In stark und schnell alternden Gesellschaften zählt die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu den elementaren Herausforderungen. Dies gilt gleichermaßen und insbesondere für Deutschland und Japan, wo die familiale Pflege als primäre Stütze der Versorgung zunehmend in Frage gestellt wird. Gründe hierfür sind nicht allein der steigende Anteil an Älteren und Hochaltrigen. Auch die pflegerische Versorgung in den Familien, die gleichsam selbstverständlich und unhinterfragt zumeist den Frauen und dann zuvorderst den Töchtern überlassen wurde, ist nicht mehr tragfähig, weil sich traditionelle Rollenmuster auflösen, familiale Strukturen verändert haben und die jüngere Generation – in Japan mehr noch als in Deutschland – aus den Regionen in die Ballungszentren abwandert.

Vor dem Hintergrund der demografischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und der damit einhergehenden finanziellen Belastung sozialer Sicherungssysteme haben beide Länder schon sehr früh mit grundlegenden staatlichen Pflegereformen reagiert. Deutschland führte 1994/1995 und Japan im Jahr 2000 (nach dem Muster der deutschen Pflegeversicherung) eine staatliche Pflegeversicherung ein. Die in „klassisch deutscher sozialpolitischer Tradition“ folgenden Versicherungssysteme haben in beiden Ländern die zuvor geltenden, überholten und mit der steigenden Zahl Pflegebedürftiger operativ wie finanziell völlig überforderten alten Regelungsmuster – Sozialhilfe in Deutschland, Altenfürsorge in Japan – abgelöst. Allerdings gewinnen in Deutschland die Sozialhilfe und damit die Kommunen als der hier zuständige Träger zunehmend wieder an Bedeutung als sog. „Restkostenfinanzierer“, da sie die (seit Jahren wieder steigenden) sonst nicht von der Pflegeversicherung und/oder Betroffenen abgedeckten Pflegekosten übernehmen müssen.

Dennoch unterscheiden sich der deutsche und der japanische Lösungsweg in gewichtigen Teilen voneinander. Einer der markantesten Unterschiede liegt in der Zuweisung der konkreten pflegerischen Versorgungsverantwortung. In Deutschland ist diese den „unter dem Dach“ der gesetzlichen Krankenversicherung angesiedelten Pflegeversicherungen mit ihren jeweiligen Pflegekassen zugewiesen. In Japan sind die Kommunen, d. h. die Städte und Gemeinden einschließlich der 23 Sonderbezirke in Tokio dafür zuständig.

Die Beiträge in dieser Sektion analysieren die jeweiligen Lösungswege aus ihrem spezifisch nationalen Blickwinkel. Der deutsche Beitrag hebt dabei primär auf die Rechtsgrundlagen und damit zusammenhängende „Befugnislücken“ bei den Kommunen ab, während der japanische Beitrag mehr Organisation und Abläufe in den Kommunen mit einem starken Fokus auf Finanzierungsfragen thematisiert.

Für beide Länder gilt gleichermaßen, dass Pflegebedürftigkeit in erster Linie zu Hause auftritt und die davon betroffenen Menschen hier auf ihre ganz konkreten Lebensverhältnisse bezogene Hilfe und Unterstützung erwarten können. Beide Länder präferieren dabei kulturell wie politisch die häusliche Versorgung durch Angehörige, wobei sie auch auf Unterstützung durch professionelle Helfer:innen zurückgreifen können. Hier gibt es somit ein hohes Maß an Übereinstimmung in den Versorgungszielen. Demgegenüber liegen gewichtige Unterschiede in der Leistungsauswahl und Leistungsgewährung. Während in Japan das reine Sachleistungsprinzip gilt, was auch Objektförderung von Diensten und Einrichtungen einschließt, gelten in Deutschland das Sach- und Geldleistungsprinzip, d. h. die Subjektförderung durch „Pflegegeld“. Dabei ist Letzteres mit einer Nutzungsquote von weit über 75 % bei den ambulanten Pflegeleistungen dominant. Es wird von den meisten Antragstellern aus naheliegenden Gründen zuerst gewählt, ist aber in kaum zu quantifizierenden Fällen mit den Risiken von Versorgungslücken, Qualitätsmängeln und „Mitnahmeeffekten“ verknüpft (Bäcker et al., 2020; Bd. II). Auch „Versorgungsobergrenzen“ sind in beiden Ländern vorhanden. Wegen der fehlenden Regeldynamisierung der Leistungen führen sie aber in Deutschland anders als in Japan zu einer schleichenden Entwertung von Leistungen.

Die sowohl für das Sach- als auch das Geldleistungsprinzip auf Trägerseite erforderlichen Kenntnisse und Kompetenzen sind in erster Linie bei den Kommunen und ihren Diensten zu erwarten, da diese in aller Regel nicht nur mit den örtlichen Verhältnissen besser vertraut sind, sondern im Rahmen ihrer verschiedenen sozialen Dienste auch mit den konkreten Problem- und Bedarfslagen der Betroffenen und ihrer privaten Helfer:innen. Damit sollten sie besser in der Lage sein, einzelfallbezogen, möglichst passgenaue und maßgeschneiderte Hilfen bereitstellen zu können. Diese Überzeugung teilt Hiroshi Yoshida in seinem Plädoyer für eine „ungehinderte und reibungslose Umsetzung der Pflegeversicherung“. Auch das in seinem Beitrag vorgestellte, allerdings noch nicht flächendeckend eingeführte „Community-Based Integrated Care System“ (Hatano et al., 2017)Footnote 1 setzt auf eine umfassende funktionsfähige kommunale Verantwortung. Es verdient nicht zuletzt wegen seiner örtlichen Verankerung bereits heute den Ruf eines exportfähigem japanischen „Vorzeigemodells“. In diesem Sinne stellt es auch für Deutschland in wichtigen Dimensionen wie der örtlichen Vernetzung von Versorgungsbereichen, Trägern und Diensten auf digitalisierter Basis ein wegweisendes Zukunftskonzept dar.

Obwohl in Deutschland das Grundgesetz den Kommunen die Verantwortung für die „Anliegen der örtlichen Gemeinschaft“ und damit die „Daseinsvorsorge“ zugewiesen hat, obliegt im deutschen Leistungserbringungsrecht die „Letztverantwortung“ für die pflegerische Versorgung den Pflegekassen. Gerhard Igl bemängelt, dass die Kommunen dazu nicht über die „geeigneten rechtlichen Instrumente zur Gestaltung der Pflege auf ihrer Ebene“ verfügen und verweist auf die von vielen Expert:innen schon seit der Einführung der Pflegeversicherung immer wieder geforderte Ausweitung konkreter Mitgestaltungsmöglichkeiten insbesondere in den Bereichen Versorgungsplanung und Versorgungsberatung. Die von ihm in diesem Zusammenhang beklagten Probleme in der Planung und BeratungFootnote 2 erklären sich aus der für die deutsche Sozialpolitik typischen Gemengelage „organisatorischer Strukturen der sozialen Sicherheit“, d. h. aus den unterschiedlichen Einflüssen von Staatsorganisations-, Kommunal- und Sozialversicherungsrecht vor allem bei der Kranken- und Pflegeversicherung. Sie verbieten es dem Bundesgesetzgeber, also dem Staat, eine Übertragung von entsprechenden Befugnissen auf die kommunale Ebene vorzunehmen. Lediglich die Länder könnten dies tun, allerdings nur unter bestimmten Bedingungen, was aber wegen des Föderalismusprinzips im Effekt keine flächendeckende Versorgungsqualität zur Folge hätte.

Die für die konkrete örtliche Versorgungssteuerung zentralen Planungsinstrumente sind in Deutschland auf der kommunalen Ebene nicht vorgesehen und können nur von den Bundesländern, wie im Alten- und Pflegegesetz für das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen vorgesehen, beschlossen werden. Solche Beschlüsse haben allerdings nur „indikativen Charakter, weil sie lediglich Bedarfe und Möglichkeiten aufzeigen“. Die konkrete Zulassung von Einrichtungen und Diensten zur Erbringung von Pflege obliegt weiterhin den Pflegekassen. Außerdem sichert eine Länderregelung keine bundesweit einheitliche Lösung. Im Gegensatz dazu zielt Japan mit seinen „Plänen zur Unterstützung der Pflegeversicherung“ ganz offensichtlich auf flächendeckende Lösungen.

Die zweite „Funktionssperre“ für die Kommunen betrifft die Pflegeberatung und das daran anknüpfend Fallmanagement. Sie liegt nach den Vorschriften der Pflegeversicherung ebenfalls in der Zuständigkeit der Pflegekassen. Allerdings gibt das Pflegestärkungsgesetz III (2017) den Kommunen mit den Pflegestützpunkten die Möglichkeit zur direkten Intervention; dies allerdings auch nur im Rahmen von befristeten Modellvorhaben. Die grundsätzliche Zuständigkeit der Pflegekassen wird davon also nicht berührt. Eine echte Stärkung der Kommunen in der unmittelbaren Pflegeversorgungsverantwortung kann somit nach Gerhard Igl nur über eine neue Befugniszuweisung durch den Gesetzgeber ermöglicht werden. Dies aber würde einen Verzicht der Pflegekassen auf eben diese Befugnisse voraussetzen, womit kaum gerechnet werden kann. Daneben stellt sich auch die Frage, ob die speziell in Deutschland so typische Unterschiedlichkeit der Kommunen eine effiziente Befugnisnutzung nach sich ziehen würde. Denn dazu bedarf es u. a. zusätzlicher Finanzmittel und nicht zuletzt hinreichender fachlicher Kenntnisse bei den Mitarbeiter:innen, was beides nicht per se vorausgesetzt werden kann. Insofern gibt es unter vielen Expert:innen in Deutschland Zweifel daran, ob auch alle Kommunen überhaupt an dieser Befugniszuweisung interessiert, geschweige denn dazu in der Lage wären.

Eine Diskussion über eine befugnisbezogene Stärkung der Kommunen hat es in Japan – folgt man Hiroshi Yoshida – überhaupt erst gar nicht gegeben. Die japanischen Kommunen waren, als es zur Einführung der Pflegeversicherung kam, bereits von vornherein bezüglich ihrer Doppelfunktion als Verantwortungsträger und Leistungserbringer gesetzt. Allerdings verfügen auch sie – wie für die Pflegekassen in Deutschland – über das Recht zur Delegation der praktischen Leistungserbringung auf private und privatgewerbliche Träger. Dabei geraten Letztere in Deutschland wegen Mängel in der Strukturqualität und ihrer im Durchschnitt aller Anbieter niedrigeren Bezahlung der Pflegekräfte zunehmend in die Kritik. Dies scheint für Japan offensichtlich so nicht zuzutreffen. Die Zulassung privatgewerblicher Träger im Zuge der Einführung der deutschen Pflegeversicherung beurteilten viele Expert:innen hierzulande nicht nur positiv. Die privaten Anbieter traten vor allem zu den zuvor und auch heute noch im Heimsektor dominierenden Wohlfahrtsverbänden in Konkurrenz, bieten aber nicht immer auch die besseren Arbeitsbedingungen.

Die in Japan flächendeckend vorhandenen neutralen „lokalen integrierten Unterstützungszentren“ sollen im Modell des „Community-Based Integrated Care Systems“, das am Ende dieses Kapitels noch einmal genauer beschrieben wird, koordinierende und regulierende Aufgaben wahrnehmen, die sich in Deutschland viele Expert:innen für die Kommunen und deren – je nach Landesrecht – bestehenden Pflegestützpunkte wünschen. Sie auf ihre Übertragbarkeit auf das deutsche Pflegesystem hin zu evaluieren, wäre zweifellos eine wissenschaftlich wie politisch hochinteressante und lohnenswerte Aufgabe. Auch der stärkere Einbezug der in Japan bestehenden Pflegekonferenzen, die in Deutschland zudem nur in ausgewählten Bundesländern eingeführt sind, aber wegen fehlender Machtbefugnisse von vielen als „zahnlose Tiger“ bezeichnet werden (Bäcker et al., 2020, Bd. II), wäre eine lohnenswerte Weiterentwicklungsperspektive. Es spricht – bei aller Vorsicht – einiges für die Vermutung, dass aus Betroffenensicht – zumindest in wichtigen Dimensionen der pflegerischen Versorgung – der bundesdeutsche Föderalismus dem japanischen Zentralismus unterlegen zu sein scheint.

Zwei Problemkreise treffen sowohl für Japan und Deutschland gleichermaßen zu. Dies sind der Personalmangel sowie der demografisch bedingte Druck auf das Finanzierungssystem. Hierauf geht der deutsche Beitrag zwar nicht ein, die Herausforderungen sind aber bekannt und werden in anderen Beiträgen behandelt. Bei aller Komplexität könnte auch in diesen Feldern der Grundsatz „aus den Erfahrungen anderer Länder lernen“ realisierbar sein. So zeigt Deutschland beispielsweise, dass ohne Migration von Pflegefachkräften der Pflegepersonalnotstand nicht wirkungsvoll zu lösen ist. Am japanischen Beispiel wird dagegen deutlich, dass die Stabilität und Qualität der pflegerischen Versorgung in alternden Gesellschaften ohne staatlich finanzierte Regelzuschüsse nicht dauerhaft gewährleistet werden kann.

Japans „Community-Based Integrated Care System“ – Ergänzende Erläuterungen aus deutscher Sicht

In Japan soll die Pflege auf lokaler Ebene spätestens ab 2025 flächendeckend in allen japanischen Gebietskörperschaften in einem „Community-Based Integrated Care System“ (Abb. 1) eingebettet sein (Hatano et al., 2017). Dem entspricht, dass die eigentliche pflegerische Versorgung der Bevölkerung in Japan in den Kompetenzbereich der Kommunen fällt, die in Japan auch Träger der im Übrigen sonst stark am deutschen Vorbild orientierten Pflegeversicherung sind (IGES, 2020).

Das Konzept eines „Community-Based Integrated Care Systems“ zielt auf eine bessere Integration der beiden großen Versorgungsbereiche Gesundheit und Pflege, die in Japan ebenso wie in Deutschland durch zahlreiche Ein- und Abgrenzungen mit z. T. erheblichen Folgefriktionen gekennzeichnet sind, woraus hierzulande schon seit Langem die Forderung nach einer integrierten Versorgung für ältere Menschen abgeleitet wird (SVR, 2009)Footnote 3. Für das Konzept selbst gibt es folgende offizielle Definition des japanischen Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt aus dem Jahr 2013:

The integrated community care system is defined as a system in the community in which various life support services, including medical care, long-term care, preventive care, and welfare service, are provided within the elderly’s living areas for the purpose of ensuring safety/sense of security/health in their lives, with the provision of housing in accordance with their needs as a precondition. In this case an ideal integrated community care is defined as an „area where service can be provided within 30 min“ (MHLW; Ministry of Health, Labour and Welfare, 2013: 33) (zit. nach IGES, 2020: 25).

Ziel ist die Gewährleistung einer umfassenden Unterstützung „durch koordinierte medizinische, pflegerische und präventive Dienste sowie Wohnungsversorgung und Unterstützung im täglichen Leben“. Ganz wesentlich verspricht man sich dabei eine gemeindebasierte integrierte Lösung der Versorgung von Menschen mit Demenz (Shimada, 2015), deren Zahl stark ansteigt. Das System selbst beruht auf den folgenden fünf Grundpfeilern:

  1. 1.

    Verstärkung der Zusammenarbeit der Pflege mit der medizinischen Versorgung

  2. 2.

    Verbesserung und Stärkung der pflegerischen Versorgung

  3. 3.

    Förderung der präventiven Pflege

  4. 4.

    Sicherung der Versorgung mit alltäglicher Unterstützung und des Schutzes der Rechte der älteren Menschen,

  5. 5.

    Bau von Wohnungen für ältere Menschen, die das Leben auch im höheren Alter in der eigenen Wohnung ermöglichen.

Abb. 1
figure 1

Quelle: IGES 2020: 25; zit. nach: Baba (https://www.urbandesignmentalhealth.com/journal-3--japan-ltc.html)

Japans Modell eines Community-Based Integrated Care Systems.

Als wichtigste Voraussetzungen für das Funktionieren dieses neuen Systems gelten:

  • Kommunale Verantwortungsübernahme für die Pflege, idealerweise organisiert als „Alten- und demenzfreundliche Kommune“ (siehe auch den Beitrag von Ikuko Fujita in diesem Band),

  • Sicherstellung einer ambulanten Rund-um-die-Uhr-Versorgung durch die Errichtung sog. small-scale, multifunctional at-home Care (SMAC), vergleichbar mit Tagespflegeeinrichtungen,

  • Einsatz von Care-Managern,

  • Bereitschaft zur Kooperation aller lokalen Akteure, vor allem des Gesundheits- und Pflegewesens,

  • Unterstützung durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien,

  • Stärkung der digitalen Kompetenz der Zielgruppe,

  • Mobilisierung des bürgerschaftlichen Engagements,

  • Mehr professionelle Pflegefachkräfte,

  • Beachtung der privaten Lebensumstände und Bedingungen inklusive der biografischen und sozialen Rahmenbedingungen der Betroffenen.