an erhebliche Voraussetzungen gebunden ist, insbesondere die Zusammenarbeit verschiedener Stakeholdergruppen.

Müntefering und Naegele erläutern aus deutscher Perspektive, wie Alterung und Pflege gesamtgesellschaftlich gestaltet und bewältigt werden können. Es geht hier zum einen um arbeitsteilig von Bund, Ländern, Kommunen, den Pflegekassen und den Familien erbrachte Leistungen, zum anderen um freiwilliges Engagement. Bei Letzterem spielen gerade auch ältere Bürger:innen selbst eine zentrale Rolle, da sie in der Regel nicht nur über fachliche und soziale Kompetenzen verfügen, sondern auch mehr Zeit aufbringen können als berufstätige Personen. Ältere Bürger:innen sind also, wie es Müntefering pointiert zusammenfasst, „nicht nur ein Problem, sie sind in großem Maße auch die Lösung.“ Freiwilliges Engagement profitiert in Deutschland von gut etablierten Strukturen in Kirchengemeinden, auf der Ebene lokaler Vereine und in politischen Parteien. Von der lokalen Verwaltung geförderte Seniorenbüros helfen zusätzlich bei der Beratung und Koordination. Vielerorts gibt es zudem sogenannte Mehrgenerationenhäuser, die Räume für intergenerationale Begegnung, Austausch und Unterstützung bieten.

Die deutsche Erfahrung zeigt, dass freiwillige Helfer:innen dann motiviert sind, wenn sie nicht nur als Arbeitskräfte eingesetzt werden, sondern auch mitentscheiden und mitgestalten können. Als neues, an der Nachbarschaftshilfe ausgerichtetes Leitbild ganzheitlicher lokaler Versorgungsstrukturen wird in Deutschland seit einigen Jahren das Konzept der „sorgenden Gemeinschaften“ diskutiert. Hier sollen im weiteren Wohnumfeld solidarisch und flexibel lokale Pflegebedarfe gedeckt werden. Bislang bleiben sorgende Gemeinschaften – von wenigen Ausnahmen abgesehen – jedoch nach Einschätzung Naegeles „ein hochvoraussetzungsvoller Zukunftsentwurf, der den flächendeckenden Praxistest erst noch bestehen muss.“

Matsuda und Fujita berichten über ganzheitliche Ansätze bei der Gestaltung der Alterung und Pflege in Japan. Die Inklusion älterer Mitbürger:innen stellt angesichts der zunehmenden sozialen Isolation alleinlebender Senior:innen eine dringliche Herausforderung dar. Beide Beiträge zeigen, dass von einer gesellschaftlichen Integration älterer Bürger:innen nicht nur diese selbst, sondern alle beteiligten Gesellschaftsgruppen profitieren können. Matsuda nennt dies ein „Rundum-Gewinnmodell“. Um ein solches Modell zu realisieren, müssen die Chancen der Alterung stärker in den Blick genommen werden. Gemeint sind damit auch innovative Geschäftsmodelle für Unternehmen, z. B. in Verbindung mit Digitalisierung und Big Data, und neue Marktchancen für Bildungseinrichtungen im Rahmen lebenslangen Lernens. Fujita zeigt, wie die Inklusion Demenzkranker im lokalen Kontext gelingen, und wie dadurch nicht nur Versorgungsengpässen begegnet werden kann. Vielmehr kann eine bessere soziale Integration älterer Menschen Demenz bereits vorbeugen bzw. den Verlauf verlangsamen helfen und den Betroffenen wie auch ihren Angehörigen ein erfüllteres Leben ermöglichen.

Es sei hier ergänzend angemerkt, dass es zu den von Fujita beschriebenen demenzfreundlichen Gemeinden in Japan Pendants in Deutschland gibt. Demenzfreundliche Kommunen sind Teil des seit 2014 bestehenden Bundesmodellprogramms „Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz“, das seinen Ursprung in der UN-Behindertenrechtskonvention zur Inklusion hat.Footnote 1 Der Fokus liegt auf der Verbesserung der häuslichen Versorgung unter Einbezug des bürgerschaftlichen Engagements. Ähnlich wie bei den sorgenden Gemeinschaften soll dazu und dadurch eine „Kultur des Helfens“ ein neues Miteinander und „Barrierefreiheit in den Köpfen“ geschaffen werden. Wichtige Kooperationspartner sind neben den Kommunen, Vereine, Unternehmen, Wohlfahrtsverbände, Kirchengemeinden, Krankenhäuser, Sozialstationen und Pflegestützpunkte, Mehrgenerationenhäuser, Seniorenbüros, Arztpraxen und Selbsthilfeorganisationen. Bis 2021 soll die Zahl der zuletzt (2018) rund 500 lokalen Versorgungsnetzwerke auf insgesamt 650 ausgeweitet werden.

Die deutschen und japanischen Beiträge weisen inhaltlich viele Gemeinsamkeiten auf. So teilen sie die Idee einer ganzheitlichen lokalen Lösungsstrategie unter Einbeziehung verschiedener Stakeholder und betonen, dass gesellschaftliche Teilhabe Teilnahme implizieren muss. Ältere Bürger:innen sind nicht nur als potenzielle Versorgungsfälle zu sehen, sondern wichtige Stützen vor allem lokaler Gemeinschaften. Alle Beiträge betonen die Bedeutung lokaler generationenübergreifender Begegnungsstätten als Orte der Beratung, Kommunikation und der gegenseitigen Unterstützung. Hier sind Kommunen gefordert, aber zum Gelingen bedarf es auch zivilgesellschaftlichen Engagements. Digitalisierung bietet neue Chancen gesellschaftlicher Teilhabe, birgt aber auch Gefahren der Exklusion. Um Letzteren entgegenzuwirken haben sich in beiden Ländern Initiativen gebildet, die sich darum bemühen, älteren Bürgern den Umgang mit digitalen Medien näher zu bringen.

Sowohl in Deutschland als auch in Japan sind umfassende Konzepte für inklusive, lokale Versorgungsstrukturen entwickelt worden. Beispiele sind die demenzfreundlichen Gemeinden und die sorgenden Gemeinschaften. Letzteren entspricht auf japanischer Seite der Entwurf eines umfassenden Pflegesystems auf Gemeindeebene, das in dem sowohl von Matsuda und als auch von Fujita erwähnten Projekt „Share Kanazawa“ umgesetzt ist. Ansätze vernetzter Versorgungsstrukturen unter Einbindung der Zivilgesellschaft gehen in Japan bis in die 70er Jahre zurück (Hatano et al., 2017). Das japanische Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt propagiert entsprechende Modelle bereits seit 2009 (MHLW, 2009) und plant bis zum Jahr 2025, wenn die Babyboomer-Generation die Altersgrenze von 75 erreichen wird, die landesweite Einrichtung entsprechender Community-Based Integrated Care SystemenFootnote 2 – ein Vorhaben, dessen Umsetzung es sich lohnt genauer zu verfolgen, gerade auch aus deutscher Sicht.

Trotz vieler Gemeinsamkeiten im Problemverständnis und bei den Lösungsansätzen gibt es auch deutliche Unterschiede, etwa bei der Konzipierung und Implementierung. Dies ist nicht zuletzt durch unterschiedliche soziale Strukturen auf Gemeindeebene bedingt. In Deutschland übernehmen Kirchengemeinden, Vereine und politische Parteien vielfach zivilgesellschaftliche Aufgaben, was so in Japan nicht möglich ist. Zu der politischen Interessenorganisation der Senioren durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), die Müntefering erwähnt und deren Vorsitz er lange Zeit innehatte, findet sich in Japan ebenfalls kein Pendant.

Japan setzt in seinen Lösungsansätzen stärker auf digitale Strategien, wie das von Matsuda angeführte „Big Data“ Projekt in Iwaki (Präfektur Aomori) zeigt. Dieser Unterschied spiegelt sich auch in den digitalen Zukunftsentwürfen beider Länder wider. Deutschlands Vision „Industrie 4.0“ ist deutlich industriefokussiert. Japans Zukunftskonzeption einer „Society 5.0“ schließt dagegen soziale Herausforderungen explizit mit ein und sieht in der Digitalisierung ein großes Inklusionspotenzial (Waldenberger, 2018).

Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass ganzheitliche Lösungsansätze in Japan, auch wenn sie gemeindebasiert sind, eher top-down konzipiert und implementiert werden, während in Deutschland die Zivilgesellschaft bereits in der Planungs- und Umsetzungsphase stärker eingebunden wird. Dies überrascht, denn in Japan verfügen Gemeinden anders als in Deutschland über ein klares Gestaltungsmandat im Bereich der Senioren- und Pflegepolitik. Allerdings fehlt es ihnen oft an finanziellen Mitteln, personellen Ressourcen, Informationen und in Folge dessen nicht zuletzt auch an Eigeninitiative, sodass man sich am Ende auf die Vorgaben und die Hilfe „von oben“ verlässt.

Bei alledem bleibt zu berücksichtigen, dass es innerhalb Japans und innerhalb Deutschlands erhebliche Unterschiede zwischen Gemeinden gibt. Diese Vielfalt auf lokaler Ebene spiegelt historisch gewachsene Unterschiede in den wirtschaftlichen, sozialen, demographischen und politischen Verhältnissen wider. Hinzukommen Zufälle oder auch Persönlichkeiten im zivilgesellschaftlichen bzw. kommunalpolitischen Umfeld, die zur rechten Zeit und am rechten Ort durch ihre Eigeninitiative und Führungsqualitäten den entscheidenden Unterschied machen.

Ganzheitliche Lösungsansätze sind wichtig, aber sie sind letztlich nur begrenzt plan- und gestaltbar, gerade weil sie so viele unterschiedliche Gruppen einzubinden versuchen und weil lokale Gegebenheiten stark variieren. Wichtig ist es, auf lokaler Ebene ein gemeinsames Problembewusstsein zu schaffen sowie Freiräume für Engagement zu bieten, um lokal vorhandene Problemlösungspotenziale mobilisieren zu können. Zugleich geht es darum, eine Kultur des Helfens in lebendigen Nachbarschaften zu fördern, ohne dabei den Einzelnen zu überfordern bzw. Privatsphären zu verletzen.