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1 Einleitung und konzeptioneller Hintergrund

Lokale Migrationspolitik gestaltet im Rahmen von Europa-, Bundes- und Landespolitik die Rahmenbedingungen für die Teilhabe Geflüchteter. Lokale Verwaltung erfüllt pflichtige kommunale Aufgaben und interpretiert dabei auslegungspflichte Gesetze. Zudem werden häufig freiwillige Integrationsaufgaben übernommen. Manchmal sind lokale Politiken auffällig eigenständig – progressiv oder restriktiv –, dann aber auch wieder reaktiv bis passiv. Doch wovon hängt es ab, wie die Antworten einer Kommune auf die Herausforderungen von Migration und Vielfalt ausfallen? Gibt es spezifisch ländliche Politiken oder Prozesse? Dieser Beitrag beleuchtet, welche Facetten Migrationspolitik in ländlichen Landkreisen aufweist und welche Faktoren zu welchem Ansatz führen. Grundlage für die vorgestellten Befunde sind 155 Experteninterviews mit lokaler Politik, Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Akteur*innenFootnote 1 (Tab. 4.1).

Tab. 4.1 Datensample Experteninterviews mit Politik, Verwaltung und dritten Akteur*innen

Wir verstehen Migrationspolitik als menschliches Handeln und übergreifende Prozesse, die eine Etablierung und Umsetzung allgemeinverbindlicher Regelungen sowie Steuerungsmechanismen und normative Setzungen im Umgang mit Migration und migrationsbedingter Vielfalt zum Ziel haben (Schammann und Gluns 2021, S. 37). Migrationspolitik schließt somit auch Integrationspolitik ein. Lokale Migrationspolitik umfasst dementsprechend lokales politisches Handeln rund um Migration und migrationsbedingte Vielfalt inklusive der Implementation übergeordneter Regelungen.

Hintergrundfolie für die folgende Analyse ist ein analytischer Rahmen zur Erklärung lokaler Migrationspolitik, der unter Einbezug der Projektdaten entwickelt wurde (Schammann et al. 2021). Vereinfacht formuliert, versucht der Ansatz die Einflussfaktoren für die Ausprägung lokaler Migrationspolitiken zu systematisieren und ihr Verhältnis untereinander zu theoretisieren. Vier Faktorengruppen bilden die Säulen dieses ISDA-Framework:

  • Institutioneller Rahmen, d. h. rechtliche Spielräume der Kommune im jeweiligen politisch-administrativen System. Es macht einen Unterschied, ob es sich bei „der Kommune“ um eine kreisfreie Stadt, einen Landkreis oder eine kreisangehörige Gemeinde handelt.

  • Strukturelle Bedingungen, d. h. Daten zu Ländlichkeit, sozioökonomischer Lage, Einwohnerzahl oder Ausländeranteil. Die Literatur legt nahe, dass Integrationspolitik in städtischeren, strukturstarken Kommunen mit einem hohen Anteil migrantischer Bevölkerung umfassender und aktiver ist als in ländlicheren, strukturschwachen Kommunen ohne Migrationserfahrung.

  • Diskurse, d. h. erhärtete Narrative über bestimmte Sachverhalte im Zusammenhang mit Migration und migrationsbedingter Vielfalt, die lokal geteilt werden und handlungsleitend für lokale Akteur*innen sind.

  • Akteur*innen, d. h. individuelle oder kollektive Schlüsselakteur*innen bzw. Akteurskonstellationen, die entscheidenden Einfluss auf politische Maßnahmen nehmen.

Die Faktoren des institutionellen Rahmens und der strukturellen Bedingungen können als „Startchancen“ einer Kommune verstanden werden (sog. defining factors). Diese können migrationspolitische Entscheidungen intensiv vorprägen. Im ISDA-Ansatz wird jedoch angenommen, dass Diskurse und Akteur*innen das Potenzial haben, schlechtere „Startchancen“ wesentlich zu verbessern oder eine gute Ausgangslage ungenutzt zu lassen. Aus diesem Grund werden sie als transformierende Faktoren bezeichnet (transformative factors).

In allen Faktorengruppen lassen sich auf Basis existierender Literatur Annahmen für bestimmte „typisch ländliche“ Ausprägungen der Faktoren finden.Footnote 2 Dazu gehören neben einer institutionellen Komplexität (Landkreis + nachgeordnete Kommunen) vor allem ein ganzes Set an strukturellen Bedingungen und Annahmen über Akteursspezifika (u. a. Floeting et al. 2018; Reimann et al. 2018; Zimmer-Hegmann et al. 2011; Braun und Simons 2015).

2 Ausprägungen lokaler Migrationspolitik in ländlichen Regionen: empirische Befunde

Im Folgenden dient der ISDA-Ansatz zur systematischen Interpretation der empirischen Befunde. Nach einer überblicksartigen Darstellung der kommunalen Praxis im jeweiligen Feld wird in jeweils einem Fallbeispiel das Zusammenspiel von defining factors und transformative factors illustriert. Die Auswahl der Dimensionen folgt der Heuristik des Forschungsverbundes (s. Kap. 1) und konzentriert sich auf lokale Migrationspolitiken in den Bereichen Wohnen, Bildung, Arbeit und Gesundheit. Eingangs werden zudem übergeordnete Steuerungsfragen (Governance) thematisiert.

2.1 Governance und strategische Steuerung

Ländliche Regionen sind immer durch das vertikale Zusammenspiel von Landkreisverwaltung und kreisangehörigen Kommunen gekennzeichnet. Die entsprechenden Kooperations- und Kommunikationsstrukturen wurden in den von uns untersuchten Regionen nach der erhöhten Zuwanderung von 2015/2016 deutlich ausgebaut, befanden sich angesichts niedriger Zugangszahlen fünf Jahre später aber zum Teil wieder im Rückbau. Die zu „Krisenzeiten“ geschaffenen runden Tische und regelmäßigen Abstimmungsrunden sind nur noch vereinzelt vorzufinden. Mehrheitlich sind sich Kommunen und die Kreise einig, dass es keine ständigen Austauschformate brauche und nach Bedarf kooperiert werde. Jedoch heben besonders aktive kreisangehörige Gemeinden hervor, dass sie die koordinierte, abgestimmte und regelmäßige Zusammenarbeit mit den Landkreisen vermissen. Aus ihrer Sicht haben sich die Aufgaben der Integrationsarbeit lediglich verlagert von ad hoc zu langwierigen, zeit- und kostenintensiven Aufgaben.

Trotz dieser Differenzen befinden sich die meisten untersuchten Landkreise und ihre kreisangehörigen Kommunen migrationspolitisch im Gleichklang. Nur selten divergiert die integrationspolitische Praxis in einer Kommune stark von den vom Landkreis vorgegebenen Richtlinien oder der dort gelebten Grundhaltung.

Mit Blick auf das Selbstverständnis ländlicher Kreise und Gemeinden ist zudem auffällig, dass im Gegensatz zu vielen Großstädten nur selten Verbindungen zur Landesebene erkennbar werden, ganz zu schweigen von Verbindungen oder Kooperationen zur Bundesebene. Oftmals werden diese Ebenen als ferne Bereiche markiert, die man als Quellen rechtlicher und finanzieller Rahmenbedingungen akzeptiert – oder die man für ihre Ferne kritisiert. Insbesondere die Bundespolitik wird häufig als abstraktes Gegenkonstrukt zur eigenen anpackenden und lebensnahen Politik formuliert.

Die oben beschriebene Tendenz hin zu einer eher anlassbezogenen Kooperation betrifft auch die „horizontale Governance“, d. h. die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur*innen und Behörden auf Kreisebene oder innerhalb einer Gemeinde (Mende et al. 2021). Nur vereinzelt wurden nachhaltige Organisationsveränderungen vorangetrieben. Es ist zweifelslos ein Erbe der vergangenen Jahre, dass es in den meisten Kreisen und Gemeinden nun eine etwas klarere Zuständigkeit für Migrationsfragen gibt. Dies schlägt sich aber bislang nur vereinzelt in einer explizit formulierten, strategischen Politik nieder (s. Fallbeispiel).

In den meisten von uns untersuchten Landkreisen lag im Zeitraum der Erhebung (2018–2020) kein Integrationskonzept, -leitbild o. ä. vor. Zwar wurde die eigene Haltung vielerorts reflektiert und Positionen bestimmt, nur wurde diese nicht zwingend in eine schriftliche Form gegossen, da der Nutzen nicht gesehen wurde. Dennoch lassen sich einige implizite strategische Grundpositionen feststellen. So zeigt sich in den Experteninterviews einerseits, dass die meisten Kreise deutlich zwischen Fluchtmigration und weiteren Migrationsformen unterscheiden. Andererseits werden vereinzelt nicht-ausgelastete Angebote, die eigentlich für eine bestimmte Zielgruppe vorgesehen und finanziert sind, recht pragmatisch für weitere Zielgruppen geöffnet. Damit machen Kommunen Integration an Stellen möglich, wo es die bundesdeutsche Integrationspolitik eigentlich nicht vorsieht, wie z. B. im Fall von geduldeten Geflüchteten. Mit städtischen Kommunen teilen die ländlichen Untersuchungsregionen die Haltung, möglichst jeder anwesenden Person Integrationschancen zu bieten. Verbunden ist dies zwar meist mit einem assimilativen Verständnis von Integration (s. Kap. 5), das Ziel gesellschaftlicher Teilhabe ist jedoch ernst gemeint.

In Anlehnung an in vorheriger Forschung entwickelte Idealtypen des kommunalen Integrationsmanagements (Schammann et al. 2020a) lassen sich in den untersuchten Regionen auf Ebene der Landkreise vor allem die weniger formalisierten Formen finden.Footnote 3 Diese reichen von einem Verständnis des Landkreises als bloße Umsetzungsagentur übergeordneter Regelungen über eher personengebundenes Engagement von Bürgermeister*innen oder freiwillig Engagierten außerhalb der Verwaltung bis hin zu professionellen Integrationsmanager*innen, die allerdings meist als Einzelkämpfer*in agieren. Diese Idealtypen überlappen sich in der Praxis und unterscheiden sich auch in den betrachteten Politikfeldern. Eine formell und organisatorisch verankerte Steuerung aller migrationsbezogenen Aufgaben ließ sich dagegen kaum finden. Nur in einem Landkreis ließ sich eine Steuerungsform identifizieren, bei der alle Aufgaben unter einem Dach zusammengeführt werden. Ein organisational angelegtes Mainstreaming, bei dem migrationsbedingte Vielfalt in allen Organisationseinheiten explizit verankert und entsprechende Maßnahmen zentral koordiniert werden, existierte nicht. Insgesamt zeigt sich, dass die informellen Steuerungsformen in den ländlichen Landkreisen deutlich überwiegen und nur punktuell durch Aspekte des formellen Integrationsmanagements ergänzt werden. Dies lässt sich zum einen auf die als fehlend wahrgenommenen Kompetenzen und Handlungsspielräume im Bereich von Migrationspolitik zurückführen, andererseits aber auch auf die politische Einschätzung der Relevanz einer solchen formellen Steuerung aus Sicht von Politik und Verwaltung.

Fallbeispiel: Landkreis Waldeck-Frankenberg

Der Landkreis Waldeck-Frankenberg steht exemplarisch für die Landkreise, die im Zuge der erhöhten Zuwanderungen 2015 neue Strukturen in den Kreisverwaltungen geschaffen haben. Die Fachstelle für Migration und Integration setzt sich aus einer hauptamtlichen Stelle als „Integrationsbeauftragte*r“ und weiteren Projektstellen u. a. aus Landes- und Bundesmitteln zusammen. Damit wurden die Strukturen für eine langfristige vom Kreis gesteuerte Migrationspolitik angelegt, auch wenn der Kreis kein schriftliches Integrationskonzept hat. Die Fachstelle ist dem Fachdienst Soziale Angelegenheiten zugeordnet und kooperiert anlass- und personenbezogen mit anderen Fachdiensten, so beispielsweise mit dem Fachdienst für Dorf- und Regionalentwicklung. Gerade diese Kooperation ist selten in den untersuchten Landkreisen vorzufinden. Im Arbeitskreis Migration tauschen sich zudem Akteur*innen der Landkreisebene aus. Durch weitere Kooperationen und Bündnisse, wie etwa das Netzwerk für Toleranz, agiert die Fachstelle auch über direkt migrationsbezogene Belange hinaus. Allerdings bleibt trotz guter Vernetzung die Arbeit der Fachstelle vielen Mitarbeitenden in der sonstigen Verwaltung eher fremd. Dies mag auch daran liegen, dass weniger typische Verwaltungsaufgaben als vielmehr Fragen der interkulturellen Öffnung bearbeitet werden.

„Also da kam jetzt ein Mitarbeiter rein, der ist Sachbearbeiter auch und kam rein und sagt: ‚Ja, wo sind denn eure Akten?‘ […] Also so, ja, wir arbeiten anders. Wir haben keine Akten. Und dieses Verständnis, glaube ich, ist bei vielen Mitarbeitern oder Kollegen auch einfach noch nicht so gegeben, was wir überhaupt machen.“ (C_*_VER_224)

Wie in vielen anderen Regionen ist die Ausländerbehörde kein Teil des regulären Arbeitskreises Migration, sondern berichtet nur über Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen. Die Spielräume der Behörde bleiben für die Schlüsselakteur*innen der Integrationsarbeit ein Rätsel:

„Ja, also es ist so eine Gemengelage, das ist mir nicht ganz klar. […] ‚Wir haben keinen Spielraum‘, heißt es immer wieder von ihnen. […] ‚Das ist nicht unser Thema. Da haben wir nichts mit zu tun.‘ Nur, wenn es jetzt mal eine Neuerung gibt, eine wichtige gesetzliche Regelung […], dann kommt die Ausländerbehörde und dann referiert sie dazu was.“ (C_*_ZIV_222)

Auch die Anbindung an die Verwaltungsebene der kreisangehörigen Gemeinden ist noch nicht institutionalisiert. Aufgrund von fehlenden, abbestellten oder auch wechselnden Verwaltungsmitarbeitenden hat der Kreis bisher überwiegend die Praxis verfolgt, mit den vor Ort aktiven Personen, z. T. auch Ehrenamtlichen, zu kooperieren. Als Grund wird die fehlende Professionalität auf Gemeindeebene genannt.

„Und dann kannst, also finde ich, kannst du nicht professionell arbeiten. Weil du jemanden sitzen hast, der eigentlich sich mit Abwasser beschäftigt, aber gerade zufällig aus dem Mutterschutz kommt oder was weiß ich und kriegt das auch noch aufgebrummt und sitzt dann hier und also es fehlen die Spezialisten auf kommunaler Ebene.“ (C_*_VER_223)

Tatsächlich ist diese Haltung der Kommunen aber auch durch die Politik des Kreises mitbedingt: Der Landkreis weist Geflüchtete in die Kommunen zu und betreut diese über die kreismitarbeitenden Sozialarbeiter*innen (C_*_VER_223). So sehen einige der untersuchten kreisangehörigen Städte und Gemeinden ihre Aufgaben kaum im gestalterischen Bereich. Einige Kommunen scheinen froh über die alleinige Arbeit des Kreises zu sein, andere Kommunen würden gerne mehr mitbestimmen.

Insgesamt zeigt sich in diesem Landkreis recht deutlich ein bestimmendes Narrativ, in dem lokale Integrationsarbeit als ein eher exotisches und tendenziell „weiches“ Politikfeld skizziert wird. Härtere, also v. a. ausländerrechtliche Fragen werden als nicht-gestaltbar wahrgenommen. Dieses Narrativ verwandelt die guten strukturellen Chancen des Kreises in einen eher fragmentierten Gesamtansatz. Während einige Nischenthemen intensiv bearbeitet werden, sind insbesondere Implementationsfragen nahezu völlig ausgeklammert. Somit ergibt sich ein stark eingeschränkter Steuerungsanspruch, der weit entfernt vom Anspruch eines whole-of-government-Ansatzes (Angenendt und Bendel 2017) ist, bei dem alle Verwaltungsteile kohärent zusammenwirken. Es mag auch an dem fragmentierten Blick auf das Feld liegen, dass der politische Wille, einen in der „Krise“ geborenen Ansatz in den kommunalen Alltag zu überführen und die geschaffenen Strukturen synergetisch zu nutzen, nicht konsequent zu erkennen ist.

2.2 Wohnen

Die Länder sind verantwortlich für die Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten. In ihren Erstaufnahmeeinrichtungen werden Asylbewerber*innen zunächst untergebracht, doch im Verlauf des Asylverfahrens in kommunale Unterkünfte weiter verteilt. Erhalten Geflüchtete im Verlauf des Asylverfahrens einen regulären Aufenthaltstitel, so können bzw. müssen sie in der Regel aus den staatlichen Unterkünften ausziehen. Der neue eigene Wohnraum wird dann entweder über eigene Erwerbsarbeit oder mittels SGB II-Leistungen finanziert und unterliegt damit auch bestimmten Bemessungsgrenzen.

Entgegen des Stereotyps vom verfügbaren Wohnraum auf dem Land betonten die befragten Expert*innen häufig, dass die Suche nach passendem Wohnraum auch in ländlichen Kommunen eine grundsätzliche Herausforderung für viele Zielgruppen ist:

„Die Knappheit ist mit Wohnraum bei uns genauso wie in der Stadt. Tägliche Anfragen, nicht nur von Flüchtlingen, sondern weil halt einfach Knappheit da ist.“ (B_III_VER_179)

In der Folge wohnen auch bereits anerkannte Geflüchtete weiterhin in Gemeinschaftsunterkünften in ländlichen Kommunen, weil es grundsätzlich an adäquatem Wohnraum mangelt. Hinzu kommt die Herausforderung, dass der Wohnraum bei Bezug von SGB II-Leistungen angemessen sein muss. Jedoch kosten Wohnungen in gut angebundenen Ortschaften, die beispielsweise über einen Anschluss ans Schienennetz verfügen und durch den ÖPNV an umliegende Zentren angebunden sind, im Durchschnitt deutlich mehr, als in den weniger gut angebundenen Ortschaften und Kommunen (s. auch Kap. 2).

Doch nicht nur mangelnder Wohnraum erschwert den Auszug aus den Unterkünften (s. auch Abschn. 3.6.2). Aus Sicht der Expert*innen wird besonders der Rechtskreiswechsel vom AsylbLG ins SGB II als entscheidende Hürde benannt und auch etwas drastisch mit der „Abnabelung bei der Geburt“ (C_V_VER_221) verglichen. Doch auch befristete Aufenthaltstitel von beispielsweise einem Jahr (z. B. bei subsidiär geschützten Personen) erschweren die Wohnungssuche, da seitens der Wohnungsbaugesellschaften und privaten Vermieter*innen die zeitliche Befristung Unsicherheit auslöst (z. B. im Landkreis Bautzen):

„Wenn der Geflüchtete zu dem Vermieter geht, und sagt, „Ich möchte gerne eine Wohnung anmieten“, ist häufig das Signal, „Nein, das ist mir alles zu unsicher“, und „Wer weiß wie lange Sie noch hier sind“. Und dass die dann häufig keine Mietverträge kriegen.“ (D_*_VER_258)

Zusätzlich zu diesen aufenthaltsrechtlichen Diskriminierungen werden rassistische Diskriminierungen berichtet – teils auch ganz unverhohlen in der Form: „Ausländer nehmen wir nicht“ (A_I_ZIV_156). Diese spezifischen Herausforderungen, die zumeist aufgrund von unterschiedlichsten Diskriminierungsformen entstehen, wurden in allen Regionen als zusätzliche Hürden für den Zugang zu Wohnraum benannt (s. Abschn. 3.6.2). Sie bestätigen für die ländlichen Kommunen die Erkenntnisse, die über Diskriminierungsformen am Wohnungsmarkt mit Blick auf Großstädte bereits bekannt sind (Müller 2015).

In den kreisangehörigen Kommunen und Landkreisen begleiten verschiedene Akteur*innen Geflüchtete auf unterschiedliche Art und Weise auf dem Weg heraus aus der staatlichen Unterkunft. Am häufigsten ist die Unterstützung durch freiwillige Helfer*innen (s. Abschn. 3.6.2). Deren Unterstützung ist aufgrund von regionalen Kenntnissen und persönlichen Kontakten besonders zielführend. Mit Blick auf das Tätigwerden kommunaler Politik lassen sich die untersuchten Fälle in ein Kontinuum einordnen, welches sich durch folgende Ausprägungen auszeichnet:

  1. I.

    Unterstützung ausschließlich durch freiwilliges Engagement

  2. II.

    Hauptamtliche Unterstützung bei Wohnungssuche

  3. III.

    Umfassendes Übergangsmanagement bei Rechtskreiswechsel

Während sich in allen Kreisen und kreisangehörigen Kommunen mehr oder weniger umfassende freiwillige Unterstützung, sei es durch einzelne Personen oder organisierte Gruppen, finden lässt, ist hauptamtliche Unterstützung seltener. Ist sie vorhanden, dann ist sie meist auf Landkreisebene bei den verantwortlichen Stellen für Integration angesiedelt. Ein umfassendes Übergangsmanagement beim Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft unter Beteiligung von Verwaltung, Sozialer Arbeit und freiwillig Engagierten haben wir nur vereinzelt gefunden.

Doch welche Faktoren führen dazu, dass welche Ausprägung eintritt? Warum unterstützen einige Kommunen durch Hauptamt, während andere Kommunen dies nicht tun?

Fallbeispiel Landkreis Regen

Das Fallbeispiel des Landkreises Regen (Bayern) ist zwar im Vergleich zu den anderen untersuchten Landkreisen ein Extremfall, jedoch veranschaulicht es besonders gut, welche Faktoren Einfluss auf die lokale Gestaltung von Wohnraumzugang für Geflüchtete ausüben.

Kommune 1 des Landkreises Regen entschied sich für die Anmietung von Wohnungen privater Eigentümer*innen und vermietete diese anschließend selbst weiter an Geflüchtete. Dies folgte der Annahme, dass bei notwendigem Auszug aus der Unterkunft und gleichzeitiger Wohnungslosigkeit die Obdachlosigkeit droht und für die Obdachlosenunterbringung wiederum die Kommunen zuständig sind.

Diese Ausgestaltung der lokalen Integrationspolitik wird vor allem der (ehemaligen) Schlüsselfigur der Kommune aus der Politik zugeschrieben, die als „sehr pro Asyl“ (B_*_VER_209) beschrieben wird. Die Weitervermietung kommunal angemieteter Wohnungen birgt aber auch Herausforderungen, so ist die Kommune und damit die Verwaltung jederzeit Ansprechpartnerin als Vermieterin und muss dementsprechend Personal für die Wohnungsvermietung einplanen. Ein schneller Mieterwechsel oder auch unangekündigte Familiennachzüge in Wohngemeinschaften erschweren die Abläufe.

Auch in Kommune 2, der größten der vier Untersuchungskommunen im Landkreis Regen, sind die Vorbehalte der Vermieter*innen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund ein Thema und werden als große Herausforderung für die Teilhabe am Wohnungsmarkt beschrieben. Kommune 2 hat sich dafür entschieden, ebenfalls mit der Argumentation der kommunalen Aufgabe der Obdachlosenunterbringung, in der eigenen Verwaltung eine Person als Wohnungsbeauftragten zu beschäftigen, die sich aktiv daran beteiligt, Wohnungen für Geflüchtete zu finden und Kontakt hält mit den privaten Eigentümer*innen. So ist schon bekannt, „ob diese [Vermieter] auch bereit sind, Leute mit Migrationshintergrund zu akzeptieren“ (B_*_ZIV_206). Diskriminierungen werden immer wieder als Strukturbedingung, also als unveränderbar angenommen und akzeptiert (s. Kap. 8). Nebenbei illustriert das folgende Zitat, dass Kulturalisierungen im Alltag, auch aufseiten der Unterstützer*innen von Geflüchteten, Normalität sind.

„Ich habe das zu akzeptieren, dass jemand sagt: Nein, einen Ausländer, den tue ich mir nicht rein. Das teile ich zwar nicht, aber ich akzeptiere das. Das gefällt mir nicht, aber es ist halt immer auch eben das Problem, bring mal einem Syrer bei wie er Mülltrennung macht. Das ist schier ein Ding der Unmöglichkeit.“ (B_*_ZIV_205)

Die transformierende Funktion der Faktoren „Diskurse“ und „Schlüsselpersonen“ wird anhand des gewählten Fallbeispiels besonders deutlich. Kommune 1 zeigt idealtypisch auf, welche Gestaltungsmacht lokale Integrationspolitik hat, wenn sie etwa von der politischen Spitze der Kommune in die Hand genommen und mit einem passenden rechtlichen und diskursiven Rahmen, in dem Fall die Bewahrung vor der Obdachlosigkeit, versehen wird.

Mit Blick auf den zeitlichen Verlauf wird jedoch ebenfalls deutlich, dass sich trotz der Aktivität der Schlüsselpersonen das Narrativ „Wir vermieten nicht an Geflüchtete und Andere“ vor Ort scheinbar nicht verändert hat. Vielmehr bestätigen unsere Erhebungen im Landkreis die Ergebnisse von Weidinger und Kordel (2020) aus den Jahren 2015–2019. Die Vermietenden möchten häufig weiterhin nicht an Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund vermieten. So stellt sich die Frage, ob der eingeschlagene Lösungsweg der Kommunen dazu geführt hat, dass sich die diskriminierenden Strukturen lösen oder gar weiter gefestigt haben. Es bleibt zumindest fraglich, ob ein kollektives Bewusstwerden und letztendlich das Abschaffen der strukturellen Diskriminierung geschehen kann, wenn die Kommune als Garant und vermeintliches Sicherheitsnetz immer wieder einspringt. Vermietende sind in jedem Fall weiterhin nicht ‚gezwungen‘, an alle Menschen gleichermaßen zu vermieten – wie etwa aus der EU-Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu schlussfolgern wäre (Thüsing und Vianden 2019).

2.3 Frühkindliche Bildung

Innerhalb des vielseitigen Politikfelds Bildung fokussiert sich dieser Abschnitt ausschließlich auf die frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung.Footnote 4 Ländliche Kommunen sind, ebenso wie städtische Kommunen, in der Pflicht, einen Betreuungsplatz für alle Kinder ab vollendetem ersten Lebensjahr zur Verfügung zu stellen. Am Beispiel der frühkindlichen Bildung kann daher der integrationspolitische Handlungsspielraum von Kommunen relativ unbeeinflusst von Bundes- und/oder Landesvorgaben beobachtet werden. Die folgenden Ergebnisse zeigen, dass Kommunen ihren Auftrag mit Blick auf Geflüchtete sehr unterschiedlich wahrnehmen und unterschiedliche Praktiken entwickeln.

Zunächst lässt sich in den Experteninterviews erkennen, dass das Thema „Frühkindliche Bildung“ als ein relevantes und auch mit Blick auf die Entwicklung ländlicher Regionen als ein zukunftsorientiertes Thema wahrgenommen wird. In den untersuchten Kommunen wurde die frühe Einbindung von Kindern als ein wichtiger Baustein für das Ankommen von geflüchteten Familien vor Ort beschrieben:

„Die Familien da funktioniert das besser, weil die Kinder am besten gehen sie in den Kindergarten, dann lernen die die Sprache superschnell oder in der Schule. Dadurch findet einfach Integration performativ, sage ich mal, statt.“ (A_II_VER_169)

Doch für diese systematische und reguläre Form der Teilhabe benötigt es Betreuungsplätze, und der Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen ist in allen untersuchten Kommunen hoch. Vielerorts existieren Wartelisten sowohl im Krippen- (U3) als auch im Kindergartenbereich (Ü3). Die Kommunen verbinden das Angebot von Betreuungsplätzen mit Fragen der Attraktivität ihrer Region. Einige Kommunen formulieren ganz direkt den Wunsch, dass sie durch eine Bereitstellung von Betreuungsplätzen explizit Familien vor Ort halten oder auch aus den umliegenden Städten anwerben möchten.

Mit Blick auf Geflüchtete lassen sich in den acht Untersuchungslandkreisen grundsätzlich zwei Strategien erkennen: Einerseits versuchen Kommunen und Träger von Kindertagesstätten, geflüchtete Familien über das ‚normale‘ Regelsystem hinsichtlich der Kinderbetreuungsangebote zu informieren. Dazu zählen Maßnahmen wie etwa Eltern-Infoabende und offizielle Anschreiben der Ämter, die über die Berechtigung auf einen Betreuungsplatz hinweisen. Andererseits werden geflüchtete Familien und weitere bedürftige Familien zusätzlich intensiv durch ehrenamtliche Begleitung, hauptamtliche Sozialarbeiter*innen, Familienbüros oder auch durch Angebote aus Förderprogrammen von Bundes- und Landesebene (z. B. Kita-Einstieg) unterstützt und über das Regelsystem hinaus begleitet. Daraus folgen zwei Ausprägungen lokaler Praxis:

  1. I.

    Keine besondere Ansprache geflüchteter Familien, teilweise unter Betonung des Regelsystems

  2. II.

    Schaffen zusätzlicher Strukturen und Angebote zur Erleichterung des Zugangs zum Regelsystem

Die Ausprägungen variieren grundsätzlich stark innerhalb der Landkreise, da hier die kreisangehörigen Gemeinden weitgehende Spielräume haben. Insbesondere bei aufwendigeren Angeboten, die zentral organisiert werden, wie etwa den Kulturdolmetscher*innen, die u. a. für Elterngespräche zur Verfügung stehen, zeigt sich, dass auch die Landkreisebene als Anstifterin oder zumindest wichtige (manchmal finanzieller) Unterstützerin fungieren kann.

Fallbeispiel Northeim

Veranschaulichen lassen sich unterschiedliche Herangehensweisen bei der Organisation frühkindlicher Bildung für Geflüchtete besonders gut an dem für die ländlichen Regionen typischen Beispiel der Realisierung von Alltagsmobilität. Da der Wohnort von Familien und das Betreuungsplatzangebot nicht zwangsläufig übereinstimmen, stehen zunächst einmal alle Familien, die nicht über individuale Mobilitätsmöglichkeiten verfügen, vor der Herausforderung, ihre Kinder in die Betreuung zu bringen (s. Abschn. 3.6.3). Am Fallbeispiel Northeim lässt sich gut aufzeigen, dass kreisangehörige Kommunen diese Situation unterschiedlich wahrnehmen und lösen. Ausgehend davon, dass die institutionellen und strukturellen Faktoren in den vier Beispielkommunen ähnlich sind, wird deutlich, dass Faktoren wie etwa das lokale Verständnis von Integration oder der Blick auf Migrant*innen in Kombination mit einzelnen Schlüsselpersonen die scheinbar festgeschriebenen Faktoren transformieren.

Beispielsweise definiert es Kommune 1, obwohl sie sozioökonomisch und institutionell ähnlich aufgestellt ist wie Kommune 4, als ihre Aufgabe, Eltern und ihre Kinder in der Mobilität hin zu Kindertageseinrichtungen zu unterstützen. Dies folgt der Überzeugung, dass Kinder unterschiedlichster Diversitätsmerkmale frühestmöglich zusammengebracht werden sollten. Um diesen Zustand zu erreichen, geht diese Kommune sogar noch einen Schritt weiter und erzeugt absichtlich eine Diskrepanz zwischen Wohnort und Betreuungsort der Kinder:

„Und wir haben auch ganz bewusst ein Verfahren, […] dass wir bewusst einen Teil der Migrantenkinder in die Kitas in die Dörfer weisen erst mal. Und auch gegebenenfalls, wenn keine Mobilität da ist, dorthin bringen. […] Und das funktioniert, ist ein sehr gutes Modell. So, dass also auch auf den kleinen Dörfern der Umgang mit den Migrantenkindern, und den Migrantenfamilien dann natürlich ganz selbstverständlich wird.“ (D_*_POL_252)

Aus diesem praktizierten Modell zieht die Kommune die Konsequenz, dass sie sich auch um die Mobilität der betroffenen nicht-mobilen Personen kümmern muss. Allerdings ließe sich neben den positiven Absichten der Kommune durchaus auch eine Benachteiligung von Familien mit Fluchthintergrund erkennen, da sie anders als andere Familien ihre sozialen Kontakte (Spielbeziehungen) nicht am Wohnort (Kernstadt) aufbauen können, sondern das durch die Kita geprägte soziale Umfeld sich am Betreuungsort, auf den Dörfern befindet. Zusätzlich wird ein weiteres Abhängigkeitsverhältnis über den Fahrdienst erzeugt.

Kommune 4 hingegen hat auf Grundlage eines anderen Zuständigkeitsverständnisses und mit dem Argument einer Gleichbehandlung aller Einwohner*innen eine andere Konsequenz aus der Mobilitätsproblematik gezogen:

„Ja. Und wir versuchen die auch so gut wie möglich unterzubringen, aber ich hatte ja auch dargestellt, Mobilität, ich kann die nicht anders behandeln. […] Und wenn die eine Fahrgemeinschaft bilden, das ist so, dann soll doch das Land sagen, die Beförderung zu den Kindertagesstätten mehr als drei Kilometer ist Aufgabe der Städte und Gemeinden, mache ich das. Aber ist es nicht.“ (D_*_POL_255)

Somit blickt diese Kommune in ihrer Begründung für ihre Inaktivität zum einen auf einen institutionellen Faktor, nämlich die fehlende Pflichtigkeit von Aufgaben, und zum anderen auf eine lokal mögliche Neid-Debatte, welche die politisch Verantwortlichen nicht forcieren möchten. Die Kommune sorgt sich also darum, wie die Unterstützung von geflüchteten Menschen mit eingeschränkter Mobilität bei der Bevölkerung vor Ort aufgenommen werden könnte. Sie priorisiert dies gegenüber dem Ziel, Kindern mit Fluchterfahrung eine Teilhabe an frühkindlicher Bildung zu ermöglichen.

2.4 Arbeit

Arbeitsmarktintegration ist eine Kernaufgabe der Integrationspolitik der Bundesregierung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2020). Darüber hinaus entwickeln die Bundesländer weitere Programme und Konzepte. So gibt es beispielsweise in Sachsen das Programm „Arbeitsmarktmentoren Sachsen“ oder in Niedersachsen das Projekt „FairBleib“. Beide Förderstrukturen spielten in den ländlichen Untersuchungslandkreisen in Sachsen und Niedersachsen eine nicht unerhebliche Rolle. Darüber hinaus zeigen sich jedoch auch intensive lokale Besonderheiten und einige kommunale Aktivitäten.

Zunächst fällt auf, dass das Politikfeld Arbeit in den ländlichen Untersuchungsregionen eng mit lokalen Diskursen zur Migration verbunden ist. Diese Beobachtung reiht sich ein in den bundesweiten Trend, dass die mögliche Lösung eines diagnostizierten Fachkräftemangels in Deutschland immer auch mit Fragen der Einwanderung zum Zweck der Erwerbstätigkeit verknüpft ist. Die ersten „Gastarbeitenden“ in Deutschland in den 1950er-Jahren markieren den Startpunkt dieses Narratives, die Erinnerungen daran prägen das Verständnis von Zuwanderung und Arbeit. In allen vier untersuchten Bundesländern tauchen eigene historische Erfahrungen mit „Gastarbeitenden“ und heutigen osteuropäischen Arbeitsmigrant*innen auf. Sie dienen als diskursiver Rahmen, in den in einigen Orten sukzessive auch die Fluchtmigrant*innen der Jahre 2015 und 2016 gestellt werden können.

„Und die gelten jetzt auch nicht mehr als Geflüchtete, so wie Asylbewerber, sondern, das ist wie halt früher die Gastarbeiter. Das, dieser Wandel in der Gesinnung zeigt sich.“ (B_IV_VER_199)

Geflüchtete werden in den untersuchten Landkreisen also häufig als potenzielle Arbeitskräfte verstanden. Als einen Vorteil betonen die Expert*innen, dass kurze Kommunikationswege und die Tatsache, dass man sich untereinander kennt, den Geflüchteten in vielen Einzelfällen einen leichteren Zugang zu bestimmten Tätigkeiten am Arbeitsmarkt verschaffen und interpretieren dies als typisch ländlich.

„Wenn ich heute einen Metzger hätte oder einen Bäcker oder einen Koch, ich brauche nur jemanden anrufen und der würde sagen: Bring ihn mir! Schick ihn mir! Darf er arbeiten? Hat er eine Arbeitserlaubnis? Bring ihn mir! Schick ihn mir! Probearbeiten und schon ist er untergebracht.“ (B_IV_POL_192)

Doch auch Hürden und Herausforderungen für eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration werden nahezu überall gesehen. Zwar berichten die Expert*innen, dass Geflüchtete meist rasch über Leih- und Zeitarbeitsfirmen den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen. Andererseits werden die Chancen abseits dieser mitunter prekären Beschäftigungen und der regional gefragten Berufe in der Bauwirtschaft, der Kranken- und Altenpflege oder dem Hotel- und Gaststättengewerbe, als schwierig bewertet.

In jeder Region gibt es einprägsame Erzählungen der befragten Expert*innen, die den erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt illustrieren. Dabei sind zumeist lokal bekannte und engagierte Personen wichtige Türöffner für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Doch abseits dieser Vorzeigefälle ist der Arbeitsalltag Geflüchteter geprägt von befristeten Tätigkeiten im Helferbereich (s. Abschn. 3.6.4). Auffällig verbreitet in allen untersuchten Regionen ist die Überzeugung, dass Geflüchtete gute Chancen am Arbeitsmarkt hätten, wenn ihre Sprachkenntnisse vorhanden und ihr Arbeitswille hoch wäre:

„Hier entstehen Arbeitsplätze ohne Ende. Der Wille muss da sein und die Sprache. Da haben die alle Chancen genau wie ein Einheimischer.“ (A_I_Pol_140)

Eine erfolgreiche Arbeitsaufnahme wird auf diese Weise als Aufgabe der Zugewanderten konzipiert. Jede*r kann es „schaffen“, wenn er oder sie sich nur genug anstrengt. Strukturelle Faktoren, wie etwa ein eingeschränkter Arbeitsmarktzugang bei fehlenden beruflichen Nachweisen, komplizierte Anerkennungsprozesse, eine herausfordernde Mobilitätssituation oder auch diskriminierende Strukturen am Arbeitsplatz werden sehr häufig ausgeblendet oder als nicht entscheidend hintenangestellt. Dafür werden Extrembeispiele, in denen Geflüchtete große Anstrengungen unternehmen, um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, zitiert:

„Also der ist wirklich von Vechta bis nach Cloppenburg mit dem Fahrrad gefahren, jeden Tag, hin und zurück. Weil er die Arbeit natürlich nicht verlieren wollte, aber Auto hatte er noch nicht, also Führerschein ist ja auch immer eine große Sache dann. […] der ist morgens um fünf manchmal, um vier los, und abends irgendwann dann [um] elf Zuhause gewesen. Das war wirklich hart.“ (D_*_ZIV_278)Footnote 5

Dieses Narrativ von Leistung und Verdienst ist in allen untersuchten ländlichen Regionen auffindbar – allerdings nicht exklusiv für ländliche Regionen, blickt man auf die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik (u. a. Schammann 2017) oder auf die sozialwissenschaftliche Ungleichheitsforschung (Hadjar 2008; Hayek 1960; Young 2008).

Es lassen sich zwei Pole hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration der Untersuchungskommunen definieren. Diese unterscheiden sich darin, dass entweder die Handlungsmacht bei der Kommune und ihren Akteur*innen betont wird oder aber die Eigenverantwortung Geflüchteter hervorgehoben wird und die kommunale Handlungsmacht nachrangig scheint:

  1. I.

    Wer will, der kann – Arbeitsmarktintegration durch individuelle Leistung

  2. II.

    Arbeitsmarktintegration Geflüchteter als Aufgabe kommunaler Integrationspolitik

In der Realität existieren beide Ausprägungen nicht in dieser Reinform. In allen untersuchten Regionen haben wir Projekte oder Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration Geflüchteter bzw. spezifischerer Zielgruppen (z. B. geflüchtete Frauen mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit) identifizieren können. In welchem Ausmaß Arbeitsmarktintegration als kommunale Aufgabe begriffen wurde und wie stark gleichzeitig auf die Eigeninitiative Geflüchteter bei der Arbeitsmarktintegration verwiesen wurde, war von Region zu Region (aber auch innerhalb der Landkreise) unterschiedlich. Nur selten ging das kommunale Engagement so weit, dass auch aufenthaltsrechtliche Spielräume strategisch zur Arbeitsmarktintegration genutzt wurden (s. Fallbeispiel zur Ausbildungsduldung).

Fallbeispiel Werra-Meißner-Kreis und Landkreis Bautzen

Eine Stellschraube, um Perspektiven für geduldete Menschen zu schaffen, ist die konsequente Anwendung der Ausbildungsduldung nach § 60c Aufenthaltsgesetz (AufenthG) durch die lokalen Ausländerbehörden. In den untersuchten Landkreisen wird deutlich, dass vor allem Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft einen Verbesserungsbedarf bei der Umsetzung der Ausbildungsduldung sehen, etwa bzgl. der kurzen Befristungen der Ausbildungsduldungen. Generell überwiegt in den untersuchten Landkreisen die Ernüchterung über nicht bewilligte Ausbildungsduldungen und andere nicht ausgeschöpfte Ermessensspielräume. Die mancherorts kaum genutzten Ermessenspielräume korrelieren auch mit eingeschränktem Wissen in der Thematik Ausbildungsduldung sowie mit der Auffassung, dass diese durch Bundesgesetze deutlicher geregelt sein sollte.

Mancherorts wird aber durchaus sehr zielorientiert mit der Erteilung von Ausbildungsduldungen umgegangen. So kann etwa der Werra-Meißner-Kreis darauf verweisen, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch „Auszubildende“ im Helferbereich mit einer Ausbildungsduldung versehen werden und auch für Personen in Einstiegsqualifizierungen Ermessensduldungen ausgesprochen werden. Die gesetzliche Anpassung dazu erfolgte auf Bundesebene erst im Januar 2020 (Eichler 2020). Der Werra-Meißner-Kreis hatte diese Praxis aber bereits zuvor umgesetzt und sich dabei auch gegen die Auslegungsart durch die hessische Landespolitik vor Gericht „durchgesetzt“:

„Also wir haben […] eine Verfügung hier im Kreis gemacht, dass wir, wenn jemand einen Ausbildungsplatz oder auch einen Einstiegsqualifizierungsplatz hat, dass wir eine Ausbildungsduldung aussprechen. […] Das hat ein bisschen Unmut gegeben. Aber am Ende des Tages hat das Verwaltungsgericht Hessen uns hier Recht gegeben.“ (C_*_VER_238)

Die Vorgehensweise zeigt, dass auf Landkreisebene weite aufenthaltsrechtliche Spielräume existieren und mit politischem Willen genutzt werden können. Dies geschieht zwar nicht determiniert, aber doch gestützt durch strukturelle Faktoren. Beispielsweise geben die finanzielle und demographische Lage des Werra-Meißner-Kreises den Anstoß, auch über die Ausbildungsduldung regionalen Betrieben und Unternehmen eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Im Gegensatz zum Werra-Meißner-Kreis zeigt sich im Landkreis Bautzen, wie heterogen die Thematik Ausbildungsduldung innerhalb eines Landkreises aufgefasst werden kann. Für einige kreisangehörige Kommunen spielt das Thema Ausbildungsduldung gar keine Rolle. In anderen Kommunen sind die Ausbildungsduldungen bekannt, werden aber von der Zivilgesellschaft als „wacklige Sache“ beschrieben, deren Erreichen ihnen besonders mit Blick auf die Mitwirkungspflicht als „sehr willkürlich“ erscheint (A_*_ZIV_156). Eine wichtige Rolle spielt dabei „Sachgebiet Integration“ im Landratsamt Bautzen. Dieses koordiniert nicht nur die Integration in den Arbeitsmarkt, sondern ist auch de facto eine Abteilung des Ausländeramtes Bautzen. Hier gibt es die Zielvorgabe, dass nur Geduldete, die bei der Beschaffung ihres Passes mitwirken, eine Ausbildungsduldung erhalten sollen. Erfolgt diese Mitwirkung aus unterschiedlichen Gründen nicht, sieht das Amt, im Gegensatz zum Werra-Meißner-Kreis, keinerlei Ermessenspielraum und so werden letztendlich kaum Ausbildungsduldungen erteilt. Nur vereinzelt lässt sich erkennen, dass politisch Verantwortliche aktiv werden, um beispielsweise Personen, die vom Entzug der Arbeitserlaubnis bedroht sind, zu unterstützen und damit auch die regionalen Unternehmen in ihrem Tun zu stärken:

„Jetzt gerade habe ich vorige Woche […] auf eine Bitte eines Unternehmens hin, ein Schreiben an den Ausländerbeauftragten geschickt, dass er also einen [Nationalität] in seinem Bleiberecht unterstützt, den [Name des Unternehmens] seit längerer Zeit beschäftigt. Und der gerne bleiben will und den sie auch brauchen“ (A_*_POL_145)

2.5 Gesundheit

Gesundheitsleistungen, die geflüchtete Personen in Anspruch nehmen können, hängen in Deutschland vom Aufenthaltsstatus, vom Wohnort und vom Standort der Unterbringung ab. Asylbewerber*innen erhalten Gesundheitsleistungen durch die Grund- und Notfallleistungen der §§ 4 und 6 im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)Footnote 6 bis zum 15. Monat ihres Aufenthalts in Deutschland. Nach diesen 15 Monaten erhalten sie Gesundheitsleistungen wie gesetzlich Krankenversicherte. Anerkannte Geflüchtete vollziehen mit der Anerkennung eines Schutzstatus einen Rechtskreiswechsel vom AsylbLG in das reguläre Sozialgesetz (SGB) und sind demnach bei SGB II-Bezug im Regelsystem der gesetzlichen Krankenkassen versichert. Verwaltet wird diese medizinische Versorgung über das AsylbLG abhängig vom Bundesland entweder mit einer elektronischen Gesundheitskarte oder mittels des sogenannten Behandlungsscheins. Die untersuchten Bundesländer Bayern, Hessen und Sachsen haben die elektronische Gesundheitskarte aus verschiedenen Gründen im Untersuchungszeitraum nicht eingeführt (Medizinische Flüchtlingshilfe Göttingen e. V. o. J.; Wächter-Raquet 2016). Das Bundesland Niedersachsen führte die elektronische Gesundheitskarte nach längerem Ringen im Jahr 2016 ein, die Kommunen müssen jedoch aktiv dem ausgehandelten Rahmenvertrag zwischen Land und Krankenversicherungen beitreten (Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung o. J.).Footnote 7

Es ist vor dem Hintergrund der spezifischen Regelungen für Asylsuchende durchaus bemerkenswert, dass die befragten Expert*innen das Handlungsfeld „Gesundheit“, ähnlich wie „Mobilität“, nicht als spezifisch migrantisches Problemfeld wahrnehmen. Sie betonen, dass immer alle vor Ort lebenden Menschen von Problemen der Gesundheitsinfrastruktur betroffen sind. Die Expert*innen heben in den Interviews vor allem die schwierige Gesamtsituation von Gesundheitseinrichtungen, den Mangel an Haus- oder Fachärzten, lange Wartezeiten und die schlechte Infrastruktur für psychotherapeutische Bedarfe in ländlichen Regionen hervor. Wurde zu psychischer Gesundheit und Fluchtmigration genauer nachgefragt, zeigte sich ein Bewusstsein der kommunalen Akteur*innen und sie benannten die aus ihrer Sicht Herausforderungen für Geflüchtete, wie etwa Sprachbarrieren und ein unterschiedliches Verständnis für den Umgang mit psychosozialer Gesundheit (s. Abschn. 3.6.5).

In den Untersuchungslandkreisen ist der sozialpsychiatrische Dienst zuweilen erste und auch einzige Anlaufstelle für Personen mit psychotherapeutischem Bedarf. Zudem werden weitere vorhandene Strukturen, wie beispielsweise Familienberatungsstellen, von geflüchteten Personen genutzt. Grundsätzlich bleiben Aussagen von Expert*innen hinsichtlich des Zugangs zu Gesundheitsleistungen im Bereich der Vermutungen. Hier offenbaren sich, im Verhältnis zu anderen Politikfeldern, deutlich weniger Berührungspunkte und mehr Unsicherheiten. Verantwortlich für den eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung sind aus Sicht der Expert*innen vor allem bestimmte institutionelle Faktoren, etwa rechtliche Rahmenbedingungen und Kompetenzen, sowie strukturelle Gegebenheiten. Die eigene Handlungsmacht wird dabei insbesondere von der politischen Ebene negiert:

„Aber, ob dann eine leistungsberechtigte Sache da war, ob das eine akut notwendig behandelbare Krankheit war oder, ob das aufzuschieben ist, damit waren wir nicht befasst. Also ich bin einmal angesprochen [worden] persönlich […] aber da konnte ich auch nichts regeln. Will ich auch nicht. Da bin ich nicht für zuständig an der Stelle zu sagen: ‚Das ist sofort akut medizinisch notwendig‘ oder ‚das ist eine langfristige Geschichte‘, die jetzt nicht als Flüchtling gemacht werden muss […].“ (D_VII_POL_255)

Dies verweist darauf, dass es sich beim Thema Gesundheit für Geflüchtete um eine invisible local arena (Caponio 2010, S. 172–177) lokaler Politikgestaltung handelt, bei der die lokale Politik die eigenen Gestaltungsspielräume nicht sieht oder sehen will. Dies betrifft die gesamte Breite der Gesundheitsversorgung, aber insbesondere das AsylbLG. Auch bisherige Forschung legt nahe, dass die Auslegung des AsylbLG wenig strategisch und eher von street-level bureaucrats entlang einer grundsätzlichen Interpretationslinie getroffen wird (Schammann 2015): Entweder verstehen Sachbearbeitende in kommunalen Behörden das AsylbLG als Instrument der

  1. I.

    Migrationssteuerung, oder aber sie nehmen eine

  2. II.

    existenzsichernde Zielsetzung an.

Diese zwei Ausprägungen lassen sich auch in den untersuchten Kommunen vorfinden, wobei die Mehrheit der untersuchten ländlichen Landkreise eine eher restriktive Auslegung des AsylbLG praktiziert. Doch welche Faktoren führen zu welcher Auslegung des AsylbLG?

Fallbeispiel Werra-Meißner-Kreis

Der Werra-Meißner-Kreis steht im Untersuchungssample exemplarisch für eine restriktive Auslegung der Gesundheitsleistungen auf Grundlage des AsylbLG. Üblicherweise werden fakultative Leistungen durch den Kreis nicht gewährt, wobei Person(en) im Gesundheitsamt als gatekeeper fungieren. Die vielfältigen Akteur*innen der Integrationsarbeit im Landkreis blicken von grundsätzlich unterschiedlichen Standpunkten auf die Thematik. Die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, unter ihnen ehrenamtliche Vertreter*innen und hauptamtliches Personal, betonen die Möglichkeiten der Kommune, die §§ 4und 6 AsylbLG existenzsichernd und zum Wohl der Geflüchteten auszulegen. Die restriktive Auslegung ist ihnen zufolge ein Produkt der Unkenntnis der Gesundheitsbehörde des Kreises. Sie stützen ihre Aussagen auf gerichtliche Entscheidungen, die die Praxis des Werra-Meißner-Kreises zugunsten der Geflüchteten korrigieren.

Die Vertreter*innen des Kreises hingegen begründen die Auslegung des AsylbLG als angemessen und verweisen auf einen Leistungskatalog, an den sie sich halten müssen:

„Jetzt muss man immer gucken, es gibt ja einen Katalog nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, welche medizinischen Leistungen übernommen werden MÜSSEN. Standardleistungen Krankenkassen können wir hier sagen, ein Standard. Einfachster Tarif AOK. So. Und dann ist immer die Frage der medizinischen Notwendigkeit, die sich hinten dran schließt.“ (C_*_POL_241)

Im Verlauf der Erhebungen zeigte sich, dass der Kreis Entscheidungen offenbar an einer eigens zusammengestellten „Richtlinie“ orientiert, die das AsylbLG sehr wörtlich auslegt. Die Auslegungspraxis wird zudem als reine Implementation wahrgenommen, politische Handlungskompetenz nicht gesehen. Zudem scheinen auch ökonomische Gründe eine Rolle zu spielen, denn es besteht die Sorge, die entstandenen Kosten für die medizinische Versorgung nicht vom Land zurückzuerhalten. Schlussendlich wird die Frage nach der Auslegung des AsylbLG an die höhere politische Ebene weitergeleitet.

„[…] das haben ja nicht wir auf der lokalen Ebene zu entscheiden, sondern das muss große Politik am Ende entscheiden, auch mit den Krankenkassen im gemeinsamen Ausschuss entscheiden, welchen Weg will man da eigentlich gehen? […] Das ist, glaube ich, im Moment die alles entscheidende Frage, wer übernimmt die Kosten?.“ (C_*_POL_241)

Die Chancen sind im Fall des AsylbLG sehr offene und auslegungsbedürftige gesetzliche Regelungen. Am Beispiel des Werra-Meißner-Kreises zeigt sich, wie Schlüsselpersonen im Gesundheitsamt durch ihr migrationssteuerndes Verständnis des AsylbLG eine eher indifferente rechtliche Grundlage in eine restriktive kommunale Praxis transformieren.

3 Fazit: Wo liegen die Chancen ländlicher Migrationspolitik?

Die Analyse der lokalen migrationspolitischen Praxis in acht untersuchten Landkreisen zeigt, dass Forschung und Praxis gut daran tun, das lokal spezifische Zusammenspiel von „Startchancen“ und „transformierenden“ Faktoren genau zu studieren. Auf diese Weise lassen sich auch bislang wenig oder ungenutzte Potenziale spezifischer Räume identifizieren und Konzepte für das Heben dieser Potenziale entwickeln. Dabei geht es einerseits darum, vormals unsichtbare Arenen sichtbar zu machen und durch strategisches Handeln zu bespielen – so wie im Bereich Gesundheit. Andererseits geht es aber auch darum, Chancen für aktive Politik als solche zu erkennen.

Für ländliche Regionen lassen sich bei aller Heterogenität der lokalen Voraussetzungen einige solche, strukturell gegebene Chancen identifizieren. Sie fußen auf einigen Beobachtungen, die sich in nahezu allen betrachteten Dimensionen wiederfinden.

Die erste Beobachtung bezieht sich auf die simple Tatsache, dass migrationsrelevante Ämter und Einrichtungen in ländlichen Regionen häufig deutlich überschaubarer und auch sozial „näher“ sind. Beispielsweise gibt es in Ausländerbehörden meist kürzere Wartezeiten beim Warten auf einen Aufenthaltstitel oder Ähnliches. Sachbearbeitende und Klient*innen kennen sich häufig. Dies muss nicht zwingend zu einer progressiveren oder liberalen Haltung der street-level bureaucrats führen; auch die Schwierigkeiten im Vollzug der aufenthaltsrechtlichen Pflichten sind ebenso herausfordernd wie andernorts. Jedoch birgt die größere soziale Nähe im Verwaltungsvollzug durchaus die Chance, dass individuellere Lösungen gesucht und gefunden werden.

Die zweite Beobachtung betrifft die Bedeutung von sogenannten Multifunktionsträger*innen, also beispielsweise die personelle Übereinstimmung von Bürgermeister*in und Vereinsfunktionär*in. Dieses Phänomen führt dazu, dass Synergien informell genutzt und schnelle Lösungen herbeigeführt werden – wie im Beispiel der Arbeitsmarktintegration. Auch wenn solche Prozesse für Außenstehende intransparent wirken, wissen die politischen und verwaltungstechnischen Entscheidungsträger*innen vor Ort doch meist sehr gut, wie Entscheidungen zustande gekommen sind – und wie sie sie herbeiführen können. Informelle Koalitionen lokaler Multifunktionsträger*innen können somit als eine Art Strukturbedingung ländlicher Regionen gelesen werden.

Die soziale Nähe im Verwaltungsvollzug und das gehäufte Vorkommen von Multifunktionsträger*innen kann zu den Chancen ländlicher Regionen gezählt werden. Allerdings zeigt die Analyse auch, dass diese Chancen erst von den spezifischen Akteur*innen in migrationspolitische Praxis umgewandelt werden. Hier entscheidet sich, ob das spezifische Integrationspotenzial ländlicher Regionen genutzt wird. Daran knüpft die dritte Beobachtung: Einzelne Personen sind in ländlichen Regionen besser in der Lage, die Stoßrichtungen von lokaler Migrationspolitik vorzugeben, zu gestalten und Agenda-Setting zu betreiben als in urbanen Settings. Regionale Schlüsselfiguren haben teils sogar die Möglichkeit, zu beeinflussen, worüber in den ländlichen Gemeinden und Städten gesprochen wird, in welchem diskursiven Rahmen ein Thema verhandelt wird, worüber Entscheidungen gefällt und Praktiken produziert werden. Nehmen sich lokale Schlüsselpersonen der Thematik von Migration an, so setzen sie Marker in der Wahrnehmung der lokalen Öffentlichkeit. Die Chance bei dieser Form des Agenda-Settings besteht vor allem darin, dass die lokalen Schlüsselpersonen oftmals keine größeren Gegenspieler*innen neben sich haben. Nimmt eine lokal wichtige Persönlichkeit, wie etwa eine Bürgermeisterin oder ein etablierter Unternehmer, sich der Thematik an, so gibt es eine relativ gute Chance, dass das gewählte Thema auch wirklich vor Ort Gehör findet. Auch wenn es keine urban geprägte Vergleichsgruppe in unserem Sample gibt, lässt sich auf Grundlage der Literatur annehmen, dass Agenda-Setting in urbanen Regionen einem kompetitiveren Verfahren ausgesetzt ist.

Bleibt dagegen diese personelle Besetzung des Themas Migration aus, beispielsweise weil sich Schlüsselpersonen nur eingeschränkt damit identifizieren können, so werden Migration und migrationsbedingte Vielfalt in der politischen Realität ländlicher Gemeinden kaum eine Rolle spielen. Migrationspolitik bleibt dann ein fernes, durch Bundes- und Landesebenen bespieltes Feld mit reinen Implementationsnotwendigkeiten und wenig Identifikationspotenzial vor Ort. Kommunale Handlungsmacht wird nicht erlebt, ein Abtreten der Verantwortung an die nächsthöheren Ebenen findet statt. Wenn es gelingt, die eigenen Chancen durch aktives Handeln zu nutzen, können auch für Geflüchtete zukunftsorientierte Alternativen zu einem Leben in Ballungszentren geschaffen werden.