Schlüsselwörter

1 Einleitung

Im Zentrum dieses Kapitels steht eine differenzierte Betrachtung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ländlicher Kommunen für die Integration von Geflüchteten. Dabei werden die Einstellungen der lokalen Bevölkerung – im Folgenden „Aufnahmegesellschaft“ genannt – Haltungen und Handlungsorientierungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen sowie die Struktur lokaler Mediendiskurse untersucht. Im Mittelpunkt steht das Spannungsfeld zwischen den Reaktionen der Aufnahmegesellschaft auf die Geflüchteten auf der einen Seite und den lokalen Strategien der Schlüsselakteur*innen auf der anderen Seite, durch die zivilgesellschaftliches Engagement gefördert und rassistische Reaktionen verhindert werden können. Zudem soll die Einbettung des Themas „Integration von Geflüchteten“ in lokale Diskurse sowie in die „Biographie“ eines Ortes und die Reflexion ländlicher Strukturmerkmale und ihrer Effekte auf die Integration von Geflüchteten betrachtet werden. Folgende erkenntnisleitende Fragestellungen stehen im Mittelpunkt:

  1. 1)

    Welche Einstellungen existieren in der Aufnahmegesellschaft gegenüber Geflüchteten und welche Erwartungen werden hinsichtlich ihrer ‚Integrationsleistung‘Footnote 1 zum Ausdruck gebracht? Wie ist in der Umkehr dieser Blickrichtung die Perspektive auf die eigene Rolle der Aufnahmegesellschaft im ‚Integrationsprozess‘? Welche Vorstellungen werden mit dem Begriff ‚Integration‘ verbunden?

  2. 2)

    Inwieweit ist die ländliche Aufnahmegesellschaft von Merkmalen der ‚Ländlichkeit‘ geprägt, und welchen Einfluss hat dies auf den ‚Integrationsprozess‘?

  3. 3)

    Welche Zukunftsperspektiven werden für die Geflüchteten in den ländlichen Regionen entwickelt, und in welchem Zusammenhang steht dies mit der allgemeinen Entwicklung der ländlichen Gemeinden?

Das Kapitel skizziert zunächst das Konzept der „Rezeptivität“ als zentralen konzeptionellen Zugang zur Untersuchung der Aufnahmegesellschaft (Abschn. 5.2) und stellt die Erhebungsmethoden (Abschn. 5.3) vor. Dann werden ausgewählte Ergebnisse der Rezeptivitätsanalyse vorgestellt (Abschn. 5.4), und zwar zur Einstellung der Aufnahmegesellschaft gegenüber ‚Fremden‘ und die Bedeutung von Kontakt (Abschn. 5.4.1), zur Qualität und Funktion von Nachbarschaftsbeziehungen (Abschn. 5.4.2), zur Rolle ehrenamtlichen Engagements und des Vereinsleben als „sozialer Kitt“ (social glue, s. Putnam 2000) der ländlichen Gesellschaft (Abschn. 5.4.3), zur Bedeutung von sozialer Identität für das ‚Heimisch-werden‘ in einer ländlichen Gemeinde (Abschn. 5.4.4) sowie zur subjektiven Ausdeutung des Begriffs der ‚Integration‘ (Abschn. 5.4.4). Abschließend werden die empirischen Ergebnisse miteinander in Verbindung gebracht und die Forschungsfragen beantwortet (Abschn. 5.5).

2 Konzeptionelle Grundlagen

Während die ‚Integrationsdebatte‘ sich vorwiegend auf das Verhalten der Zugewanderten konzentriert, gibt es nur wenige konzeptionelle Arbeiten, die die Haltungen und Perspektiven der Aufnahmegesellschaft in den Blick nehmen. Eine Ausnahme stellt das Konzept der „Rezeptivität“ dar. Der Begriff wurde von US-amerikanischen Autor*innen in Forschungen zu sog. New Immigrant Destinations geprägt (s. McDaniel 2013; Harden et al. 2015). Während McDaniels (2013) Konzeptualisierung der Rezeptivität zwischen „warmer“ und „kalter“ Rezeptivität unterscheidet und sich auf die allgemeine Haltung hinsichtlich Offenheit oder Ablehnung als Reaktion auf die Ankunft von Ausländer*innen bezieht, konzentriert sich die für das vorliegende Projekt vorgenommene Modellierung auf die Entwicklung einer inklusiven Einstellung und entsprechende Verhaltensmuster in der aufnehmenden Gesellschaft. Dementsprechend definieren wir Rezeptivität als die Fähigkeit und Bereitschaft von Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen, sich Neuankommenden zu öffnen und eine teilhabeorientierte Perspektive zu entwickeln (Glorius et al. 2021). Lokal gebundene Rezeptivität kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und aufgrund lokaler Rahmenbedingungen variieren.

Rezeptivität umfasst verschiedene Dimensionen, wobei sich dieser Beitrag auf die Betrachtung der gesellschaftlichen Dimension lokaler Rezeptivität konzentriert, also die Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der lokalen Gesellschaft. Eine wichtige Grundlage hierfür bilden Einstellungen gegenüber Geflüchteten (wie auch gegenüber anderen Migrant*innen) und Erfahrungen im Zusammenleben in Vielfalt. Alltagserfahrungen in der Begegnung zwischen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und Zugewanderten unterstützen den Abbau von Vorurteilen und sind damit eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von Rezeptivität (s. Kontakthypothese, Allport 1954). In Bezug auf die gesellschaftliche Dimension lokaler Rezeptivität sind die Existenz und der Einfluss zivilgesellschaftlicher Institutionen wie z. B. Vereine oder ehrenamtliche Initiativen relevant, die als Brücken zwischen Geflüchteten und der Aufnahmegesellschaft fungieren können. Diese Überlegungen stehen in einem engen Zusammenhang mit Putnams (2000) Konzept sozialen Kapitals mit seiner Differenzierung von brückenbauendem und soziale Bindungen herstellendem sozialen Kapital (bridging and bonding social capital) sowie geteilten Normen und Vertrauen als Basis für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen.

Das Rezeptivitätsmodell berücksichtigt nicht nur Unterschiede in den lokal eingebetteten Ressourcen, sondern auch eine unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, diese Ressourcen auch einzusetzen, um Integration und soziale Eingliederung zu ermöglichen und daraus eine längerfristige Lebensperspektive an dem jeweiligen Wohnstandort zu unterstützen. Offene, tolerante Einstellungsmuster begünstigen dabei auch die Integrationsmöglichkeiten; ablehnende oder rassistische Einstellungen hingegen behindern diese. Darüber hinaus müssen externe Einflüsse mit bedacht werden, wie etwa überregionale Diskurse, die die Bereitschaft zur Öffnung für Geflüchtete sowohl in Bezug auf politische und zivilgesellschaftliche Akteur*innen als auch auf die breite Bevölkerung fördern oder behindern können.

3 Methodik

Die Rolle der Aufnahmegesellschaft wurde mit drei methodischen Erhebungsschritten erfasst: 1) Eine Bevölkerungsbefragung untersuchte die Einstellungen gegenüber Geflüchteten und Zuwanderung im Allgemeinen sowie die Qualität und Potenziale von Nachbarschaftsbeziehungen, 2) leitfadengestützte Experteninterviews dienten der Reflexion dieser kollektiven Einstellungen und lokalen Praktiken, und 3) eine Analyse lokaler Printmedien diente der Untersuchung des öffentlichen Diskurses zur Aufnahme von Geflüchteten (s. Tab. 5.1).

Tab. 5.1 Methoden zur Erfassung der Rolle der Aufnahmegesellschaft

3.1 Bevölkerungsbefragung

Auf der Grundlage der konzeptionellen Überlegungen wurde eine schriftliche Bevölkerungsbefragung konzipiert, die die vielfältigen Aspekte von Rezeptivität einer Gesellschaft untersucht. Gefragt wurde nach der Zufriedenheit mit der ländlichen Lebenssituation, nach Einstellungen und Erwartungen gegenüber Neuzugezogenen und internationalen Migrant*innen sowie nach der politischen Selbstverortung und der individuellen Wahrnehmung gesellschaftlicher Problemlagen. Der Fragebogen orientierte sich dabei an Standard-Items von etablierten Bevölkerungsbefragungen (z. B. SOEP, ALLBUS, Eurobarometer), sodass vergleichende Auswertungen möglich werden, die insbesondere im Hinblick auf die Spezifik ländlicher Gemeinden und Nachbarschaften von Bedeutung für unsere Forschung sind.

Die Befragung wurde im Mai 2019 durchgeführt. Als Untersuchungsregion dienten die 32 Untersuchungsgemeinden des Verbundprojektes (s. Abschn. 1.4) sowie je eine weitere ländliche Kommune je Landkreis. In diesen 40 Untersuchungsgemeinden wurde eine einfache Zufallsstichprobe von insgesamt 4000 Adressen aus dem Einwohnermeldeverzeichnis generiert, an die die Befragungsunterlagen auf postalischem Wege versandt wurden. Insgesamt konnten 904 verwertbare Fragebögen als Netto-Rücklauf gezählt werden (23 % bereinigte Rücklaufquote), wobei die regionale Beteiligung relativ gleich über die vier Bundesländer, aber auch die acht untersuchten Landkreise verteilt ist. Die Ergebnisse wurden im Anschluss zunächst vollständig digitalisiert, inklusive der zahlreichen schriftlichen Kommentare. Die Auswertung erfolgte mit der Software SPSS, zunächst deskriptiv, um einen Überblick über die zentralen Themenfelder zu gewinnen, und im Anschluss regionalspezifisch und für einige Themengebiete bi- bzw. multivariat.Footnote 2

3.2 Leitfadengestützte Experteninterviews

Ein zweiter empirischer Arbeitsschritt sah die Durchführung von leitfadengestützten teil-narrativen Interviews mit lokalen Akteur*innen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vor. Dabei interessierte uns, welche Perspektiven auf Zuwanderung, Geflüchtete und ‚Integration‘ entwickelt werden und welche grundsätzliche Orientierung dabei zum Tragen kommt. Ein Nachvollziehen dieser subjektiven Anschauung ermöglicht es, Handlungsorientierungen und daraus resultierende Praktiken zu identifizieren.

Die leitfadengestützten Interviews wurden zwischen Dezember 2019 und April 2020 durchgeführt. Folgende Akteursgruppen wurden berücksichtigt: ehrenamtliche Flüchtlingshilfe, Bildung/Ausbildung/Schule, Vereine außerhalb der Flüchtlingshilfe, Wohlfahrtsverbände, Kirchen sowie Politik und Verwaltung. Als zusätzliche relevante Akteursgruppe zu den vorgenannten wurden drei Redakteur*innen von Lokalzeitungen interviewt. Zudem war zu beobachten, dass einige Akteur*innen in einer Doppelrolle sprachen, z. B. als hauptamtliche Arbeitsmarktkoordinator*innen und ehrenamtlich Aktive in der Flüchtlingshilfe. Somit bieten die durchgeführten Materialien multiperspektivische Einblicke in die lokalen/regionalen Situationen und garantieren ein valides Bild der kollektiven Handlungsorientierungen in Bezug auf die soziale Integration Geflüchteter.Footnote 3

3.3 Medienanalyse

In einem dritten empirischen Schritt wurden die lokalen Diskurse zur Aufnahme von Geflüchteten, zu institutionellen und zivilgesellschaftlichen Hilfsaktivitäten sowie den ‚Integrationsergebnissen‘ mit Hilfe einer Inhaltsanalyse lokaler Printmedien untersucht. Daher wurde zunächst eine Auswahl an Tageszeitungen getroffen, die die Untersuchungsregion durch ihre Lokalberichterstattung abdecken. Insgesamt wurden elf Medien ausgewählt. Als Beobachtungszeitraum wurden die Jahre 2015–2019 ausgewählt. Insgesamt enthält der Datenkorpus 1291 Artikel, die mit insgesamt 2645 Codes in insgesamt 23 Kategorien verschlagwortet wurden.Footnote 4 Die Analyse eröffnet ein tieferes Verständnis der Entwicklung lokaler Rezeptivität in den Fallstudienregionen und zu Gründen für unterschiedliche Ausprägungsformen von Rezeptivität.

4 Ergebnisse

Der folgende Abschnitt präsentiert ausgewählte empirische Ergebnisse, die sich in der Anwendung des Rezeptivitätsmodells als besonders prägnant erwiesen haben, weil sie die Besonderheiten der ländlichen Ressourcenausstattung für die Entwicklung einer aufnahmebereiten Gesellschaft einerseits und die Bandbreite des Ressourceneinsatzes andererseits aufzeigen. Neben dem Rezeptivitätsmodell (Glorius et al. 2021) zeigen sich vor allem die Kontakthypothese (Allport 1954) sowie die Theorie sozialen Kapitals (Putnam 2000) als relevante Ansätze zum Verständnis lokaler Rezeptivität.

4.1 Offen für Vielfalt? Einstellungen gegenüber Fremden und die Bedeutung von Kontakt

Bisherige Bevölkerungsbefragungen lassen annehmen, dass es einen „ländlichen Effekt“ bei den Einstellungsmustern einer Bevölkerung gibt: Auch wenn kaum repräsentative Daten ausschließlich für ländliche Untersuchungsgebiete vorliegen, wurden in verschiedenen Sekundäranalysen bestimmte Effekte in Bezug auf kleinere Kommunen erkennbar (z. B. Garcia und Davidson 2013; Schmidt et al. 2020). Demzufolge sind Einwohner*innen ländlicher Kommunen skeptischer gegenüber Zuwanderung, möglicherweise aufgrund geringerer Kontakthäufigkeiten mit Migrant*innen, oder auch aufgrund soziodemographischer Besonderheiten wie etwa einem höheren Altersdurchschnitt der Bevölkerung.

Auch bei der hier durchgeführten Befragung wurden einige markante ländliche Effekte deutlich, insbesondere im Vergleich mit bundesweiten Untersuchungen. Besonders deutlich wird das in den sehr positiven Evaluationen des nachbarschaftlichen Zusammenlebens, was insbesondere auf die langfristige Stabilität der Wohnverhältnisse zurückgeführt werden kann. Ebenso zeigt sich, dass der geringere Ausländeranteil in ländlichen Regionen auch mit einer deutlich niedrigeren Kontakthäufigkeit zu Ausländer*innen einhergeht. Weniger relevant scheint die Kommunengröße zu sein. Einen leichten Effekt hat z. T. auch das Alter der Befragten (je älter, desto zurückhaltender gegenüber Fremden).

Die Bevölkerungsbefragung zeigt, dass die ländliche Aufnahmegesellschaft dem zivilgesellschaftlichen Einsatz für ‚Integration‘ zwar überwiegend positiv, in großen Zügen aber auch passiv gegenübersteht (s. Abb. 5.1): Die überwiegende Mehrheit findet, dass Geflüchtete bei der Integration unterstützt werden sollten, und 71,2 % finden es gut, sich für Geflüchtete zu engagieren. Jedoch hatte nur jede*r Sechste (16,5 % volle/teilweise Zustimmung) selbst Kontakt zu Geflüchteten, und nur 27,1 % (volle/teilweise Zustimmung) meinen, dass der eigene Wohnort (mehr) Geflüchtete aufnehmen kann. Die Aussage, dass zu viele Geflüchtete in Deutschland lebten, rief geteiltes Antwortverhalten hervor.

Abb. 5.1
figure 1

Aussagen zu Geflüchteten (n = 864–883, in gerundeten Prozentangaben). (Quelle: Eigene Darstellung, Daten aus eigener Bevölkerungsbefragung 2019)

Häufig wird angenommen, dass die geringere Diversität in ländlichen Regionen und damit die geringeren Kontakte zu Ausländer*innen eine größere Skepsis bedingen (Kontakthypothese). Diese Vorannahme bestätigt sich eindeutig in unserer Befragung. Eine große Mehrheit der Befragten hat nie oder selten angenehme Erfahrungen mit Ausländer*innen in der Nachbarschaft bzw. im Familienkreis gemacht (ca. 64 bzw. 70,9 %) und auch in den Lebensbereichen Arbeit, Freizeit, Freundeskreis sind positive Kontakterfahrungen erheblich geringer, als dies bei bundesweiten Repräsentativerhebungen (die auch urbane Räume einschließen) ermittelt wurde. Wie die Zusammenhänge mit den Einstellungsmustern gut aufzeigen, neigen jene Befragten in unserer Stichprobe, die positive Kontakterfahrungen zu Ausländer*innen haben, tendenziell zu toleranteren Einstellungsmustern. Empirischen Erkenntnissen zur Kontakthypothese folgend, kann also angenommen werden, dass Kontakterfahrungen, die angenehm für die jeweilige Person sind, positivere Einstellungen gegenüber Ausländer*innen fördern können. Es kann jedoch auch davon ausgegangen werden, dass negative Erfahrungen gleichzeitig auch ablehnende Einstellungen fördern können bzw. zu einer Vermeidung von Kontakten führen können (s. Schmidt et al. 2019)

Die geringe Kontakthäufigkeit hat nicht ausschließlich mit dem Mangel an Begegnungsmöglichkeiten zu tun, sondern auch mit der Reserviertheit der lokalen Bevölkerung. Im Datenkorpus der Medienanalyse kritisieren beispielsweise Ehrenamtliche im Landkreis Regen die teilweise Zurückhaltung der Einheimischen und bezeichnen dies als Integrationshindernis: „Wie sollen Asylbewerber deutsche Werte lernen, wenn sie ihnen keiner beibringt?“ wird z. B. die „Integrationskämpferin“ M.V. zitiert (PNP, 08.04.2016). „Viele Einheimische besäßen einfach eine ‚Grundskepsis‘ gegenüber dem Unbekannten. Die lasse sich aber am besten durch Begegnung ablegen.“ Ähnlich werden die Worte einer anderen Flüchtlingshelferin wiedergegeben, die meint, „Wenn sich beide näher kommen, könne die Angst vor dem Fremden weichen und ein friedliches Miteinander wachsen, im Großen wie im Kleinen“ („Ich bin schon ein Viechtacher“, PNP, 02.02.2016). (s. auch: „Ein Netz knüpfen zwischen den Kulturen“, PNP, 20.05.2016).

Auch eine Interviewpartnerin aus dem Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim thematisiert die zurückhaltende Mentalität der Einheimischen:

„Ja, also, wenn jemand kommt, ja, dann sind wir nett, dann helfen wir auch. Das ist so, wie wenn man nach der Uhrzeit fragt, dann sage ich Dir die Uhrzeit, aber mehr auch nicht. Also, ja, ich glaube, dass die Bevölkerung sich da insgesamt sich da schwertut und auch die Notwendigkeit irgendwo nicht so ganz erkennt, noch von sich aus mal rauszugehen oder mal jemanden anzusprechen.“ (B_*_POL_328)

4.2 Nachbarschaftliches Zusammenleben und Erwartungen an Neuzugewanderte

Die Befragungsergebnisse zeigen ein hohes Maß an Zufriedenheit mit dem sozialen Miteinander der Befragten in ihrer Wohnumgebung. Mehr als 90 % fühlen sich in ihrer Nachbarschaft wohl, und die überwiegende Mehrheit steht in einem regelmäßigen freundlichen Kontakt zu den Nachbar*innen und leistet Nachbarschaftshilfe auf funktionaler Basis (z. B. Ausleihen von Werkzeugen). Die Wohnkontinuität ist hoch und mit steigender Wohndauer steigt auch das Wohlbefinden im sozialen Umfeld der Nachbarschaft. Das hier so positiv evaluierte soziale Klima und soziale Kapital (z. B. im Bereich des Kontaktes zueinander oder bei der Hilfsbereitschaft füreinander) könnte positive Ausgangsbedingungen für eine soziale Integration von Geflüchteten im Wohnquartier bieten.

Zugleich existiert eine hohe Erwartungshaltung, dass sich Neuzugezogene den sozialen Umgangsformen der Nachbarschaft anschließen. Neben dem Grüßen auf der Straße und der Aufgeschlossenheit gegenüber nachbarschaftlichen Aktivitäten wünschen sich 50 % der Befragten, dass die Neuen sich „an die Regeln halten“ und 20 % hoffen, dass „alles so bleibt, wie es ist“. In kleineren Kommunen zeigt sich eine signifikant höhere Erwartungshaltungen gegenüber Neuzugezogenen, als in größeren Gemeinden (ähnlich: Portes 1998, S. 16). Das sogenannte bonding social capital scheint also im großen Maße in den Nachbarschaften vorhanden zu sein, herausfordernder scheint das brückenschlagende (bridging social capital) Sozialkapital anderen Gruppen, z. B. Geflüchteten gegenüber, zu sein.

Einen weiteren Hinweis auf vorwiegend assimilative Erwartungshaltungen gibt die Einschätzung zur Eignung des eigenen Wohnortes für verschiedene Bevölkerungsgruppen: Während die ländlichen Wohnstandorte als geeignet für ‚Familien‘, ‚Ältere‘ und ‚jüngere Menschen‘ eingestuft werden, fällt die Einschätzung in Bezug auf ‚Ausländer*innen‘, ‚Menschen mit einer anderen Hautfarbe‘ sowie insbesonder in Bezug auf ‚Geflüchtete‘ deutlich negativer aus. Auch wenn diese Antwort eine Einschätzung des Wohnorts jenseits der eigenen Einstellung spiegeln könnte (z. B. man empfindet im eigenen Wohnort die Infrastruktur als nicht ausreichend oder die gesellschaftliche Stimmung als feindlich), korrelieren diese Aussagen stark mit der eigenen Einstellung gegenüber Geflüchteten sowie der politischen Einstellung: Personen, die Ausländer*innen eher ablehnend gegenüber eingestellt sind, sehen ihren Wohnort auch als weniger gut geeignet für die Aufnahme von Geflüchteten an.

Insgesamt zeigen die Befragungsergebnisse, dass durch die beschriebenen homogenen Strukturen, die sich beispielsweise durch beständige Nachbarschaften und einen geringen Migrantenanteil zeigen, interkulturelle Prozesse möglicherweise langsamer voranschreiten als in schnell veränderlichen urbanen Wohnumfeldern. Hervorzuheben sind die sehr starken Ablehnungstendenzen in allen Landkreisen, wenn es speziell um Muslim*innen in Deutschland und den Islam als Religion geht. Dieser Befund könnte jedoch ein Effekt des allgemeinen Anstiegs der Islamfeindlichkeit in Deutschland sein.Footnote 5

4.3 Ehrenamtliches Engagement als Ressource ländlicher Gemeinden

Eine wesentliche Säule lokaler Rezeptivität sind zivilgesellschaftliche Aktivitäten, die der Integration von Zugewanderten dienen. Dabei ist zwischen den vor Ort verfügbaren individuellen und institutionellen rezeptiven Ressourcen und dem Einsatz dieser Ressourcen für Integrationszwecke zu unterscheiden (s. Glorius et al. 2021). Neben ehrenamtlich Aktiven sind zudem lokale Schlüsselpersonen wie z. B. Bürgermeister*innen, Pfarrer*innen oder Schuldirektor*innen in ihrer sozialen Funktion von Bedeutung (Gruber 2013). Ihre öffentlich präsentierte Haltung für oder gegen die Aufnahme von Geflüchteten kann lokale Diskurse nachhaltig beeinflussen und die Aktivierung zivilgesellschaftlicher Unterstützungspotenziale bewirken.

Die Ergebnisse der leitfadengestützten Interviews zeigen, dass den Ehrenamtlichen eine wesentliche Rolle im Integrationsprozess zugemessen wird. Von vielen Akteur*innen wurde hervorgehoben, dass ohne die große Bereitschaft ehrenamtlich Engagierter, zeitliche, materielle aber auch finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die Versorgung und Betreuung von Geflüchteten im Ankunftsprozess nicht hätte bewältigt werden können. Dies wird auch in der Analyse lokaler Mediendiskurse deutlich, in der die Kategorie „Ehrenamt“ mit 14,6 % der häufigste Code war. Insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 waren die Aktivitäten Ehrenamtlicher unverzichtbar, um eine erste ‚Integrationsinfrastruktur‘ in den ländlichen Gemeinden aufzubauen. Dabei ging die Hilfe der Ehrenamtlichen weit über die persönliche Begegnung, Alltagsbegleitung oder Freizeitangebote hinaus, sondern deckte alle wesentlichen Integrationsdimensionen ab. Die Notwendigkeit, sich ehrenamtlich zu engagieren, begründen zivilgesellschaftliche Akteur*innen oftmals mit strukturellen Defiziten: So wird in nahezu allen Interviews darauf hingewiesen, dass anfangs der Zugang zu Deutschsprachkursen aufgrund rechtlicher Bestimmungen sowie infrastruktureller Hürden stark reglementiert war. Besonders Geflüchtete im Asylverfahren und Geflüchtete mit einer Duldung hätten de jure – aber auch vor allem weibliche Geflüchtete mit kleinen Kindern de facto – keine Möglichkeit, an Sprachkursen der öffentlichen Integrationsprogramme teilzunehmen, sodass Ehrenamtliche Ergänzungs- und Alternativangebote schaffen. Auch wenn die Zahl der ehrenamtlichen Sprachkurse im Laufe der Zeit zurückgegangen ist, bestehen an vielen Orten unserer Untersuchungsregionen weiterhin ehrenamtliche Sprachkursangebote vor allem für weibliche Geflüchtete mit kleinen Kindern. Hier wurde und wird zugleich die Betreuung der Kinder gewährleistet bzw. die Anwesenheit von Kindern als gegeben angenommen und damit bewusst die Teilnahme von weiblichen Geflüchteten an Sprachkursen gefördert (s. Kap. 4).

In Bezug auf ehrenamtliches Engagement der lokalen Bevölkerung konstatierten nahezu alle zivilgesellschaftlichen Akteur*innen eine Geflüchteten gegenüber zugewandte Haltung der Aktiven. Neben bereits bestehenden sozialen Netzwerken und länger ehrenamtlich aktiven Personen bildeten sich auch spontan neue Gruppen und Netzwerke, um besonders 2015 und 2016 neuankommende Geflüchtete in Ankunftsprozessen vor Ort zu begleiten. Dabei können verschiedene Vorannahmen hinsichtlich einer ländlichen Spezifik bestätigt werden, etwa die kurzen Wege und pragmatischen Problemlösungen durch die dichten sozialen Kontaktnetze (wie es sich insbesondere für den Bereich Ausbildung/Berufseinstieg zeigt), oder der Einbezug von Geflüchteten in das Selbstverständnis der direkten Nachbarschaftshilfe – häufig ohne formale Anbindung der Hilfeleistenden an eine zivilgesellschaftliche Institution. In einigen Kommunen unserer Untersuchungsregionen fungierten vor allem Bürgermeister*innen als zivilgesellschaftliche Brückenbauer*innen und lebten Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt auch im Alltag vor. In einigen anderen Kommunen wurde diese Funktion von kirchlichen Akteur*innen oder anderen gesellschaftliche herausgehobenen Akteur*innen übernommen.

Festzustellen ist, dass trotz einer grundsätzlich offenen und zugewandten Haltung ehrenamtlich Engagierter oftmals hohe Erwartungshaltungen gegenüber Geflüchteten bestehen (s. Kap. 4). Teilweise lassen sich bei den Ehrenamtlichen assimilative Haltungen feststellen, wie es in nachfolgendem Zitat thematisiert wird.

„Weil ich ja auch bei den Ehrenamtlichen, bei EINIGEN Ehrenamtlichen schon eine sehr, naja, so dieses sehr klar, die müssen sich anpassen, wir helfen ihnen, sich hier anzupassen. Also, dass es eher diese Assimilation ist. Also, dass wirklich als eine Wertschätzung und Würdigung dessen, wo jemand auch herkommt und welchen Background er mitbringt. (..) Ich weiß ich nicht.“ (D_VII_VER_367)

Die Interviewdaten wie auch die Daten zur Medienanalyse zeigen eine zeitliche Dynamik in den Aktivitäten und in der Selbstwahrnehmung der Ehrenamtlichen. Sie reflektieren ihr Engagement in den Jahren 2015 und 2016 als eine Selbstverständlichkeit angesichts der sichtbaren Notlage der Geflüchteten und der unzureichenden öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen. Während sie zunächst vor allem Unterstützung im Alltag leisten wollten, weitete sich das Aktivitätsspektrum auf nahezu alle Bereiche des Politikfeldes ‚Integration‘ aus. Im weiteren Verlauf jedoch – etwa ab dem Jahr 2017 – verzeichnen ehrenamtliche Helferkreise immer häufiger Zustände kollektiver Erschöpfung, gepaart mit Politisierungsprozessen, hervorgerufen durch frustrierende Erfahrungen mit Behörden, von denen sich die Ehrenamtlichen nicht genügend „unterstützt oder wahrgenommen fühlten“, wie es in einem Beitrag der Lokalzeitung „Passauer Neue Presse“ heißt. „Dazu kommt die Perspektivlosigkeit, von der viele ihrer Schützlinge betroffen seien“ („Soziale Kontakte für Flüchtlinge fördern“, PNP, 18.06.2018). In allen Landkreisen gehen die Aktivitäten Ehrenamtlicher zurück und die verbleibenden Ehrenamtlichen haben Schwierigkeiten, ihre Integrationsangebote aufrecht zu erhalten: „Uns geht immer mehr die Luft aus“, wird eine Protagonistin des nur mehr fünf Personen umfassenden Helferkreises Böbrach im Landkreis Regen zitiert: „der Helferkreis ist empfindlich zusammengeschrumpft und sein Engagement für die Flüchtlinge wird von außen oft auch noch lächerlich gemacht“. („Helferkreis Asyl bemüht sich um bessere Telefonanlage in Maisried“, PNP, 21.07.2018). Während in den Leitfadeninterviews der Rückgang ehrenamtlichen Engagements oft auch mit der zunehmenden Selbständigkeit von Geflüchteten begründet wird, weisen die Ergebnisse der Medienanalyse neben der Resignation von Ehrenamtlichen auch auf die zunehmend komplexer werdenden Bedarfe der Geflüchteten hin, die eine Grenze ehrenamtlicher Handlungsmacht darstellen. Das betrifft insbesondere langwierige Asylverfahren, aus denen unsichere Aufenthaltstitel und damit unklare Zukunftsperspektiven resultieren. Angesichts der sichtbaren ‚Integrationsbemühungen‘ der Betroffenen zeigen sich viele Ehrenamtliche entrüstet über das fehlende Einlenken von Ausländerbehörden, wenn es beispielsweise um das Genehmigen von Ausbildungsduldungen geht (s. Kap. 4). In diesem Zusammenhang kam es z. B. im Landkreis Neustadt a. d. Aisch-Bad Windsheim zu Politisierungsprozessen von Ehrenamtlichen, teils unterstützt von Arbeitsmarktakteur*innen, die sich für den sog. „Spurwechsel“ in der Migrationspolitik einsetzen, also den Wechsel von der humanitären in die Arbeitskräftemigration im Falle von geduldeten Geflüchteten, die einen Arbeitsplatz nachweisen können.

In der regional vergleichenden Betrachtung fallen etliche regionale Variationen in der Berichterstattung über ehrenamtliche Flüchtlingshilfe auf: Markant ist die Berichterstattung zu den stets auf Teilhabe ausgerichteten ehrenamtlichen Aktivitäten in den hessischen Untersuchungsgebieten, und auch im Landkreis Vechta werden ehrenamtliche Aktivitäten weniger in der Dichotomie von Geben und Nehmen gerahmt, sondern eher als Begegnung auf Augenhöhe und gegenseitige Bereicherung. Im Landkreis Bautzen wird die Stimme der Zivilgesellschaft in der lokal/regionalen Berichterstattung eher vernachlässigt. Dies kann aus dem starken gesellschaftlichen ‚Gegenwind‘ gegenüber teilhabeorientierte Haltungen resultieren, der in der Region spürbar ist und sich auch in den politischen Einstellungen in der Bevölkerungsbefragung zeigte. Insbesondere zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Alltagsrassismus vor Ort anprangern, fühlen sich häufig in ihren Aktivitäten ausgebremst oder gar kriminalisiert.Footnote 6 Insofern politische Akteur*innen in der Region sich dieser kollektiven Stimmung unterwerfen, dürfte dies die Entwicklung von teilhabeorientierten Politikansätzen oder die Verstetigung von Angeboten zur zivilgesellschaftlichen Stärkung hemmen.

4.4 Die Rolle sozialer Identität

Ein weiterer, für die Rezeptivität ländlicher Bevölkerung wesentlicher Aspekt ist die Wahrnehmung von Zugehörigkeit und die damit verbundene Frage, unter welchen Voraussetzungen und wann Zugewanderte als Teil der lokalen Gesellschaft wahrgenommen werden. Dieser Aspekt setzt an sozialen Identitätstheorien an, die die Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls – einer kollektiven sozialen Identität – unter anderem mittels der Abgrenzung von anderen Gruppen begründet. Eine besonders intensiv empfundene und praktizierte Gruppenzugehörigkeit der lokalen Gemeinschaft kann daher durch die Betonung von „Nichtzugehörigkeit“ der „Anderen“ stabilisiert werden. Dies hätte einen direkten negativen Effekt auf die Herstellung von Ortsbindung seitens der Neuzugewanderten und würde einer Bleibeorientierung der Geflüchteten entgegenstehen.

Hinsichtlich der Ausprägung einer kollektiven sozialen Identität vor Ort und der Frage, inwieweit Neuankommende in diese kollektive Identität integriert werden, muss zunächst die lange Wohndauer eines Großteils der ländlichen Bevölkerung angeführt werden, die auf eine hohe Persistenz von einmal etablierten Identitäten und Verhaltensweisen hindeutet. Die Ergebnisse der schriftlichen Befragung weisen auf eine überwiegend immobile Bevölkerung hin: 44,7 % der Befragten leben schon immer am gleichen Ort. Insgesamt leben mehr als drei Viertel der Antwortenden (75,7 %) bereits seit mehr als 20 Jahren an ihrem Wohnort. Nur etwa jede*r siebte Befragte lebt seit weniger als zehn Jahren am derzeitigen Wohnort. Eine Befragung des BBSR zeigte ähnliche Tendenzen der Wohnkontinuitäten, die insbesondere in Landgemeinden sehr hoch ist (Sturm und Walther 2010, S. 4 f.). Ein Effekt dieser hohen Persistenz kann eine geringe Variabilität von Zugehörigkeit sein, gepaart mit einer Überbetonung gemeinschaftsbildender Ereignisse wie z. B. Schulbesuch oder religiöse Übergangsriten (Konfirmation etc.). Im Umkehrschluss werden dann auch geringfügige Differenzmerkmale als Indikator für Nicht-Zugehörigkeit interpretiert. Dass hier die Grenzen sehr eng gezogen werden, zeigen Beispiele von deutschen Neuzugezogenen in die ländlichen Gemeinden, die trotz fehlender ethnisch-kultureller Fremdheitsattribute mit einem Differenzmerkmal markiert werden (z. B. B_IV_ZIV_349; D_VIII_ZIV_357), und die selbst nach jahrzehntelanger Wohndauer nicht als Teil der dörflichen Gemeinschaft anerkannt werden (z. B. B_III_POL_328). Hinweise auf die kollektive Sensibilität gegenüber Fremdheit und die Ableitung von Nicht-Zugehörigkeit gibt die quantitative Befragung, in der Einschätzungen hinsichtlich der Eignung des Ortes als Wohnort für bestimmte Gruppen abgefragt wurden (s. Abschn. 5.4.2).

Ein weiteres Indiz für eine eng gefasste und wenig durchlässige Vorstellung der Eigengruppe liefern Aussagen zur ‚Integration‘ von Geflüchteten in Vereinen. Vereine werden als ein wesentlicher ‚Integrationsmotor‘ in ländlichen Gemeinden angenommen, da sie das strukturelle Rückgrat der lokalen Gemeinschaft bilden. Über das Engagement in lokalen Vereinen wird soziale Identität ausgeprägt und kollektives soziales Kapital aufgebaut, das ‚Integrationsprozesse‘ befördert. In der Tat bilden sich diese Mechanismen im Datenmaterial ab, insbesondere in Bezug auf die ‚Integration‘ von Geflüchteten in Sportvereine. Allerdings werden auch konflikthafte ‚Integrationsprozesse‘ reflektiert, die ihre Ursache in verfestigten Traditionen und sozialen Ritualen im Vereinsalltag haben, welche als implizite Basis für den Aufbau von sozialer Identität dargestellt werden. So wird z. B. von mehreren Gesprächspartner*innen das soziale Leben im Verein thematisiert, das meist mit einem „geselligen Beisammensein“ nach dem Trainingsabend endet. Diese Abende haben für die Herstellung von Gemeinschaft eine große Bedeutung, wie der folgende Gesprächspartner am Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr berichtet:

„… dienstags ist Dienst, Feuerwehrdienst. ALSO, ich habe hier schon teilweise bis zwei, […] bis drei Uhr gesessen, und da haben wir Bier getrunken, im Grunde genommen; und geschnackt. Und man schnackt dann ja über alles. Klar, Hauptthema ist meistens immer irgendwie Feuerwehr, aber man spricht dann ja auch allgemeine Themen. Was in der Gemeinde los ist, und der weiß dies, und der weiß das.“ (D_VIII_ZIV_357)

Eine Beteiligung an derartigen Zusammenkünften geht mit gemeinsamem Alkoholkonsum einher, womit beispielsweise in Bezug auf gläubige Muslime, aber auch auf andere Personen, die diese Art der Geselligkeit weniger schätzen, implizit Grenzen gezogen werden. Dies wird in folgendem Zitat am Beispiel von Geflüchteten in Sportvereinen thematisiert:

„Vor allen Dingen, weil hier im [Regionsbezeichnung, Anm. d. Verf.] der Alkohol eine ganz große Rolle spielt. Und M. [ein junger, muslimischer Geflüchteter, Anm. d. Verf.], er trinkt keinen Alkohol, und da braucht man mit 22 hier in der Gegend – 99 Prozent der Begegnungen finden mit Alkohol statt. Da ist er bei seinen Altersgenossen KOMPLETT außen vor. Und selbst beim Fußball in den höheren Altersklassen haben wir Leute gehabt, die deswegen aufgehört haben Fußball zu spielen, weil sie eben jeden Monat 20 Euro für das Bier bezahlen sollten, das Geld hatten sie nicht, und Bier trinken sie sowieso nicht.“ (D_VIII_ZIV_361)

Teilweise werden in den Interviews die impliziten Komponenten der sozialen Identitätsherstellung im Vereinsleben bewusst in ihrer ausschließenden Funktion reflektiert. Dies wird nicht nur in Bezug auf Geflüchtete oder allgemeiner auf Migrant*innen gesehen, sondern auch in Bezug auf den demographischen Wandel, auf den man in der Vereinsarbeit reagieren muss, um auch nachwachsende Generationen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Angewohnheiten einzubinden. Andere Gesprächspartner*innen drehen diese Argumentationskette hingegen um und sehen Probleme persistenter Verhaltensweisen und mangelnder Veränderungsbereitschaft ausschließlich aufseiten der Geflüchteten. Integration in die soziale Gemeinschaft ist aus dieser Perspektive nur durch vollständige Assimilation vorstellbar:

„Und ich glaube, dass da manchmal das Problem liegt, dass die [die Geflüchteten, Anm.] (…) mehr von sich behalten wollen, also von ihren Vorstellungen, von ihrem Glauben, von ihren Traditionen und sich weniger gut einfügen können und dann natürlich auch da Schwierigkeiten entstehen, die nicht entstehen müssten.“ (B_III_POL_328)

4.5 Bedeutung von Integration vor Ort

Dies leitet über zu der Frage, welches Verständnis von ‚Integration‘ aufseiten der Aufnahmegesellschaft eigentlich vorherrscht. Um dies zu ermitteln, wurden die Interviewpartner*innen um eine Definition des Begriffs aus ihrer eigenen Sicht sowie aus der (angenommenen) Perspektive der lokalen Bevölkerung gebeten. Daraus ließen sich verschiedene Deutungsmuster ableiten, welche grundlegende Anhaltspunkte für lokale (oder akteursspezifische) Handlungsorientierungen zur ‚Integration‘ von Geflüchteten bieten. Aus wissenssoziologischer Perspektive sind Deutungsmuster zentrale Elemente der konstruierten sozialen Wirklichkeit. Sie bilden die Basis für die Entwicklung von Alltagstheorien, die von Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt und damit der kollektiven Handlungsorientierung dienen können (Meuser und Sackmann 1992; Kassner 2003). Somit weisen variierende Deutungsmuster von ‚Integration‘ auf die in einer bestimmten Gruppe bzw. Lokalität verankerten zentralen Handlungsorientierungen hin und bieten die Möglichkeit, variierende Handlungspraktiken zu erklären.

Die Deutungsmuster zu ‚Integration‘ lassen sich in zwei Cluster einteilen, die sich signifikant hinsichtlich der Zielerwartung, der Prozessmodellierung und des Rollenverständnisses handelnder Akteur*innen unterscheiden: Das erste Cluster, bestehend aus vier Deutungsmustern, basiert auf der Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe. Trotz der Varianz im Detail eint diese Deutungsmuster (Zusammenleben in Vielfalt, Integration als Inklusion, Integration als soziale Teilhabe und Postmigrantische Perspektive auf Gesellschaft) die Betonung der Prozesshaftigkeit von ‚Integration‘. Darüber hinaus besteht ein gemeinsames Verständnis darüber, dass moderne Gesellschaften einem ständigen Wandel unterliegen, u. a. (aber nicht nur) durch Migrationsprozesse (s. Tab. 5.2).

Tab. 5.2 Teilhabeorientierte Deutungsmuster

Das zweite Cluster vereint zwei Deutungsmuster von ‚Integration‘, bei denen assimilative Erwartungshaltungen dominieren (Integration als Assimilation, Unsichtbare Migrant*innen). ‚Integration‘ wird hier als Bringschuld der Zugewanderten verstanden, eine Veränderungsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft wird nicht angenommen. Die Erwartungen im Bereich dieser Gruppierung sind stark auf die „klassischen“ ‚Integrationsindikatoren‘ „Sprache“ und „Arbeit“ konzentriert, wobei die ‚Integrationsleistung‘ in diesen Dimensionen weniger als Ziel von, sondern eher als Voraussetzung für ‚Integration‘ angesehen werden (s. Tab. 5.3).

Tab. 5.3 Assimilationsorientierte Deutungsmuster

Hinsichtlich der regionalen Differenzierung des von den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen artikulierten ‚Integrationsverständnis‘ zeigt sich überwiegend eine Mischung aus teilhabeorientierten und assimilationsorientierten Deutungen. Einzig in den Landkreisen Vechta (Niedersachsen) und Waldeck-Frankenberg (Hessen) dominiert ein teilhabeorientiertes Verständnis von ‚Integration‘ seitens der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Die Einschätzungen zur Haltung der lokalen Bevölkerung in Bezug auf ‚Integration‘ sind indes überwiegend assimilationsorientiert. Dabei werden jedoch verschiedene Nuancen sichtbar: In den beiden bayerischen Landkreisen wird einerseits eine große Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung konstatiert, andererseits jedoch eine geringe Offenheit und Veränderungsbereitschaft („sie sind nicht alle offen, sage ich ehrlich“ (B_III_ZIV_329)). In den beiden hessischen Landkreisen wird weniger über die aktuellen Einstellungen der ländlichen Bevölkerung reflektiert, sondern vielmehr eine Vielfaltsorientierung – also eine teilhabeorientierte Grundhaltung gegenüber ‚Integration‘‚ – als Zukunftsvision formuliert.

„Ich sehe das eigentlich als, dass unsere Gesellschaft dadurch nur an Vielfalt gewinnt. … Die Kulturen existieren ja schon seit Jahrzehnten in diesem Land und ich denke, dass WENN es etwas ist, dann dass unsere Gesellschaft vielfältiger wird und unsere Aufgabe ist, dass diese komplette Vielfalt teilhaben kann an dem gesellschaftlichen Leben.“ (C_V_VER_321)

Für die Bevölkerung in den beiden sächsischen Untersuchungsregionen wird neben der Assimilationserwartung die Leistungserwartung gegenüber Geflüchteten hervorgehoben. Dies deckt sich nach Auffassung der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen mit den Einschätzungen zur Haltung der politischen Entscheidungsträger*innen. Für die beiden niedersächsischen Landkreise wird eine überwiegend assimilative Erwartungshaltung der ländlichen Bevölkerung angenommen und diesbezüglich die Divergenz zwischen der eigenen Auffassung als aktive Akteur*innen der Integrationsarbeit und der Haltung der Bevölkerung angesprochen.

5 Diskussion und Fazit

Die Aufnahmegesellschaft spielt eine zentrale Rolle im Integrationsprozess, welche jedoch selten thematisiert wird. Unter der theoretischen Rahmung der lokalen Rezeptivität wurden Einstellungen gegenüber Zuwanderung untersucht, die Handlungsorientierungen von lokalen Akteur*innen betrachtet und die diskursive Ebene gesellschaftlicher Aushandlung analysiert. Unsere Grundannahmen zur Rezeptivität ländlicher Gemeinden wurden gespeist durch die Kontakthypothese sowie das Konzept sozialen Kapitals. Die modellierten Komponenten lokaler Rezeptivität konnten durch die vorliegende Forschung bestätigt werden. So zeigte sich der lokal vorhandene „Soziale Kitt“ in Form von sozialer Bindungsfähigkeit, sozialen Netzwerken und lokalen Brückenbauer*innen als wesentliche Ressource lokaler Rezeptivität ländlicher Gemeinden. Das Wohlfühlen in den ländlichen Nachbarschaften ist dabei signifikant von der Wohndauer abhängig. Somit ist davon auszugehen, dass diese sozialen Ressourcen nicht automatisch auf neu Ankommende übertragen werden. Die Wirksamkeit des „Sozialen Kitts“ ist vielmehr abhängig von lokalen Vorerfahrungen mit Integrationsprozessen, Einstellungsmustern der Aufnahmegesellschaft und der Schlüsselpersonen in Bezug auf Vielfalt und Diversität sowie ihr Grad an Offenheit und Toleranz.

Hinsichtlich der kollektiven Identität ländlicher Gemeinschaften als soziale Integrationsressource zeigte sich ein hohes Ausmaß an identitätsfördernden Strukturen und Praktiken, die sich allerdings im Wandel befinden und auch zukünftig Transformationen erleben werden. Ob diese Transformationsprozesse zu einer Stärkung und zugleich Öffnung der sozialen Strukturen oder zu einer Abschottung und Marginalisierung führen werden, dürfte wiederum in Abhängigkeit von regional spezifischen Entwicklungspfaden stehen.

Die Ergebnisse in Bezug auf Offenheit und Toleranz zeigen überdies eine Besonderheit der untersuchten ländlichen Regionen auf: Die Vielfaltstoleranz ist geringer ausgeprägt als in bundesweiten Befragungen und ist abhängig von der eigenen positiven Kontakterfahrung mit Ausländer*innen. Besonders nachbarschaftliche Zusammentreffen zwischen Geflüchteten und langjährigen Bewohner*innen können somit als Startpunkte positiver Kontakterfahrungen dienen.

Die Basis für Integration liegt in dem zivilgesellschaftlichen Selbstorganisationspotenzial, das in ländlichen Regionen grundsätzlich eine große Rolle spielt. Die Kraft der ländlichen Zivilgesellschaft trug maßgeblich zur Aufnahme und ‚Integration‘ der Geflüchteten in den ländlichen Gemeinden bei, hat sich jedoch – wie die vorliegende Untersuchung zeigt – in den Jahren seit 2015 stark verausgabt. Diese Strukturen zu stützen und im Kontext eines ganzheitlichen (whole-of-community) Ansatzes zu fördern, dürfte nicht nur der Integration von Geflüchteten dienlich sein, sondern insgesamt der Stärkung und Zukunftsfestigkeit der ländlichen Gesellschaften vor dem Hintergrund multipler Transformationsprozesse dienen. Geflüchtete und andere Migrant*innen sollten in diese Prozesse einbezogen werden. Dies wiederum kann durch die Stärkung und nachhaltige Stabilisierungen der sozial integrativen Strukturen gefördert werden. Das beinhaltet:

  • Eine Unterstützung von Vereinen und Iokalen Initiativen bei der Ausrichtung auf neue Aufgaben und Nutzergruppen,

  • eine Entwicklung dörflicher Bildungseinrichtungen zu Orten des ganzheitlichen und lebenslangen Lernens, was nicht lediglich pflichtschulische Aufgaben beinhaltet, sondern ebenso non-formale Bildungsangebote, Spracherwerb, Elternarbeit und Jugendarbeit sowie

  • eine Verstetigung von personellen und finanziellen Unterstützungsstrukturen für die oben genannten Aufgaben.