Lassen sich angesichts der in Kap. 1 vorgestellten Indikatoren – Zugehörigkeitskonzepte, Bedrohungswahrnehmungen, Gefühle gesellschaftlicher Marginalisierung und Wahrnehmung politischer Repräsentation – konsistente gesellschaftliche Gruppen bilden, die sich im Identitätskonflikt gegenüberstehen? Um diese Frage zu beantworten, nutzen wir das statistische Instrument der Clusteranalyse.Footnote 1 Eine Clusteranalyse überprüft in einem ersten Schritt angesichts aller in die Analyse gegebenen Variablen, ob sich unterschiedliche Gruppen identifizieren lassen, die sich durch sehr ähnliche Positionierungen in Bezug auf diese Variablen auszeichnen. Parallel dazu testet die Clusteranalyse in einem weiteren Schritt, wie gut sich diese Gruppen angesichts ihrer jeweiligen Positionen voneinander unterscheiden. In unserem Fall dient die Clusteranalyse damit als deskriptives Instrument, das nach Gruppen Ausschau hält, die sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeitsvorstellungen, ihrer Bedrohungswahrnehmungen sowie ihrer Gefühle der Marginalisierung und Repräsentation unterscheiden.

Die Abb. 2.1, 2.2, 2.3 und 2.4 demonstrieren die Ergebnisse einer solchen Clusteranalyse, welche die oben beschriebenen, für den Identitätskonflikt zentralen Variablen beinhaltet. In allen Ländern zeigen sich zwei gesellschaftliche Gruppen mit entgegengesetzten und weit auseinanderliegenden Positionen – hier rot und blau dargestellt –, und zwei Gruppen, welche mittlere Positionen aufweisen.Footnote 2 Wir konzentrieren uns in diesem Report auf die zwei Gruppen, welche für uns die beiden Pole des Identitätskonflikts spiegeln, die Entdecker (blau) und die Verteidiger (rot). Diese Gruppen machen in unseren Stichproben zusammen zwischen 25 % (Frankreich) und 72 % (Polen) der Befragten aus. Damit repräsentieren beide Gruppen in allen Ländern einen substantiellen Anteil an Befragten, der sich – wie das Beispiel Polens zeigt – unter bestimmten Bedingungen zu einer Mehrheit ausweiten kann. Gleichzeitig wird dadurch deutlich, dass der nationale Kontext und damit verbundene Unterschiede in der politischen Kommunikation für die Ausdifferenzierung dieser beiden Gruppen eine wichtige Rolle zu spielen scheinen.

Abb. 2.1
figure 1

Identitätskonflikt und gesellschaftliche Gruppen in Deutschland

Abb. 2.2
figure 2

Identitätskonflikt und gesellschaftliche Gruppen in Frankreich

Abb 2.3
figure 3

Identitätskonflikt und gesellschaftliche Gruppen in Schweden

Abb. 2.4
figure 4

Identitätskonflikt und gesellschaftliche Gruppen in Polen

Die durch eine rote Linie dargestellte Gruppe der Verteidiger weist in allen Ländern die höchsten Zustimmungswerte auf, wenn es um die Rolle ethnischer und religiöser Faktoren für die Zugehörigkeit und um die Wahrnehmung von Bedrohungen durch Fremdgruppen – in unserer Untersuchung Muslime und Flüchtlinge – geht. In drei von vier Ländern (Deutschland, Frankreich und Schweden) zeichnet sich diese Gruppe auch durch eine hohe Wahrnehmung an Marginalisierung – sowohl ökonomisch, politisch als auch kulturell – und ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der Repräsentation im politischen System – gemessen über Demokratiezufriedenheit und politisches Vertrauen – aus. Die blaue Linie, welche die Gruppe der Entdecker repräsentiert, verläuft hingegen nahezu spiegelverkehrt dazu. Diese Gruppe lässt hohe Ablehnungswerte gegenüber ethnisch-religiös definierten Zugehörigkeitskriterien und wenig ausgeprägte Bedrohungsgefühle erkennen. In Deutschland, Frankreich und Schweden ist in dieser Gruppe zudem das Gefühl der Marginalisierung gering und die Wahrnehmung der Repräsentation eigener Präferenzen im politischen System hoch.

Für Polen gelten jedoch andere Zusammenhänge. Zwar finden wir auch hier die beiden Gruppen der Verteidiger und der Entdecker, die im Hinblick auf den Identitätskonflikt diametrale Positionen markieren. Für Marginalisierungs- und Repräsentationsgefühle lassen sich für die beiden Gruppen jedoch ganz andere Beobachtungen machen als für ihre Pendants in Deutschland, Schweden und Frankreich. In Polen fühlt sich die rot markierte Gruppe der Verteidiger offenkundig weniger marginalisiert als dies für die Gruppe der Verteidiger in den anderen Ländern gilt und ist dementsprechend zufriedener mit der politischen Repräsentation – allerdings nur auf nationaler Ebene. Im Gegensatz hierzu zeigt die blau markierte Gruppe der Entdecker ein höheres Maß an (insbesondere politischen) Marginalisierungsgefühlen und ein geringes Maß an wahrgenommener politischer Repräsentation bezogen auf die nationale, nicht aber die internationale, d. h. europäische Ebene.

Die Abb. 2.5 verdeutlicht anhand von Prozentwerten, wie sehr sich die beiden Lager im Hinblick auf die in die Clusteranalyse aufgenommenen Variablen der Zugehörigkeitskonzepte, der Bedrohungswahrnehmungen, der gesellschaftlichen Marginalisierung und der politischen Repräsentation unterscheiden. Zudem zeigt sich für alle Länder, dass unter den Entdeckern deutlich weniger Personen mit engen Zugehörigkeitskonzepten und starken Bedrohungswahrnehmungen sind. In Deutschland, Frankreich und Schweden weist nahezu kein Entdecker einen hohen Grad an Bedrohungswahrnehmung auf, während sich in der Gruppe der Verteidiger zwischen 30 % und 64 % bedroht fühlen. In Polen finden wir zwar in beiden Gruppen jeweils höhere Werte, der Unterschied zwischen den Gruppen bleibt aber bestehen. Zwar vertreten in der Gruppe der Entdecker 48 % der Befragten ein engeres Zugehörigkeitskonzept, dieser Anteil ist aber in der Gruppe der Verteidiger in Polen fast doppelt so hoch (94 %).

Abb. 2.5
figure 5

Die Kernprofile der Entdecker und Verteidiger in Anteilen

Ein interessantes Bild ergibt sich, wenn wir die Gefühle gesellschaftlicher Marginalisierung und die Wahrnehmung politischer Repräsentation in den Blick nehmen. Für Entdecker gilt wiederum in Deutschland, Frankreich und Schweden, dass in dieser Gruppe keine Person eine kulturelle, ökonomische oder politische Marginalisierung wahrnimmt. In Polen ist dies anders, hier nehmen jeweils mehr als 30 % der Entdecker Marginalisierungen war. Politische Marginalisierung empfinden sogar fast die Hälfte der Entdecker (49 %). Vergleicht man dies mit den Verteidigern in Polen, so zeigt sich, dass sich unter diesen (deutlich) weniger Personen als politisch und kulturell, mehr hingegen aber als ökonomisch marginalisiert wahrnehmen.

Diese Unterschiede lassen sich aus unserer Sicht auf den politischen Kontext zurückführen. Im Hinblick auf die Verbreitung von Marginalisierungsgefühlen lässt sich vermuten, dass auch andere Kontextfaktoren wie etwa der gesamtgesellschaftliche Wohlstand oder das Ausmaß und die Ausgestaltung des Sozialstaates in einem Land einen Einfluss haben. So finden wir in Deutschland und Schweden insgesamt deutlich geringere Marginalisierungswahrnehmungen als in Frankreich; zudem sind in Schweden und Deutschland selbst unter den Verteidigern Wahrnehmungen ökonomischer Marginalisierung geringer ausgeprägt als Wahrnehmungen politischer und/oder kultureller Marginalisierung.

Schließlich zeigt sich auch für die Wahrnehmung politischer Repräsentation ein deutliches Bild. In der Gruppe der Entdecker ist in Deutschland, Frankreich und Schweden eine überwältigende Mehrheit an Personen mit der Demokratie zufrieden und hat Vertrauen in politische Institutionen auf nationaler und europäischer Ebene. In diesen Ländern gilt wiederum das Gegenteil für die Gruppe der Verteidiger: In dieser Gruppe ist maximal ein Drittel (in Schweden, nationales politisches Vertrauen) mit der Demokratie zufrieden und vertraut politischen Institutionen. In Frankreich gilt sogar, dass in der Gruppe der Verteidiger keiner der Befragten zufrieden mit der Demokratie ist oder den nationalen politischen Institutionen vertraut. In Deutschland sind immerhin noch 21 % zufrieden mit der Demokratie, während nur etwa 10 % den nationalen oder europäischen Akteuren vertrauen. In Polen finden wir wiederum das Muster, das der vermuteten Rolle politischer Kommunikation und Regierungsposition entspricht. Unter den Entdeckern ist niemand mit der Demokratie im Land zufrieden und nur 1 % vertraut den nationalen Institutionen. Im Gegensatz dazu finden sich unter den Verteidigern 57 % an Demokratiezufriedenen und sogar 72 %, welche nationalen politischen Institutionen vertrauen. Das Bild verändert sich, wenn die EU – als oppositionelle Kraft zu den Vorgängen auf nationaler Ebene in Polen – hinzukommt. 74 % der Entdecker zeigen Vertrauen in die EU, während dies bei den Verteidigern nur für 32 % zutrifft.

Aus unserer Sicht deuten diese Ergebnisse daraufhin, dass sich die Regierung in Polen in ihrer Kommunikation den Präferenzen der Gruppe der Verteidiger angenommen hat und diese möglicherweise bewusst verstärkt, um als Retter vor dem kulturell Anderen (Migranten, die EU, die Säkularen, Russland) die eigene Macht erhalten zu können. Durch eine solche Argumentation wird auch die Differenz zwischen politischem Vertrauen auf nationaler und europäischer Ebene erklärbar, die wir so nur bei Befragten in Polen finden. Durch die stetige Ablehnung der EU und ihrer Kritik an dem Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen kann sich die polnische Regierung als Repräsentantin der Verteidiger stilisieren (vgl. etwa Schlipphak & Treib, 2017). Wer sind aber nun die Entdecker und Verteidiger? Abb. 2.6 fokussiert zunächst auf soziodemographische und sozioökonomische Unterschiede und verdeutlicht, dass ein Entdecker relativ jung ist (außer in Deutschland), hoch gebildet, eher aus der Stadt kommt und eher nicht von sozioökonomischen Notlagen betroffen ist. Verteidiger sind im Vergleich zu den Entdeckern eher älter, ein größerer Anteil von ihnen ist niedrig gebildet (außer in Polen), sie haben ihren Wohnsitz eher in ländlichen Gebieten und besitzen häufiger einen niedrigen subjektiven sozioökonomischen Status – wiederum mit der Ausnahme von Polen.

Abb. 2.6
figure 6

Soziodemographische und sozioökonomische Profile von Entdeckern und Verteidigern

Bei den in Abb. 2.7 dargestellten soziokulturellen, religiösen und psychologischen Merkmalen sind die Unterschiede noch deutlicher. So vertrauen in Deutschland, Frankreich und Schweden zwischen 0 (Schweden) und 19 (Frankreich) % der Entdecker ihren Mitmenschen eher nicht. Bei den Verteidigern beläuft sich dieser Anteil hingegen auf zwischen 27 (Schweden) und 49 (Frankreich) %. In Polen wiederum gibt es bei diesem Merkmal zwischen Entdeckern und Verteidigern quasi keinen Unterschied. In allen Ländern sind die Verteidiger deutlich heimatverbundener und religiöser als die Entdecker, wobei die Differenz zwischen den Ländern variiert. So weisen in Schweden 13 % der Entdecker, und 18 % der Verteidiger eine hohe Religiosität auf, während in Polen 32 % der Entdecker und 80 % der Verteidiger sich selbst als religiös bzw. sehr religiös einstufen. Hervorzuheben sind auch die Unterschiede zwischen den beiden Lagern, wenn es darum geht, ob eine Gesellschaft hierarchisch strukturiert sein sollte, also stärker zwischen Stärkeren und Schwächeren unterscheiden sollte: Während zwischen 2 % (Schweden) und 13 % (Polen) der Entdecker diese Ansicht teilen, gilt dies bei den Verteidigern für einen Anteil zwischen 15 % (Frankreich) und 34 % (Deutschland).

Abb. 2.7
figure 7

Soziokulturelle, religiöse und psychologische Profile von Entdeckern und Verteidigern

In Kap. 3 werden wir mögliche Unterschiede in den Demokratiepräferenzen zwischen Entdeckern und Verteidigern untersuchen, bevor wir in Kap. 4 unsere Ergebnisse in die wissenschaftliche Literatur einbetten und vor diesem Hintergrund Implikationen für Wissenschaft und (politische) Praxis erarbeiten.