Die Soziologie als multiparadigmatische Wissenschaft (Kneer und Schroer 2009), ist, stärker als andere Wissenschaften, nur dann intersubjektiv nachvollziehbar, wenn Soziolog/-innen ihre Forschungsarbeit reflektieren und in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen explizieren. Auch die detaillierte Nachvollziehbarkeit meines Forschungsansatzes erfordert, neben einführender Kenntnisse des Felds sowie des methodologischen Vorgehens bei den Analysen (Abschnitt 1.1 und 1.2), die Klärung meiner theoretischen Grundbegriffe. Von besonderer Relevanz ist diese nicht zuletzt für die Erläuterung meines Kommunikationsbegriffs (siehe oben, Kapitel 1), der – sowohl theorie- als auch gegenstandsbezogen – auf einen verstehenden Ansatz rekurriert.

Die vorliegende Fallstudie beschäftigt sich, anders als etwa die sich ebenfalls der verstehenden Analyse sinnhafter Objektivierungen widmende Hermeneutik, nicht vorrangig mit Texten oder anderen Kulturobjekten, sondern mit der kommunikativen Vermittlung von Sinn und der kommunikativen Erzeugung von Verstehen in sozialen Situationen (Goffman 1964, 134). Diese Arbeit möchte, aus Perspektive der (phänomenologisch fundierten) verstehenden Soziologie und der neuen (und neusten) Wissenssoziologie (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966], Keller, Knoblauch und Reichertz 2013, Knoblauch 2017), auf dem Feld der (internen) Wissenschaftskommunikation, einen Beitrag zur wissenssoziologischen Kommunikationsforschung leisten. In diesem Kontext ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Kommunikation stets, selbst in den Fällen, wo sie uns in ihren scheinbar einfachen Formen (wie z. B. der Witz (Jolles 1968, 247 ff.)) begegnet, komplexe konstitutionslogische Voraussetzungen zugrunde liegen. Diese Grundbedingungen der Kommunikation resultieren daraus, dass sie (nicht allein in sozialen Situationen) ein wenigstens dyadisches Verhältnis verlangt: Sie basiert auf intersubjektivem (Sinn-)Verstehen bzw. Wissen. Dies gilt auch und insbesondere für komplexere Formen der Kommunikation, wie diejenigen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen.

Die theoretische Klärung von Begriffen wie Sinn, Verstehen, (Inter-)Subjektivität und Wissen, die gelingender Kommunikation aus Sicht interpretativer Ansätze zugrunde liegen (Knoblauch 2004b, 46, Knoblauch 2008, 70), soll den Grundstein dafür legen, zu erfassen, wie komplex die Voraussetzungen der Kommunikation sind bzw. im vorliegenden Fall betrachtet werden müssen, welche Hürden der Erzeugung von geteiltem Verständnis der (Wissens-)Kommunikation entgegenstehen und welche Gräben grundsätzlich überwunden werden müssen, wenn Menschen miteinander interagieren und kommunizieren. Die Grundbegriffe, die ich mir dazu aus der verstehenden Soziologie zu Eigen mache, entlehne ich dem Werk von Alfred Schütz und verwandter ‚Schulen‘.

2.1 Verstehende Soziologie

Traditionell gibt es, nicht allein innerhalb der Soziologie, sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sehr und wenn überhaupt, mit welchen Folgen für ihr Handeln und Kommunizieren, Menschen in ihrem Alltag mit der bewussten und subjektiv-sinnhaften Interpretation ihrer Umwelt zu tun haben (Akteurskonzept). Auch in Bereichen der Philosophie, der Psychologie, der Religion und der Biologie, um nur einige zu nennen, wird die Frage diskutiert, was in diesem Kontext Begriffe wie Sinn, Verstehen, (Inter-)Subjektivität und Wissen bedeuten und wie viel davon tatsächlich in die Bewältigung des (Alltags-)Lebens einfließt. Verläuft das Leben in – wie auch immer (biologisch, psychologisch, kulturell, metaphysisch) beschaffenen – Bahnen, die das Einzelwesen, ohne sein bewusstes Zutun, ohne seine subjektive Bewertung, weitgehend vorherbestimmen? Die jeweiligen, aus den genannten und weiteren Bereichen stammenden Antworten, gehen nicht selten, als Teil einer spezifischen Weltsicht, mit einem bestimmten Akteurskonzept einher, etwa mit Grundannahmen über die relative Freiheit oder Fremdbestimmtheit des Menschen oder über dessen Bewusstseinsbegabtheit. Dies trifft, wie wir sehen werden, wenigstens implizitFootnote 1, auch auf die (verstehende) Soziologie zu, sodass hier, im Rahmen eines etwas weiterreichenden Argumentationsbogens, auf das dieser Arbeit zugrundeliegende und aus Perspektive eines verstehenden Ansatzes skizzierte Akteurskonzept eingegangen werden soll. Aus Sicht meines Promotionsprojekts wird es dabei darum gehen, zu erläutern, wieso ich für diese Arbeit kein anderes Konzept als das der verstehenden Soziologie wählen konnte, um den offenkundig auf Inter-(Subjektivität), Verstehen und Wissen ausgelegten Kommunikationsprozessen, in dem von mir beobachteten Feld, gerecht werden zu können.

Diese Klärung ist aufgrund der eingangs erwähnten Multiparadigmatik innerhalb der Soziologie nicht trivial, in der ja prinzipiell immer gefragt werden kann, wieso man nicht einen anderen theoretischen oder methodologischen Ansatz gewählt habe. In diesem Kontext wird es hierbei auch um die Passung von Forschungsfeldern, forschungsanleitenden Theorieansätzen und Methodologien gehen, wenigstens insoweit, als es notwendig ist, um zu erläutern, wieso ein spezifisches, soziologisches Akteurskonzept mit speziellen Vorannahmen einhergeht, die wiederum eine bestimmte methodische Herangehensweise an das Feld bzw. den Forschungsgegenstand logisch erscheinen lassen.

2.1.1 Exkurs: Akteurskonzepte

Das Beispiel eines Akteurskonzepts aus der Psychologie, das für die verstehende Soziologie ex negativo von großer Bedeutung ist, stellt die zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Handlungs- bzw. Verhaltenstheorie des Behaviorismus-Begründers, John Watson, dar.Footnote 2 Seine Arbeiten wurden im Verlauf des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu einem sozialpsychologischen Entwurf umgebaut, der daraufhin und bis heute in der (verstehenden) Soziologie folgenreich rezipiert wird. Der Behaviorismus stellt daher den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Gegenstandsangemessenheit methodologischer und theoretischer Zugänge bzw. spezifischer Akteurskonzepte dar. Watson bestreitet mit seiner behavioristischen Theorie,

daß es überhaupt ein Bewußtsein gibt. […]. Er schiebt den Begriff „Geist“ oder „Bewußtsein“ als falsch zur Seite und versucht, alle „geistigen“ Phänomene auf bedingte Reflexe und ähnliche physiologische Prozesse zu reduzieren – also auf rein behavioristische Begriffe (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934], 48).

Demnach bedarf es für die Erforschung menschlichen Verhaltens bzw. Handelns (für den Behaviorismus fällt beides in eins) ebenso wenig der Berücksichtigung bewusstseinsabhängiger, subjektiver Vorgänge, wie für die Erforschung von Tierverhalten oder Unbelebtem:

Psychology, as the behaviorist views it, is a purely objective, experimental branch of natural science which needs introspection as little as do the sciences of chemistry and physics. It is granted that the behavior of animals can be investigated without appeal to consciousness. […]. The position is taken here that the behavior of man and the behavior of animals must be considered on the same plane; as being equally essential to a general understanding of behavior. It can dispense with consciousness in a psychological sense. The separate observation of ‘states of consciousness’, is, on this assumption, no more a part of the task of the psychologist than of the physicist (Watson 1913, 158).

Watson, der den Begriff Behaviorismus erstmals in die Psychologie einführt, bezieht diese Perspektive maßgeblich aus den Arbeiten des russischen Physiologen und Nobelpreisträgers Iwan Pawlow, der, u. a. anhand experimenteller Forschung an Tieren, eine Theorie der rein physiologischen Erklärung von Verhalten entwickelt. Hellmuth Plessner (2003[1935]) macht, aus Sicht der philosophischen Anthropologie, bereits früh darauf aufmerksam, dass „diese Begrenzung der Fragen und Antworten in der naturwissenschaftlichen Physiologie allerdings einschneidende Folgen“ (ebd., S. 8 f.) zeitige. Am Beispiel eines heimkehrenden Spaziergängers verdeutlicht Plessner diese Engführung:

Jemand geht spazieren, kommt nach Haus, hängt seinen Hut an den Haken und setzt sich an den Schreibtisch. Sein Verhalten stellt sich, von ihm und auch von anderen aus gesehen, als ein verständliches, weil motiviertes Gebaren dar. Er wollte frische Luft schöpfen, bevor er sich ans Arbeiten macht. Mit dieser Motivierung kann der Physiologe aber nichts anfangen, weil sie ihm den faktischen Ablauf der körperlichen Vorgänge, aus denen sich das Gebaren zusammensetzt, nicht erklärt (ebd., S. 11).Footnote 3

Stattdessen würde die naturwissenschaftliche Physiologie, im Rahmen ihres kausal-analytischen Modells des Reflexes (Reiz-Reaktions-Schema), „auf den subjektiven Aspekt der Motivierung verzicht[en] und sich auf das objektiv gegebene des körperlichen Ablaufs beschränk[en]“ (ebd.). „Grundfrage[n]“ wie die, „ob der Mensch in seinem Verhalten frei oder unfrei“ sei, ließen die Physiologie dabei ebenso „unbekümmert“ wie „methodische Bedenken“ (ebd., S. 12 f.).Footnote 4 – Interessant erscheint mir, dass Plessner zugleich mit den Grundannahmen auch die Methodologie der naturwissenschaftlichen Physiologie, in Bezug auf die Erklärung von Verhalten (bzw. Handeln), kritisiert. Unbedingt notwendig sei es, „daß sich die Physiologie auf die Abhängigkeit vom Experiment als einem die Beobachtung beeinflussenden Faktor zu besinnen lernt. Hier fällt erschwerend für die Physiologie ins Gewicht, daß sie es nicht nur mit Naturvorgängen überhaupt, sondern mit Vorgängen an Organismen zu tun hat“ (ebd., S. 28). Wie stark Grundannahmen und Methodologien wechselwirken, lässt sich in der Soziologie anhand der Koevolution verstehender Ansätze und qualitativer Methoden klar nachvollziehen.

2.1.2 Subjekt, Objekt und Intersubjektivität

Es ist der Philosoph und Sozialpsychologe George Herbert Mead, der die physiologische Unbekümmertheit von Watsons Ansatz ‚korrigiert‘ und diesen zum Sozialbehaviorismus wendet. Als Bewusstsein bezeichnet er, mit Verweis auf Wilhelm Wundt, die subjektive Grundlage des Parallelismus zwischen physischer Welt und dem „privaten Sinn“ individueller Erfahrung (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934], 70). Mead betrachtet das „Bewußtsein von erfahrenen Objekten“ (ebd., S. 208) nicht nur als konstitutionslogische Voraussetzung für die Erfahrungsbasiertheit menschlicher Weltwahrnehmung (ebd., S. 212), sondern sieht diese Prämisse gleichzeitig mit der sozialen Wirklichkeit des Menschen (empirisches Apriori von Erfahrung) untrennbar verknüpft. Er teilt dabei die Idealismuskritik z. B. des Hermeneutikers Wilhelm Dilthey, der die „Setzung eines überempirischen S[ubjekts] als ungerechtfertigten Transzendentalismus“ ablehnt (Dreisholtkamp 1998, 393).

Mead betont daher, dass seine Vorstellung vom Subjekt nicht „metaphysisch“ (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934], 79), sondern pragmatisch („funktional“; ebd., S. 153) sei: „Tatsächlich erklären wir nur, was eine Erfahrung gegenüber den Voraussetzungen ist, unter denen sie ausgelöst wird“ (ebd., S. 79). Entsprechend sieht Mead, „daß es eine enge Beziehung zwischen diesen beiden Gebieten des Psychischen und Physischen, des Privaten und Öffentlichen gibt“ (ebd.). (Hier klingt die von Goffman 30 Jahre später erinnerte, vernachlässigte soziale Situation (Goffman 1964, 134) bereits heraus.)

In Geist, Identität und Gesellschaft (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934]), einer drei Jahre nach Meads Tod veröffentlichten Mitschrift seiner Vorlesung zur Sozialpsychologie, die er in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kontinuierlich hält und weiterentwickelt, geht Mead der Frage nach der Entstehung individueller Identität (ebd., S. 187 ff.) nach. Er stellt fest, dass die soziale Person (Identität) nicht mit der grundlegenden Bewusstseinsfunktion allgemeiner Welterfahrung (physiologische Subjektivität) verwechselt werden dürfe:

Wir können die Identität nicht mit dem Bewußtsein identifizieren, d.h. mit dem privaten oder subjektiven Vorhandensein der Merkmale von Objekten (ebd., S. 212).

Physiologische Subjektivität ist nicht dasselbe wie soziale Identität; Ich ist also nicht sein Bewusstsein, die Gleichsetzung führt in den Egologismus. Mead fragt daher, wie ein Individuum sich selbst als ein spezifisches Ich bewusst sein kann (Identität), um anschlussfähig in die Welt hinaus kommunizieren zu können, d. h. um zu verstehen, was in dieser Welt – einschließlich es selbst – welche Bedeutung trägt. Identität, so schließt Mead aus seinen Studien, das Ich, das sich selbst gegenüber zum Objekt wird, basiere zwar auf Funktionen des Gehirns (physiologischer Prozess des Bewusstseins; ebd., S. 153), bilde sich aber erst in der Sozialwelt heraus, durch „bewußte Kommunikation, [die] bewußte Übermittlung von Gesten zwischen den sich gegenseitig beeinflussenden Organismen“ (ebd. S. 215, Hervorhebung R.W.): „Nur innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses auf seinen höheren Ebenen, […] wird der ganze Organismus sich selbst zum Objekt und damit selbst-bewußt“ (ebd.).

Meads Sozialpsychologie, die aus der Kritik an Watsons Behaviorismus hervorgegangen ist, ist in verschiedene ‚Schulen‘ der verstehenden Soziologie z. T. an zentraler Stelle eingeflossen: Zum einen bildet Meads relationales Identitätskonzept das Herzstück der Sozialisationstheorie in der neuen Wissenssoziologie (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966]), die sich außerdem vor allem auf die phänomenologische Soziologie von Schütz beruft, zum anderen gilt seine Arbeit als bedeutendste Ideenquelle des ebenfalls der verstehenden Soziologie zuzurechnenden symbolischen Interaktionismus (Keller 2012, 83 ff.).

In der Soziologie bildet der Streit um die Bedeutung von ein Bewusstsein voraussetzenden Begriffen wie Sinn und Verstehen für die (soziologische) Reflexion von Handeln seither, d. h. unter dem Einfluss von u. a. Schütz, Mead und Max Weber, zwei unterschiedliche Lager, denen sich die einzelnen Schulen, Theorie- oder Methodengruppen (nicht immer ganz eindeutig; (ebd., S. 16 f.)) zuordnen lassen. Seit den 1970er Jahren ist in diesem Streit auch die Unterscheidung zwischen normativem und interpretativem Paradigma (Wilson 1970, 698 ff.) geläufig. Die so begrifflich gefasste, dichotome Differenzierung von Ansätzen der Soziologie, wurde von dem Soziologen Thomas P. Wilson in einem Aufsatz für die American Sociological Review (1970) vorgeschlagen. Wilson entwickelt seine Kategorisierung hinsichtlich des interpretativen Paradigmas maßgeblich anhand des von Mead inspirierten symbolischen Interaktionismus (Blumer) und der von Schütz inspirierten Ethnomethodologie (Garfinkel). Für die Konzeption des normativen Paradigmas orientiert er sich hauptsächlich am Strukturfunktionalismus (Parsons). In Hinblick auf die (situative) Lebenswirklichkeit (Akteursperspektive) sozialer Akteure bringt er die beiden unterschiedlichen Paradigmen auf den Punkt:

[W]hat the situation „really was“ and what the actors „really did“ on a particular occasion are continually open to redefinition. It is apparent that in the interpretive view of social interaction, in contrast with the normative paradigm, definitions of situations and actions are not explicitly or implicitly assumed to be settled once and for all by literal application of a preexisting culturally established system of symbols. Rather, the meanings of situations and actions are interpretations formulated on particular occasions by the participants in the interaction and are subject to reformulation on subsequent occasions (ebd., S. 701).

Im Strukturfunktionalismus wird, verkürzt gesagt, davon ausgegangen, Handeln in einem geteilten Kultursystem sei, mittels eines institutionalisierten „gratification-deprivation-balance“-Systems (Parsons 1991[1951], 71), weitgehend normativ determiniert. Abweichendes Verhalten wird daher aus strukturfunktionalistischer Perspektive als Anomie angesehen:Footnote 5

Handlungen und Interaktionen zwischen Personen wurden hier als Beziehungen zwischen eindeutig bestimmbaren Rollen analysiert. Sie sind möglich, weil die Handelnden in ein gemeinsames Symbolsystem und einen „kognitiven Konsens“ über die jeweiligen Situationen, in denen sie handeln, eingebunden sind. Als „normativ“ galt dieses Modell deswegen, weil es den Rollenerwartungen, also einer spezifischen Form von Normen, einen zentralen Stellenwert einräumt: die Handelnden erfüllen die Erwartungen, die mit einer Rolle verbunden sind, oder sie weichen davon ab. In beiden Fällen ist jedoch die Bezugnahme auf die Norm der eigentliche Motor des Geschehens (Keller 2012, S. 13).

Dem gegenüber betrachtet die verstehende Soziologie das Handeln der Akteure maßgeblich durch die (inter-)subjektiven Interpretationsprozesse angetrieben, die den Vollzug ihrer Alltagspraktiken begleiten und den Akteuren so ermöglichen, ihr soziales Leben gemeinsam zu steuern und zu bewältigen. Dabei gilt, dass sich weder Handeln in typisierten Rollen (Turner 1978, 1976) noch die Situationen in denen gehandelt wird selbst (Esser 2001, 81), den Akteuren einfach aufdrängen. Vielmehr wird in Ansätzen des interpretativen Paradigmas davon ausgegangen, dass soziale Rollen, die situativ wechseln, im Rahmen von Identitätsbildungsprozessen bewusst angenommen, abgelegt und reflexiv ausgestaltet werden können.

Damit legen interpretative bzw. verstehende Ansätze den Akzent nicht auf die Normativität von Rollenerwartungen, sondern auf die Kreativität der individuellen Aneignung von Rollen und anderen sozial institutionalisierten Typisierungen. Im Handeln beobachtbare Abweichungen von der ‚Norm‘ können in diesem Sinn auf eine Gemengelage individueller, rollenspezifischer und situativer Gründe und Ziele zurückgeführt und so als in Handlungen umgesetzte Verstehensprozesse betrachtet werden (Schütz 2004a, 266 f.). Empirische Beispiele zeigen, dass sich überhaupt erst innerhalb von deren Vollzug die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer formalen (mehr oder minder streng normativ regulierten) Ordnung praktisch realisieren lässt (Bensman und Gerver 1963). Entsprechend erläutert Schütz Parsons in einem Briefwechsel, dass Parsons’ Normenbegriff aus Perspektive der Handelnden in „Bedingungen und Mittel“ (Schütz 2004a, 267) zerlegt werden könne. So stellt sich, unter Einnahme der subjektiven Perspektive betrachtet, jedes Handeln als eine bedingte Auswahl dar, die stets mit dem Risiko der Inkaufnahme von unerwünschten Nebenfolgen (Sanktionen) verbunden ist.

Parsons „normativer Wert“ stellt sich dabei als die Vereinbarkeit bzw. Nicht-Vereinbarkeit von Zwecken und Mitteln aus Perspektive der Handelnden heraus (ebd., S. 268). Schütz empfiehlt Parsons daher, weniger Normen als vielmehr Motive zu fokussieren. Schütz unterscheidet zwischen Um-Zu- (Zwecke der Handlung) und Weil-Motiven (Gründe der Handlung), wobei er zugleich die Wechselwirksamkeit von Handeln und Struktur verdeutlicht: Die Motive, die im subjektiven Bewusstsein auftreten und das Tun der sozialen Akteure bestimmten, würden nämlich, wie Schütz betont, keineswegs beliebig ausgewählt (ebd., S. 270). Folgt man Schütz, so rekrutieren sich die Gründe (Weil-Motive) der Akteure maßgeblich aus dem Repertoire ihrer sozialen Identität, während ihre Zwecke (Um-Zu-Motive) unlösbar in ihre Biografien integriert sind, deren Entwürfe sich wiederum, ebenso wie die Bausteine ihrer Identität, maßgeblich aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat speisen. Schütz verknüpft so die Strukturen der Lebenswelt mit den bewussten, (inter-)subjektiven Interpretationsprozessen sozialer Akteure.

Hier schlägt er eine, für die verstehende Soziologie und die Entwicklung und Anwendung qualitativer Methoden in der Soziologie, überaus bedeutsame Brücke zwischen Egologismus und Soziologismus, zwischen der sozialwissenschaftlichen Überbetonung des Individuums einer- und der Überbetonung der sozialen Strukturen andererseits: Zwar, so Schütz, würden sozial abgeleitete „Motivsysteme“ in der Zeit und durch den beständigen Bewusstseinsstrom der Akteure laufend rekonfiguriert und praktisch aktualisiert. Parsons’ Normen sind also flexibel und ständiger Interpretation und Aushandlung unterworfen. Dennoch kann das Geflecht aus Um-Zu- und Weil-Motiven bei Schütz als ein normatives Wertesystem verstanden werden. Denn: Im Sozialzusammenhang sind die Motive der Akteure intersubjektiv derart miteinander verwoben, dass sie ihre (physiologische) Subjektivität apriorisch transzendieren und ihr Schicksal damit untrennbar an ihre sozialen Kollektive gekoppelt ist (ebd., S. 272).

Damit bestreitet Schütz ausdrücklich nicht, dass intersubjektiv gültige Normen und Wertesysteme aus wissenschaftlicher Perspektive beobachtet werden können. Vielmehr widerspricht er Parsons in Bezug auf deren ontologischen Status: Wesentlich ist, aus Perspektive verstehender Soziologie, dass Werte nicht einfach universal und soziale Akteur/-innen diesen nicht schlicht unterworfen sind. Vielmehr gilt es zu beachten, dass diese Werte, eine freiheitliche Grundordnung vorausgesetzt, die Normen der Akteure selbst sind. Sowohl als Produkt als auch als sozio-historischer Hintergrund des gesellschaftlichen Diskurses, sind sie aus den in Kommunikation wechselwirkenden subjektiven Interpretationsprozessen handelnder Akteure selbst hervorgegangen.Footnote 6

In diesem Kontext bringt Schütz den verstehenden Ansatz in seiner Kritik an Parsons’ Theorie auf den Punkt: Parsons, so Schütz, frage nicht nach den Bewusstseinsvorgängen der Handelnden, nach ihren Motiven also, und er suche nicht nach subjektiven Kategorien der Handelnden, in dem sie sich ihr Handeln erklären, sondern ausschließlich nach objektiven Interpretationskategorien. Parsons ersetze dabei subjektive Ereignisse im Bewusstsein durch ein Interpretationsschema für solche Ereignisse (ebd.). Sozialwissenschaften bedürften aber einer strikten Klärung des Verhältnisses zwischen Konstruktionen erster und zweiter Ordnung (ebd., S. 273), zwischen der Begriffswelt der Akteure und derjenigen der Wissenschaftler/-innen. Methoden ohne Verstehen, so Schütz, führten die Soziologie in den Behaviorismus. Die Opposition der verstehenden Soziologie erstreckt sich damit auch auf den Strukturfunktionalismus Parsons’.

In der Kommunikation, der Teilnahme am Diskurs, als Schlüsselfähigkeit sozialer Akteure, gelingt es dem wahrnehmungsmäßig auf den eigenen biologischen Sinnesapparat zurückgeworfenen Menschen (physiologische Subjektivität), die Umwelt als eine gemeinsame zu erfahren und zu begreifen, in Kontakt zu anderen zu treten, sich zu identifizieren und als ein Selbst zu verwirklichen. Die Subjektivität der bio-physiologischen Welterfahrung, die Sinnausdruck und -verstehen zu einem Unterfangen macht, das nur approximativ möglich ist, wird dabei in die Wirklichkeit sozialer Intersubjektivität hinein erweitert. Dabei kann nur in naiver Weise von „Gelingen“ die Rede sein. Vielmehr ist die Kommunikativität mit dem Menschsein phylogenetisch ebenso eng verbunden wie der aufrechte Gang oder der opponierbare Daumen (Tomasello 2011). Kommunikation ist daher, abgesehen von ernsthaften Pathologien und vorübergehenden Episoden, auch nicht etwas, dass man tun oder sein lassen kann. Stattdessen stellt Kommunikativität das empirische Pendant zum Strukturbegriff der Sozialität dar. Dass wir uns als soziale Wesen begreifen und bezeichnen, ist untrennbar mit der Fähigkeit verknüpft, Sinn zu kommunizieren und intersubjektiv zu verstehen. Diesem Umstand tragen nicht zuletzt die neusten Theorieentwicklungen im Rahmen der Wissenssoziologie Rechnung (Keller, Knoblauch und Reichertz 2013, Knoblauch 2007), die insbesondere den Begriff der Kommunikation ausweiten und weit über das lautsprachliche hinaus auf den Bereich der non-verbalen Gesten und sogar dessen beziehen, was Schütz als bloße Anzeichen begreift (Knoblauch 2013, 32). Ihr besonderes Verdienst liegt dabei darin, die empirische Bedeutung der Kommunikation für das, was wir als soziale Wirklichkeit beforschen, angemessen zu würdigen.

2.1.3 Verstehende Handlungstheorie

Die verstehende Soziologie, als Gegenentwurf zum Behaviorismus, wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Max Weber begründet, der heute, neben dem HermeneutikerFootnote 7 Wilhelm Dilthey und dem Soziologen Georg Simmel, als bedeutendster Ideengeber und Wegbereiter des interpretativen Paradigmas in der Soziologie gilt (Keller 2012, 5). Webers Arbeiten sind, vergleichbar dem Werk von Émile Durkheim in Frankreich, konstitutiv für die Ausbildung einer nationalen Soziologie und wirken seither in zahlreichen Übersetzungen weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Maßgeblich weiterentwickelt wurde Webers Ansatz von Schütz. Neben der Rezeption durch Parsons gelangte Webers Denken so auch durch dessen Soziologie in die internationale Debatte. Seine verstehende Soziologie begründet Weber vor dem Hintergrund der „hermeneutischen Tradition“ seiner Zeit (ebd., S. 2):

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts argumentierte der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911), der wesentliche Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften sei wie folgt markiert: Während erstere Phänomene untersuchen (und erklären), die keinen „eigenen Sinn“, keine Bedeutung in sich tragen, sei der Gegenstand der letzteren eben einer, der sich immer schon selbst deute und letztlich also vor allem in „Deutungen“ bestehe, die wiederum nur durch „Verstehensprozesse“ untersucht werden können und müssen (ebd.).Footnote 8

Vor dem Hintergrund dieses, durch die Hermeneutik formulierten, geisteswissenschaftlichen Anspruchs, entwickelt Weber seine Soziologie daher als Wissenschaft vom sozialen Handeln (Weber 1922, 1). Webers Soziologie basiert auf einer elaborierten Handlungstheorie, die sowohl die Konstitution des Handelns-Sinns im Subjekt als auch die Orientiertheit des Handelns an den sozialen anderen, die Ausgerichtetheit des Handelns am subjektiven Sinn sowie schließlich auch die Bedeutung des Sinnverstehens für die Beteiligten und Beobachter/-innen eines Handelns in einem Begriff umfasst: soziales Handeln. In Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1922[1913]) definiert er:

Handeln aber (mit Einfluß des gewollten Unterlassens und Duldens) heißt uns stets ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen, sei es auch mehr oder minder unbemerkt, „gehabten“ oder „gemeinten“ (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten […] welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden nach auf das Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist (ebd., S. 405 f.).

Aufbauend auf Webers Handlungstheorie akzentuiert auch Schütz, noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die Bedeutung der subjektiven Interpretationsleistung sozialer Akteure, sowohl für ihr Handeln als auch für den Verstehensprozess von Alltagsmenschen und sozialwissenschaftlichen Beobachter/-innen (Schütz 1972, 2)Footnote 9. – Wer Handeln und Handlungsprodukte verstehen möchte, muss den subjektiven Sinn berücksichtigen, den Handelnde mit ihrem Handeln und dessen Objektivierungen verbinden. – Basierend auf den Vorarbeiten Webers beschäftigt sich Schütz intensiv mit Prozessen der Sinnkonstitution und fokussiert, wie Ersterer, mit der Differenz zwischen subjektivem und objektivem Sinn, entsprechend dem von mir eingangs (Kapitel 1) skizzierten Kommunikationsbegriff, die ‚Rohstoffe‘ des kommunikativen Austauschs: Sinn und Wissen. Schütz anerkennt die enorme Bedeutung der vor dem Hintergrund der Hermeneutik durch Weber in die Soziologie eingeführte Differenzierung des Sinnbegriffs. Er sieht aber noch dringenden Ergänzungsbedarf.

Sein Hauptwerk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie ((Schütz 1993[1932]); im Folgenden kurz Aufbau) begründet er daher einleitend mit der Analyse von „Webers Zentralbegriff des subjektiven Sinns“ (ebd., S. 9). Er legt daraufhin allerdings dar, dass Weber zwar die Bedeutung der individuellen Sinnkonstitution erkenne, dass seine Erläuterung des subjektiv gemeinten Sinns aber an der Oberfläche verbliebe. Z. B. unterscheide Weber nicht detailliert zwischen dem subjektiven Sinn der Handelnden und dem von Beobachter/-innen eines Handelns (ebd., S. 15). Schütz aber identifiziert gerade in der Differenz der jeweiligen Perspektiven das wesentliche Moment der Subjektivität, nicht zuletzt für die Notwendigkeit und den Prozess der Kommunikation. Im Aufbau möchte er daher, zunächst vom Individualbewusstsein ausgehend, u. a. „die höchst komplizierte Struktur geisteswissenschaftlicher Grundbegriffe, wie Selbstverstehen und Fremdverstehen, Sinnsetzung und Sinndeutung […]“ (ebd.; Hervorhebungen R.W.) klarstellen.

Zur genaueren Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Sinn wendet er sich im Aufbau schließlich, nach einer eingehenden Beschäftigung mit den Arbeiten Henri Bergsons (Schütz 1981), der phänomenologischen Konstitutionsanalyse zu, die von Edmund Husserl entwickelt wurde.Footnote 10 Anhand seiner Analysen gelingt es Schütz, die von Weber angestoßene Unterscheidung phänomenologisch, d. h. bewusstseinsbasiert zu begründen, sie auf die Grundstrukturen des Verstehens zurückzuführen und so als Herausforderung für die sozialwissenschaftliche Forschung zu problematisierenFootnote 11.

2.1.3.1 Subjektiver und objektiver Sinn

Das Bewusstsein ist, wie für Meads Sozialpsychologie, auch für die ebenfalls Behaviorismus-kritische phänomenologische Soziologie zentral und bildet daher deren protosoziologischen Ausgangspunkt. Die „reine Dauer“ (Schütz 1981, 113), Bewusstsein im ‚Urzustand‘ reiner Wahrnehmung, wird innerhalb der Schützschen Soziologie als unhinterfragbare, da selbst gedächtnislose und präsymbolische Grundlage dafür betrachtet, dass Individuen überhaupt Wahrnehmungen von Zeit, Raum und Objekten haben können (physiologische Subjektivität). Bewusstsein bildet damit zugleich die Basis dafür, dass Menschen, gerichtet auf die Wirklichkeit ihrer Wahrnehmung, intendiert handeln können (Knoblauch 2008, 5).

Diese „Lebensform“ der physiologischen Subjektivität, der „reinen Dauer“, wie Schütz sie in Anlehnung an Husserl nennt, sei uns zwar durch die Kontinuität unseres Erlebens vertraut, allerdings liege sie vollständig im Schatten von, auf dem reinen Bewusstsein aufbauenden, weiteren Einstellungen des „Ich-Bewusstseins zur Welt“ (Lebensformen), sodass wir „wenig mehr aussagen [können], als daß diese Lebensform [der reinen Dauer; R.W.] nicht die unsrige ist“ (Schütz 1981, 113). Für das praktische Leben in der sozialen Wirklichkeit, für das handelnde, am sozialen anderen orientierte, sprechende und denkende Ich, sei vielmehr, neben weiteren präreflexiven Einstellungen, die Gedächtnisfunktion des Bewusstseins maßgeblich. Hierin ist ein weiterer, noch fundamentalerer Brückenschlag zwischen Subjekt und Gesellschaft in der Schützschen Theorie angelegt: Zwar ist subjektives Bewusstsein die Voraussetzung für das Handeln, zugleich besitzt es aber eine Funktion, die die aktuelle Wahrnehmung transzendiert: das Gedächtnis.

Im Gedächtnis würden uns, so Schütz, entwordene Wahrnehmungen symbolisiert, in Sinn transformiert und in Erinnerung gehalten (ebd., S. 83). Dies gilt, ganz gleich was wahrgenommen wird, ob originäres Erleben oder kommunikativ prozessiertes Erfahren vorausgedeuteter Sinngehalte (sozialer Sinn): Stets verknüpft das Bewusstsein seine aktuellen Eindrücke mit gemachten Erlebnissen und Erfahrungen, die, wie wir oben gesehen haben, stets und a priori von Sozialität geprägt sind. Allerdings, auch diese Brücke ist keine Einbahnstraße, denn Erlebtes und Erfahrenes werden nicht an sich und gleichsam ‚objektiv‘ versinnbildlicht und erinnert. Erinnerungen sind keine Abbilder. Vielmehr stelle das erinnerte Symbol einer Wahrnehmung ein biografisch-einzigartiges subjektives und stets vom Standpunkt eines aktuellen Hier und Jetzt neu betrachtetes „Sinnbild“ dar (ebd., S. 103).

Subjektiv ist die Welt in unseren Köpfen daher erstens deshalb, weil wir die Wirklichkeit stets aus einer räumlich je einzigartigen Positionalität erleben und erfahren, in deren kontinuierlicher, zeitlicher und räumlicher Veränderungsabfolge sich unsere persönliche Biografie (das Leben, auf das wir zurückblicken können) praktisch konstituiert. Subjektiv ist die symbolisierte Welt zweitens in Hinblick darauf, in welche Sinnzusammenhänge wir als Individuen ein (inneres oder äußeres) Erleben einerseits aktuell, andererseits im Rahmen unserer Retrospektionen, einstellen. Zwar sei der (ausgedrückte und verstandene) subjektive Sinn von Welt stets von den dem Individuum vorgängigen sozialen Sinnzusammenhängen der Lebenswelt, von sozial auferlegten Bedeutungen und gemeinsamen Ausdrucks-, Auslegungs- und Wahrnehmungsschemata, geprägt. Dennoch stelle, so Schütz, die Sinnkonstitution im Subjekt, durch die im Erinnerungsprozess generierten nicht schlicht abbildenden Symbolisierungen, stets einen individuellen Ausschnitt, eine Kollage, aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat dar.

Im Subjekt wird der kommunikativ prozessierte soziale Sinn, unter Einbeziehung idiosynkratischer Semantiken, beständig neu vermischt, ‚gesampelt‘. Der individuelle, subjektive Sinn von Wissen vollzieht sich dabei stets vor dem Hintergrund der biografischen Einzigartigkeit des Individuums und ist daher subjektiv: Subjektive Sinnzusammenhänge, die von objektiven Sinnzusammenhängen, den Objektivationen der Interaktions- und Kommunikationsgeschichte des sozialen Prozesses, abgeleitet sind, stehen in ihm in einem je einzigartigen Verhältnis zueinander. Ihre innere Kohärenz wird durch ein subjektives Sinnkonstrukt gebildet und maßgeblich von den Subjekten selbst aufrechterhalten. Schütz schreibt daher, „dass alle Wissenschaften von der Sozialwelt objektive Sinnzusammenhänge von subjektiven Sinnzusammenhängen“ (Schütz 1993[1932], 340) seien.

Dass der Mensch, trotz der prinzipiellen Dualität von Subjektivität und Objektivität, nicht als ‚homo duplex‘ (Durkheim) zu betrachten, nicht zwischen seiner Natur und dem Sozialen tief gespalten ist, verdeutlich Schütz am Konnex der beiden Sphären: Tatsächlich fungiert der Körper dem reflexiven Ich als Verbindung zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘, indem er beiden Orten angehört. Der Körper stellt eine natürliche, organische Brücke zwischen dem Subjekt, das Wahrnehmungen hat, und der Welt als Wahrnehmungsgegenstand dar: Durch den Körper und im bewussten Vollzug seines auf die Außenwelt gerichteten, vorsätzlichen (intendierten) Handelns verwirklicht sich das handelnde Ich selbst (Schütz 2003, 132 ff.). Dies gelingt freilich maßgeblich auf Grundlage objektiver Ausdrucks- und Auslegungsschemata, für die aber eben gilt, was zuvor über objektive Sinnzusammenhänge generell gesagt wurde: Bewusstseinsbegabte Individuen permutieren diese intersubjektiv geteilten Symbolwelten im Rahmen ihrer subjektiven Sinnkonstitutionsprozesse, probieren sich in der Interaktion mit anderen aus, testen die Grenzen des Ausdrückbaren und produzieren so Neues.

Subjektiver Sinn stellt sich daher handlungstheoretisch auch als die maßgebliche Grundlage von Kreativität und Innovation heraus: Nur weil wir die Möglichkeit haben, nicht zu verstehen bzw. nicht verstanden zu werden, können wir auch neues Verständnis erzeugen. Dies trifft auf alle Bereiche des Lebens wenigstens potenziell zu, während insbesondere die Sphären der wissenschaftlichen Forschung (Innovation) und der Künste (Kreativität) essenziell auf diesem Prinzip der endlosen subjektiven Permutation des sozialen Wissens basieren.

Hier wird ein wesentlicher Aspekt verstehender Handlungstheorie deutlich: Während Behaviorismus und Strukturfunktionalismus bzw. ähnliche Ansätze bestenfalls zur Beschreibung statischer oder kalter Gesellschaften (Lévi-Strauss 1973, 270) dienen können (und dabei evtl. einen eigenen Beitrag zu dieser „Kälte“ leisten bzw. leisteten), ist der verstehende Ansatz dazu in der Lage, die unaufhörliche Entwicklungstendenz von Gesellschaften handlungstheoretisch zu erklären, die auf inkrementellen Anpassungen und Veränderungen basiert, aber auch bahnbrechende oder sprunghafte Neuerungen, etwa durch die Implementierung neuer technologischer Infrastrukturen, wie die des Internets, kennt. Die Entwicklungspotenziale ‚heißer Gesellschaften‘ lassen sich schlecht auf der Grundlage einer Theorie erklären, die normativ abweichendes Handeln als Anomie betrachtet und davon ausgeht, dass anders-Handeln nur in Krisen des etablierten Wissens erwogen werde (vgl. (Burri 2008, 47)). Die Strukturen der Lebenswelt, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sind vielmehr Produkte dialektischer Prozesse, Ergebnisse des auf Verstehen ausgelegten Austauschs von bewusstseinsbegabten Individuen, auf Grundlage von erlerntem sozialen Sinn einerseits und der Befähigung zu eigenen Deutungen und zu spontaner Entäußerung von subjektivem Sinn im sozialen bzw. kommunikativen Handeln andererseits.

Kommunikatives Handeln als interpretativer Prozess stellt dabei alltägliche wie sozialwissenschaftliche Interpret/-innen der sozialen Wirklichkeit vor die gleichen Herausforderungen: Individuelles Bewusstsein vorausgesetzt, folgt, aus dem bewusstseinsbasierten, handlungstheoretischen Akteurskonzept der verstehenden Soziologie, in gewisser Weise eine (begriffliche) Verdopplung der Welt (siehe oben: Parallelismus bei Mead), in dem es dem intersubjektiven bzw. objektiven SinnFootnote 12 eines Gegenstands oder (para-)verbalen Ausdrucks einen jeweils subjektiv-okkasionellen Sinn an die Seite stellt, dessen eigenartiges Zustandekommen man nur unter Berücksichtigung der subjektiven und situativen Perspektive der jeweils Bewusst-Seienden gerecht werden kann (Schütz 1993[1932], 44 und passim). D. h. neben dem, was ein Ding für alle bedeutet, bedeutet es für alle auch jeweils etwas eigenes und eben diese zusätzliche Bedeutung, neben der intersubjektiven, kann – muss aber nicht – von erheblicher Bedeutung sein, sowohl für Alltags- sowie professionelle Interpret/-innen. Gerade in informellen Alltagssituationen ist diese Herausforderung potenziell omnipräsent: Hier wollen Menschen in ihrem besonderen So-Sein aufgefasst werden und erheben den Anspruch darauf, im Rahmen ihres individuellen Ausdrucks verstanden zu werden. Ganz gleich ob man mit dem bzw. der Partner/-in, den Kindern, Freund/-innen, Kolleg/-innen, entfernten Bekannten oder zufälligen Passant/-innen kommuniziert: Stets kann ein oberflächliches Gespräch für ein persönliches Bekenntnis genutzt werden, das erfordert (oder wenigstens mit großem Selbstverständnis einfordert), subjektiv und okkasionell begriffen zu werden.

2.1.3.2 Krisen des Verstehens

Andererseits kann der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Perspektive für die Praxis der Alltagsbewältigung, z. B. in stark formalisierten Situationen, auch eine geringe Rolle spielen. Die wesentlichen kommunikativen Austauschprozesse werden, inhaltlich (in Erziehung, Berufsausbildung etc.) und ihrem Ablauf nach (in Interaktion), erlernt und routinisiert. Vor dem Hintergrund dieser Sozialisationsprozesse reichen dem eigenen Ausdruck, und zur Deutung seitens anderer ausgedrückten Sinns, hier, wie im routinierten Ablauf der täglichen Dinge überhaupt, i. d. R. die im Alltagswissen zuhandenen intersubjektiven Interaktionsmuster, um sich in Wechselwirkung mit anderen zurecht zu finden. In der Lebenswelt bleibt die Differenz von subjektivem und objektivem Sinn daher häufig opak, wenngleich sie, durch die Routinen des Handelns und Deutens, doch nicht aufgehoben ist: Denn tatsächlich kann die Differenz für die sozialen Akteure, in Abhängigkeit zu deren Einstellung und Situation, wie oben erläutert, jederzeit relevant (gemacht) werden und dabei, wenn die üblichen Reparaturroutinen (Sacks, Schegloff und Jefferson 1974, 733 ff.) versagen, in eine Verstehens- bzw. Kommunikationskrise führen. Dies zeigt sich eindrücklich in der interdisziplinären Wissenskommunikation, sodass ich Schütz’ Ausführungen zur Krise des Fremden (1972) ein Stück folgen möchte.

Für Alltagsmenschen sowie sozialwissenschaftliche Interpret/-innen wird die Bedeutung der Differenz von subjektivem und objektivem Sinn immer dort besonders deutlich bzw. spürbar, wo (noch) kein geteiltes Wissenssystem (Schütz 1972, 4) vorliegt, das die wechselseitige Deutung des Handelns in einer sozialen Situation bestimmt. Schütz spricht von einer „Krise des Denkens-wie üblich“, wenn die Auslegung eines Individuums sich, wie im Falle seines Beispiels eines Orts- und KulturfremdenFootnote 13, vor dem Hintergrund des in der eigenen Kultur erworbenen Wissensvorrats, für das Denken-wie-üblich bzw. die „natürliche Einstellung“ (Schütz und Luckmann 1979, 87 ff.) einer gegebenen, anderen Gruppe oder Gesellschaft, als ungeeignet erweist (Schütz 1972, 6). Schütz’ Beispiel des Fremden soll an dieser Stelle gefolgt werden, da hier nicht nur die für die vorliegende Fallstudie bzw. den Begriff der Kommunikation bedeutende Unterscheidung von subjektivem und objektivem Sinn im Rahmen einer Interaktionssituation illustriert wird, sondern weil die Situation des Fremden wenigstens teilweise als prototypisch für die Situation im Group-Talk der beobachteten Forschungsgruppe zu betrachten ist – nämlich wenigstens dann, wenn es sich bei den Sprecher/-innen um noch unerfahrenere Forscher/-innen handelte bzw. notwendige Kenntnisse im Bereich des in der Gruppe etablierten präsentationalen Wissens (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018) fehlten. Die Krise des Denkens, die sich ohne das ‚richtige‘ Wissen, das heißt ohne eine anschlussfähige Sinnkonstitution im Bewusstsein der oder des Fremden oder der Befremdeten einstellt, bringt die Differenz zwischen subjektivem und objektivem Sinn deutlich zum Vorschein.

Denn Handeln, so erläutert Schütz, das auf der Anwendung von im Laufe der Interaktionsgeschichte einer gegebenen Gruppe oder Gesellschaft institutionalisiertem „Rezeptwissen“ beruht, verfüge über eine „objektive Chance“ (Schütz 1972, 11) ein intendiertes Ziel tatsächlich zu verwirklichen: „[D]ie Zivilisationsmuster mit ihren Rezepten [liefern] typische Lösungen für typische Probleme […], die jedem typisch Handelnden zugänglich sind“ (ebd., S. 29).Footnote 14 Diese Rezepte entlasten das Individuum vom Zwang der permanenten Neuauslegung wiederkehrender Situationen und ermöglichen ihm dabei, sich scheinbar (!) traumwandlerisch in der vertrauten sozialen Wirklichkeit zu bewegen, in dem es sich auf „objektive Chancen“, d. h. hier: auf intersubjektiv geteiltes Rezeptwissen, verlässt. Garfinkel spricht, in Anlehnung an Schütz, von „background expectancies“ (Garfinkel 1984[1967], 37), um die Wissensbestände zu bezeichnen, die es Menschen in ihrem Alltag ermöglichen, trotz der generell fragwürdigen Kohärenz ihrer Handelnsgrundlagen (Schütz 1972, 4 ff.), so zu handeln und zu kommunizieren, als sei ihr Alltagswissen klar, eindeutig und in völliger Harmonie mit dem Alltagswissen und Handeln der eigenen Gruppe. Er betont, wie wichtig diese Hintergrunderwartungen für die Stabilität der Individuen seien und verdeutlicht dabei, dass Anomie nicht Folge von abweichendem Verhalten sein muss (Parsons), sondern vielmehr dann regelmäßig zu erwarten ist, wenn das seine Dauer reflektierende Subjekt auf Grundlage inkompatibler sozialer Auslegungs- und Ausdrucksschemata in eine Krise gerät:

In short, the members’ real perceived environment on losing its known-in-common background should become „specifically senseless“. Ideally speaking, behaviors directed to such a senseless environment should be those of bewilderment, uncertainty, internal conflict, psycho-social isolation, acute, and nameless anxiety along with various symptoms of acute depersonalization. Structures of interaction should be correspondingly disorganized (Garfinkel 1984[1967], 54 f.).

Gerade die Anwendung von Rezepten der Interaktion, so Schütz, stelle besonders hohe Ansprüche an die Reziprozität von Handlungs- und Personaltypen (Schütz 1972, 12). Ist man mit den Zivilisationsmustern einer gegebenen Gruppe nicht vertraut, so reflektiert man notwendigerweise, ganz im Gegensatz zu den Mitgliedern der entsprechenden Gruppe, im Rahmen expliziter Auslegungsprozesse, die subjektive Chance einer (kommunikativen) Handlung. So kann man, laut Schütz, von den im Laufe der Interaktionsgeschichte auf Dauer gestellten und im Alltagswissen abgelagerten objektiven Lösungen keinen Gebrauch machen. „Der Fremde“, vor dem Hintergrund von dessen Situation Schütz seine Argumentation entfaltet, gebraucht stattdessen, um in der Gruppe kommunizieren zu können, „explizites Wissen“ (ebd.). Hierin aber gerade zeigt sich für die anderen, dass er nicht über die im Alltagswissen enthaltenen Typisierungen verfügt. Deshalb, so Schütz weiter, hielte er Typisches für Individuelles und umgekehrt, konstruiere er die falschen „Personaltypen“ und könne er schließlich auch selbst nicht die typischen Haltungen der neuen Gruppe einnehmen. Resultat, so Schütz, seien Zögern und Unsicherheit des Fremden, für den „die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe“ (ebd., S. 13) nicht „Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers“ (ebd.) darstellten. Nicht die Kreativität von auf subjektiven Erwägungen basierendem anders-Handeln, sondern Konventionalität ist, wenigstens im Alltag, in der Situation des Fremden gefragt.Footnote 15 Als Grundvoraussetzung für ein stabiles Identitätsbewusstsein, ein nicht-krisenhaftes Verhältnis zwischen Subjekt und seiner sozialen Umwelt also, nennt Mead entsprechend solche Gesten, die „in ihm die gleichen Reaktionen wie in den anderen auslösen können“ (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934], 187). Nur unter dieser Voraussetzung kann das Individuum ein stabiles Selbst als Synthese aus seinem inneren (I) und äußeren Ich (Me) ausbilden und aufrechterhalten. Grundlegend hierfür sind, wie Mead bestätigt, die vokalen Gesten (gesprochene Sprache), die für die soziale Umwelt, in der die Identitätsausbildung stattfindet, konstitutiv sind:

Wir haben jedoch gesehen, daß es gewisse Gesten gibt, die den Organismus ebenso wie andere Organismen beeinflussen […]. […] Das zum Beispiel geschieht in der Sprache; sonst würde die Sprache als signifikantes Symbol verschwinden, weil der Einzelne nicht den Sinn des von ihm Gesagten erfassen könnte (ebd.).

Mead legt dar, dass es die gemeinsame Reaktion ist, die der Sprache Sinn und damit ihre besondere Rolle für das Ich-Bewusstsein verleihtFootnote 16 (ebd., S. 188). Voraussetzung hierfür ist die Intersubjektivität der Sprache, deren Symbole stets, in einer gegebenen Gruppe, allgemein geteilte Bedeutung besitzen: Im Kommunikationsprozess kontrollieren sie Reaktionen, organisieren individuelle Haltungen und soziale Wechselwirkungen und definieren das Denken und Handeln (ebd.). Demgemäß gilt Mead die Übereinstimmung dieser Reaktionen von Sprecher/-innen und Zuhörer/-innen auf ein Gesagtes als Ziel „des sinnvollen Sprechens“ (ebd., S. 191).

In natürlichen Situationen ist die Krise des Denken-wie-üblich daher durch das (wechselseitige) Unvermögen gekennzeichnet, Verstehens-basiert zu kommunizieren: Nachfragen und Dissens, Widersprüche und Streit, sind einige der ersten empirischen Indikatoren dafür, dass dies geschieht. In misslingender Kommunikation entrückt man einander gleichsam in die ‚Fremde‘. Im Alltag gelingt es sozialen Akteuren, mittels kommunikativer Reparaturmechanismen wie Klarstellungen, Zustimmungen und/oder Entschuldigungen i. d. R. rasch, ihrer Kommunikation die Krisenhaftigkeit und so sich selbst wechselseitig die Fremdheit (wieder) zu nehmen und sich (erneut) auf ein gemeinsames Denken-wie-üblich zu verständigen. In anderen, (noch) weniger institutionalisierten bzw. weniger stark wechselseitig typisierten sozialen Situationen gelingt dies häufig aber weniger rasch oder es misslingt völlig, sodass die Kommunikation nachhaltig in die Krise geraten kann.

2.1.3.3 Arten des Sinnverstehen

Hier zeigt sich, dass Kommunikation Verstehen nicht nur zu erzeugen vermag, sondern dass sie auch als sozio-historische Voraussetzung des Verstehens betrachtet werden muss (Knoblauch 2008). So gilt z. B. im Fall des Fremden, wie Schütz ihn beispielhaft heranzieht: Nur wer kommunikativ in eine gegebene Gruppe oder Gesellschaft eingeführt wurde, d. h. nur wer die Interaktionsgeschichte der Gruppe (bereits) kennt und mit ihr vertraut ist, wird diese letztlich so gut verstehen können, dass sie oder er sich, weitgehend jenseits subjektiver Auslegungsprozesse und auf objektive Chancen verlassend, selbst verwirklichen kann. Dies gilt für Kinder im Prozess der ersten bzw. zweiten Sozialisation ebenso wie für Erwachsene in allen folgenden Sozialisationsprozessen (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966], 139 ff.). Wie James Berger, der Herausgeber der im Jahr 2003 erneut erschienenen Lebenserinnerungen von Helen Keller, es in seinem Vorwort zur Neuauflage formuliert: “In a broad sense, all of our lives are collaborations, for we do not live alone and do not perceive our outer or our inner worlds without plentiful and continual contributions from those we know” (2003[1903]).

Als „Generalthesis des Alter Ego“ (1993[1932], 30) bezeichnet Schütz die Grundeinstellung des menschlichen Bewusstseins, die Ego veranlasse, im anderen ein Bewusstsein vorauszusetzen (ebd., S. 138) und stets davon auszugehen, dass dem jeweils eigenen Erlebnis einer Situation in Kopräsenz „ein deiniges Erlebnis in deinem Bewusstseinslauf“ (ebd., S. 150) entspricht (Reziprozitätsthese). Die Sinndeutung der anderen, ihrer Bewegungen, Handlungsabläufe und -produkte, lässt Schütz im Akt der Selbstauslegung beginnen. Die Erfassung dessen, was er entsprechend als „fremdseelisch“ bezeichnet und sich im gemeinten Sinn des anderen ausdrückt, basiert für ihn auf der präreflexiven Deutung des anderen als Mitmensch.

Zu „echtem Fremdverstehen“ entwickele sich dieses Erfassen, so Schütz, wenn die anderen und ihr Ausdruck im Rahmen ihres eigenen Sinnzusammenhangs verstanden werden (ebd., S. 155). In Bezug auf das Verstehen anderer und den gemeinten, subjektiven Sinn Handelnder, erläutert Schütz unterschiedliche Erkenntniszugänge, je nachdem worauf man die Aufmerksamkeit richtet bzw. welchen Zugang man zu den anderen hat. So weist er darauf hin, dass beobachtete Handlungsabläufe und deren Resultate (etwa als gegenständliche Objekte), den Beobachter/-innen zwar den aktuellen oder auch objektiven Sinn dieser Handlung oder seiner Resultate (ebd., S. 36), nicht aber auch den gemeinten Sinn offenbarten (vgl. Fußnote 27). In Bezug auf diesen könnten Beobachtungen bestenfalls „Anzeichen“ (ebd., S. 30) für den subjektiven Sinn darstellen, den die Handelnden mit ihrem handelnd vollzogenen Tun und Erzeugen verbänden:

Alle diese Vorgänge und Dinge der Außenwelt haben nun für mich, der ich sie erlebe und zwar auffassend erlebe, Sinn, aber dieser muss keineswegs jener Sinn sein, den der Andere, welche diese Handlung hervorbrachte, mit seinem Handeln verbindet. Denn diese Gegenständlichkeiten der Außenwelt (Abläufe und Erzeugnisse) sind bloß Anzeichen für den gemeinten Sinn des Handelnden, dessen Handlung wir als Ablauf wahrnehmen, bzw. dessen Handlung jenes Objekt der Außenwelt erzeugte (ebd.).

Ebenso wenig seien Körper als Ausdrucksfeld dazu geeignet, den gemeinten Sinn ‚abzulesen‘. Als „Ausdruck“ des subjektiv gemeinten Sinns könne daher, so Schütz, nur körperliches Verhalten angesehen werden, das intendiert kommunikativ ist (ebd.), wie z. B. eine (vokale) Geste, wohingegen das, was der Körper unintendiert kommuniziere, nur als „Anzeichen“ für das Erleben anderer zu betrachten sei (z. B. Erröten). Ausschlaggebend für die Sinndeutung des anderen, die über das Maß objektiven Sinnverstehens und allgemeiner Selbstauslegung hinausgeht und das Ausmaß „echten Fremdverstehens“ (Schütz 1993[1932], 157) annimmt, sei die „Personenvertauschung“, das sich „an die Stelle des Handelnden setzen“ (ebd., S. 159) oder in anderen Worten: die (approximative) Einnahme der subjektiven Perspektive des jeweils anderen (Meads Rollenübernahme).

Eine besondere Bedeutung für das Verstehen des anderen kommt bei Schütz, ebenso wie bei Mead, abermals der verbalsprachlichen Kommunikation zu, wenn, nach dem Sinnzusammenhang des Ausdrucks der oder des anderen gefragt werden könne. Dies gilt selbstverständlich auch für den Einsatz materieller Objektivation in bzw. während der Kommunikation. Schütz macht sich Husserls Unterscheidung zwischen „wesentlich subjektiven und okkasionellen“Footnote 17 Ausdrücken einerseits und „objektiven“ Ausdrücken andererseits (Schütz 1993[1932], 44 und passim) zu Eigen und spricht von „völlig[em]“ (Schütz 1993[1932], 174) Fremdverstehen, wenn auch der subjektive und okkasionelle Sinnzusammenhang eines ausgedrückten Sinns berücksichtigt und gedeutet wird. Deutung, die dies unterlässt, so schreibt es Schütz in Bezug auf sozialwissenschaftliche Interpret/-innen auch Parsons, ziele lediglich auf objektiven Sinn (Schütz 2004a, 281). Sie verfehle in jedem Fall das Wesentliche:

Die Deutung dessen, was ein Nebenmensch mit einem Zeichen meint, schließt also zwei Komponenten in sich, nämlich die Erfahrung von der Bedeutung des Signums überhaupt (im objektiven Sinn also), und die Erfahrung von seinem subjektiven und okkasionellen Sinn, den „Sinnfransen“ oder dem „Hintersinn“, welcher diesem Signum kraft des Sinneszusammenhanges im Erlebnis des Sinnsetzenden zuwächst. (Schütz 1993[1932], 176)

Über die Macht des Worts als sinnhafte Grundeinheit der (para-)verbalen Kommunikation legt Schütz bereits vor dem Aufbau dar, wie diese phylo- wie ontogenetisch die Metamorphose der menschlichen Wahrnehmung von der ‚einsamen‘ Subjektivität (Erlebnis der reinen Dauer) zur sozialen Intersubjektivität (Erkenntnis) geradezu erzwingt (Schütz 1981, 214):

Wenn das Wort also den Menschen von seinem Erlebnis trennt, so verbindet es doch auf wahrhaft wunderbare Weise die Dinge und schafft auf den Trümmern des Erlebnisses eine neue, vom Lichte der Erkenntnis beschienene Welt: die der Begriffe (ebd., S. 215).

Diese Welt der Begriffe zeichnet aus, dass sie eine Wirklichkeit abgrenzt und einhegt, die gemein ist. Einerseits ist sie dabei zwar niemals deckungsgleich mit dem, was für Individuen jeweils Welt ihrer subjektiven Wirklichkeit ist, da diese sich aus je eigenen Bewusstseinsleistungen (Symbolisierungen) gruppiert, die lediglich in subjektivem Erleben vollständig aufzugehen vermögen. Andererseits entfaltet und objektiviert Sprache als intersubjektives Ausdrucks- und Deutungsschema aber auch die vielfältigen Formen des Diskurses, die konstitutiv für Gesellschaft sind und in der gegenwärtigen Wissens- und Informationsgesellschaft eine so wirksame Vervielfältigungsmaschine gefunden haben, dass zeitdiagnostisch bereits von der Kommunikationsgesellschaft (Knoblauch 2017) die Rede ist (obgleich hier nicht nur Lautsprache angesprochen ist, wie ich an anderer Stelle ausführen werde (Abschnitt 2.2.)).

2.1.3.4 Die intersubjektive Lebenswelt

Intersubjektivität betrachtet Schütz im Rahmen seiner verstehenden Soziologie völlig anders als Edmund Husserl (Schütz 2009, 230), auf den er sich an anderen Stellen seiner Theorie so häufig bezieht. Auch hier wieder schlägt er eine Brücke von einer egologischen zu einer soziologischen Bewusstseinstheorie. Für Schütz gilt Intersubjektivität als Element der dem Einzelwesen vorgängigen Strukturen der Lebenswelt (Schütz und Luckmann 1979, 1984, 2003)Footnote 18. Zu Intersubjektivität finden wir demnach nicht in uns, im stillen Denken, wie bei Husserl, sondern vielmehr im Außen, durch das Getöse, das uns in einer Welt empfängt, die immer schon vor-empfunden und vor-ausgelegt ist, woran uns die in mannigfaltiger Form objektivierten Stimmen der unzähligen anderen gemahnen, die bereits vor uns da waren.

Zu Husserls Intersubjektivitätsbegriff, den er einer umfassenden Kritik unterzieht, führt Schütz (2009) hingegen aus, dieser fasse das Phänomen der Intersubjektivität als Produkt einer subjektiven Bewusstseinsleistung, das auf der egologischen Verknüpfung von Bewusstsein und Leib (ebd., S. 227) sowie auf der Fähigkeit zur Empathie (Einfühlung) basiere (ebd.). In der Differenz, die Schütz hier macht, kommt so en passant ein weiteres Argument dafür zum Tragen, dass der Vorwurf des Mentalismus, wie er gegen Schütz häufig vorgebracht wird, zwar vielleicht auf Husserl, aber eben keineswegs auf Schütz selbst anzuwenden ist. Sowie die Konstitution der Dinge der Wirklichkeit generell, verlege Husserl, so Schütz, auch die Konstitution der Intersubjektivität in den Bereich der „transzendentalen Subjektivität“ (ebd., S. 229).

Schütz entgegnet Husserl, ganz im Sinne einer soziologischen Bewusstseinstheorie, dass die transzendentale Sphäre ungeeignet zur Fundierung einer Theorie der Fremderfahrung ist (ebd., S. 230). Die Erfahrung anderen subjektiven Bewusstseins sei nicht auf die Ebene einer auf Basis von Ähnlichkeit appräsentierten Bewusstseinsleistung reduzierbar (ebd., S. 237). Husserl missachte die Grundkonstellation der lebensweltlichen Erfahrung (ebd., S. 245), die Schütz wesentlich in der „Wir-Beziehung“ (ebd., S. 254) und nicht in einem Bewusstseinsakt konstituiert sieht. Er schlägt daher eine Ontologie der Lebenswelt anstatt einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse vor, um die Intersubjektivität zu erforschen (ebd., S. 254).

Die Lebenswelt, als „die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen“ (ebd., S. 25)

ist intersubjektiv, da wir in ihr als Mensch unter Menschen leben, an welche wir durch gemeinsames Einwirken und Arbeiten gebunden sind, welche wir verstehen und von welchen wir verstanden werden. Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutung ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurechtzufinden und mit ihm ins Reine zu kommen (Schütz 2004b, 163).

Die Lebenswelt stellt also zugleich den Raum des handelnden Bewirkens als auch den der Beschränkung dar und ist sozialen Akteuren als primäres „Auslegungsobjekt“ auferlegt (Schütz und Luckmann 1979, 28). „[Sie] ist, wie wir schon sagten, von Anbeginn intersubjektiv“ (ebd., S. 38). Während das hierzu benötigte Wissen dem Einzelwesen von der Vor- und Mitwelt zur Entschlüsselung auferlegt wird, ist seine subjektive Auslegung dieses Wissens maßgeblich von „der biographischen Kette seiner Entscheidungen“ geprägt (ebd., S. 41). Schütz und Luckmann erläutern, dass diese, dem Einzelwesen zur Übernahme vorgegebenen Wissenselemente, in zweifacher Hinsicht intersubjektiv seien (Schütz und Luckmann 2003, 331): Zum einen deshalb, wie bereits erläutert, weil Erfahrungen in sozialen Situationen gemacht würden und keine Erfahrung daher von ihrem sozialen Kontext abstrahiert werden könne. Zum anderen aber zusätzlich deshalb, weil diese Wissenselemente zum großen Teil „monothetisch“ (ebd.) übernommen würden. Das bedeutet, dass dieses Wissen en Bloc in das Bewusstsein integriert wird, gleichsam als Bausteine der eigenen subjektiven Reflexionen, ohne dass das betreffende Subjekt selbst das raum-zeitliche Erlebnis eines Ablaufs hatte, währenddessen sich der Sinn dieses Wissens polythetisch, das heißt Zug um Zug, in ihm konstituierte.

In gewisser Weise stellt dieses Wissen, als „sozial vermittelter Sinn“ (Knoblauch 2013, 31), für die sozialen Akteure eine Black Box dar: Die Rekonstruktion der Syntheseleistung, auf deren Grundlage sich der entsprechende Sinn konstituierte, ist ihnen nicht möglich, da die Aneignung mit Bezug auf den betreffenden Sinngehalt in diesen Fällen nicht erlebend sondern erkennend prozessiert ist (Schütz 1993[1932], 73).

Dies gilt letztlich auch für die Sinnprovinz der Wissenschaft und ihre Subeinheiten, die zwar einerseits auf die Entwicklung neuen Sinns bzw. Wissens ausgerichtet ist, dabei aber aus einem mehr oder minder institutionalisiertem Gerüst aus Wissenselementen besteht, die in einer gegebenen Gruppe entweder bereits vorliegen und dabei dem forschenden Subjekt als Ausgangspunkt, Richtschnur und Korrektiv dienen oder aber (zunächst) gemeinsam entwickelt werden. Diese Wissenselemente verteilen sich dabei auf unterschiedliche Strukturebenen und besitzen unterschiedliche Allgemeinheits- und Verbindlichkeitsgrade. Diese detailliert aufzuschlüsseln, ist das Ziel der auf die vorliegende Fallstudie angewandten GA (Kapitel 3).

Die vorangegangene Erläuterung einiger Grundbegriffe der verstehenden Soziologie dient mir zu zweierlei Zweck: Zum einen verdeutlicht sie meine Perspektive auf den gewählten Forschungsgegenstand. Im Rahmen eines verstehenden Ansatzes besitzen die Kommunikations- und Verstehensprozesse der Feldakteure der Fallstudie eine hervorgehobene Rolle für meine empirische Analyse. Zum anderen verdeutlichen die u. a. von Mead, Schütz und Berger und Luckmann übernommenen Begriffe auch, dass nicht nur ich, als soziologischer Beobachter, diese kommunikativen Verstehensprozesse berücksichtigen muss, um das empirische Phänomen, für das ich mich interessiere, analysieren und gegenstandsangemessene Methoden zur Feldforschung auswählen zu können. Auch die genuinen Feldteilnehmer/-innen selbst, die Wissenschaftler/-innen, die ich in ihrer Kommunikation beobachte, erweisen sich auf dieser Grundlage, wie der Mensch generell, als Sinnversteher/-innen, die – gerade auf dem unsicheren Feld der explorativen, interdisziplinären Zusammenarbeit – stets auf der Suche nach dem Sinn der eigenen Wahrnehmung und dem der externalisierten fremden Subjektivität sind.

Diese Suche charakterisiert, wie ich zeigen werde, den Group-Talk als Kommunikationsform wesentlich: Stets geht es in ihm um die Aushandlung dessen, was es bedeutet, was Ich entdeckt hat (subjektiver Sinn) und wie dies in der heterogenen Forschungsgruppe ausdrückbar ist (Intersubjektivität). Für das Verstehen der anderen sowie für die jeweils eigene Ausdrucksfähigkeit von Sinn stellt Lautsprache, insbesondere auch in der feldtypischen Bild-Kommunikation, im Ausdruck mittels digitaler Visualisierungen, das zentrale Mittel der Kommunikationsarbeit dar. Einerseits bietet Sprache ein objektives Repertoire festgelegter Bedeutungen, gleichsam als Ausgangspunkt und kleinstes gemeinsames Vielfaches, andererseits bietet sie im Gespräch die Möglichkeit, die Grenzen zwischen dem auszuloten, was kommunikativ verstehbar gemacht werden kann, nicht zuletzt auch visuell, und dem, was im Bereich dessen verharren wird, was subjektiv und unaussprechlich bleiben muss.

So erweist sich auf der Erprobungsbühne des Group-Talks nicht alles als intersubjektivitätsfähig. Was aber den Stresstest des Group-Talks überdauert, kann zu geteiltem Wissen und damit zu einem Teil sinnprovinzieller Gewissheit, und, als Baustein der gruppenspezifischen Kommunikationshistorie, auch zu einem Element des geteilten Identitätskerns werden: Wer sind wir? Was wissen wir? Was wollen wir? Wie machen wir das? Das sind Fragen, die sich, im Laufe kommunikativ prozessierter Verstehensprozesse zwischen bewusstseinsbegabten und mit der ständigen Reflexion ihrer sozialen Situation beschäftigten Akteure, praktisch, d. h. im Vollzug der Lebenswelt, beantworten. Die (Re-)Produktion dieser Antworten ist beobachtbar und somit maßgeblich für das Forschungsdesign und den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit.

2.2 Der kommunikative Konstruktivismus

An dieser Stelle möchte ich von meinen Vorannahmen, die den Grundlagen der verstehenden Soziologie (Weber, Schütz) bzw. den maßgeblichen Ideengebern des SoKo (Schütz, Mead) entnommen sind und die ich im Vorangegangenen dargelegt habe (Abschnitt 2.1), zu dem engeren forschungsleitenden, kommunikativ-konstruktivistischen Theorierahmen meiner Fallstudie fortschreiten, den ich nun thematisieren werde. Ein stärker akzentuierter Absatz zwischen beidem erscheint mir aus zweierlei Gründen notwendig und angemessen.

Erstens deshalb, weil die bislang zusammengetragenen z. T. protosoziologischen Vorannahmen maßgeblich von (bewusstseins-)philosophischen Überlegungen geprägt sind, die zwar als äußerer Rahmen einer sich als empirische Wissenschaft verortenden Sozialforschung dienen können (und dabei meines Erachtens unverzichtbar sind), sich selbst aber nicht auf eine dezidierte sozialwissenschaftliche Empirie zurückführen lassen. Zweitens aber auch deshalb, weil die hier vertretenen Grundannahmen sich Klassikern der ersten (und zweiten) Generation von Soziolog/-innen verdanken. Dies allein schmälert zwar nicht ihre sozialtheoretische Evidenz, verdeutlicht aber, dass diese Vorannahmen der verstehenden Soziologie bzw. des SoKo, deren Entwicklung spätestens in den 1960er Jahren abgeschlossen war, eine gesellschaftstheoretische bzw. zeitdiagnostisch sensibilisierte Revision erfordern. Um dies zu leisten ist der stark Empirie-basierte Kommunikative Konstruktivismus (Keller, Knoblauch und Reichertz 2013, Knoblauch 2017) angetreten, den ich im Rahmen meiner empirischen Analysen (Kapitel 4) als im engeren Sinne forschungsleitend betrachte.

Bislang konnte ich den Begriff der Kommunikation, auf Grundlage der im Rahmen meiner Fallstudie referierten Vorannahmen, vor allem in Hinblick auf die Bedeutung der Lautsprache beleuchten. Es ist das Verdienst der zitierten Autoren der ersten und zweiten Generation, mit der Grundsteinlegung einer verstehenden Soziologie und des SoKo, auf die hervorgehobene Bedeutung der interpretativen Wechselwirksamkeit zwischen sozialen Akteuren insbesondere in der lautsprachlichen Kommunikation (vokale Geste) hingewiesen zu haben. Eine empirische Ausbuchstabierung dieses Prozesses lassen die referierten Konzepte aber naturgemäß, aufgrund ihrer rein theoretischen Basis bzw. in Ermangelung einer systematischen Empirie jenseits kleinerer Beispiele, vermissen. Noch bei Berger und Luckmann, die maßgeblich auf Mead und Schütz rekurrieren, bleibt der konkrete empirische Prozess, in dem Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966]) prozessiert wird, weitgehend im Dunkeln (Knorr Cetina 1989, 88). Dieser essenzielle Punkt kann im vorliegenden Kontext erst durch den KoKo detailliert beleuchtet werden.

Dieser Umstand ist vor allem der historischen Entwicklung geschuldet, die spätestens seit den 1960er Jahren zu massiven Veränderungen der Kommunikationskultur (Knoblauch 1995) geführt hat. So konnte die Interdependenz sozialer Akteure, die in ihrem sozialen Handeln (Weber), ihrer sinnhaften Orientierung aneinander (Schütz) und ihrer wechselseitigen Identitätsbildung (Mead) zum Ausdruck kommt, von Schütz oder Mead noch in erster Linie anhand von Lautsprache verdeutlicht werden, während eine entsprechend ‚medienfreie‘ Betrachtung heute zur Kritik der Körper- und Materialitätsvergessenheit führen muss (Reckwitz 2000, 184). Allerdings bediene ich mich mit meinen Vorannahmen bewusst der Protosoziologie, da diese, entsprechend der Zielsetzung von Abschnitt 2.1,

mittels der Philosophischen Anthropologie und der Phänomenologie, die invarianten Grundbedingungen (Konstitutionskonstanten) der Sozialität [klärt], während die Soziologie, darauf aufbauend, die kontingenten empirischen Konstruktionsprozesse analysiert (Tuma und Wilke 2016, 596).

Der KoKo versteht sich dementsprechend, ganz im Gegensatz zur Protosoziologie, die den Grundstein für die verstehende Soziologie und den SoKo bildet, (auch) als Programm einer qualitativen empirischen Sozialforschung (Knoblauch 2017, 17), das seinerseits vom SoKo eingeleitet wurde. Während die frühsten (Weber, Mead, Schütz) und frühen (Berger und Luckmann) Klassiker der verstehenden Soziologie bzw. des SoKo heute also das theoretische Fundament des sozialkonstruktivistisch-wissenssoziologischen Forschens in der Soziologie bilden, kann der KoKo, als neuste Ausformung einer mehrstufigen sozialkonstruktivistischen Theoriebildung, als nachträgliche Meta-Theorie aus dem empirischen Erkenntnisgewinn dieses Forschens betrachtet werden (ebd., S. 51 ff.), der in den letzten Jahrzehnten in entsprechenden Bereichen der soziologischen (Kommunikations-)Forschung erlangt wurde.

Folglich erfährt der Kommunikationsbegriff im KoKo nicht allein eine theoretische Aufwertung. Vor allem wird er von empirischer Erkenntnis geschärft, vor deren Hintergrund er den Begriff des kommunikativen Handelns weit über den der Sprache hinaus definiert und dabei auch Körperlichkeit und Materialität in den Fokus einer neuen, nicht sprach- sondern kommunikationssoziologischen Betrachtung stellt. Damit repariert der KoKo einen in der Soziologie, insbesondere nach dem linguistic turn (Rorty 1967), verbreiteten Bias, der, neben der Sprache, andere Medien bei der „Wirklichkeitsbildung“ lange weit in den Hintergrund treten ließ (Rammert 1998, 18). In Hinblick auf die neuste kommunikativ-konstruktivistische Perspektive des KoKo kann in diesem Sinn von einer (späten) empirischen Sättigung der sozialkonstruktivistischen Konzeption gesprochen werden, vor deren Hintergrund die vorliegende empirische Arbeit von dem im KoKo elaborierten Begriffsvorrat profitieren kann.

2.2.1 Die Triade des kommunikativen Handelns

Unter der Bezeichnung „Kommunikativer Konstruktivismus“, angestoßen durch Luckmann und maßgeblich weiterentwickelt von Hubert Knoblauch (1995), ist in den vergangenen Jahren, aus der empirisch-qualitativen Sozialforschung heraus, eine breitere Bewegung entstanden, innerhalb derer verschiedene Akteure, auf Grundlage aneinander anschlussfähiger Erweiterungen und Neubestimmungen, an der Überarbeitung des zeitdiagnostisch in die Jahre gekommenen Sozialkonstruktivismus beteiligt sind. (Tuma und Wilke 2016, 611)

Dabei macht der Austausch des Präfixes Sozial- durch das Attribut kommunikativ „auf eine theoretische Verschiebung aufmerksam, deren Tragweite erst im Laufe der letzten Jahre deutlich wird“ (Knoblauch 2013, 25). Knoblauch erläutert, dass es sowohl Forschungsergebnisse der SoKo-informierten qualitativen Sozialforschung als auch Entwicklungen innerhalb anderer ‚Schulen‘ waren, die rund 50 Jahre nach seiner ersten Formulierung den Ausschlag für die Revision des SoKo gegeben haben. Im Zentrum stehen dabei Arbeiten, die sich, u. a. auf den Schultern der verstehenden Soziologie, der soziolinguistischen und sprachsoziologischen Erforschung konkreter Modi der gesellschaftlichen Konstruktion gewidmet haben (– größtenteils ohne dabei auf den SoKo Bezug zu nehmen (Knoblauch und Wilke 2016)).

Auch auf Grundlage dieser empirischen Erkenntnisse aus der Soziolinguistik, der Ethnomethodologie, der CA und last but not least der GA, wurde schließlich die hervorgehobene Rolle des Körpers und der materialen Objektivationen für die gesellschaftliche Konstruktion erkannt (Schnettler und Knoblauch 2007) und schließlich der KoKo formuliert (Knoblauch 2017). Dieser zeichnet sich durch eine scheinbar triviale aber für die empirische Sozialforschung und ihre Methodologie sehr bedeutende Konkretisierung des Prozesses der sozialen Wirklichkeitskonstruktion aus, die im vorliegenden Fall eine wesentliche Rolle spielt:

Das zentrale Argument des kommunikativen Konstruktivismus besteht nun darin, dass alles was am sozialen Handeln relevant ist, notwendig auch kommuniziert werden muss (ohne dass alles, was kommuniziert wird, sozial relevant sein muss). (Knoblauch 2013, 23)

Im Kontext dieser bestechend einleuchtenden Erkenntnis greift Knoblauch seinen bereits zuvor entwickelten, eng mit Webers sozialem Handeln verknüpften Begriff des kommunikativen Handelns (Knoblauch 1995) wieder auf, wobei er ihn nun klar von dem gleichlautenden Begriff bei Jürgen Habermas (Habermas 1981) abgrenzt. Knoblauch stellt dabei ein Merkmal des kommunikativen Handelns im KoKo heraus, das diesen von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1981) (und vom SoKo und dessen Vordenkern) deutlich zu unterscheiden erlaubt, indem er kritisiert, dass Habermas das kommunikative Handeln hauptsächlich auf verbale Lautsprache beziehe, während es im KoKo auf einen weiten Kommunikationsbegriff rekurriere, der para- und non-verbale Aspekte des Sprechens integriere.

Zweitens unterscheidet sich das kommunikative Handeln im KoKo noch in einem weiteren Punkt von seiner Bedeutung in der Theorie des kommunikativen Handelns, der mit der ersten Ausweitung des Begriffs in Zusammenhang steht: Nämlich darin, dass der KoKo nicht zwischen instrumentellem und kommunikativem Handeln unterscheidet. Knoblauch verdeutlicht vielmehr, dass kommunikatives Handeln stets auch instrumentell ist. Er schlägt daher vor, es als Wirkhandeln (Schütz und Luckmann 1984) zu begreifen, „was zu einer dramatischen Ausweitung des kommunikativen Handelns [führt; R.W.] (wobei nicht zu vergessen ist, dass instrumentelles Handeln die Technik umfasst)“ (Knoblauch 2013, 29):

Der Kommunikative Konstruktivismus fasst Subjekte, Objekte und Technologien gemeinsam als Teile der kommunikativen Struktur des Handelns auf. So wird hier deutlich gemacht, dass die kommunikative Konstruktion kein rein egologischer Prozess ist und sich seine sozialkonstruktivistische Analyse nicht in Materialitätsvergessenheit vollzieht. Der Kommunikative Konstruktivismus impliziert dabei nicht nur einen wesentlich erweiterten Kommunikationsbegriff, der in seiner engen Form auch bei Berger und Luckmann noch stark auf Sprechen und Schriftsprache fokussiert war, sondern auch eine Ausdehnung dessen, was soziologisch noch als Handeln zu bezeichnen ist. (Tuma & Wilke 2016, 612)

Eine wesentliche empirische Grundlage für die Ausarbeitung des kommunikativen Handelns im KoKo, die im Kontext meiner Fallstudie besondere Relevanz besitzt, stellt die Powerpoint-Studie (Schnettler und Knoblauch 2007) dar. Der zentrale Begriff des kommunikativen Handelns tritt hier bereits mit all den Facetten (Körperlichkeit, Wirksamkeit, Materialität) auf, die für seine spätere Reformulierung im KoKo charakterisierend sind. Das Präsentieren anhand digitaler Foliensätze erweist sich in der empirischen Forschung von Bernt Schnettler und Knoblauch als ein kommunikatives Handeln, die Präsentation digitaler Foliensätze als eine kommunikative Gattung, d. h. als „eine Ordnung, die sich im Vollzug kommunikativer Handlungen einstellt“ (Knoblauch 2007, 119) und dabei Technik und Handeln integriert.

In der Studie zeigt sich, dass der Körper der Präsentierenden und mit ihm, im Sinne einer medialen Erweiterung des Körpers (McLuhan 1994[1964]), die in den körperlichen Vollzug verwobenen symbolischen und materiellen Strukturen, eine hervorgehobene Rolle spielen, die Knoblauch als Performanz (Knoblauch 2007, 117) bezeichnet. Die spezifische Form der Performanz ist die wesentliche kommunikative Handlung des Präsentierens: Es ist das „verkörperte Subjekt“ der Präsentierenden, das durch Zeigegesten und Körperformation (ebd., S. 128), d. h. durch seine körperliche Ausrichtung im Raum, verbindend (Konnex) zwischen symbolische und materielle Medien und die anderen Subjekte tritt, wobei es, inneres und äußeres verknüpfend, Sinn herstellt, der sich weder aus dem Inhalt der projizierten Folien noch aus den gesprochenen Worten allein erschließen lässt (ebd., S. 123). Verstehen erweist sich dabei als Ziel und Produkt der Performanz eines erwirkenden kommunikativen Handelns.

Zeigen, Sprechen und die Körperbewegung spielen auf eine Weise zusammen, die eben nur als Zusammenspiel, als Performanz eine Bedeutung erhält […] Der Sinn dessen, was gesagt wird, liegt weder nur in den gesprochenen Worten noch in dem Visuellen, sondern im Wechselspiel beider mit den Gesten und anderen Aspekten des körperlichen Auftretens (ebd., S. 122 f.).

In der Performanz kommen die beiden maßgeblichen in der Empirie beobachtbaren Eigenschaften des kommunikativen Handelns klar zum Ausdruck: einerseits seine Körperlichkeit und andererseits seine eigene Materialität sowie seine stete Materialitäts-Bezogenheit. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass kommunikatives Handeln im KoKo zum einen an das soziale Handeln als Grundbegriff einer verstehenden Soziologie anschließt, in dem es sich in seinem Ablauf an den jeweiligen Interpretationsprozessen der anderen orientiert. Zugleich wird mit der Wechselwirksamkeit des kommunikativen Handeln aber auch der empirische Modus dieser Beziehung, seine Materialität und Körperlichkeit deutlich. Vor diesem Hintergrund bezeichnet kommunikatives Handeln hier, anders als bei Habermas, treffend ein (instrumentelles) Wirk-Handeln, das die fortlaufende kommunikative Konstruktion in sozialer Interaktion prozessiert:

Schütz und Luckmann […] beziehen das Wirken oder Wirkhandeln auf alle Veränderungen, sofern es in einer gemeinsamen (bzw. als gemeinsam erfahrenen) Umwelt der Handelnden vollzogen wird. Wirken ist also eine Form des Handelns, die Wirklichkeit in einem Sinne schafft, den Schütz und Luckmann als »alltäglich« bezeichnen. […] Allerdings wurde dieser Begriff des Wirkens bislang selten besonders beachtet. […] Er rückt erst durch die Debatten zur Materialität der gesellschaftlich objektivierten Wirklichkeit in den Blick. Daher wollen wir hier eine genauere Bestimmung dieses Wirkens vornehmen: das körperliche Wirken. Weil dieses Wirken auch mit den Dingen verbunden ist, die es bewirkt, erwirkt und auf die es wirkt, leitet es unmittelbar zu einem weiteren Aspekt des kommunikativen Handelns über: der Objektivierung bzw. der Objektivation (Knoblauch 2017, 139).

Der KoKo verdeutlicht, dass mit dem Begriff des kommunikativen Handelns als Wirk-Handeln, zugleich mit dem Körper, wie am Beispiel der Präsentation als kommunikative Gattung gezeigt werden kann, auch die Symbol- und Technostruktur in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken muss. Hierbei wird ein weiteres Verdienst des KoKo deutlich, nämlich die Begriffe Objektivierung und Objektivation, die bei Berger und Luckmann in der Schwebe verharren und eine detailliertere Auseinandersetzung vermissen lassen, klar definiert und elaboriert zu haben: Objektivierungen und Objektivationen bilden im KoKo gemeinsam das dritte Element, das, im Rahmen eines apriorisch relationalen Subjektverhältnisses, das dem kommunikativen Handeln zugrunde liegt, die kommunikative Triade begründet. So spielen sowohl die zahlreich modulierten, körpergebundenen Ausdrücke (Objektivierungen) wie z. B. verbale (Sprechen), non- (Gestik und Mimik) und paraverbale (Intonation) Kommunikation als auch Handeln in Bezug auf bzw. mit materielle(n), abgeschlossene(n) Handlungsprodukte(n) (Objektivationen) wie z. B. Laptop, Beamer, Software, Räume, Einrichtungen und (andere) Körper, die zentrale Rolle für das kommunikative Handeln als Wirk-Handeln.

Mit der Körperlichkeit und dem Wirken des kommunikativen Handelns wird im KoKo dabei auch der bedeutenden Rolle der Medien (Knoblauch 2017, 100) für die Kommunikation und die kommunikative Konstruktion Rechnung getragen. Denn ohne (mehr oder minder fortgeschrittene) Medien ist Kommunikation empirisch un-wirk-sam (Rammert 2002, 7). Entsprechend ist unsere Kommunikationskultur auch eine Medienkultur (Hepp 2013). In realiter benötigt kommunikatives Handeln Leib-Körper (Knoblauch 2017, 120 ff.), die Gedanken und Gefühle haben und diese zum Ausdruck bringen (Externalisierung). Dabei kommt es einerseits zu körperlichen Objektivierungen, wie gesprochene Sprache (parole) oder (Zeige-)Gesten, anderseits spielen dabei, neben Sprachsystemen (langue), zunehmend neue Medienobjektivationen eine wichtige Rolle, die zwischen die Körper der Subjekte gestellt, den physikalischen und semantischen Raum zwischen ihnen überbrücken helfen und dabei den intersubjektiven Austausch von Sinn und Wissen ermöglichen (Abschnitt 2.1).

Das Verhältnis zwischen Menschen und Medien im Prozess der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit zu thematisieren, macht sowohl die empirische Informiertheit des KoKo sowie seine besondere Passung als forschungsleitender Theorierahmen meiner Arbeit maßgeblich aus. Wo dem SoKo bzw. seinem theoretischen Fundament, den philosophisch-anthropologischen bzw. phänomenologisch-soziologischen Vorarbeiten, noch eine ontologisch motivierte, mentalistische Schlagseite unterstellt werden konnte (Knorr Cetina 1989, 88), die evtl. an einer, trotz des Konzepts der Objektivation, das Berger und Luckmann von Karl Marx beziehen, unübersehbaren Körper- und Materialitätsvergessenheit festgemacht werden kann, repariert der KoKo diese Schieflage mittels des in ihm ausgearbeiteten Begriffs des kommunikativen Handelns. Damit zollt Knoblauch zum einen der eigenen Forschung Rechnung, zum anderen greift er auch Erkenntnisse auf, die u. a. vom „neuen Materialismus“ (Knoblauch 2017, 72) betont werden, der in Bruno Latour (2005) einen seiner prominentesten Vertreter hat.

Einen großen und heutzutage ständig wachsenden Teil seines Lebens ist der Mensch damit beschäftigt, die Kulturtechniken, die der Umgang mit Medien und fortgeschrittenen materiellen Medientechnologien konstituiert, zu institutionalisieren und zu internalisieren. Das entsprechende Knowhow stellt, wie am Beispiel des Präsentierens als kommunikative Gattung gezeigt wird (Schnettler und Knoblauch 2007), selbst Institutionen dar, die Ordnungsstrukturen aufweisen und die Kommunizierenden dabei vor Koordinierungsaufgaben stellen. Schnettler bezeichnet diese, im Kontext des Präsentierens, mit dem Begriff der „Orchestrierung“ (Schnettler 2007, 142). Ohne Institutionalisierung wäre die Präsentation als Gattung ein unsicheres Unterfangen. Als Institution aber erfordert sie elaboriertes Wissen, das erlernt werden muss.

2.2.2 Exkurs: Institutionalisierung und Internalisierung

Wissen ist die zentrale Ressource dafür, in der Lebenswelt kommunizieren zu können und so zu verstehen und verstanden zu werden. Dies verdeutlicht die „neue Wissenssoziologie“: Im Rahmen eines (primären) Sozialisationsprozesses (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966], 140 ff.) werden die Grundkenntnisse der Nutzung natürlicher (z. B. Körper, Luft) und natürlich-künstlicher (z. B. Buchstaben, Papier) Medien vermittelt und internalisiert. In folgenden Lebensphasen eintretende weitere (sekundäre, tertiäre) Prozesse der Sozialisation, die im vorliegenden Fall relevant sind, dienen schließlich der Spezialisierung bestimmter Kommunikationsweisen (ebd., 148 ff.). Z. B. lassen sich unterschiedliche Abschlüsse in einem Bildungssystem als Zertifizierungen unterschiedlich weit gespannter Kommunikationsfähigkeiten betrachten, die berufliche oder akademische Ausbildung als Unterweisung in spezifische Kommunikationsformen verstehen usw. Diese Ausführungen basieren auf der Annahme eines Prozesses der Sozialisation im Umgang mit Medien, der das Pendent bildet, zu dem, was Berger und Luckmann Institutionalisierung nennen. Diese These wird auch vom KoKo zentral aufgenommen. Knoblauch (2013; 2017) bezieht sich in diesem Kontext auf die oben erläuterten Verfestigungen kommunikativen Handelns, die handelnd erwirkt oder auf die handelnd eingewirkt wird, sodass sie selbst Wirkungen entfalten können. Damit werden einerseits Objekte und Technologien wie Bilder und bildgebende Verfahren, andererseits aber auch die kommunikativen Formen angesprochen, in die sie verwoben sind und die

Handlungsabläufe dar[stellen; R.W.], die eine Ordnung (etwa Anfang und Ende) aufweisen und entsprechend starke Kontexte zur Koordinierung von Handlungen und Handlungserwartungen bilden. (Knoblauch 2013, 39)

Rekurriert wird hier auf die Institutionalisierung von kommunikativen Formen und Gattungen zu dem, was an anderer Stelle Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung (Luckmann 1986) genannt wird. Diesem Prozess der Institutionalisierung von Kommunikationsformen kommt im vorliegenden Kontext eine besondere Bedeutung zu. Er wird sowohl in der sprach- (Luckmann) als auch in der kommunikationssoziologischen GA (Knoblauch) äquivalent zu der Institutionalisierung gesellschaftlicher Institutionen überhaupt betrachtet. Diese Grundfigur der Wissenssoziologie, die Institutionalisierung von sozialer Ordnung als Fundament einer Gattungstheorie und wesentliches Element auch der vorliegenden GA, soll daher im Folgenden etwas ausführlicher betrachtet werden.

In Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966]) geht es Berger und Luckmann um die Konstruktionsprinzipien der „Gesellschaft als objektive Wirklichkeit“ (ebd., S. 49). Diese erläutern sie anhand einer elaborierten Institutionalisierungstheorie. Ihre Hauptaussage ist hierbei, dass sich Mensch und Gesellschaft in einem dialektischen Prozess wechselseitig konstituieren. Der Mensch brauche die erleichternde Funktion der Gesellschaft, die er daher konstruiere, um sein Handeln zu entlasten. Den Ausgangspunkt dieser These extrahieren die Autoren aus der Protosoziologie (Abschnitt 2.1.2). Der Mensch nimmt demnach eine Sonderstellung unter den Tieren ein. Ihm sei, so Berger und Luckmann, weder eine „artspezifische Umwelt“ (ebd.), noch eine (biologisch) fixierte Umweltbeziehung eigen. Stattdessen, so der SoKo, seien Menschen „weltoffen“ (ebd., S. 50) und ihr „Instinktapparat“ „bildbar“ (ebd., S. 51) (Prozess der Sozialisation). Seine Menschwerdung, so die Autoren, vollziehe sich daher erst in der Interaktion mit den anderen, die Mead „signifikant“ nennt (Bezugspersonen der primären Sozialisation). Vor diesem Hintergrund stellen die Autoren des SoKo die soziologische Kernfrage: Woher stammt die Stabilität menschlicher Ordnung, wenn der Mensch weitgehend unfixiert zur Welt kommt? Die Antwort auf diese Frage zu „Entstehung, Bestand und Überlieferung“ (ebd.) einer Gesellschaftsordnung erläutern Berger und Luckmann schließlich mit Bezug auf den Institutionenbegriff bei Arnold Gehlen (2009[1940]). Sie erklären sowohl, wie Institutionen als Bausteine einer Gesellschaftsordnung entstehen (Habitualisierung, Legitimierung) als auch den Prozess, in dessen Verlauf diese Ordnung in die individuellen Akteure gelangt und dort wirkt (Internalisierung).

Ein erster Schritt zur Institutionalisierung ist die Habitualisierung (Berger und Luckmann 1986/1969[engl. 1966], 60 ff.). Hierbei wird eine Handlung durch stete Wiederholung zu einem Modell verfestigt. Die so erzeugte Blaupause erleichtert zukünftiges Handeln, da dieses so zu einer Abfolge von routinisierten Prozeduren wird. Durch reziproke Typisierung wird dieses Modell (Handlungstyp) dann zu einer Institution. Durch Legitimation schließlich wird der Prozess der Institutionalisierung abgeschlossen. Legitimation spielt für den Prozess der Institutionalisierung folglich eine maßgebliche Rolle. Wenn wechselseitig typisiertes Handeln die Situation überdauern soll, wenn es auch über die wiederkehrende Begegnung der immer gleichen Akteure hinaus bestand haben soll, dann muss diese Typisierung, um zur Institution werden zu können, vor den nachfolgenden Generationen, den anderen, für die sie auch gelten soll, legitimiert werden. Erst so kann eine Institution die Qualität einer überindividuellen Wirklichkeit annehmen, sich zur „konstruierten Objektivität“ verdichtend, zur „sozialen Tatsache“ und dadurch zu einem dauerhaften alltäglich unhinterfragten Teil der „gegebenen“ Welt werden.

Zur Legitimation von Institutionen, so Berger und Luckmann, diene ein entsprechender, gesellschaftlicher Wissens-Überbau oder Wissensvorrat, der im Rahmen der Sozialisation internalisiert werde. Er ermöglicht es, innerhalb einer gegebenen Gesellschaft, eine bestehende Ordnung zu wahren. Unter Wissen fassen Berger und Luckmann in diesem Kontext vor allem „vortheoretisches Primärwissen“. „Es „programmiert“ die Bahnen, in denen Externalisierung eine objektive Welt produziert“ (ebd.) und macht die gegebene Welt so zur Wirklichkeit schlechthin. Qua ihrer Legitimierungserfordernis basiert die Institutionalisierung auf objektiviertem und sozial konstruiertem Wissen (– was den SoKo unzweifelhaft zu einer „Theorie der Wissenssoziologie“ erklärt). Institutionen, die durch ein kognitives und emotionales Wissensrepertoire legitimiert werden und in der „natürlichen Künstlichkeit“ der Gesellschaft, in die wir hineingeboren werden, bereits vorliegen, ergeben schlussendlich also die Antwort auf die von Berger und Luckmann gestellte Frage nach den Grundlagen der Stabilität gesellschaftlicher Ordnung. Der KoKo greift diese Institutionalisierungstheorie von Berger und Luckmann auf und vollzieht, ähnlich wie die wissens- bzw. sprachsoziologische Gattungsanalyse von Luckmann (1986, 204) zuvor, die Übertragung der Institutionalisierung von Handlungs- und Personaltypen auf Formen der Kommunikation. Im KoKo gliedert sich die Struktur des Sozialen maßgeblich anhand von kommunikativen Formen und Gattungen, die in Akten des kommunikativen Handelns erzeugt werden (und schließlich auch auf diese zurückwirken), wobei hier, anders als in der ursprünglich sprachsoziologischen Fassung, Objekte und Technologien als wesentliche Aspekte dieser Struktur ihre oben erläuterte, große Rolle spielen:

Gesellschaftliche Ordnung wird vermittels der verschiedensten Formen kommunikativer Handlungen und den dabei verwendeten Objektivierungen hergestellt. Noch genauer: Die Spezifik der gesellschaftlichen Ordnung wird durch die spezifischen Formen des kommunikativen Handelns erzeugt. (Knoblauch 2013, 40)

Einige der oben mittels eines weiten Begriffs (McLuhan 1994[1964]) beispielhaft gegebenen Medien scheinen sozio-historisch stabil, andere wiederum sind der kreativen Zerstörung, dem Fortschritt, unterlegen. Neue Medien, oder besser die „jüngeren Formen der Mediatisierung“ (Knoblauch 2017, 328), die den Wirkungskreis kommunikativen Handelns über die Grenzen der Welt in unmittelbarer Reichweite hinaus erweitern, haben dadurch erheblichen Einfluss auf die spezifischen Formen gegenwärtiger Kommunikation. Diese Effekte berühren einerseits die Struktur der Interaktion, schlagen sich dabei andererseits aber auch auf die Struktur des Sozialen in toto nieder (Castells 2001, 427). Tatsächlich hat „die Kommunikation die Gesellschaft, die Wirklichkeit, die Welt verwandelt“ (Knoblauch 2017, VI). Entsprechend beinhaltet der KoKo auch eine Zeitdiagnose, die Kommunikationsgesellschaft (ebd., S. 329 ff.).

2.2.3 Zeitdiagnose

Die Kommunikationsgesellschaft als soziologische Zeitdiagnose stellt eine empirisch informierte Zustandsbeschreibung (spät-)moderner Gegenwartsgesellschaften dar. Sie geht von der Bedeutung gewandelter bzw. neuer Formen der Kommunikation aus und stellt dabei heraus, dass die durch sie bewirkten Veränderungen ein die Gesellschaften als Ganzes charakterisierendes Ausmaß angenommen haben (Knoblauch 2017, 316):

Durch die jüngeren Formen der Mediatisierung wird Kommunikation zum zentralen gesellschaftlichen Prozess, der, so die These, zur Kommunikationsgesellschaft wird (ebd., S. 328).

Aus Perspektive meines eigenen Ansatzes, insbesondere auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Schilderungen des Forschungsfelds, zwischen Computerisierung und Interdisziplinarisierung (Abschnitt 1.2), wird ersichtlich, dass sich die Kommunikationsgesellschaft als die Epoche der CNS verstehen lässt. Sie ist der äußerste gesamtgesellschaftliche Rahmen, der sämtliche relevanten sozio-historischen Aspekte umfasst, vor deren Hintergrund sich die CNS als neues Forschungsfeld entwickeln konnte. So wie Kommunikationsformen sich (neuen) Kommunikationsproblemen verdanken, verdankt sich der Bedeutungszuwachs der Kommunikation (neuen) gesellschaftlichen Herausforderungen. In diesem Sinne stellt die Kommunikationsgesellschaft die unmittelbare Herausforderung zur Entwicklung der CNS dar.

2.2.3.1 Diskursivierung

In seiner Zeitdiagnose erlaubt der KoKo zunächst zwischen Diskursivierung und Kommunikationsgesellschaft zu differenzieren. Er verdeutlicht, dass Erstere sich seit den 1970er Jahren beobachten lässt, während zweitere erst mit der um die anschließende Jahrtausendwende einsetzenden neuen Mediatisierung einherging. Unter Diskursivierung erfasst Knoblauch (ebd., S. 333 ff.) dabei die beobachtbare Zunahme der Bedeutung von Kommunikation für die sozialen Strukturen (und vice versa), die nicht zuletzt in den seit den 1960er Jahren sich entwickelnden Emanzipationsbewegungen zum Ausdruck kommt. Ausschlaggebend hierfür sind soziohistorische Entwicklungen, die in Zeitdiagnosen als Individualisierungs- (Beck und Beck-Gernsheim 1994) bzw. Pluralisierungsprozesse (Berger, Berger und Kellner 1975) beschrieben werden und die dazu führten, dass der Kommunikationsbedarf in Gesellschaften zunahm. (Während die 1950er und 1960er Jahre in Deutschland und anderen europäischen Ländern noch weitgehend vom Stillen fundamentaler Bedürfnisse nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt waren, erlosch mit dem Ende der 1960er Jahre, vor dem Hintergrund neuer Kriege, einsetzender Wirtschaftskrisen und der Bildungsexpansion, der ungebremste Fortschrittsoptimismus der Wirtschaftswunderzeit und der industriellen Massengesellschaft.)

Die Massengesellschaft der 1950er wurde durch den „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986, 122 ff.) der 1960er Jahre grundlegend verändert: Klassenantagonismen schienen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund gestiegener Löhne und Gehälter und erleichtertem Zugang zu Bildung und Wohlstand, zunehmend aufgehoben (Beck und Beck-Gernsheim 1994). Die erste, ‚enttraditionalisierte‘ Nachkriegsgeneration, die von gestiegenen schulisch-akademischen bildungs- und arbeitsmarktlichen Mobilitäts- und Konkurrenzniveaus geprägt war, trat in den 1970er Jahren Das schwierige Leben in der „Zweiten Moderne“ (Volkmann 2000, 33 f.) an. In den zitierten Zeitdiagnosen wird dieses häufig mit gewachsener Eigenverantwortlichkeit und individuellem Selbstbezug assoziiert (– bis hin zur Hyperbel von atomisierten Gesellschaften oder gar fraktalen Subjekten (Baudrillard 1989)).

Jenseits aller Dramatisierung stellte sich, vor dem Hintergrund von Individualisierung und Pluralisierung, die Frage der sozialen Integration in Alltag, Politik und Wissenschaft tatsächlich völlig neu. Wissen, das vorangegangenen Generationen vor dem Hintergrund traditioneller sozialer Kontexte noch als ‚Rezepte‘ diente, wurde nun, im Rahmen diskursiver Prozesse, gesellschaftlich expliziert, thematisiert und neu ausgehandelt. Dabei entwickelten sich entlang gewandelter Sozialmilieu-spezifischer Vektoren wie Symbolkultur (Stichwort: 1968er) und Alter (Stichwort: Jugendkultur) (Schulze 1992[2005], 537) neue Existenz- und Vergemeinschaftungsformen. Entsprechend sieht Knoblauch (2017) die gesellschaftliche Diskursivierung ab den 1970er Jahren in der gestiegenen Notwendigkeit der kommunikativ prozessierten sozialen Vermittlung zwischen neu emanzipierten gesellschaftlichen Gruppen begründet:

All diese pluralisierenden Tendenzen erfordern mehr Kommunikation bei der Übersetzung zwischen verschiedenen Diskursen, der Aushandlung von Handlungsorientierungen und der Koordination bei der Interaktion. (ebd., S. 335)

Neben der Individualisierung bzw. der Pluralisierung der privaten Lebenswelten, die zur Diversifizierung der Lebensformen und somit indirekt zur Diskursivierung der Gesellschaft beigetragen haben, betrachtet Knoblauch vor allem die Zunahme der funktionalen Differenzierung. Hier ist insbesondere die professionelle Spezialisierung (Pfadenhauer 2000), die im vorliegenden Kontext eine besondere Rolle spielt, maßgebend für die Diskursivierung moderner Gesellschaften seit den 1970er Jahren, die, neben der Freisetzung des Individuums, auch die rasch zunehmende Ausdifferenzierung von Professionen und Organisationen markieren:

Mitglieder müssen von außen rekrutiert werden, Wissen muss nach außen legitimiert werden, und im Regelfall muss auch Kapital durch Wissen von außen eingeworben werden. Dadurch entstehen zahlreiche neue kommunikative Arenen, die sich zwischen die Funktionsbereiche legen […]. Die wachsende Komplexität schafft überdies neue »beratende« Wissensbereiche, Expertise und Spezialwissen, die mit der Wissensvermittlung zu tun haben […]. (Knoblauch 2017, S. 335)

Aus Perspektive der vorliegenden Fallstudie muss auch die Entstehung interdisziplinärer Forschungsfelder wie das der CNS in diesem sozio-historischen Kontext betrachtet werden. Wie an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Wilke, Lettkemann 2018, 76 f.), stand die zeitgleich mit den geschilderten allgemeinen gesellschaftlichen Individualisierungs- und Diskursivierungstendenzen zunehmende Zergliederung der Wissenschaft, ihre wachsende Innendifferenzierung, die ich zuvor parallel zur Entwicklung des PCs und der computerwissenschaftlichen Expertise dargestellt habe (Abschnitt 1.2), unter dem Einfluss wachsender Kritik: Ein Klima entstand, das dazu beitrug, die sich zunehmend verselbstständigende interne Entkopplung ganzer Wissenschafts- und Forschungsfelder zu hinterfragen und die betroffenen Forscher/-innen im Sinne einer Verantwortung, zur Lösung gesamtgesellschaftlich diskutierter Probleme beizutragen, forschungspolitisch zu reintegrieren.

Aus dieser Thematisierung, die maßgeblich von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geprägt wurde, ging die politische Forderung nach Interdisziplinarität hervor:

Seit damals gehört die Forderung nach mehr Interdisziplinarität zum „Mantra“ der Forschungspolitik (Metzger und Zare 1999). Der Begriff wurde […] geprägt, um verschiedene Lehr- und Forschungsformate zu bezeichnen, die dem Austausch von Modellen, Methoden und Personen zwischen Fachgebieten dienen (Thompson Klein 1990, 36 ff.). Auf den OECD-Treffen argumentierten Ökonom/-innen, Politiker/-innen und Wissenschaftsphilosoph/-innen in großer Einhelligkeit, dass interdisziplinäre Formate besser geeignet seien, fachübergreifende Forschungsfragen und damit die ‚Probleme der wirklichen Welt‘ (Gibbons et al. 1994, S. 147–149) zu bearbeiten. Ausgehend von diesen Empfehlungen kam es weltweit zur Einrichtung interdisziplinärer Forschungsorganisationen und Förderprogramme, die die nachteiligen Folgen fachlicher Segmentierung kompensieren und institutionelle Impulse für wissenschaftlich-technische Innovationen geben sollten. (ebd.)

Die CNS ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die wissenschaftliche Diskursivierung in der interdisziplinären Forschungsarbeit. Sie ist ausdrücklich dazu angetreten, um eine neue, ‚biologisch plausible‘ Hirnforschung zu entfalten, die sich an ‚Problemen der wirklichen Welt‘, namentlich: der hochgradigen Komplexität systembiologischer Prozesse im Bereich der neuronalen Informationsverarbeitung messen lassen möchte (– ein Anspruch in dem sich, ganz diskursiv, auch der geistes-/sozialwissenschaftliche Reduktionismus-Vorwurf bereits widerspiegelt). Erst die interdisziplinäre Kombination von Kybernetik, Computerwissenschaft und Physik mit der neurobiologischen Hirnforschung und der Psychologie ist, dem Selbstverständnis der CNS nach, dazu in der Lage, Herausforderungen dieser Größenordnung anzunehmen und zu begegnen. Vor dem Hintergrund dieser Aufgabe beabsichtigte Schwartz, die CNS als fächerübergreifenden Forschungsdiskurs zu begründen und zu institutionalisieren, indem er Wissenschaftler/-innen verschiedener Provinienz miteinander ins Gespräch brachte (Abschnitt 1.2.2).

2.2.3.2 Die Kommunikationsgesellschaft

Den Übergang von der Diskursivierung zur Kommunikationsgesellschaft erläutert Knoblauch (2017) anhand des mehrdimensionalen Begriffs der Kommunikativierung, der im Folgenden mit Bezug auf die vorliegende Studie ausführlich dargestellt werden soll. Mit dem Begriff der Kommunikativierung grenzt Knoblauch frühere Formen der Mediatisierung von den technologischen Entwicklungsschüben insbesondere seit den 2000er Jahren ab, die auf Ebene der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) ausschlaggebend für das sind, was er in Abgrenzung zur Diskursivierung seit den 1970er Jahren als Kommunikationsgesellschaft bezeichnet.Footnote 19 Mit den Begriffen Digit(al)isierung, Interaktivierung und Kommunikationsarbeit erläutert Knoblauch den Charakter der Kommunikativierung (ebd., S. 343 ff.):

Kommunikativierung umfasst die Digitalisierung, die Interaktivierung und die Ausweitung der Kommunikationsarbeit. Sie ist geknüpft an die zunehmend globale Ausweitung der informationellen Infrastrukturen, die als Infrastrukturierung betrieben wird. Durch diese Prozesse und die aus ihnen hervorgehenden Folgen für das kommunikative Handeln wird die Kommunikationsgesellschaft gebildet bzw. konstruiert. (Knoblauch 2017, 335)

Die Kommunikativierung „zeichnet sich […] durch die Umstellung der Technik auf Zeichen aus“ (ebd.). Knoblauch differenziert in diesem Sinne zunächst die Begriffe Digitisierung und Digitalisierung. Während er unter Letzterer die Nutzung digitaler Daten versteht (siehe unten), bezeichnet er mit Ersterer die Grundlagen dieser Nutzung, den Prozess der Umwandlung von analogen in binäre digitale Zeichen. Die Wandlung in binären Code und die Einspeisung in elektrische Schaltkreise stellt somit die eigentliche Grundlage der Kommunikativierung dar. Die Digitisierung von Gegenständen in Computercode ist die Voraussetzung der Digitalisierung und der Folgen, die an sie anschließen. Aufgrund dieser im vorliegenden Kontext fundamentalen Bedeutung der Digitisierung soll sie hier näher beleuchtet werden:

Digitisierung beruht auf der Verbindung eines einfachen mathematischen Zeichencodes mit einem elektrischen Kreislauf […]. Ihr Kern besteht zum Ersten darin, dass zwei elektrische Zustände klar (»diskret«) voneinander unterscheidbar sind, wie dies in der Öffnung oder Schließung eines elektrischen Kreislaufes der Fall ist. Diese beiden Zustände werden dann, zum Zweiten, mit einem ebenso diskreten binären logisch-mathematischen Code (1/0) gleichgesetzt bzw. in ihn »übersetzt«. […] Wie dieser Code selbst wieder als Grundlage für alle komplexeren mathematischen Kombinationen dient, so können auch die Regelkreise etwa in Reihen- oder Parallelschaltungen miteinander verkoppelt und endlos ausgebaut werden. So können elektrische Abläufe mit immer komplexeren Zeichen verbunden und, falls es sich um Zahlen handelt, Rechnungen gelöst werden. (ebd., S. 344)

Binäre Zeichensysteme, die ihrerseits der Digitisierung zugrunde liegen, weisen einen ähnlichen sozio-historischen bzw. sozio-technischen Entwicklungspfad auf wie andere Zeichensysteme, etwa die Entwicklung von Idiogrammen zu Lautzeichen. Ursprünglich wurden binäre Codes auch tatsächlich wie Schriftsprachen verwendet. Diese Funktion lässt sich wenigstens bis in das achte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nach China zurückverfolgen (Gramm 2001). Aus dieser Zeit ist das I Ging, Das Buch der Wandlungen bekannt, das u. a. 64 umfangreich kommentierte Hexagramme beinhaltet, die sich aus jeweils sechs Binärzeichen (durchgezogene Linie/unterbrochene Linie) zusammensetzen.Footnote 20

Auch die Verwendung des Binärcode-Systems zur Tele-Kommunikation, zum Zweck also, Kommunikation über weite Strecken hinweg zu ermöglichen, hat eine lange analoge Tradition. So hat bereits der antike griechische Geschichtsschreiber Polybius eine auf Bi-Grammen basierende Form der „optischen Telegraphie“ (Gramm 2001, 2) entwickelt, wobei bis zu fünf Fackeln gehalten wurden (linke Hand/rechte Hand), wodurch 25 Buchstaben codiert und über Sichtweite ‚versendet‘ werden konnten (ebd., S. 4). Später hat sich hieraus die auf Morse basierende elektrische Telegrafie entwickelt.

Als Erfinder des binären Zahlensystems (sowie auch als Grundsteinleger der digitalen Computertechnologie) darf Gottfried Wilhelm Leibnitz betrachtet werden (Breger 2008, 386).Footnote 21 Leibnitz beschäftigte sich bereits im 17. Jahrhundert intensiv mit mathematischen Problemstellungen und entdeckte dabei das binäre Zahlensystem, das er in eine mathematische Kosmologie einbettete. Die Null galt ihm in diesem Rahmen als das Nichts, die Eins hingegen als das Sein überhaupt: Das Ziffernpaar aus Null und Eins umfasste für ihn damit die universellen Grundaspekte der Schöpfung (ebd., S. 387). Zudem sah Leibnitz, dass durch das binäre System alle anderen Zahlen ausgedrückt werden konnten, was ihm – dem pythagoräischen Weltbild „Alles ist Zahl“ gemäß – bedeutete, dass durch die Eins und die Null schier alles oder mit anderen Worten: die gesamte Schöpfung ausgedrückt werden könne (ebd.). Damit war Leibnitz dem (vermeintlichen) Potential des digitalen Binärsystems, das heute u. a. in den modernen PCs der CNS-Expert/-innen verwirklicht werden soll, bereits dicht auf der Spur.

Die Digitisierung erweist sich für meine Fallstudie bzw. für das Feld der CNS und die beobachtete Forschungsgruppe zunächst hinsichtlich wenigstens zwei unterschiedlicher Aspekte (technisch und theoretisch) von konstitutiver Bedeutung. In ihrer (personalen) Verschränkung verweisen beide Aspekte darauf, dass das Adjektiv computational in der Feldbezeichnung CNS nicht trivial ist, sich also nicht auf die Digitalisierung komplexer Modelle durch Computer (allein) bezieht, sondern vielmehr Ausdruck einer wesentlich tieferen Verknüpfung des Felds mit dem ist, was im KoKo mit dem Begriff der Digitisierung beschrieben wird.

Erstens ist die CNS ein Forschungsbereich, der sich der technischen Entwicklung der „Von-Neumann-Architektur“ (VNA) verdankt, einer Computerarchitektur, die nach ihrem Erfinder benannt wurde, dem u.s.-amerikanischen Computerpionier John von Neumann. Ohne VNA, auf der moderne PCs basieren, ohne die digitale Aktivierung des Prinzips des Binärcodes, wären die Modelle der neuro-informatisch/neurobiologischen CNS nicht zu bewältigen, wie uns ein Physiker und Professor für CNS bestätigte:

So rigoros mathematisch wie man Physik betreiben kann, kann man Neurobiologie nicht betreiben. Und ohne Computer ist man dann hilflos. Deswegen: Alles was interessant gewesen wäre, theoretisch, ein bisschen komplexer, konnte man damals, vor dem Weltkrieg, nicht machen. (EXP_1, S. 3)

Erst durch die Verbindung der simplen Struktur des binären Codes mit den Von-Neumann-Rechnern eröffnete sich die Mannigfaltigkeit tatsächlicher und potenzieller Anwendungen der Computerisierung (Breger 2008, 385) in so unterschiedlichen Bereichen wie der Klimaforschung oder der Modellierung neuronaler Prozesse. Nummerische Korpora und theoretische Modelle können heute gleichermaßen in Code umgewandelt (digitisiert), von Computern berechnet (computerisiert) und anschließend z. B. digital visualisiert (digitalisiert) werden. Dies ist die Grundvoraussetzung für alle Computational Sciences.

Auf dieser technischen Grundlage kann, was immer digitisiert wird, in moderne PCs eingespeist und modelliert werden. Dabei ist die Digitisierung, darauf weist auch der KoKo ausdrücklich hin, weit mehr als nur Simulation oder Repräsentation: Vielmehr zeigt sich die Digitisierung, als Produkt zeichenhaften kommunikativen Handelns, als Objektivation, mit einer eigenen Wirkung ausgestattet. Sie stellt selbst eine kommunikative Konstruktion, eine Wirklichkeit sui generis dar, die spezifische Folgehandlungen ermöglicht und andere unterdrückt. Den erweiterten Möglichkeitsraum der Digitisierung spannt dabei schließlich erst die Digitalisierung auf, die Re-Präsentation digitisierter Daten. Sie stellt einen sozialen Sinnzusammenhang her, indem die ‚Digitisate‘ intraaktiv mit einer globalen, kommunikationstechnologischen Infrastruktur verbunden werden können (Interaktivierung).

Zweitens verknüpft der ungarisch-stämmige Mathematiker von Neumann, der Erfinder des modernen Computers, dessen VNA eng mit Leibnitz’ Binärsystem und den Grundlagen der Digitisierung verbunden ist (Breger 2008, 385), diese auch theoretisch mit der CNS, für die er einen wichtigen Ideengeber darstellt. Neumanns Ansatz des „Brain-like Computing“ zählt zu den Pionierarbeiten der CNS: In seinem 1945 publizierten Bericht über die Entwicklung der VNA schreibt er, das Credo des Brain-Like-Computing zusammenfassend, das Funktionsprinzip seines Computers sei an den Prinzipien des Gehirns orientiert. Er führt dazu in Anspielung an Leibnitz’ Universalitätsthese der Binarität aus, dass alle existierenden „computing machines“ über Relais verfügten, die wie Neuronen funktionierten: „They have all-or-none character, that is two states: Quiescent and excited“ (Neumann 1992[1945], 4 f.).

Die Digitisierung durch binäre Zahlencodes ist für die CNS daher zweifach konstitutiv: Zum einen auf der technischen Grundlage, dass die Schlüsseltechnologie der CNS, der Computer nach von Neumanns Architektur, der auf Leibnitz’ Binärsystem basiert, überhaupt erst Berechnungen der Art ermöglicht, wie sie für die Modelle der CNS notwendig sind und die anderenfalls „pipe dreams“ (Churchland et al. 1993, 47) geblieben wären. Zum anderen ist die CNS aber auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit dem Binärcode verknüpft, da von Neumann nicht nur als Erfinder des modernen PCs betrachtet wird, sondern auch der Computer-Hirn-Analogie, die den wesentlichen Legitimationshintergrund für die CNS darstellt(e).Footnote 22

Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Digitisierung verdeutlich daher, dass das „computational“ in CNS mehr als die digitale Repräsentation von Daten auf Computerbildschirmen bedeutet. Die CNS untersucht Hirne mit computerwissenschaftlichen Methoden auf Grundlage der Annahme eines gemeinsamen informatisch-neurowissenschaftlichen Prinzips, nämlich das der Binarität des Computercodes (1/0) einer- und der neuronalen Funktionsweise (aktiv/nicht aktiv) andererseits: Die Aktivität eines Neurons lässt sich messen: entweder es ‚feuert‘ oder nicht, es kennt keine weiteren Zustände (1/0). Entsprechend dieser fundamentalen Übereinstimmung ist daher auch von „Neuroinformatik“ und „neuronaler Informationsverarbeitung“ die Rede. Man kann Leibnitz aus Perspektive der CNS daher leicht recht geben, dass der binäre Code alles, so wie es in unseren Hirnen existiert, abzubilden und zu berechnen vermag. Herbert Breger schränkt allerdings ein und gibt zu bedenken, dass Leibnitz selbst bzgl. der Subjektivität skeptisch blieb und sie für „nicht künstlich herstellbar hielt“ (ebd., S. 391).

Die Digitalisierung und somit die Nutzung digitaler Daten ist hinsichtlich eines dritten Punkts von grundlegender Bedeutung für die CNS, nämlich durch die Visualisierungsweisen, die sie ermöglicht. Ohne diese wäre die CNS ein anderes Forschungsfeld. Das verdeutlicht die Analyse des Group-Talk als zentrale Kommunikationsform der beobachteten Forschungsgruppe (Abschnitt 4.2). Außerdem machen auch die geführten Expert/-inneninterviews deutlich, dass die CNS nicht nur eine theoretische, sondern auch eine visuelle Wissenschaft ist, die nicht allein in ihrer internen und externen Wissenskommunikation maßgeblich auf Bilder setzt. Selbst der Erkenntnisprozess im Rahmen der CNS-Forschung ist ganz maßgeblich mit der durch Digitisierung ermöglichten Digitalisierung verknüpft. Eine u.s.-amerikanische Expertin auf dem Feld der CNS, die selbst ein großes Labor leitet, sagte uns dazu:

figure a

Hier zeigt sich interessanterweise, dass Daten in der CNS nicht nur für andere, sondern auch für das forschende Subjekt (oder die eigene Projektgruppe) selbst digitalisiert und visualisiert werden. Tatsächlich ist es in der CNS (und anderen Feldern, die große Datenkorpora analysieren) heute üblich (Gramelsberger 2010, Malina 2010), dass der Erkenntnisgewinn und nicht nur dessen Kommunikation anhand von Visualisierungen vonstattengeht.Footnote 23 Diese Erkenntnis ist nicht neu: Die Laborstudien im Bereich der Science and Technology Studies (Alać 2008, Beaulieu 2002, Burri 2008, Lynch und Woolgar 1990, Coopmans, et al. 2014), Wissenschaftshistoriker/-innen (Daston und Galison 2007) sowie die Wissenschaftsphilosophin Gramelsberger (2010) und andere haben sich mit den Repräsentationsformen, bildgebenden Verfahren und Computermodellen verschiedener wissenschaftlicher Felder detailliert auseinandergesetzt und sind zu ähnlichen Befunden gelangt. Zwar wurden schon vor dem Computer- und PC-Zeitalter Bilder als Evidenz herangezogen, insbesondere aber in Kombination mit der Digitisierung sind Forschungsbereiche entstanden, in denen überhaupt erst anhand der unterschiedlichen digitalen Repräsentationsformen von Forschungsdaten der Erkenntnisgewinn ermöglicht wird, zur Anschauung kommt oder wo Bilder sogar selbst zum Werkzeug der Forschung werden (Daston und Galison 2007, 409).

Während andere Objektivationen erst in den Handlungen und in Verbindung mit menschlichen Körpern einen Sinn machen, erzeugen digitale Technologien mit den Zeichen ohnehin schon immer auch einen Sinn, der elementar zeichenhaft ist: Er beruht auf der zeichenhaften Binarität, die den Kern der Digitisierung ausmacht. Seine gesellschaftliche Kraft als Digitalisierung entwickelt er aber durch die kybernetische Kopplung mit anderen materialen, technischen und körperlichen Prozessen, die entweder selbst als Wirkungen auftreten können oder eine zeichenhafte Form annehmen (wie dies etwa in Buchstaben, Bildern oder Tönen an Computern geschieht). (Knoblauch 2017, S. 345)

Mit der Digitalisierung wird daher ein weiterer Aspekt der Kommunikativierung zur Kommunikationsgesellschaft angestoßen, die Interaktivierung. Unter Interaktivierung versteht Knoblauch die Kopplung von technischen Systemen und menschlichem Handeln (in Abgrenzung zum Begriff der Intraaktion (Knoblauch 2017, S. 346), der die Kommunikation zwischen verknüpften technischen Systemen untereinander bezeichnet). Interaktivierung bezeichnet somit die Wirkung der Digitalisate als Produkte kommunikativen Handelns (soziale Kraft). Digitisierung und Digitalisierung sind, wie wir gesehen haben, grundlegende Voraussetzungen der CNS, nicht nur in technischer oder theoretischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf Erkenntnisprozess und Wissenskommunikation im Feld.

Der KoKo erlaubt es, die auf Digitalisierung basierenden Visualisierungspraktiken der CNS als kommunikatives Handeln zu fassen und zu verstehen, wie diese Bild-Kommunikation, in einer als gemeinsam wahrgenommenen Umwelt, sowohl nach innen als auch nach außen, sowohl für die Wissenschaftler/-innen und die eigenen Daten als auch für die anderen, denen diese visuell präsentiert werden, wirksam wird. Das Zitat der US-Expertin oben verdeutlicht, wie ihre Forschungsdaten durch Digitalisierung gleichsam ‚zum Sprechen gebracht‘ werden (Interaktivierung). Die Kommunikation, die dabei entsteht, ist durchaus kein Selbstgespräch, auch wenn die Expertin vor allem von ihrem eigenen Erkenntnisprozess zu sprechen scheint. Dass sie dabei vielmehr bereits die Adressat/-innen ihrer Community antizipiert, dass sie, wenn sie sich von ihren Datenvisualisierungen überraschen lässt, ihr präsentationales Wissens nutzt, um zu erkennen, was auch andere in den entsprechenden Visualisierungen erkennen könnten, brachte uns gegenüber ein weiterer Experte aus dem Feld der CNS deutlich zum Ausdruck:

figure b

Die Interaktivierung zwischen Menschen und technischen Systemen als wesentliche Wirkung der Digitalisierung kommt in beiden zitierten Interviewauszügen exemplarisch zum Ausdruck. Die an realen (oder auch hypothetischen) Gegenständen gemessenen (oder berechneten) Daten werden als binäre Zahlencodes in Computersoftware eingespeist und können so digital aufbereitet (z. B. visualisiert) werden. Als digitale Repräsentationen dienen sie schließlich als Erkenntnis- und Kommunikationsmittel und können als gemeinsame Referenz und kommunikative Ressource verwendet werden. Diese kommunikative Wirkung entfaltet sich maßgeblich durch die Verschmelzung von Informations- mit Kommunikationstechnologien im Rahmen des modernen PCs und realisiert sich damit als ein Prozess der Medialisierung:

Sie [diese Verschmelzung; R. W.] wurde schon früh durch den Umbau des Computers als einer Rechenmaschine in eine »Kommunikationsmaschine« vorbereitet […] Diese Konvergenz von Informations- und Kommunikationstechnologien (die sich in der Breite seit den 1990er Jahren vollzogen hat) führte dazu, dass neben den digitalen Zeichen mit ihren besonderen Programmiersprachen nun immer mehr Zeichen verwendet wurden, die auch in anderen Formen menschlicher Kommunikation zum Einsatz kamen (mit den entsprechenden Oberflächen, Monitoren und Ikonen). Wir haben es also mit dem Einbezug einer Vielzahl von medialen und durchaus auch massenmedialen Formen der Kommunikation in den Bereich des Digitalen zu tun, die wir als Medialisierung bezeichnen. Dieser Prozess der Medialisierung ist verbunden mit vielfachen Anstrengungen zur Visualisierung etwa im Zusammenhang der Schaffung von Virtual Realities, die seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt zur Verbildlichung und Audiovisualisierung der interaktiven Schnittstellen zwischen den Geräten und den Geräten und den Menschen führte. (ebd., S. 347)

Medialisierung bildet die Grundlage dafür, dass Computer nicht nur rechnen können, sondern auch dazu in der Lage sind, z. B. in der Gattung des Präsentieren (Schnettler und Knoblauch 2007), eine Vielzahl menschlicher Kommunikationsweisen zu erweitern und zu prozessieren. Das ist auch im Group-Talk der CNS und bei den für sie typischen, auf digitalen Visualisierungen basierenden, epistemologischen und kommunikativen Repräsentationsformen der Fall. Die Bild-Kommunikation der CNS ist eine Form des kommunikativen Handelns, die zentral auf dem durch die Digitalisierung ermöglichten digitalen Zeigen beruht. In diese computergestützte Deixis sind einerseits verschiedene intraaktiv ineinander verschachtelte Formen bzw. Aggregatsstufen von Objektivationen (Infrastruktur, Hardware, Software, digitisierte Daten, digitalisierte Repräsentationen) involviert, die Wirkungen entfalten (z. B. Erkenntnis ermöglichen). Andererseits basiert dieses Zeigen wie jede kommunikative Handlung im Sinne der Kommunikationstriade gleichzeitig auf der performativen Objektivierung verkörperter Subjekte (Zeigen, Sagen, Sehen), die mit den intraaktiven Objektivationen interaktiv sind (Kommunikation).Footnote 24

Als institutionalisierte Form der Wissenskommunikation ist das kommunikative Handeln der Bild-Kommunikation in der CNS, wie ich in Abschnitt 4.2 anhand videographischer Analysen zeigen werde, eng mit Kommunikationsarbeit als drittes Grundelement der Kommunikativierung verknüpft. Im Feld ist die Kommunikationsarbeit maßgeblich durch die Anwendung der dort ausgebildeten und vermittelten spezifischen Form präsentationalen Wissens charakterisiert. Dies kommt deutlich in dem Zitat des zuletzt zitierten CNS-Experten zum Ausdruck. Die Wahl der Visualisierungsweise kann dafür entscheidend sein, welche Bedeutung einer Arbeit beigemessen, was als förderungswürdig angesehen oder welches Ergebnis evident wird.

Die Erzeugung und performative Darstellung von Visualisierungen in der CNS ist daher weder Selbstzweck noch Ornament. (Wobei ästhetische Erwägungen, auch das wurde im Rahmen des Group-Talks und den geführten Expert/-inneninterviews deutlich, durchaus eine Rolle spielen). Vielmehr ist die Erzeugung von Visualisierungen zum Zweck ihrer erkenntnistheoretischen und kommunikativen Funktionen mit einem großen Aufwand verbunden, der, wie auch Forschungen in anderen Bereichen belegen (Kellogg, Orlikowski und Yates 2006), unter Inkaufnahme eines hohen Ressourcenaufwands erledigt wird. Diese Kosten können von den Betroffenen als Zeitvergeudung der eigentlichen Forschungstätigkeit betrachtet werden (Geringschätzung der Kommunikationsarbeit). Tatsächlich sind diese Kommunikationsarbeit und das entsprechende Knowhow, d. h. das präsentationale Wissen, essenziell, um auf die richtige Weise sehen, zeigen und die entsprechenden Visualisierungen erstellen und auswählen zu können:

Diese interaktive Koordination scheint nötig zu sein, um die Indexikalität der standardisierten digitalen Daten »heilen« zu können: Sie müssen verstanden, mit anderen gedeutet und situativ angepasst werden. (Knoblauch 2017, S. 352)

Kommunikationsarbeit bzw. dem präsentationalen Wissen, das sie anleitet, kommen vor dem Hintergrund der heterogenen Wissensordnung der CNS die Rolle zu, im Feld und konkreter: in der eigenen Forschungsgruppe, zu verstehen und selbst verstanden zu werden. Die Kommunikationsarbeit steht daher exemplarisch für die Hervorbringung des von mir für die vorliegende Fallstudie vorgeschlagenen Begriffs der Wissenskommunikation (Kapitel 1). Sie ist in dem in der vorliegenden Arbeit fokussierten Group-Talk als zentrale Kommunikationsarbeit der CNS-Forschungsgruppe beobachtbar. Diese Wissenskommunikation ist die Kardinalaufgabe, die den Forscher/-innen im Feld aufgegeben ist, um ihre Arbeit interaktiv als CNS, d. h. als multiperspektivischen Ansatz der modernen Hirnforschung zu rahmen. Der Group-Talk ist die kommunikative Form, die es erlaubt, dieser Herausforderung in der Kommunikationsarbeit geordnet und angemessen zu begegnen.

An dieser Stelle sei für dieses Kapitel abschließend darauf hingewiesen, dass der KoKo, mit seiner dreiteiligen Gliederung aus Sozial- und Gesellschaftstheorie sowie Zeitdiagnose selbstredend weit mehr beinhaltet, als im Rahmen meiner Arbeit dargestellt werden kann oder soll. Zahlreiche Aspekte des KoKo überschneiden sich zudem mit Vorannahmen, die er aus Quellen aufgenommen hat, die ich z. T. im vorangegangenen Unterkapitel subsummiert habe (siehe 2.1). Schließlich gibt es Aspekte, die der weitgespannte KoKo postuliert und die für meine Fallstudie keine oder – aus Perspektive meines Forschungsdesigns – nur eine untergeordnete Rolle spielen, sodass sie hier nicht aufgegriffen wurden. Dies gilt z. B. für die Erweiterung des Kommunikationsbegriffs in Richtung der „Anzeichen“, die zwar von sozialtheoretischer Bedeutung ist, jedoch nur eine untergeordnete Relevanz im Rahmen der von mir beobachteten Kommunikationsprozesse besitzt. Aus diesem Grund bediene ich mich in meiner Arbeit eines eigenen bzw. zwei eigener Begriffe der Kommunikation bzw. der Wissenskommunikation (Kapitel 1), die – aufbauend auf Schütz und dem KoKo – nicht-intendiertes kommunikatives Handeln aus der Interpretation der beobachteten Kommunikationsprozesse ausnehmen. Der Fokus auf das, was bewusst gesagt, gefragt, gezeigt oder angedeutet wird, sowie die von mir gewählte Fokussierung auf Kommunikation in Kopräsenz in meiner Arbeit, verdanken sich der empirischen Struktur meines Gegenstands und möchten weder die generelle Bedeutung von Anzeichen noch von nicht-kopräsenter Kommunikation für das kommunikative Handeln und die kommunikative Konstruktion von Wirklichkeit bestreiten. Im Gegenteil, es ist sicher ein weiteres Verdienst des KoKo, dass er mit den entsprechenden Erweiterungen den Fokus auch auf diese Aspekte des kommunikativen Handelns lenkt, die in bisherigen Ausformungen des SoKo weitgehend vernachlässigt wurden.

Nichtsdestoweniger bietet sich, wie ich in diesem Kapitel gezeigt habe, der KoKo, mit seiner Zeitdiagnose und seinem empirisch aktualisierten gesamtgesellschaftlichen Theorierahmen, für meine empirische Arbeit als forschungsleitendes Konzept an. Der Gegenstand meiner Forschung lässt sich nur aus einer solchen, die veränderten Bedeutungen und Grundvoraussetzungen von Kommunikation berücksichtigenden Perspektive verstehen. Insbesondere der erweiterte Kommunikationsbegriff des KoKo, der auch die Kommunikativierung der Gesellschaft umfasst, seine Betonung des körperlichen Wirk-Handelns, des Wirklichkeits-stiftenden Charakters von Kommunikation sowie der Bedeutung von Objektivierungen und Objektivationen, der Symbol- und Sachstrukturen unserer Kommunikation also, sowie schließlich der Umstand, dass die GA als empirische Grundlage zugleich integraler Bestandteil des KoKo geworden ist, machen ihn, für meine kommunikationssoziologische, gattungsanalytische Untersuchung des Group-Talks in der CNS zu einem wichtigen Ideengeber.