In diesem Kapitel analysieren Experten aus Deutschland und Japan die Möglichkeiten des Einsatzes digitaler Technologien bei der Bewältigung des demographischen Wandels. In ihrem Beitrag „Partizipative Technologieentwicklung – Nutzerorientierte Innovationen“ weist Claudia Müller darauf hin, dass es bei Forschungsprojekten unter Beteiligung von Senior:innen zwei zentrale praktisch-methodische Herausforderungen gibt: zum einen die Rekrutierung eines weiteren Personenkreises und zum anderen die räumliche Eingrenzung des Untersuchungsgebietes vor allem im Hinblick auf das Quartierkonzept. Im Projekt Cognitive Village beteiligen sich unterschiedliche Akteure – zwei Dorfverwaltungen, eine Kirchengemeinde, der ansässige Hausarzt, ein Dorfladen und zahlreiche Ehrenamtlichen – an der Entwicklung von Sensortechnologien. Hervorzuheben ist, dass die hier beteiligten Senior:innen im Rahmen einer angenehmen Café-Atmosphäre nicht einfach nur als Testpersonen fungieren, sondern auch selbst Ideen einbringen und gleichzeitig als Multiplikatoren eine aktive Rolle übernehmen. Bemerkenswert ist auch die im Projekt gelungene Kombination von High-Tech-Sensortechnologie mit Low-Tech Instrumenten wie der Kirchenkamera oder dem digitalen schwarzen Brett im Dorfladen. Zur Lösung der Probleme einer alternden Gesellschaft wird nur allzu oft der Fokus auf neueste digitale Steuerungstechnologie, Robotik oder KI gelegt, d. h. Ziel ist oft, so etwas wie eine „Zukunftsvision“ wie auf einer High-Tech Ausstellung zu entwickeln. Der Beitrag von Claudia Müller macht deutlich, wie wichtig es für die Mitwirkung von Senior:innen ist, die auch für diese Gruppe leichter zugängliche Low-Tech einzusetzen.

Cornelia Kricheldorff analysiert in ihrem Beitrag „Autonomie und Selbstbestimmung im Kontext von Community Care“, wie „Rahmenbedingungen für Lebensqualität auch bei Hilfe- und Pflegebedarf geschaffen werden können“. Eine Besonderheit in Deutschland – und damit zugleich ein großer Unterschied zu Japan – ist der Einsatz von mehreren Hunderttausend Migrant:innen vor allem aus Osteuropa in der häuslichen pflegerischen Versorgung. Bemerkenswert ist weiterhin gerade auch im Vergleich zu Japan der kontinuierliche Anstieg des Anteils der häuslichen Pflege bei einem gleichzeitigen Rückgang des Anteils der stationären Pflege auf heute rund 20 %. Allerdings verdeckt dieser Anteilswert die in beiden Versorgungsbereichen stark gestiegenen Absolutzahlen. Auch wird in Deutschland die stationäre Pflege in immer kleineren Einheiten durchgeführt; von vormals über einhundert Bewohner:innen zu heute durchschnittlich nur noch 62 Personen pro Einrichtung. Dem entspricht, dass zunehmend Wert daraufgelegt, dass die Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit in den gewohnten eigenen vier Wänden leben können. Für Vergleichszwecke ist außerdem interessant, dass Deutschland den Übergang weg von ökonomisch effizienten Seniorenwohnungen hin zu dezentralisierten, in der Gemeinde verankerten Formen der Gruppenpflege, die sich u. a. auch auf Nachbarschaftshilfe stützen kann, fördert.

Am Beispiel steigender Zahlen von demenziell pflegebedürftigen Menschen in Deutschland zeigt Cornelia Kricheldorff ein bedeutsames ethisches Grunddilemma zwischen den Pflegeerfordernissen und den digitalen Möglichkeiten ihrer Unterstützung und Absicherung auf: Einerseits muss der berechtigte Wunsch auch von Menschen mit Demenz nach individueller Freiheit respektiert werden, andererseits wünschen sich immer mehr Angehörige aus Sicherheitsgründen digitales „Personentracking“. Ihr Beitrag endet mit der These, dass sich künftig Plattformen gegenseitiger Hilfe – wie z. B. die der Community Care – zusammen mit digital unterstützten Systemen zur Sicherstellung des Wohlergehens der Gepflegten und zur Entlastung der Pflegenden gegenseitig ergänzen und damit Synergien erzeugen werden. Dies dürfte den Weg zum „gelingenden Altern“ in einer langlebigen Gesellschaft weiter ebnen.

Nihoko Niitsuma veranschaulicht in ihrem Beitrag, wie Robotik Senior:innen unterstützen kann, ein selbständiges Leben aufrechtzuerhalten bzw. zu verlängern. Es wird gezeigt, wie ein Roboter Senior:innen bei Wegbeschreibungen in einem mit Sensoren bestückten Raum, dem sogenannten iSpace oder Intelligent Space, eine passende Unterstützung bieten kann. Durch das Sammeln von chronologischen Daten zu Ort, Häufigkeit und den Zyklen von Aktivitäten kann der Roboter beim Finden von Zielen oder bei der Überwachung des Wohlergehens von desorientierten Menschen eingesetzt werden.

Mihoko Niitsuma fordert in ihrem Beitrag, dass Roboter für die bessere und erfolgreiche Koexistenz mit dem Menschen künftig über gewisse soziale Kompetenzen verfügen sollten. Dazu schlägt sie das Konzept der Etho-Robotik (Ethologisch inspirierte Mensch-Roboter-Kommunikation) vor, das auf vergleichender Verhaltensforschung und Robotik basiert. Besonders interessant ist dabei die Idee des Bindungsverhaltens von Hunden als Verhaltensmodell für Roboter. Die Studie zeigt, dass dadurch positive Ergebnisse aufseiten der Nutzer gefördert werden können, wie die Freude an der Interaktion und der Wunsch zur weiteren Nutzung. Die weitere Forschung zum Bindungsverhalten von Hunden verspricht wertvolle Erkenntnisse für die „robotik-gestützte“ Pflege.

Toshihiko Hasegawa erörtert in seinem Beitrag die Notwendigkeit einer Neugestaltung der Pflege angesichts des demografischen Übergangs, demzufolge im Jahr 2060 der Anteil der über 50-Jährigen an der Gesamtbevölkerung etwa 60 % erreichen wird. Die 2016 vom japanischen Kabinettsbüro als Gegenstück zu Deutschlands Industrie 4.0 entworfene Konzeption einer Society 5.0 macht den Menschen zum Ausgangspunkt. Die darin antizipierte Verschmelzung von virtuellem und realem Raum soll nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Herausforderungen meistern helfen. Die Frage ist, wie die Pflege der Zukunft in der Society 5.0 aussehen soll. Allein in der professionellen Pflege werden in Japan 2035 etwa 790.000 Arbeitskräfte fehlen. Zur Gegensteuerung wird derzeit an einem 3-Punkte-Plan gearbeitet: die Prävention zur Vorbeugung von Pflegebedürftigkeit, die Reform der pflegerischen Versorgung mit Fokus auf professionellen Pflegediensten und Steigerung der Qualität von Pflege sowie die Förderung von integrierten gemeindebasierten Pflegesystemen in enger Kooperation mit lokalen Akteuren. Nach Ansicht von Toshihiko Hasegawa werden drei Technologiefelder eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Herausforderungen einer hochaltrigen Gesellschaft spielen: die Nanotechnologie bei der Entwicklung neuer Materialien, die Gentechnologie für die Medizin, und die Informations- und Kommunikationstechnologie für leistungsfähige digitale Netzwerke und künstliche Intelligenz.

Aus den Beiträgen können folgende Lehren gezogen werden. Erstens sollte man sich auf das Wesentliche besinnen: Wer steht eigentlich im Mittelpunkt? In der Diskussion um die Beziehung zwischen der alternden Gesellschaft und digitalen Technologien tendiert man leicht dazu, die technologischen Hilfsmittel wie Digitalisierung, KI oder Robotik in das Zentrum der Entwicklungsbemühungen zu rücken, doch damit wird das Instrument zum Zweck, und dies ist der falsche Ansatz. Die behandelten Technologien sind Instrumente, und ihr primärer Zweck ist nicht deren Perfektionierung oder Verbreitung, sondern die Verbesserung der Lebensqualität (QOL) von Senior:innen. Sie sollen dazu beitragen, auch bei Pflegebedürftigkeit oder Demenz ein Leben in Würde führen zu können. Die Senior:innen müssen im Fokus stehen, und genau das macht eine Gesellschaft mit dem Menschen im Mittelpunkt (Human Centered Society) aus.

Zweitens geht es darum, die digitale Spaltung (digital divide) in einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft möglichst klein zu halten. Wie kann die Kluft bei der Nutzung und Akzeptanz von Internet oder Smartphone beseitigt werden, die durch das zunehmende Altern der Bevölkerung, regionale Abgeschiedenheiten oder durch ein niedriges Haushaltseinkommen entsteht? Dazu ist die digitale Bildung von Senior:innen insbesondere in Japan von großer Bedeutung. So hat die schnelle Informationsversorgung und Kommunikation in den letzten Jahren bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Erdbeben unmittelbar zu einem besseren Schutz der Bevölkerung geführt. Allerdings ist es unmöglich dafür sorgen zu wollen, dass wirklich jeder ältere Mensch mit dem Smartphone und dem Tablet umgehen kann. Senior:innen, denen eine Handhabung digitaler Medien nur schwer oder im Extrem gar nicht möglich ist, müssen auch weiterhin Fernsehen und Radio nutzen können. Das entspricht der von Claudia Müller in ihrem Beitrag vertretenen Forderung einer angemessenen Kombination von High- und Low-Tech.

Um Senior:innen an digitale Technologien heranzuführen und sie damit vertraut zu machen, ist es besonders wichtig zu wissen, wie die dazu erforderlichen Kenntnisse vermittelt werden. Ein Einstieg mit Erklärungen zu den Geräten oder theoretischen Fragen wie „Was ist eigentlich das Internet?“ oder „Was bedeutet WLAN eigentlich?“ misslingt in der Regel. Erfolgversprechender ist dagegen, am Ziel, also an der angestrebten Lösung, anzusetzen und die Teilnehmenden z. B. dazu anzuregen und zu befähigen, über Videotelefon mit dem Enkel zu sprechen oder online ein Klassentreffen zu organisieren. Dazu ist eine angenehme, einladende Atmosphäre wichtig, wie etwa in dem im Beitrag von Claudia Müller erwähnten Café.

Drittens ist die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe von Senior:innen wichtig. Diejenigen, die an Forschungsprojekten wie den Living Labs zu digitaler Technik teilnehmen, sind in der Regel aktiv und problembewusst. Dabei besteht die Tendenz, dass immer wieder dieselben Personen mitwirken. Dagegen gibt es aber die große Gruppe der sogenannten „schweigenden Mehrheit“, die vielleicht Interesse hat, sich aber nicht zu einer Teilnahme entschließen kann oder sogar vollständig desinteressiert ist. Entscheidend für den Erfolg wird sein, wie es gelingen kann, diesen Personenkreis zu mobilisieren.

Dabei sollte man nicht nur auf die emotionalen Vorteile wie den Kontakt mit den Enkelkindern hinweisen, sondern verstärkt auch materielle Anreize berücksichtigen. Als positives Beispiel sei hier die Kooperation einer japanischen Kommune mit einem lokalen Geldinstitut angeführt. Die Kommune wollte mehr Bürger:innen dazu bewegen, öffentlich angebotene Gesundheitsuntersuchungen in Anspruch zu nehmen. Je mehr Bürger:innen an den Check-Ups teilnehmen, desto früher können Zivilisations- oder Krebserkrankungen erkannt werden; mit in der Konsequenz höherer Lebenserwartung in guter Gesundheit und geringeren Gesundheits- und Pflegekosten. In dieser Kommune aber war die Teilnahme von Senior:innen, Selbständigen oder Hausfrauen an den Vorsorgeuntersuchungen relativ gering. Daher wurde Kontakt mit einem lokalen Geldinstitut aufgenommen, das zu diesem Zweck ein Finanzprodukt entwickelt hat, bei dem die Sparzinsen anstelle von 0,02 % auf das Zehnfache, nämlich 0,2 %, ansteigen, für den Fall, dass man sich der Gesundheitsuntersuchung unterzieht. Mit etwa 1400 Vertragsabschlüssen und einer Einlagenhöhe von ca. einer Milliarde Yen im ersten halben Jahr nach Einführung war dieses Produkt ein durchschlagender ErfolgFootnote 1. Es waren viele Senior:innen unter den Sparer:innen. Die Anhebung der Sparzinsen erwies sich als erfolgreicher Anreiz um solche Gruppen zu mobilisieren, die man sonst nur schwer erreichen kann.

Viertens stellt sich die Frage von digitaler Technik und Ethik. Cornelia Kricheldorff weist überzeugend auf das ethische Dilemma hin, wenn Senior:innen mit Demenz digital überwacht werden. Auch Toshihiko Hasegawa sieht die Notwendigkeit, über die Gewährleistung von Datensicherheit oder über philosophische Fragen wie „Was bedeutet das Sterben?“ oder „Was bedeutet es, Menschen zu pflegen?“ nachzudenken. Bei diesen Fragen geht es in erster Linie um die Selbstbestimmung von Senior:innen. Sowohl in Deutschland als auch in Japan sollte das Ziel sein, bei eintretender Pflegebedürftigkeit oder Demenz ein Leben in Würde führen zu können. Natürlich braucht es Ratschläge von Ärzt:innen und Pflegemanager:innen, aber die letzte Entscheidung sollte von den Betroffenen selbst, gemeinsam mit ihren Familien, getroffen werden.

Der fünfte Punkt betrifft die Notwendigkeit, einen Prozess der kontinuierlichen Verbesserung in Gang zu setzen. In Japan sind Experimente mit der Teilnahme von Senior:innen nicht selten zeitlich befristet, oftmals sogar einmalige Ereignisse, die im Sande verlaufen, wenn die Fördergelder versiegen. Mihoko Niitsuma weist zu Recht darauf hin, dass es für die nachhaltige Implementierung von Robotik in der Gesellschaft unerlässlich sei, Daten zu ihrer Bewertung durch Senior:innen zu sammeln. Außerdem sollte künftig auch der Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Industrie und den Universitäten stärkeres Gewicht beigemessen werden.

Es gibt zahlreiche Bezugspunkte zwischen dieser Sektion und meinem Beitrag zur Platinum Society in Sektion 2 „Zivilgesellschaftliches Engagement und Inklusion“. In Bezug auf die Überbrückung der digitalen Kluft bei Senior:innen verfolgt beispielsweise das Projekt „IoS: Internet of Seniors“ eine sehr ähnliche Herangehensweise: Senior:innen unterrichten sich gegenseitig. Dabei werden Themen, mit denen ältere Menschen sich oftmals schwertun, von Lehrenden der gleichen Generation mehrmals und langsam erklärt, um ein sicheres Gefühl bei der Nutzung zu vermitteln. Das Beispiel „Exadon“ zur Pflegeprävention mithilfe japanischer Trommeln oder die von der Universität Hirosaki durchgeführten, umfangreichen lokalen Gesundheitsuntersuchungen zeigen, wie wichtig es ist, dass Senior:innen auch Spaß an der Teilnahme haben sollen.

In Deutschland und Japan kommt der Nutzung digitaler Technologien im Hinblick auf ein längeres Leben bei guter Gesundheit und auf Entlastungen im Pflegesektor enorme Bedeutung zu. Es wäre wünschenswert, dass das vorliegende deutsch-japanische Buchprojekt zum Anlass genommen wird, auch künftig Informationen über die zu bewältigenden Aufgaben auszutauschen und sich gegenseitig über wichtige, innovative Fallbeispiele zu informieren, um so in der Forschung und in der Praxis das Wissen zur Bewältigung der mit der Alterung verbundenen Probleme weiter zu vertiefen.