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1 Grundlagen und Leitfragen

Alltagsmobilität, mit deren Hilfe Orte mit vertretbarem zeitlichen und finanziellen Aufwand erreicht werden können, ist insbesondere in ländlichen Regionen eine wesentliche Voraussetzung, um Bildung und Ausbildung sowie Erwerbstätigkeit zu praktizieren, Freizeit zu gestalten oder den Alltag zu bewältigen, und trägt damit wesentlich zur Wohnortzufriedenheit bei (Stockdale und Haartsen 2018). Auch die Teilhabechancen von Geflüchteten, die in ländlichen Regionen leben, hängen von funktionierender Alltagsmobilität ab, damit die für Integration und die alltägliche Lebensgestaltung relevanten Infrastrukturen erreicht werden können: In ländlichen Wohnorten befinden sich wichtige Infrastrukturen jedoch oft nicht am Wohnort oder in fußläufiger Entfernung davon (Steinführer 2018; Rösch et al. 2020). Aufgrund des dort in der Regel nur schlecht ausgebauten oder im Angebot beschränkten öffentlichen Verkehrs ist funktionierende Alltagsmobilität in ländlichen Regionen häufig von einem Zugang zum motorisierten Individualverkehr (MIV) abhängig. Daher werden Alltagsmobilität und Erreichbarkeit hier als Schlüsselkategorien für die Integration von Geflüchteten in ländlichen Regionen gesehen und im folgenden Kapitel aus verschiedenen Perspektiven analysiert.

Konzeptionelle und methodische Grundlagen

Konzeptionell stützen wir die durchgeführten Analysen auf Ansätze GIS-basierter Erreichbarkeitsmodellierungen, auf den aspiration/(cap-)ability-approach sowie auf Ansätze sozialräumlicher Exklusion und Inklusion.

Unter Alltagsmobilität von Personen verstehen wir Formen der räumlichen Mobilität, bei der Protagonist*innen sich für einen begrenzten Zeitraum von ihrem Wohnort (= gewöhnlicher Aufenthaltsort) zu einem anderen Ort bewegen und anschließend wieder an ersteren zurückkehren. Alltagsmobilität ermöglicht es, in die Standortofferten des unmittelbaren Wohnstandortes (Weichhart 2009) diejenigen Nutzungspotenziale einzubeziehen, die durch tagesrhythmische Zirkulation erreicht werden können. Alltagsmobilität erweitert demnach den Radius des Aktionsraumes vom Wohnort aus. Die Art der zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel und der Zugang zu diesen bestimmt die individuell wahrgenommene Distanz. Erreichbarkeit ist dabei der Aufwand, um von einem Punkt aus zu einer Aktivität (z. B. Arbeitsplatz, Versorgung, Freizeiteinrichtungen) zu gelangen und kann in (Reise-)Zeit, Distanz und Transportaufwand samt Kosten in Verkehrsnetzen oder im Raum erfasst werden (Dahlgreen 2008; Schwarze 2005; Bleisch et al. 2003; Schürmann et al. 1997).

Relevante Größen, um Erreichbarkeit bestimmen zu können, sind demnach a) der Ausgangspunkt der Aktivität (z. B. Wohnung), b) der Zielort bzw. die Zielorte, d. h., welche Aktivität(en) angestrebt wird bzw. werden und wo diese anzutreffen ist bzw. sind, und c) der Aufwand (gemessen in Zeit, Distanz oder finanziellen Ressourcen etc.), der erforderlich ist, um von a) nach b) zu gelangen. Letzterer ist wiederum abhängig von naturräumlichen Gegebenheiten, den zur Verfügung stehenden Transportwegen (Straßen, Schienen, Flüsse usw.) und Verkehrsmitteln (zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit dem Pkw, mit dem ÖPNV). Ist der individuelle Aufwand, um von a) nach b) zu gelangen, gering (hoch), kann man von einer guten (schlechten) Erreichbarkeit sprechen. Die Fahrtziele (b) Zielorte) sind abhängig von den individuellen Präferenzen von Personen, Haushalten oder sonstigen Gruppen, die den StandortnutzenFootnote 1 bestimmen.

Als Maß für Erreichbarkeiten verwenden wir die geographische Erreichbarkeit, gemessen in Fahrzeiten zu Infrastrukturen im Verkehrswegenetz – wir nutzen also einen komplexen Erreichbarkeitsindikator. Untersucht wird, wie sich die Erreichbarkeit zentraler Infrastrukturen in und zwischen den Untersuchungslandkreisen (s. Kap. 1) in Abhängigkeit vom Wohnstandort und vom gewählten Verkehrsmittel darstellt. Grundlage hierfür ist das Thünen-Erreichbarkeitsmodell (s. Neumeier 2019).

Angestrebte Infrastrukturen und wichtige Orte werden im Rahmen von qualitativen Interviews erfasst, den konzeptionellen Rahmen bildet der aspiration/(cap-)ability-Ansatz. Ursprünglich zur Erklärung von Wohnstandortverlagerungen von Carling (2002) konzipiert, geht der aspiration/(cap-)ability-Ansatz davon aus, dass Individuen bei der Entscheidung und Umsetzung, einen Ort aufzusuchen, sowohl Bestrebung (aspiration) als auch Fähigkeit (ability) zur Mobilität einbeziehen (s. auch Kimhur 2020 im Kontext von Wohnen und ausführlich in Kap. 6). Um die Bestrebung (aspiration) bewerten zu können, ist es zunächst wichtig, individuell oder im Haushalt bedeutsame Orte zu identifizieren. Solche Orte (places) müssen entweder aufgesucht werden oder wollen aus verschiedenen Gründen erreicht werden. Sobald die Erlangung eines Ortes als wichtig erachtet wird, ist das Individuum bestrebt, Mobilitätspraktiken umzusetzen. Als Erweiterung des aspiration/(cap-)ability-Ansatzes werden schließlich noch die realisierten Mobilitätspraktiken sowie deren Bewertung in die Analyse einbezogen. Eine retrospektive Betrachtung von Erfahrungen bei der Umsetzung von Alltagsmobilität ist zentral für das Verständnis von individuell wahrgenommener Erreichbarkeit. Daraus können Rückschlüsse auf strukturelle, individuelle und situative Barrieren gezogen werden, die im Folgenden mit Exklusions- und Inklusionsprozessen gerahmt werden.

Exklusions- und Inklusionsprozesse sind individuell und strukturell begründet und können durch die Erlangung von Handlungsmacht (Agency) und die Einflussnahme von lokaler Politik und Zivilgesellschaft beeinflusst werden. Erfahrungen von Immobilität im Alltag von Geflüchteten führen insbesondere dann zu Exklusion, wenn Orte, die erreicht werden müssen oder wollen – z. B. Bildungsinfrastrukturen, Arbeitsplätze oder und Gesundheitseinrichtungen –, aber auch Orte, an denen soziale Interaktionen stattfinden, nicht erreicht werden (Ager und Strang 2008). Fokussiert werden hier Exklusionsprozesse, die vorwiegend in der fehlenden Möglichkeit, Alltagsmobilität zu realisieren, begründet liegen. In wenigen Studien wird soziale Exklusion in Form von eingeschränkter räumlicher Alltagsmobilität thematisiert (Bose 2014; Farber et al. 2018), konzeptionell gefasst mit socio-spatial exclusion and inclusion (Cass et al. 2005; Madanipour 2003) oder transportbezogener Exklusion (transport-related social exclusion) (Kenyon et al. 2002; Gray et al. 2006).

Gleichzeitig finden Prozesse der Inklusion statt, die im Gegenzug die gleichberechtige Teilhabe bzw. den gleichberechtigten Zugang zu den genannten Ressourcen beschreiben (Weidinger et al. 2017). Durch Erfahrungen von Exklusion und Inklusion über einen gewissen Zeitraum sammeln Geflüchtete Wissen über Orte und deren Zugänglichkeit (accessibility; Madanipour 2003; Cass et al. 2005) und konstruieren Orte damit auch als exkludierend oder inkludierend (Spicer 2008).

Vorgehensweise

In Abschn. 7.2 geht es um die Mobilitätssituation der Residenzbevölkerung in den acht Untersuchungslandkreisen und die potenzielle Erreichbarkeit dieser Infrastrukturen, differenziert nach Mobilitätsarten. Grundlage sind mobilitätsbezogene Items der Bevölkerungsbefragung und Analysen des Thünen-Erreichbarkeitsmodells. In Abschn. 7.3 wird analysiert, welche Orte (Infrastrukturen) von Geflüchteten als für ihren Lebensalltag individuell bedeutsam erachtet werden und wie sie realisierte Praktiken der Alltagsmobilität beschreiben und bewerten. Welche Praktiken entwickeln sie, um Einschränkungen in Bezug auf Alltagsmobilität zu überwinden? Abschn. 7.4 untersucht die Wahrnehmung der Akteur*innen aus Lokalpolitik und Zivilgesellschaft auf die Mobilitätssituation Geflüchteter in ihren Landkreisen und fragt, ob und ggf. welche Strategien initiiert und implementiert werden, um mobilitätsbedingte Exklusion zu vermeiden bzw. abzumildern. In Abschn. 7.5 wird abschließend erörtert, welchen Stellenwert Alltagsmobilität und Erreichbarkeit für die Teilhabechancen Geflüchteter in den Untersuchungslandkreisen einnehmen und welche Faktoren diese beeinflussen.

2 Mobilitäts- und Erreichbarkeitssituation in den Untersuchungslandkreisen

Die Mobilitätssituation in den Untersuchungslandkreisen wird zunächst durch Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung erfasst, die Aufschluss gibt über Mobilitätspraktiken und -möglichkeiten der ansässigen Bevölkerung auf der Ebene der Landkreise (s. Abschn. 7.2.1). Eine ortsgenaue Zuordnung der Befragungsdaten ist nicht möglich, kleinräumige Erreichbarkeitsanalysen wichtiger Infrastrukturen oder zentralerer Orte auf einem Raster von 250 x 250 m mit dem Thünen-Erreichbarkeitsmodell ergänzen daher anschließend die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung und zeichnen ein differenziertes Bild der Mobilitätssituation in den Untersuchungslandkreisen und -kommunen (s. Abschn. 7.2.2).

2.1 Mobilität der Residenzbevölkerung

Um die Nutzung und Bewertung der Mobilitätsinfrastruktur in den untersuchten acht Landkreisen besser abbilden zu können, wurden in der postalischen Befragung der Residenzbevölkerung Fragen zur Alltagsmobilität integriert.Footnote 2 Diese Befragungsergebnisse geben Einblicke, welche Mobilitätsgewohnheiten oder -möglichkeiten für die lokale Bevölkerung existieren. Dies kann auch Aufschluss über Möglichkeiten oder Hindernisse in der Partizipation am lokalen Mobilitätsgeschehen für Geflüchtete geben oder auch Hinweise darauf liefern, welche Hürden für die Integrationsarbeit bestehen.

Die meisten Personen der 904 Befragten machten Angaben zu ihrem Mobilitätsverhalten. Die große Mehrheit der Befragten (95 %) gab an, einen Pkw im Haushalt zur Verfügung zu haben, nur 5 % verneinten dies (s. Abb. 7.1). Unter jenen Personen, die nicht über einen Pkw im Haushalt verfügen können, waren überwiegend jüngere Menschen (27,8 % 18–24 Jahre; 13,9 % 24–34 Jahre), sodass die Vermutung nahe liegt, dass diese Gruppe keinen eigenen Pkw finanzieren kann, beispielsweise während einer Ausbildung. Der überwiegende Anteil der Befragten jedoch nutzt den Pkw als regelmäßiges Verkehrsmittel (90,4 % der Befragten). Zwar geben auch 51,5 % bzw. 39,0 % an, mindestens mehrfach wöchentlich zu Fuß zu gehen bzw. das Fahrrad zu nutzen, dennoch steht der Pkw im Mittelpunkt des Mobilitätsverhaltens in den 40 befragten Kommunen. Lediglich jeder zehnte Befragte nutzt regelmäßig den ÖPNV (10,5 %). Von den wenigen Befragten, die angeben, keinen Pkw im Haushalt zur Verfügung zu haben (4,8 %), nutzen immerhin rund zwei Drittel (67,4 %) mehrfach wöchentlich den ÖPNV. Diese Erkenntnisse sind für alle acht Landkreisen zutreffend, es gibt keine signifikanten Abweichungen.

Abb. 7.1
figure 1

Alltagsmobilität der Befragten: Vorhandensein eines Pkw (n = 891) und Nutzung von Verkehrsmitteln (1772 Nennungen gesamt). (Quelle: Eigene Darstellung; Daten aus eigener Bevölkerungsbefragung 2019 TU Chemnitz)

Der Schwerpunkt für die Befragten in allen acht Landkreisen liegt also sehr klar auf dem motorisierten Individualverkehr. Dass der Zugang zum MIV und die Mobilität in ländlichen Regionen insgesamt auch als kritischer Faktor gesehen werden und die empfundene Lebensqualität beeinträchtigt, zeigt sich deutlich bei einer Abfrage der Zufriedenheit mit verschiedenen Wohnstandortfaktoren (s. Abb. 7.2): Während das soziale Klima am Wohnort durchweg die positivsten Bewertungen erhält, werden infrastrukturelle Faktoren kritischer gesehen. Der niedrigste Zufriedenheitswert findet sich beim Angebot des ÖPNV in fast allen befragten Landkreisen (Mittelwert 2,2). Andere infrastrukturelle Faktoren, wie etwa die Einkaufsmöglichkeiten (Mittelwert 2,68) oder die Erreichbarkeit von Behörden (Mittelwert 2,58), schneiden jedenfalls erheblich besser ab. Die Tendenzen der Bewertungen der einzelnen Themenfelder sind in allen Landkreisen ähnlich und es gibt auch keine signifikanten Unterschiede im Hinblick auf die Größe des Wohnortes.

Abb. 7.2
figure 2

Wohnstandortfaktoren: Zufriedenheit nach Themenfeldern (Mittelwerte nach Landkreis, 1 – sehr schlecht, 5 – sehr gut, n = 824–896). (Quelle: Schneider et al. (2021, S. 17))

Die eben genannten Wohnstandortfaktoren werden dennoch in geringerem Maße als beispielsweise Gesundheitsversorgung, Rente, Altersarmut oder Umweltschutz als persönlich besonders problematischer Bereich bewertet. Bei der Frage nach persönlichen Problemen (1530 Nennungen) erreichte der Themenkomplex „Mobilität“ lediglich Platz acht (63 Nennungen) und das Themenfeld „Ländliche Infrastruktur“ Platz zehn (53 Nennungen). Dies lässt vermuten, dass die Mobilität für viele Einwohner*innen zwar durchaus eine Rolle spielt. Die Herausforderungen der Mobilität in ländlichen Regionen werden aber überwiegend durch den MIV bewältigt.

2.2 Erreichbarkeitssituation in den Untersuchungslandkreisen

Mit Hilfe des Thünen-Erreichbarkeitsmodells wurde bereits in Kap. 2 gezeigt, wie sich der Zugang zu verschiedenen Einrichtungen der Grundversorgung bei Nutzung der Verkehrsträger Pkw, Fahrrad, zu Fuß und öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) in Abhängigkeit vom Unterbringungsort in den einzelnen Untersuchungsregionen darstellt (s. ausführlich Neumeier 2019). Da dem ÖPNV für die Alltagsmobilität vor Ort von den Geflüchteten in den Interviews große Bedeutung beigemessen wurde (s. Abschn. 7.3), wird hier ergänzend die Erreichbarkeit der nächsten ÖPNV-Haltestelle gezeigt (s. Neumeier 2021).

Die als Abbildung „Pkw-, fußläufige- und Fahrrad-Erreichbarkeit der nächsten Haltestelle des öffentlichen Personenverkehrs in den Untersuchungslandkreisen“ online verfügbaren KartenFootnote 3 zeigen die Erreichbarkeit der nächsten ÖPNV-Haltestelle jeweils für die Verkehrsträger „Pkw“, „Fuß“ und „Fahrrad“ in den acht Untersuchungslandkreisen. Je blauer, umso kürzer die Reisezeit, je oranger, umso länger. Es zeigen sich sowohl deutliche Erreichbarkeitsunterschiede in Abhängigkeit vom Verkehrsträger als auch innerhalb der Kreise und Kommunen in Abhängigkeit vom konkreten Wohnort. Zum einen hängt die Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen sehr stark von den individuellen Mobilitätsmöglichkeiten – und hier insbesondere vom Zugang zum MIV – ab: Mit dem Kfz lassen sich in allen Untersuchungslandkreisen ÖPNV-Haltestellen flächendeckend relativ gut erreichen. Falls jedoch kein Kfz für entsprechende Zubringerdienste in einem Haushalt verfügbar ist und die Haltestelle mit dem Fahrrad oder zu Fuß erreicht werden muss, sind teilweise sehr lange Wegezeiten in Kauf zu nehmen. Das gilt insbesondere bei Wohnstandorten außerhalb und am Rand der Siedlungsschwerpunkte in den Untersuchungslandkreisen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der MIV den Normalzustand für die Residenzbevölkerung darstellt. Die Erkenntnisse aus der Befragung zur Mobilität der Residenzbevölkerung (s. Abschn. 7.2.1) und die differenzierte Betrachtung der Erreichbarkeitssituation (s. Kap. 2) zeigen, dass Alltagsmobilität als wichtiger Faktor der gesellschaftlichen Integration in den Untersuchungslandkreisen in erster Linie vom Zugang zum MIV abhängt. In vielen Haushalten der Residenzbevölkerung, das zeigt zumindest die Bevölkerungsbefragung, scheint dies der Fall zu sein. Für Menschen, die diesen Zugang nicht haben und daher auf den ÖPNV angewiesen sind, kann Alltagsmobilität dagegen eine große Herausforderung darstellen. Die Normalität von Pkw-Mobilität bedeutet demnach auch entsprechenden Anpassungsdruck für Geflüchtete, um Teilhabechancen z. B. auch in Bezug auf Chancen auf einen Arbeitsplatz oder gesellschaftliche Aktivitäten nutzen zu können.

3 Alltagsmobilität aus Sicht der Geflüchteten

Die Perspektive der Geflüchteten auf Alltagsmobilität basiert auf narrativen Interviews mit Geflüchteten. Für die Analyse wurden sowohl die erstellten Mobility Maps als auch die Interviewtranskripte herangezogen. Zudem fließen die Ergebnisse der physisch und digital durchgeführten Fokusgruppen mit in die Analyse ein (s. Kap. 3). An geeigneten Stellen werden schließlich Literaturverweise zu Fallstudien gemacht, die sich mit der Mobilitätssituation von Geflüchteten in ländlichen Regionen auseinandersetzten.

3.1 Mobilitätssituation

Die befragten Geflüchteten nutzen grundsätzlich eine Vielzahl an Transportmöglichkeiten, um im Alltag in ländlichen Regionen und darüber hinaus mobil zu sein: Sie sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs, nutzen den ÖPNV sowie erweiterte Angebote wie das Anruf-Sammeltaxi (AST), Fernbusse und individuelle Transportmittel, sowohl gemeinsam mit anderen (Mitfahrgelegenheiten) als auch alleine (Taxi), verstärkt auch den eigenen Pkw/Roller. Dabei suchen sie im Alltag eine Vielzahl von Orten auf: Orte sozialer Kontakte, der Bildung, der Versorgung, der Arbeit, der Freizeit, der Religion/Kultur, der Gesundheit sowie Behörden. Die Orte befinden sich sowohl in Deutschland als auch im benachbarten EU-Ausland, z. B. in den Niederlanden oder in der Tschechischen Republik.

Die Mobility Maps zeigen, dass beispielsweise der Weg zur Arbeit im Allgemeinen zu ähnlich großen Teilen mit dem ÖPNV, zu Fuß, mit dem eigenen Auto oder dem Fahrrad zurückgelegt wird. Liegt der Arbeitsort am Wohnort, gehen Geflüchtete überwiegend zu Fuß zur Arbeit oder nutzen das Fahrrad, müssen sie zum Arbeitsort pendeln, fahren sie in der Regel mit dem ÖPNV oder dem eigenen Auto. Soziale Kontakte, Orte der Lebensmittelversorgung, der Gesundheitsversorgung und der Bildung werden meist zu Fuß aufgesucht oder mit dem ÖPNV. Auffällig ist, dass Paare eher als Einzelpersonen das eigene Auto benutzen, um soziale Kontakte zu besuchen oder einzukaufen. Bei Orten der Gesundheitsversorgung und der Bildung besteht dieser Unterschied nicht bzw. ist deutlich geringer. Insgesamt zeigt sich aber, dass für weibliche Einzelpersonen der ÖPNV in allen Bereichen die größte Rolle spielt.

Die Wahl des Verkehrsmittels treffen die befragten Geflüchteten basierend auf einer Vielzahl an Faktoren. Dazu zählen

  • die Distanz zwischen Start- und Zielort,

  • das Relief der Landschaft,

  • die Witterung,

  • die mitzutransportierenden Personen oder Dinge,

  • die ihnen zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen (s. Diskussionen über time sovereignty, Cass et al. 2005),

  • die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrsmittel und deren Annehmlichkeiten, z. B. Möglichkeit für Kinder, zu spielen, kostenloses WLAN und

  • die persönlichen Präferenzen für bestimmte Verkehrsmittel.

Neben der Wahl der Verkehrsmittel berichten Geflüchtete auch von Erfahrungen auf dem Weg zu den Zielorten. So lernen sie unterwegs beim Spazieren gehen, im Fernbus oder im Zug neue Leute kennen oder genießen bei Bahnfahrten oder Fahrradausflügen in der Umgebung die Landschaft.

Nicht oder schlecht erreicht werden können von den Geflüchteten entsprechend der Mobility Maps insbesondere folgende Orte:

  • Orte im Ausland, hierunter besonders Orte in den Herkunfts-, Nachbar- sowie Transitländern der Geflüchteten, Wohnorte von Verwandten, Freund*innen und Bekannten sowie Urlaubsziele,

  • Orte sozialer Kontakte und Orte der Versorgung, hierunter insbesondere (Groß-)Städte in Deutschland, in denen Verwandte, Freund*innen und Bekannte leben oder in denen bestimmte Produkte gekauft und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können sowie

  • Orte der Freizeit, hierunter z. B. Fitnessstudios, Kinos, Zoos oder Diskotheken.

Generell wird die schlechte Erreichbarkeit in den Interviews und Fokusgruppen u. a. mit der weiten Entfernung von Zielen, der fehlenden Anbindung mit dem ÖPNV zur gewünschten Zeit, der fehlenden finanziellen oder zeitlichen Ressourcen bzw. rechtlichen Hindernissen begründet.

3.2 Mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme

Mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme werden im folgenden Abschnitt bezogen auf die unterschiedlichen (genutzten) Verkehrsmittel der Geflüchteten präsentiert.

In Bezug auf den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) berichten die teilnehmenden Geflüchteten zunächst, dass Starthaltestellen oder -bahnhöfe weit von den Wohnorten entfernt liegen, insbesondere wenn Geflüchtete in peripheren Ortsteilen leben. Ebenso liegen die Ziele, die Geflüchtete erreichen wollen, in großer Distanz zu den nächstgelegenen Haltestellen und Bahnhöfen (z. B. B_III_GEF_040, 048; B_IV_GEF_052, 063; D_VIII_GEF_128), wie folgendes Beispiel unterstreicht:

„Bis zum Kinderarzt müssen wir auch noch sehr lange zu Fuß laufen, nachdem wir aus dem Bus ausgestiegen sind und dann müssen wir auch sehr lange bis zur Bushaltestelle zurücklaufen.“ (C_V_GEF_069)

ÖPNV-Verbindungen an Wohnorten fehlen entweder generell oder sind auf wenige Fahrtangebote beschränkt (s. auch Bose 2014; Marks 2014; Fang et al. 2018; Rösch et al. 2020). Konkret erwähnen Geflüchtete, dass es entweder nur 2–3 Verbindungen pro Tag, nur zweistündliche oder stündliche Verbindungen gebe, die zu langen Wartezeiten, z. B. nach dem Ende des Sprachkurses führen. Sie nehmen dabei relationale Bewertungen vor, indem sie sich auf die vergleichsweise bessere Situation an anderen Orten beziehen, wo häufigere Verbindungen bestehen würden. Die wenigen Fahrtangebote sind zudem auf bestimmte Tageszeiten bzw. Wochentage beschränkt. Fehlende Verbindungen in den Abend- und Nachtstunden werden negativ bewertet, da deshalb insbesondere Rückfahrten aus Städten sehr früh angetreten werden müssen. An Wochenenden, wenn Geflüchtete meist mehr (Frei-)Zeit haben, gibt es ebenfalls oft keine Fahrten – oder diese sind mit zusätzlichem Zeitaufwand verbunden, etwa durch längere Wartezeiten bei Umstiegen. Fehlende Direktverbindungen (über Landkreisgrenzen hinweg), häufige Umstiege und zu lange oder zu knappe Umsteigezeiten zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln werden in den Interviews häufiger als generelles Hindernis im Alltag thematisiert, da sich dadurch lange Reisezeiten für Geflüchtete ergeben. Ein Beispiel illustriert dies (z. B. A_II_GEF_027; B_III_GEF_040, 048; B_IV_FOK_1; C_V_GEF_071, 072; C_VI_GEF_101; D_VII_GEF_108, 110 ; D_VIII_GEF_128; s. auch SVR 2017; Fang et al. 2018; Mann et al. 2018):

„Die Fahrt nach GROSSSTADT (Anm.: zum Weiterbildungszentrum) gefällt mir nicht. Die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden, genau. Ich muss dreimal umsteigen, in KLEINSTADT, dann in GROSSSTADT. Dann fahre ich mit der U-Bahn und dann mit dem Bus.“ (B_III_GEF_047)

Verspätungen führen zudem zu zusätzlichen Wartezeiten und resultieren in Problemen mit Arbeitgeber*innen. Schließlich wird von einigen auch die lange Fahrtdauer bei relativ kurzer Entfernung kritisch gesehen – insbesondere, wenn Geflüchtete diese in Relation zur kurzen Fahrtdauer mit dem Pkw setzen.

Ein weiterer negativer Aspekt des ÖPNV liegt in den hohen Kosten, die zum Teil auf geringe finanzielle Ressourcen der Geflüchteten treffen. Hohe Kosten erschweren nicht nur die Erreichbarkeit von individuell bedeutsamen Orten im Nahraum, sondern betreffen auch weit entfernte Ziele, etwa Großstädte (s. „nicht-erreichbare Ziele“ oben). Geflüchtete setzen die Kosten dabei insbesondere ins Verhältnis zum Nutzen und zu anderen Verkehrsträgern, wie das folgende Zitat zeigt:

„Und dann fahren wir so häufig nach KLEINSTADT und jedes Mal zahlen wir zehn Euro oder so für die Hinfahrt und zehn Euro für die Rückfahrt. Und dann setze ich mich hin und überlege – egal wo ich hinfahren möchte. Ich muss ja mindestens 20 oder 30 Euro allein an Fahrtkosten in meiner Tasche haben. […] Und dann haben wir so Termine, die gehen vielleicht nur 15 Minuten oder 20 Minuten und dafür müssen wir dann 20 Euro für die Fahrt bezahlen.“ (C_VI_GEF_093)

Zusätzlich erschwert wird die Fahrt mit dem ÖPNV für Geflüchtete – gerade in der Anfangszeit in Deutschland – durch komplizierte Tarif- sowie Buchungssysteme, die von Geflüchteten entsprechendes Wissen voraussetzen und eine Vorabplanung erfordern, z. B. in Form von Platzreservierungen. Zu beliebten Tageszeiten können bestehende Kapazitäten unzureichend sein und dazu führen, dass die Kinder von Teilnehmenden während der Fahrt zur Schule stehen müssen. Schließlich berichten Geflüchtete in Einzelfällen auch von gesundheitlichen Risiken im ÖPNV, etwa Übelkeit (C_V_GEF_069, 078) oder Angst vor Ansteckung mit COVID-19 (B_III_FOK_2) sowie Diskriminierungen durch Fahrer*innen und andere Mitreisende (z. B. C_VI_FOK_1; D_VII_FOK_1; s. Kap. 8).

Bei der Nutzung von Privat-Pkws stellt die Tatsache, dass ausländische Führerscheine von Drittstaatler*innen in der Regel sechs Monate nach Zuzug nach Deutschland ihre Gültigkeit verlieren, eine Herausforderung dar. Ein Geflüchteter berichtet von den Konsequenzen des unwissentlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Er wurde vor Gericht gestellt und erhielt ein einjähriges Fahrverbot (D_VIII_GEF_126 , im Gegensatz zu Freispruch bei A_I_GEF_012). Der Erwerb des Führerscheins in Deutschland ist für Geflüchtete aber aus unterschiedlichen Gründen erschwert, etwa wegen individueller körperlicher Einschränkungen oder Angst aufgrund fehlender Erfahrungen mit dem Autofahren im Herkunftsland. Andere Teilnehmende erwähnen fehlende zeitliche Ressourcen wegen Vollzeitbeschäftigung oder sprachliche Hürden aufgrund bislang unzureichender Deutschkenntnisse oder fehlenden Möglichkeiten, Prüfungen in der Muttersprache ablegen zu können, z. B. auf Persisch. Schließlich nehmen Geflüchtete auch hohe Kosten für den Führerschein als Barriere wahr, insbesondere in Fällen, in denen Wiederholungen von Prüfungen notwendig sind (D_VII_GEF_104, 108; D_VIII_GEF_130):

„Ich (musste ihn) viermal (machen) und meine Frau fünfmal. Dabei hatten wir in Syrien beide den Führerschein.“ […] (IP a)

„Als wir die Frage gestellt haben, wieso wir durchgefallen sind, wurde uns gesagt: ‚Naja, ist einfach so.‘“ […] (IP b)

„Das kostete viel Geld. […] Kostete für die zwei ungefähr 4000 Euro, ja.“ (IP a) (A_II_GEF_020)

Da sich Jobcenter unterschiedlich stark für die (Teil-)Finanzierung von Führerscheinen einsetzen, erfordert dies aus Sicht der Geflüchteten oft zunächst, arbeiten zu gehen, um sich das nötige Geld zu verdienen.

Der Autokauf und die Instandhaltung des Pkw inklusive Steuern und Versicherung stellt einige Geflüchtete ebenfalls vor eine finanzielle Herausforderung, insbesondere, wenn sie ausschließlich von Sozialleistungen leben. Die tatsächliche Nutzung des Pkw im Alltag kann für Geflüchtete schließlich eingeschränkt sein, wenn das Fahrzeug nicht genügend Platz für alle Familienmitglieder bietet, an Zielorten kein Parkplatz zur Verfügung steht oder das Fahren mit dem Auto als stressig wahrgenommen wird. Dies wird u. a. auf kurvige Strecken, Nebel oder Schneefall sowie Tiere auf der Fahrbahn zurückgeführt. Frauen profitieren nur geringfügig von der Verfügbarkeit eines eigenen Autos im Haushalt, sofern Männer das Auto zum Pendeln an die Arbeitsstätte nutzen oder sie selbst keinen Führerschein besitzen (s. auch Correa-Velez et al. 2013; Gilhooly und Lee 2017):

„Meistens sind die Männer bei der Arbeit und sie haben das Auto mit. Und die meisten der Frauen, die aus Syrien und solchen Ländern sind, haben keinen Führerschein.“ (D_VIII_GEF_128)

Fahrradfahren und Laufen wird insbesondere in den Landkreisen, die in Mittelgebirgen gelegen sind, aufgrund der Steigungen als sehr anstrengend empfunden. Dies wirkt sich beispielsweise negativ auf das Einkaufsverhalten eines jungen Geflüchteten aus:

„Hier ist alles bergig. Das hasse ich (lacht). Wenn ich zum Einkaufen gehe, kann ich nicht so viele Sachen mitbringen. Deswegen muss ich jede Woche zum Einkaufen.“ (B_IV_GEF_055)

Hinzu kommt im Bayerischen Wald, im südwestdeutschen Schichtstufenland und im niedersächsisch-hessischen Bergland die ausgeprägte Saisonalität mit vielen Niederschlägen in Form von Regen sowie Schnee in den Wintermonaten (s. auch Bose 2014; Fang et al. 2018), wodurch der morgendliche Weg zur Schule oder die Fahrradfahrt zum Praktikum erschwert wird. Aufgrund des Geländes, des hohen Verkehrsaufkommens und fehlender bisheriger Erfahrungen haben Frauen Angst, mit dem Fahrrad zu fahren oder verbieten es ihren Kindern. Andere Teilnehmende hingegen fürchten Pannen oder Diebstähle.

Auf Probleme mit anderen Verkehrsträgern wie etwa Fernbussen oder Mitfahrgelegenheiten in institutionalisierter/kommerzieller (z. B. BlaBlaCar) und nicht-institutionalisierter Form wird in den Interviews selten eingegangen. Bei ersteren wird lediglich deren generelles Fehlen auf dem Land thematisiert, bei letzteren die Abhängigkeit von Zeitplänen und Zielen anderer. Taxis werden als teuer wahrgenommen.

3.3 Agency Geflüchteter in Bezug auf Alltagsmobilität

Wie können sich Geflüchtete trotz mobilitätsspezifischer Hindernisse und Probleme ihre eigene Handlungsmacht (Agency) in Bezug auf ihre Mobilitätssituation bewusst machen und darüber reflektieren? Wie setzen sie ihre Handlungsmacht ein und in konkrete Alltagspraktiken um, um mit der bestehenden Mobilitätssituation pragmatisch umzugehen oder ihre Mobilitätssituation zu verbessern?

Geflüchtete stellen bei der Bewertung ihrer Mobilitätssituation relationale, räumliche Bezüge her und bewerten die verschiedenen Verkehrsmittel im Vergleich. So werden von einer Geflüchteten beispielsweise Unterschiede zwischen dem Herkunftsland und Deutschland festgestellt:

„In meinem Land braucht die Frau nicht den Führerschein zu machen. Es ist auch gefährlich, wenn sie fährt. […] Die Leute fahren nicht richtig. Manche sind verrückt und so. Hier ist es besser. Hier gibt es immer Strafe (lacht).“ (A_I_GEF_012)

In Bezug auf den Gegensatz (Klein-)Stadt – Landgemeinden sehen Geflüchtete in Großstädten viele Möglichkeiten, ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln mobil zu sein. In Landgemeinden, in denen weder Busse noch Züge fahren, sei die alltägliche Mobilität hingegen schwierig, während man in Kleinstädten Orte auch gut mit dem Fahrrad oder zu Fuß erreichen könne. Schließlich würde man in Städten mit dem Auto nur langsam vorankommen, während Autofahren auf dem Land einfacher sei und man alles gut und deutlich schneller als mit dem ÖPNV erreichen könne.

Die Interviews zeigen deutlich, dass Geflüchtete aufgrund der als unzureichend und unflexibel wahrgenommenen Anbindung mit dem ÖPNV einen großen Wunsch haben bzw. es als Notwendigkeit erachten, den Führerschein zu machen und auf dem Land einen Privat-Pkw zu besitzen (z. B. B_III_FOK_2, 035, 036, 043; B_IV_FOK_2, 054, 061, 063; C_V_GEF_082; C_VI_GEF_093; D_VII_FOK_1, 103, 104, 107, 113).

„Ich muss hier im Dorf ein Auto haben. […] Aber in einer großen Stadt brauche ich das glaube ich nicht. Gibt immer Verkehrsmittel.“ (B_III_GEF_048)

Der in der Literatur auch als Pkw-Abhängigkeit (car-dependency, Gilhooly und Lee 2017) oder erzwungener Pkw-Besitz (forced car ownership, Bose 2014) beschriebene Zustand wird auch innerhalb der befragten Haushalte diskutiert. Dabei unterstreichen einzelne geflüchtete Frauen gegenüber ihren Ehemännern die Notwendigkeit des Führerscheinerwerbs des Partners (B_IV_GEF_059; D_VIII_GEF_122). Daneben stellen einige wenige geflüchtete Frauen auch fest, dass sie in ländlichen Regionen selbst einen Führerschein benötigen, um unabhängig von ihrem Mann zu sein und die Kinder z. B. selbst zu Ärzt*innen bringen zu können, wenn der Partner bei der Arbeit ist (D_VII_FOK_2; D_VIII_GEF_137). Die Einschätzung, einen eigenen Pkw besitzen zu müssen, teilen insbesondere Paare mit (kleinen) Kindern (s. Rau und Sattlegger 2017).

Geflüchtete sehen zudem einen Zusammenhang zwischen Individualmotorisierung und Zugang zum Arbeitsmarkt. Zum einen wird von den Teilnehmenden wahrgenommen, dass ihnen der Führerschein den Zugang zu einem Job überhaupt ermöglicht, etwa weil er für die zukünftige Arbeit benötigt wird – oder aber nur dadurch ein regelmäßiges, pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz gewährleistet werden kann und sie dadurch den Arbeitsplatz entweder bekommen oder behalten (z. B. A_II_GEF_020; B_IV_FOK_2, 053, 057, 064, 066; D_VII_GEF_107; D_VIII_GEF_133):

„Ich glaube, ich werde gefeuert wegen diesem Problem, weil ich nicht immer in die Arbeit kommen kann. Wenn man kein Auto hat, wenn man keinen Führerschein hat, kann man wirklich viele Probleme haben. Dann werde ich wahrscheinlich gefeuert und muss einen Schritt zurückmachen und bin wieder bei dem Jobcenter und muss wieder Hilfe vom Jobcenter bekommen. Und diesen Punkt will ich nicht erreichen, deshalb muss das Problem unbedingt gelöst werden.“ (B_III_GEF_043)

Zum anderen antizipieren Geflüchtete, dass sie durch den Führerschein und ein eigenes Auto ihren Suchradius für einen geeigneten Arbeitsplatz erheblich ausweiten und dadurch auf dem Land wohnen bleiben können und nicht umziehen müssen (s. Kap. 6).

Im Laufe der Zeit können geflüchtete Neuzugewanderte mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme durch eigene Handlungsfähigkeiten und Praktiken und mit Unterstützung ihres sozialen Umfeldes teilweise überwinden (s. Spenger und Kordel 2022). Zunächst kann hierbei ein pragmatischer und sehr individueller Umgang mit der bestehenden Mobilitätssituation festgestellt werden. Dies zeigt sich etwa, wenn Teilnehmende sich aus Angst vor Verspätungen des ÖPNV bereits sehr früh auf dem Weg zu ihrem Ziel machen und dafür Wartezeiten in Kauf nehmen oder während ihrer alltäglichen Wege verschiedene räumliche Praktiken miteinander verknüpfen, z. B. den Kursbesuch und den Einkauf im arabischen Lebensmittelgeschäft (s. auch Kordel und Weidinger 2017). Drei andere Beispiele verdeutlichen zudem die Bedeutung für den Bereich Arbeit: So passt eine junge Geflüchtete ihren Berufswunsch aufgrund der weiten Entfernung zur Berufsschule an (D_VIII_FOK_1), ein Paar versucht, sich mit den Arbeitsschichten abzuwechseln, sodass beide das Auto benutzen und sie mit „nur“ einem Pkw im Haushalt auskommen können (D_VII_FOK_2), während ein Familienvater immer Nachtschichten macht, damit er seine Kinder morgens noch in die Schule bringen kann, solange seine Frau noch über keinen Führerschein verfügt (B_IV_GEF_065). Schließlich sehen Geflüchtete in der Weiterwanderung insbesondere in gut angebundene und durch kurze Wege gekennzeichnete Kleinstädte mit stärkeren zentralörtlichen Funktionen eine Möglichkeit, mit der als unzureichend wahrgenommenen verkehrlichen Anbindung in Landgemeinden umzugehen und näher an individuell bedeutsamen Orten wie Schulen oder Arbeitsplätzen leben zu können (s. Kap. 6).

Daneben lassen sich auch Maßnahmen und Praktiken identifizieren, die explizit auf die Verbesserung der Alltagsmobilität von Geflüchteten abzielen, z. B. indem ihnen Mitfahrgelegenheiten angeboten werden bzw. sie diese gezielt anfragen. Dabei bestätigen unsere Ergebnisse die in der Literatur bereits belegte, wichtige Rolle von Familienmitgliedern und Freund*innen bzw. Bekannten, Nachbar*innen, Arbeitgeber*innen oder Arbeitskolleg*innen, Vereinstrainer*innen und Mitarbeiter*innen von Asylunterkünften und Ehrenamtlichen (s. auch Ziersch et al. 2020, für Australien; Fang et al. 2018, für Kanada; SVR 2017; Mann et al. 2018; Rösch et al. 2020, für Deutschland). Zusätzlich fragen Geflüchtete in wenigen Fällen aber auch Fremde als Fahrer*innen an, etwa im Fall einer Mitfahrerbank oder beispielsweise abends am Bahnhof (z. B. B_III_GEF_033; D_VIII_GEF_122).

Eine selbstbestimmtere Möglichkeit, über die eigene Mobilität im Alltag zu entscheiden, stellen (gebrauchte) Fahrräder dar, die Geflüchteten häufig kurz nach ihrer Ankunft durch Ehrenamtliche, Wohlfahrtsorganisationen oder Unterkunftsbetreiber*innen zur Verfügung gestellt wurden. Besonders geflüchtete Frauen berichten stolz davon, wie sie sich in Deutschland Fahrradfahren meist autodidaktisch beigebracht haben. Daneben spielt aber insbesondere der (erstmalige) Erwerb des Führerscheins und der Kauf eines eigenen Pkws eine zentrale Rolle, um mit schwierigen Erreichbarkeitssituationen umzugehen. Der Führerscheinerwerb wird dabei wesentlich durch die Prüfungsabnahme in der Landessprache ermöglicht. Bei der Finanzierung von Führerschein und eigenem Pkw können Geflüchtete auf eigene Ersparnisse z. B. durch Erwerbsarbeit, aber auch auf unterschiedliche Unterstützer*innen zurückgreifen. So übernehmen Jobcenter die Kosten zum Teil komplett, während beispielsweise Fahrschulen und Autohäuser Geflüchteten Ratenzahlungen oder Stundungen ermöglichen. Wo eigene Ersparnisse nicht ausreichen, helfen auch Familienmitglieder aus. Sie stellen, wie auch Freunde und Bekannte, Geflüchteten auch ihre Autos – zum Teil gegen die Zahlung eines kleinen Unkostenbeitrags – zur Verfügung. In einem Fall mietet eine Familie schließlich für ausgewählte Fahrten einen Pkw bei einer Privatfirma an (C_VI_GEF_089), während ein junger Mann die Zwischenlösung eines Rollers für das Pendeln zum Arbeitsplatz wählte, bis er sich ein eigenes Auto leisten konnte (B_IV_GEF_056).

Diejenigen Teilnehmenden, die es bereits geschafft haben, den Führerschein zu bestehen und sich ein Auto zu kaufen, sind darauf besonders stolz. In der Folge nutzen sie deutlich seltener alternative Verkehrsmittel wie den ÖPNV oder das Fahrrad und gehen auch weniger zu Fuß. Retrospektiv berichten sie, dass sie mit dem Privat-Pkw deutlich flexibler wurden und sich ihr Aktionsradius erheblich vergrößerte (z. B. B_III_GEF_035; C_V_GEF_077; D_VII_GEF_119):

„Das Auto war eine große Erleichterung für uns, zum Beispiel als meine Frau im Krankenhaus war. Mit dem Zug hätte alles länger gedauert und die Zugzeiten sind auch nicht immer gut. Und ja, das Auto ist eigentlich voll gut auch immer in den Ferien, wenn jemand krank wird oder so. Dann ist das Auto besser als ein Zug. Hätten wir jetzt kein Auto, würde ich mit meinen Kindern zum Beispiel nicht zum Schwimmbad fahren oder zum Fußball. Und die Züge haben auch viele Kosten und das Auto ist besser.“ (C_VI_GEF_090)

Die neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten resultieren schließlich teilweise darin, dass Teilnehmende als „Taxifahrer*innen“ fungieren und Mitfahrgelegenheiten für andere Personen anbieten.

4 Situationsdeutungen lokaler Expert*innen zur Alltagsmobilität Geflüchteter und lokale Mobilitätspolitik

Im Folgenden geht es um die Situationsdeutungen von lokaler Politik, Verwaltung und dritten Akteur*innen zur Alltagsmobilität Geflüchteter in den Untersuchungslandkreisen und ob daraus Aktivitäten zur Verbesserung der Situation für erforderlich gehalten, initiiert und umgesetzt werden. Den Analysen in Abschn. 7.4 liegen qualitative Daten aus den Experteninterviews mit der lokalen Politik und Verwaltung sowie dritten Akteur*innen zugrunde.

4.1 Ergebnisse der Expertenbefragung

In der Gesamtsicht der Befragungen ergibt sich ein überraschend hohes Maß an Übereinstimmungen in der Problemperzeption im Bereich „Alltagsmobilität“ mit den Aussagen der Geflüchteten. Von vielen Expert*innen wird allerdings explizit darauf hingewiesen, dass Probleme mit Alltagsmobilität und Erreichbarkeit keineswegs ein Problem darstellen, mit dem die im Landkreis angesiedelten Geflüchteten als Einzige konfrontiert seien, sondern dass auch andere Bevölkerungsgruppen, insbesondere, wenn sie keinen Zugang zum MIV haben, vor vergleichbaren Herausforderungen stehen. Heterogener sind in einigen Landkreisen und Kommunen die Wahrnehmungen und Bewertungen zwischen Expert*innen aus lokaler Politik und Verwaltung auf der einen, sowie zivilgesellschaftlichen Akteur*innen auf der anderen Seite, wenn es darum geht, aus der Problemperzeption Handlungserfordernisse abzuleiten (s. Abschn. 7.4.2).

Die interviewten Expert*innen bestätigen viele der Aussagen aus den Interviews mit den Geflüchteten und ergänzen deren individuelle Mobility Maps aus einer generalisierenden Perspektive. Eine detailliertere Auflistung der jeweils dominanten Aussagen in den einzelnen Untersuchungslandkreisen ist in der online verfügbaren Tabelle „Wahrnehmung und Bewertung der Mobilitätssituation Geflüchteter in den Untersuchungslandkreisen und -gemeinden durch lokale Expert*innen aus Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft“Footnote 4 (s. Meschter und Spenger 2021) zu finden.

Folgende Aspekte erscheinen für die hier interessierenden Zusammenhänge besonders relevant:

Alltagsmobilität bzw. Fragen der Erreichbarkeit relevanter Infrastrukturen werden in nahezu allen Landkreisen bezogen auf den Landkreis insgesamt als große bis sehr große Herausforderung für Geflüchtete gesehen. Eine Ausnahme bildet lediglich der Landkreis Vechta, für den die Bewertungen insbesondere vonseiten der Politik und Verwaltung positiver ausfallen. Allerdings ist die Situation innerhalb der Landkreise recht heterogen, wie sich anhand der je vier ausgewählten Untersuchungskommunen pro Landkreis zeigt. In sechs von acht Landkreisen gibt es unter den vier Untersuchungskommunen solche mit vergleichsweise guter und solche mit vergleichsweise schlechter Erreichbarkeitssituation. Nur im Landkreis Vechta und im Werra-Meißner-Kreis wird die Mobilitätssituation für die jeweils vier Untersuchungskommunen als „mittel“ eingestuft. Dabei zeigte sich in sämtlichen Landkreisen ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen den Expert*innen eines Landkreises, welche Wohnstandorte im Landkreis in dieser Hinsicht als problematisch zu bewerten sind und wo vergleichsweise geringe mobilitätsbedingte Herausforderungen vorliegen. Dabei wird auch auf kleinräumig unterschiedliche Verhältnisse in einer Kommune hingewiesen; wo beispielsweise ein Ortsteil über einen Bahnanschluss verfügt, im anderen großen Ortsteil dagegen nicht. In einigen Kommunen seien die Personen mit Wohnort im Ortskern gut angebunden an den ÖPNV, dagegen seien die Verhältnisse in Ortsteilen außerhalb des Ortskerns erheblich schwieriger und der ÖPNV dort nicht selten auf den Schülerverkehr beschränkt.

In allen Landkreisen wird der ÖPNV als das wichtigste Verkehrsmittel für die Geflüchteten benannt, danach folgt in der Mehrzahl der Landkreise bereits das Auto, teils als eigene Nutzung, teilweise als Mitfahrt bei anderen. In Bautzen und Northeim wird das Fahrrad als zweitwichtigstes Verkehrsmittel genannt. In Nordsachsen wird sogar die S-Bahn nach Leipzig, „wenn vorhanden“, genannt. Folgerichtig steht auch in allen Landkreisen fehlender ÖPNV an der Spitze der genannten Schwierigkeiten, mit denen die Expert*innen Geflüchtete im Mobilitätskontext konfrontiert sehen, noch vor fehlenden Infrastrukturen am Wohnort und hohen Kosten des ÖPNV. Letztere beziehen sich nicht nur auf die Fahrtkosten bei Nutzung des ÖPNV, sondern in einigen Landkreisen auch auf die den Kommunen entstehenden ÖPNV-Kosten.

Insgesamt wird von den lokalen Expert*innen der Zugang zu allen nach Ager und Strang (2008) integrationsrelevanten Bereiche im Kontext mobilitätsbedingter Zugangs- bzw. Teilhabeprobleme problematisiert: In vielen Landkreisen werden auch fehlender WohnraumFootnote 5 in Wohnorten mit guter Erreichbarkeit häufig genannt, in anderen sind besonders die schwierige Erreichbarkeit von Bildungs- und Ausbildungsstätten (Kita, Berufsschule, Sprachkurse) relevant. Aber auch der Zugang zu Gesundheit, Nahversorgung, Behörden und sozialen Kontakten werden in nahezu allen Landkreisen unter den Herausforderungen im Zusammenhang von Alltagsmobilität und Erreichbarkeit genannt.

Der Zugang zum MIV ist jedoch nach Einschätzung der interviewten Expert*innen bei vielen Geflüchteten in den Untersuchungslandkreisen (noch) nicht gegeben, wobei einige Expert*innen sich auch überrascht zeigten über die Geschwindigkeit, mit der der Zugang zum MIV realisiert wurde. Überproportional seien dabei Männer mit Arbeit vertreten, deutlich unterproportional dagegen Frauen mit Familienaufgaben, bei denen der Ehemann das Auto für den Weg zur Arbeit nutzt (s. Abschn. 7.3.2).

4.2 Inkludierende und exkludierende Praktiken in Bezug auf die Alltagsmobilität Geflüchteter

Nehmen Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Akteur*innen die Alltagsmobilität Geflüchteter als kommunal gestaltbares Politikfeld wahr und entwickeln entsprechende lokale Maßnahmen? Wer sind die tragenden Kräfte für inkludierende Praktiken und welche treibenden Faktoren waren für unterschiedliche Aktivitäten auf der Ebene der Landkreise und -gemeinden maßgeblich? Für die Auswertung bildet die Frage nach einem aktiven oder passiven Rollenverständnis der Kommunen in Anlehnung an den ISDA-Ansatz (s. Schammann et al. 2021) den Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen.

Frames und Handlungsorientierungen

Die Auswertung folgt der Annahme, dass sich aus der Problemperzeption der lokalen Expert*innen Hinweise auf Frames ergeben würden, die die Handlungsorientierung der lokal Verantwortlichen dokumentieren und in einen Begründungszusammenhang stellen. In den Interviews konnten verschiedene Frames identifiziert werden, die wir als idealtypisch für eher passive, neutral-permissive oder aktive Handlungsorientierungen verstehen.

  • Häufig in den Expertengesprächen anzutreffen war das Narrativ „Mobilitätsverhältnisse in ländlichen Wohnorten sind halt so – nämlich geprägt von motorisiertem Individualverkehr“, das eine eher passive-resignative Grundhaltung ausdrückt und nahelegt, dass Geflüchtete sich an diese Bedingungen anzupassen haben, wenn sie mit den Gegebenheiten vor Ort zurecht kommen wollen (z. B. A_I_POL_147; C_6_ZIV_244; C_5_VER_216).

  • Ein weiteres häufiges, eher passives Verhalten nahelegendes Narrativ lautet „Geflüchtete-nicht-besser-stellen“, das in einer ganzen Reihe von Interviews zu finden war. Allerdings taucht es nicht nur als Begründung passiven Verhaltens auf,Footnote 6 sondern das „Nicht-Besserstellungsargument“ wurde auch beispielsweise von einer Pro-Geflüchteten-Initiative verwendet und deren Maßnahmen explizit an alle Bedürftigen vor Ort im Sinne eines whole of society-Ansatzes adressiert (z. B. A_I_VER_149; A_II_POL_167; C_5_POL_220).

  • Eher als neutral-permissiv einzuordnen ist das Narrativ „es gibt Verbesserungen – und Geflüchtete schwimmen mit“, das ebenfalls in einigen der Expertengespräche zu identifizieren war. Sie verdeutlichen auch die Schwierigkeit, einschätzen zu können, wie hoch der Anteil integrationspolitischer Überlegungen an den Bemühungen waren, für eine Verbesserung der Alltagsmobilität aller Menschen im Landkreis zu sorgen, die keinen Zugang zum MIV haben (z. B. B_IV_ZIV_200; B_III_POL_178; D_VIII_POL_271).

  • Für eine pro-aktiv gestaltende Handlungsorientierung spricht das Narrativ „Geflüchtete verdeutlichen unsere strukturellen Probleme und geben Anstöße“, das u. a. in den Landkreisen Northeim sowie im Werra-Meißner-Kreis identifiziert wurde (z. B. C_VI_ZIV_249; D_VII_VER_257).

Allerdings erwies es sich als schwierig, die Experteninterviews und die verschiedenen Frames zu einem einheitlichen oder auch nur dominanten Bild der Landkreis- oder Kommunensichtweise zu verdichten: Pro Landkreis waren zwischen 14 und 23 Interviews auszuwerten und in keinem der Landkreise waren die Äußerungen der befragten Expert*innen klar als überwiegend aktiv oder passiv zu bewerten. Dagegen gab es zwischen den Vertreter*innen von Politik und Verwaltung auf der einen, und den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen auf der anderen Seite in nahezu allen Landkreisen unterschiedliche Bewertungen dazu, ob Politik und Verwaltung hinreichend aktiv bei der Unterstützung der Belange der Geflüchteten seien.

Vielfältige Aktivitäten unterschiedlicher Ebenen und Akteur*innen

Die Auswertungen der Interviews zeigen, dass die Handlungsorientierungen und konkreten Aktivitäten, die aus der relativ einheitlichen Situationsdeutung über alle Landkreise hinweg resultieren,Footnote 7 vielschichtig und vielfältig waren. Zwar fanden sich stärker „passive Frames“ in Landkreisen, bei denen die Bevölkerungsbefragung eine eher skeptische bis kritische Haltung gegenüber Ausländer*innen und Geflüchteten gezeigt hatte. Dennoch erwies es sich keineswegs als einfach, klar nach aktiven oder passiven Landkreisen zu unterscheidenFootnote 8 und diesen bestimmte, charakteristische Frames zuzuordnen. Dieses vielschichtige Bild ist auf eine vielfältige Akteurslandschaft aber auch auf unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten zurückzuführen, wie auf mobilitätsbedingte Teilhabehindernisse reagiert werden kann. So kann etwa auf erreichbarkeitsbedingte Teilhabeprobleme von Geflüchteten in ländlichen Wohnstandorten reagiert werden mit mobilitätsvermeidenden, aber auch mit mobilitätsverbessernden Maßnahmen.

Aktivitäten auf Landkreisebene

Durch die Zuständigkeit der Landkreise für die Unterbringung von Geflüchteten während des Asylverfahrens haben diese eine zentrale Rolle, was Mobilitätsvermeidung angeht. Auch die institutionellen Zuständigkeiten für den ÖPNV in den untersuchten Bundesländern machen die Landkreise bzw. die Verkehrsverbünde, denen sie angehören, zur zentralen Entscheidungsebene.

Die Vielfalt möglicher Aktivitäten zeigt etwa das Beispiel des Landkreises Waldeck-Frankenberg. Mobilitätsvermeidend agiert der Landkreis, indem er verschiedene Angebote dezentral organisiert, wie z. B. Sprachkurse in den Mittelzentren des Landkreises, dezentrale Beratung in den Gemeinschaftsunterkünften sowie mobile Jugendarbeit als aufsuchende Maßnahme (Projekt Delta). Mittel- bis langfristig möchte der Landkreis Geflüchtete in die Mittelzentren bewegen, damit das Problem der Mobilität kleiner gehalten werden kann. Im Hinblick auf die Mobilitätsverbesserung bietet der Landkreis Unterstützung durch finanzielle Hilfe wie Aufwandsentschädigungen für Ehrenamtliche oder Fahrtkostenerstattung bei Sprachkursen des Landkreises. Weiterhin fördert der Landkreis Anrufsammeltaxis und er bemüht sich um eine Koordination verschiedener Vergünstigungstickets in der Region.

Der Landkreis Waldeck-Frankenberg ist keine Ausnahme unter den Untersuchungslandkreisen, auch die übrigen Untersuchungslandkreise reklamierten alle für sich eine aktive Rolle und führten in den Interviews eine Fülle von Aktivitäten und Beispielen an, wie sie sich im Bereich Alltagsmobilität engagieren.Footnote 9

Die aktive Rolle, die alle acht Landkreise bei der Mobilitätverbesserung durchaus faktengestützt für sich reklamieren konnten, ist auch darin begründet, dass viele dieser Aktivitäten bereits vor dem starken Anstieg der Anzahl zugewiesener geflüchteter Menschen auf der politischen Agenda standen. Sie zielen alle darauf ab, die Alltagsmobilität derer zu verbessern, die nicht über individuelle Kfz-Mobilität verfügen. Bei den Interviews wurde auf diese Aktivitäten hingewiesen und Geflüchtete als deren Zielgruppe genannt, ganz im Sinne des „Geflüchtete-schwimmen-mit“-Narrativs. Ob und inwieweit die Zuweisung geflüchteter Menschen in die Landkreise den Verlauf und das Ergebnis dieser Debatten jeweils beeinflusst haben, ist dabei kaum zu beantworten.

Aktivitäten auf Ebene der kreiseigenen Kommunen

Auffällig war, dass sich zwischen den 35 kreisangehörigen Untersuchungskommunen größere Unterschiede zeigten als zwischen den acht Landkreisen insgesamt.Footnote 10 Auch auf Ebene der kreiseigenen Kommunen wurde von den Expert*innen über eine Vielzahl von Aktivitäten berichtet, obwohl im Unterschied zu den Landkreisen hier keine genuine Zuständigkeit der Kommunen vorliegt. Dabei kann zwischen situativ-pragmatischen Nothilfeaktivitäten, regelmäßig stattfindender Unterstützung über einen Zeitraum von mindestens mehreren Monaten und langfristig angelegten Aktionen unterschieden werden. Träger dieser Aktivitäten sind ganz überwiegend zivilgesellschaftliche Akteur*innen. Besonders nachhaltige Wirkungen entfalten sie aber, wenn sie durch Verwaltung und Politik unterstützt werden.

So sind in sehr vielen Untersuchungskommunen situativ-pragmatische Unterstützungsleistungen anzutreffen, wie z. B. Fahrdienste, Hilfe beim Zurechtfinden (Fahrpläne, Tarife, Bestellung Rufbus oder AST; Beratung bei Autokauf oder Versicherung), das Organisieren von Kontaktbörsen oder Mitfahrbänken und/oder die Fahrkostenerstattung für Ehrenamtliche. In sehr vielen Untersuchungskommunen waren auch „Hilfe zur Selbsthilfe“-Aktivitäten wie das Bereitstellen bzw. der Verkauf von gebrauchten Fahrrädern oder die Veranstaltung von Fahrradkursen zu registrieren. Die weitreichendsten Unterstützungsleistungen im Sinne einer dauerhaften Verbesserung der Alltagsmobilität – und deutlich seltener anzutreffen – sind Aktivitäten, die auf Führerscheinerwerb, Autokauf und -unterhalt gerichtet sind. Dass es bei diesen Aktivitäten keineswegs so sein muss, dass in Orten mit besonders ungünstiger Ausgangssituation auch mit besonders viel Unterstützung zur Abmilderung der mobilitätsbedingten Exklusion geleistet wird und in Orten mit guter Ausgangssituation umgekehrt weniger Aktivitäten zu verzeichnen sind, zeigt das im Folgenden dargestellte Beispiel aus dem Landkreis Northeim. Hier haben sich bestehende Unterschiede der mobilitätsbedingten Teilhabechancen zwischen den Geflüchteten in zwei Kommunen im Landkreis vergrößert.

Untersuchungskommune A liegt an der Peripherie des Landkreises Northeim und hat eine ungünstige Erreichbarkeitssituation. Von Untersuchungskommune C sind dagegen Kreisstadt, Oberzentrum und andere wichtige Infrastrukturen deutlich besser und kostengünstiger zu erreichen. Während sich die Politik in Kommune A auf das „Geflüchtete-nicht-besser-stellen-als-die-übrige-Bevölkerung“-Narrativ beruft, um die eigene Passivität zu begründen, wurden in Kommune C von einem eigens gegründeten Verein, der von Politik und Kirchen unterstützt wird, eine Reihe von Aktivitäten ergriffen. Dazu zählen organisierte Fahrdienste zu einer Kita in einem Ortsteil der Kommune, um Kindern aus Geflüchtetenfamilien den Besuch zu ermöglichen, oder eine Initiative mit dem Ziel, über Darlehen und Spenden jeder Geflüchteten-Familie vor Ort den Erwerb von Führerschein und Kfz zu ermöglichen. Dieses Angebot wurde ausdrücklich an alle Bedürftigen im Ort gerichtet, aber lediglich von zwölf Geflüchteten aus dem Ort in Anspruch genommen. Von der Initiative wird berichtet, dass neun Geflüchtete dadurch auswärtige Arbeit gefunden hätten und den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien dadurch mittlerweile weitgehend oder vollständig selbst finanzieren.

Die zentrale Bedeutung des Zugangs zum MIV lässt sich am Beispiel des Landkreises Vechta belegen. Dort hat ein ganzes Bündel an Maßnahmen von verschiedener Seite zu einer verbesserten Mobilitätssituation Geflüchteter im Landkreis beigetragen – und das bei einer strukturell ohnehin vergleichsweise günstigen Ausgangssituation. Gleichwohl zeigen die Geflüchteten- und Experteninterviews, dass gut funktionierende Alltagsmobilität und die damit verbundenen Teilhabechancen auch in diesem vergleichsweise sehr gut aufgestellten ländlichen Landkreis vom Zugang zum MIV abhängt und ohne diesen nur bedingt oder erschwert zu realisieren ist.

In der Gesamtschau ergibt sich ein komplexes Bild: In allen Landkreisen sind regionale und lokale Bemühungen unternommen worden, die Alltagsmobilität Geflüchteter und damit deren Teilhabechancen insgesamt zu verbessern. Auf Landkreisebene sind das überwiegend Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mobilitätssituation aller Einwohner*innen im Landkreis ohne Zugang zum MIV zu verbessern und nur zum geringen Teil eine gezielte Unterstützung der Gruppe der Geflüchteten. Dagegen haben auf Ebene der kreiseigenen Kommunen mancherorts lokale Initiativen und zivilgesellschaftliches Engagement, die spezifisch auf Geflüchtete gerichtet waren, zu erheblichen Veränderungen bzw. positiven Abweichungen von der jeweiligen individuell und strukturell begründeten Ausgangssituation beigetragen. Das gilt sowohl für kurzfristige Nothilfeaktivitäten wie für strukturelle Verbesserungen der Agency von Geflüchteten im Bereich Mobilität.

5 Alltagsmobilität als Faktor für Teilhabechancen und Bleibeorientierung

Unsere Analyse bestätigt die Annahme, dass die Teilhabechancen von Geflüchteten in ländlichen Regionen auch von gelingender Alltagsmobilität bestimmt werden, weil diese den Zugang zu vielen integrationsrelevanten Bereichen ermöglicht oder erschwert. Entsprechende Inklusions- bzw. Exklusionsprozesse sind strukturell und individuell begründet und können durch die wachsende Handlungsbefähigung der Geflüchteten im Zeitverlauf (Agency) sowie durch fördernde Aktivitäten von lokaler Politik und Zivilgesellschaft beeinflusst werden.

Die Erreichbarkeitsanalysen bestätigen, dass nur mit dem MIV die wichtigen Einrichtungen der Daseinsvorsorge und Infrastrukturen von allen Wohnstandorten relativ schnell erreicht werden können. Muss dagegen auf andere Mobilitätsarten zurückgegriffen werden, sind teilweise sehr lange Wegezeiten in Kauf zu nehmen. Dabei unterscheidet sich die Situation je nach Wohnstandort in allen Landkreisen erheblich. Gut funktionierende Alltagsmobilität in den Landkreisen hängt daher wesentlich vom Zugang zum MIV ab. Der mobilitätsbezogene Teil der Bevölkerungsbefragung zeigt, dass ein sehr hoher Prozentsatz der Residenzbevölkerung in allen acht Landkreisen über diesen Zugang zum MIV verfügt. Für Menschen, die diesen Zugang nicht haben und auf den ÖPNV angewiesen sind, ist Alltagsmobilität insbesondere in Wohnstandorten außerhalb der Mittelzentren eine große Herausforderung.

Die Analyse der Mobilitätssituation der Geflüchteten zeigt, dass diese eine Vielzahl an Transportmöglichkeiten nutzen, um im Alltag in ländlichen Regionen und darüber hinaus mobil zu sein. Eine schlechte Erreichbarkeit von Orten wird in den Interviews und Fokusgruppen u. a. mit der weiten Entfernung von Zielen, der fehlenden Anbindung mit dem ÖPNV zur gewünschten Zeit sowie fehlenden finanziellen oder zeitlichen Ressourcen begründet. Geflüchtete sehen die Notwendigkeit, einen Pkw nutzen zu können, und den dadurch verbesserten Zugang zum Arbeitsmarkt, was auch die Bleibeentscheidung für ländliche Wohnstandorte unterstützt. Frauen profitieren allerdings nur geringfügig von der Verfügbarkeit eines eigenen Autos im Haushalt, sofern Männer das Auto zum Pendeln an die Arbeitsstätte nutzen oder sie selbst keinen Führerschein besitzen.

Die Untersuchung der Situationsdeutungen von lokaler Politik, Verwaltung und dritten Akteur*innen zeigt ein hohes Maß an Übereinstimmungen in der Problemperzeption mit den Aussagen der Geflüchteten. Ganz überwiegend nehmen Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftliche Akteur*innen Alltagsmobilität – auch die der Geflüchteten – als kommunal gestaltbares und zu gestaltendes Politikfeld wahr. In allen Landkreisen wurde von entsprechenden lokalen Maßnahmen berichtet. Diese aktive Rolle ist u. a. darin begründet, dass viele dieser Aktivitäten bereits vorher auf der politischen Agenda standen. Dabei handelt es sich überwiegend um whole-of-society-Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mobilitätssituation aller Einwohner*innen im Landkreis ohne Zugang zum MIV zu verbessern und nur zum geringen Teil um eine gezielte Unterstützung der Gruppe der Geflüchteten.

Aus unserer Analyse wird auch deutlich, wie Geflüchtete im Laufe der Zeit mobilitätsspezifische Hindernisse und Probleme durch eigene Handlungsfähigkeiten und Praktiken und mit Unterstützung ihres sozialen Umfeldes teilweise überwinden können. Dabei dominiert ein pragmatischer und sehr individueller Umgang mit der bestehenden Mobilitätssituation. Verschiedene Beispiele aus den Landkreisen zeigen, wie diese Agency durch Praktiken der Inklusion gefördert wurde. Geflüchtete berichten aus der Retrospektive, dass sie mit dem Privat-Pkw deutlich flexibler wurden und sich ihr Aktionsradius erheblich vergrößerte. Insofern passen sich die Geflüchteten an die Mobilitätspraktiken der Residenzbevölkerung an. Auffällig waren starke Ungleichgewichte beim Zugang zum MIV zulasten von Frauen mit Familienaufgaben, die zu ungleichen Teilhabechancen führen. Aber auch jenseits des MIV findet sich eine ganze Reihe von Beispielen, die dokumentieren, dass viele Geflüchtete kreativ und lösungsorientiert mit mobilitätsbedingten Teilhabehemmnissen umgehen und eigene Strategien entwickeln. Dazu gehört auch die Suche nach einem besseren Wohnstandort – wie die häufigen Umzüge der von uns befragten Geflüchteten belegen.

In einigen Orten haben lokale Initiativen, die spezifisch auf Geflüchtete gerichtet waren, zu erheblichen Veränderungen bzw. positiven Abweichungen von der jeweiligen individuell und strukturell begründeten Ausgangssituation beigetragen. Das gilt sowohl für kurzfristige Nothilfeaktivitäten als auch für strukturelle Verbesserungen der Agency der Geflüchteten im Hinblick auf deren Alltagsmobilität. Träger dieser Aktivitäten sind ganz überwiegend zivilgesellschaftliche Akteur*innen. Besonders nachhaltige Wirkungen entfalten diese, wenn sie durch Verwaltung und Politik unterstützt werden und auf eine dauerhafte Verbesserung der Alltagsmobilität gerichtet sind. In den Orten, in denen dies intensiv praktiziert wird, hat das wesentlich dazu beigetragen, mobilitätsbedingte Exklusion zu verringern, Teilhabechancen der Geflüchteten zu verbessern und deren Bleibeorientierung zu fördern. Umgekehrt sind in den Orten, in denen eine schlechte Ausgangssituation und eine eher passive Politik und Zivilgesellschaft zusammentreffen, die Teilhabechancen und Bleibeorientierung der Geflüchteten als geringer einzuschätzen.