7.1 Einleitung: Politik und Religion in der Schweiz heute – ein komplexes Gefüge komplexer Größen

Die Schweiz zählt zu den vergleichsweise säkularen westeuropäischen Gesellschaften, die durch Modernisierung, Säkularisierung, Demokratisierung und Individualisierung seit dem 19. Jahrhundert entstanden sind. Sie besitzt eine alte demokratische politische Ordnung. In der Verfassung sind Menschen- und Grundrechte einschließlich der Religionsfreiheit gewährleistet. Eine solche freiheitliche Ordnung setzt dem Grunde nach die Trennung von Staat und Religion sowie die staatliche Neutralität gegenüber den vielfältigen religiösen und philosophischen Vorstellungen des «guten Lebens» im Diesseits wie im Jenseits voraus.Footnote 1 Im Bewusstsein der politischen Öffentlichkeit hatte Religion in der säkularen Sphäre der (Partei-)Politik keinen Platz. Das galt so bis vor einigen Jahren. Die Zeichen der jüngeren Zeit sind aber widersprüchlich geworden. Gleich zwei Mal hat die Schweizer Stimmbürgerschaft markante, auch international beachtete religionspolitische Entscheide herbeigeführt: Der Bau von Minaretten ist 2009 und das Tragen einer Burka 2021 per Abstimmung als Verbot in die Verfassung geschrieben worden. Aktuell geht es aber keinesfalls ausschließlich um Islampolitik. Religion kommt auch bei prominenten politischen Sachentscheiden ins Spiel. Höchst kontrovers war ihre Rolle im Kontext der Konzernverantwortungsinitiative. Kirchen und kirchennahe Verbände und Organisationen haben vehement für eine Annahme der knapp gescheiterten Initiative gekämpft. Nahezu im gleichen Atemzug hat die Christdemokratische Volkspartei der Schweiz (CVP), die wie ihre christdemokratischen Schwesterparteien in Europa den Bezug zum Christentum im Namen führte, beschlossen, den ‚christlichen Ballast‘ ihrer Parteigeschichte im Zuge ihrer Fusion mit der Bürgerlich-Demokratischen Partei Schweiz (BDP) abzuwerfen, um sich an der Urne vom Niedergang des Christentums bzw. der katholischen Kirche unabhängig zu machen und damit der drohenden politischen Bedeutungslosigkeit zu entgehen.

Wie in vielen westeuropäischen Ländern und den von vielen zu Unrecht als gänzlichen Sonderfall betrachteten USA stellt sich auch für die Schweiz die politische Gretchenfrage: Welchen Stellenwert hat Religion? Welchen Einfluss auf Politik hat sie noch oder vielleicht eher wieder? Worauf beruht er? Und ist er vielleicht problematisch für Demokratie und Gesellschaft?

Dieses Fragenbündel richtet sich auf eine vielschichtige Wirklichkeit von Politik und Religion, insbesondere in freiheitlichen demokratischen Gesellschaften. In der Politikwissenschaft, der dieser interdisziplinäre Beitrag in hohem Maße verpflichtet ist, ist dieser Zusammenhang treffend als ein «komplexes Gefüge komplexer Größen» bezeichnet worden.Footnote 2 Abstrakt gesprochen, ergibt sich diese Komplexität aus den zahlreichen Zuordnungs- und Wechselverhältnissen, die zwischen Politik als Wettbewerb um Macht und Mehrheiten (politics), als System zur Problemlösung gesellschaftlicher Vorzugs- und Verteilungsfragen (policy) und als Schicksalsgemeinschaft einer Bevölkerung (polity) einerseits und Religion als kollektiven Glaubensgemeinschaften (und deren Gegnern), einer öffentlichen und privaten Glaubenspraxis, einer Vielzahl kollektiver Sinn- und Wertsysteme und einem historisch und regional geprägten kulturellen Kontext von Gesellschaft und Politik andererseits bestehen.

Der vorliegende Beitrag macht ausgehend vom Forschungsstand für die Schweiz dieses Wechselverhältnis anhand von aktuellen Befragungsdaten in seiner Komplexität sichtbar. Es wird die Vermutung bzw. Hypothese überprüft, dass Religion trotz der nachhaltigen Säkularisierung und Entkirchlichung in der Schweiz aktuell einen Einfluss auf Politik hat. Der Beitrag beginnt mit einem Überblick bisheriger Studien zu Politik, Parteien, Wahlverhalten und Religion in der Schweiz (Abschn. 7.2). Sodann werden die Fragestellung und die leitenden Vermutungen und Hypothesen sowie mögliche Mechanismen zu Erklärung der vermuteten Zusammenhänge anhand von Theorien der Wahl- und Religionsforschung entwickelt (Abschn. 7.3) und das Vorgehen der Untersuchung anhand der Daten des MOSAiCH-Datensatzes 2018 zu Religion beschrieben (Abschn. 7.4). Im Hauptteil werden zahlreiche Zusammenhänge des Wahlverhaltens, der Bewertung politischer Streitthemen und von Einstellungen mit unterschiedlichen Dimensionen von Religion auf ihre Stärke untersucht (Abschn. 7.5). Die Einzelbefunde werden im Fazit bilanziert und abschliessend interpretiert (Abschn. 7.6).

7.2 Forschungsstand

Die politische Geschichte der Schweiz und Religion sind schwerlich zu trennen.Footnote 3 Die so nachhaltige Christianisierung des heutigen Gebiets der Schweiz geht bis auf das antike römische Reich zurück. In der frühen Neuzeit wurde die Schweiz zu einem der Stammlande der Reformation. Der reformierte Glaube Calvins und Zwinglis hat große Teile der Schweiz tief geprägt. Die katholische Tradition hat über das Trienter Konzil und die nachfolgende religiöse Erneuerung weite Teile der Zentralschweiz und des Wallis ebenso tief bestimmt.Footnote 4 Als ein bi-konfessionelles Land ist die Willensnation Schweiz Mitte des 19. Jahrhunderts in die politische Moderne aufgebrochen. Neben anderen, vor allem sprachlich bedingten Binnendifferenzen, hat der konfessionelle Graben die Entstehung und Ausgestaltung des Schweizer Bundesstaates seit dem kurzen, aber nachhaltig wirkenden Bürgerkrieg zwischen katholischen und reformierten Kantonen 1847 («Sonderbundskrieg») und der anschliessenden Verfassungsgebung 1848 im Zeichen des siegreichen reformierten bzw. liberalen Freisinns bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts bestimmt.Footnote 5 Die Asymmetrien zwischen der reformiert-liberalen Mehrheit, dem sozialistischen Arbeitermilieu und den weithin zum katholischen Milieu verdichteten katholischen Landesteilen sowie den katholischen Minderheiten in den entstehenden großen Städten wie Basel, Bern oder Zürich und in den Industriegebieten hat das Schweizer Parteiensystem bestimmt und ihm bis in die 1990er-Jahre jene hohe Stabilität verliehen,Footnote 6 die in der «Zauberformel» von 1959 und der in ihr festgeschriebenen, bis 2003 gültigen Aufteilung der Bundesratssitze nach Parteien ihren beredten Ausdruck gefunden hatte.Footnote 7

7.2.1 Parteien und Wahlverhalten in der Schweiz seit den 1990er-Jahren

Die jüngere Parteien- und Wahlgeschichte beginnt mit dem zeitweise kometenhaften Aufstieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) seit Mitte der 1990er-Jahre. Mit dieser Partei zogen angeführt von Christoph Blocher neue Themen und ein neuer populistischer Stil in die Schweizer Politik ein.Footnote 8 Neben die älteren Konfliktlinien von Staat und Konfession bzw. Arbeit und Kapital trat eine politisch-kulturelle Scheidelinie, die entlang der Frage der Öffnung oder Schließung der Schweiz für Wandel durch eine europäische Einbindung und zunehmende Migration verläuft.Footnote 9 Mittlerweile gilt das Schweizer Parteiensystem als eines der fragmentiertesten in Westeuropa.Footnote 10 Nicht weniger als elf Parteien sind im Nationalrat, der großen Kammer des Schweizer Parlaments, vertreten. Legt man die politischen Entscheidungen der im Nationalrat vertretenen Parteien zugrunde und bewertet ihr Abstimmungsverhalten nach ideologischer Positionierung auf einem Links-Rechts-Kontinuum von −10 bis +10, zeigt sich, dass dieses Parteiensystem zudem große inhaltliche Distanzen aufweist (Abb. 7.1).Footnote 11

Abb. 7.1
figure 1

(Quelle: eigene Berechnungen nach https://www.nzz.ch/schweiz/parlamentarierrating-wohin-sich-die-raete-bewegt-haben-ld.1588933 (19.3.2021), vgl. dazu auch Hermann und Krähenbühl 2020)

Parteienspektrum im Nationalrat 2019 auf einem Links-Rechts-Kontinuum.

Von links nach rechts angeordnet, stehen die SolidaritéS, Partei der Arbeit der Schweiz (PdA), die Grüne Partei der Schweiz (GPS, heute GRÜNE Schweiz, GP) und die Sozialdemokratische Partei (SP) für den linken Pol, die Lega dei Ticinesi, die Schweizerische Volkspartei (SVP) und die Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) für den rechten. Zwischen den Polen befindet sich eine Reihe von Mitteparteien. Von links nach rechts sind dies die Grünliberale Partei Schweiz (GLP), die Evangelische Volkspartei (EVP), die Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP), die Christlichdemokratische Volkspartei CVP (seit Ende 2020 mit der BDP fusioniert zur Partei ‚Die Mitte‘) und die FDP. Die Liberalen (FDP). In den Schweizer Medien ist oft von zwei Lagern die Rede, wobei Mitteparteien dann dem ‚bürgerlichen Lager‘ zugeschlagen werden. De facto hatte bzw. hat aber zumindest die ehemalige CVP eine Scharnierfunktion inne, wenn es um Mehrheitsbildungen und Entscheidungsfindung im Bundeshaus geht, was für eine gewisse politische Selbstständigkeit im parteipolitischen Spektrum spricht.Footnote 12

Auf Bundesebene hat sich das Kräfteverhältnis der Parteien über die letzten drei Jahrzehnte stark verändert. Neuere Wahlergebnisse lassen zudem gewisse Trends erkennen (Abb. 7.2): Der Aufstieg der SVP sticht sofort ins Auge. Sodann fällt auf, dass neue Parteien die Bühne betreten haben. Nach 2000 sind dies die GLP und die BDP, zuvor die GPS, welche schon seit den 1980er-Jahren Erfolge erzielt. Das hat Auswirkungen auf die Stimmenanteile der übrigen Parteien. Die Verliererinnen der Entwicklung sind die CVP, FDP und die SP. Bei der FDP und der CVP verlief der Stimmenverlust nahezu stetig auf zuletzt 15,1 % bzw. 11,4 %. Die Wahlergebnisse der SP unterlagen größeren Schwankungen, aber aktuell liegt auch sie bei historisch tiefen 16,8 %. Hingegen erzielen, allen Veränderungen zum Trotz, die beiden kleineren, in unterschiedlichen Flügeln der Freikirchen beheimateten Parteien EDU und EVP niedrige, aber recht stabile Ergebnisse, wobei allerdings die EDU nicht immer den Sprung ins Parlament schaffte.Footnote 13

Abb. 7.2
figure 2

(Quelle: eigene Darstellung nach BFS/Statistik der Nationalratswahlen)

Stimmenanteile der Parteien in den nationalen Wahlen 1950 bis 2019 in %.

7.2.2 Religion und Politik

In der Wahlforschung hat sich Religion über lange Zeit immer wieder als ein wichtiger Faktor zur Erklärung von Wahlergebnissen erwiesen.Footnote 14 Zwar schwindet die Erklärungskraft im Laufe der Zeit in den meisten westeuropäischen Ländern; teils weil die Kirchenbindung rückläufig ist und damit die relevanten Gruppen in der Wählerschaft kleiner werden, teils weil das Wahlverhalten individueller bzw. volatiler geworden ist. Ähnliches lässt sich auch für andere wahlrelevante Großgruppen wie etwa die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft festhalten. Beide Prozesse, die Schwächung von Großgruppen und die Individualisierung der Wahlentscheidung, lassen die ‚Stammwählerschaft‘ der älteren Parteien abschmelzen. Gleichwohl ist das historische Grundmuster vielfach noch erkennbar, so auch in der heutigen Schweiz.

Zwischen der Religionszugehörigkeit und den Schweizer Parteien und ihrer Wählerschaft besteht ein bekannter, im Grundmuster vergleichsweise stabiler Zusammenhang. Er trat auch in der Wahl 2019 zutage: «Bei der Religionszugehörigkeit fällt auf, dass die CVP nach wie vor bei den Katholikinnen und Katholiken äußerst beliebt ist. In dieser Gruppe ist die CVP die zweitstärkste politische Kraft und praktisch gleichauf mit der SVP. Dagegen wählten Protestantinnen und Protestanten sowie Konfessionslose kaum je die CVP. Protestantische Wahlberechtigte entschieden sich überdurchschnittlich oft für die SVP und FDP, während GLP, SP und GPS häufiger von konfessionslosen Wählenden Unterstützung erhielten.»Footnote 15 Dieses Muster hat viel mit den genannten, historischen Hauptkonfliktlinien im politischen System der Schweiz zu tun. Die Forschung hat dies wiederholt gezeigt.Footnote 16 Der Bedeutungsrückgang dieses historischen Musters ist ähnlich wie in der benachbarten Bundesrepublik Deutschland gleichwohl nicht zu übersehen.Footnote 17

Wenn es um Religion geht, hat seit geraumer Zeit jene Partei das größte Forschungsinteresse auf sich gezogen, die am stärksten vom Wandel in Mitleidenschaft gezogen worden ist: die CVP. So wurde untersucht, wie der langfristige Rückgang der CVP und ihrer Wählerstimmen verlaufen ist und welche anderen Parteien davon profitieren konnten.Footnote 18 Bis in die 1990er-Jahre sank unter der katholischen Bevölkerung zunächst die Hemmschwelle, die FDP zu wählen. Seitdem entstand der CVP in ihrer Kernwählerschaft mit der SVP eine weitere, starke Konkurrenz.Footnote 19 Auch die (mittlerweile entschiedene) Frage der Parteienfusion von CVP und BDP hat wissenschaftlich ihren Niederschlag gefunden. Urs Altermatt hat in seiner CVP-Studie mit strategischen Argumenten offen dafür geworben.Footnote 20 Thomas Milic und Adrian Vatter kamen hingegen aufgrund von Umfragedaten zu dem Schluss, dass eine Fusion zwei sehr ungleiche Wählerschaften zusammenzubinden suche. Eine Fusion sei daher eine Hochrisikostrategie, die beim Wahlvolk eher scheitern als gelingen könne.Footnote 21 Neben der CVP haben der Aufstieg der SVP und ihre Rolle als Motor in der Anti-Minarett- und Burka-Verbots-Initiative Fragen nach der Zusammensetzung ihrer Wählerschaft und der Rolle von Bedrohungsgefühlen und Vorurteilen gegenüber dem wachsenden muslimischen Bevölkerungsteil als Teil der Wahl- und Abstimmungserfolge der SVP aufgeworfen.Footnote 22 Als eine zusätzliche, bislang kaum bearbeitete Forschungsaufgabe zeichnet sich das Wahlverhalten von Migrant:innen und damit auch das der wachsenden muslimischen Minderheit in der Schweiz ab.

Im Vergleich zum Wahlverhalten ist die Frage eines möglichen Zusammenhangs von Religion und politischen Themen für die Schweiz bislang selten untersucht worden. Sarah Nicolet und Anke Tresch sind ihr anhand von ISSP-Daten für 2008 nachgegangen.Footnote 23 Für moralpolitische Fragen wie die Erlaubtheit des Schwangerschaftsabbruchs fanden sie unter praktizierenden Christ:innen die geringsten und unter nichtreligiösen Personen die höchsten Zustimmungswerte. Auch die bloße Tatsache der Religionszugehörigkeit hatte einen Einfluss. Katholik:innen waren ablehnender als Reformierte und Menschen ohne Religionszugehörigkeit.Footnote 24 Carolin Rapp et al. gelangten auf der Basis von 13 Umfragen zu Volksabstimmungen zu moralpolitischen Themen zwischen 1992 und 2012 zur Einschätzung, dass die traditionelle konfessionelle Konfliktlinie durch eine neue Scheideline zwischen religiösen und säkularen Wähler:innen ersetzt worden sei.Footnote 25

Im Kontext der Schweizer Wahl- und Parteienforschung ist die Religionspolitik als politisches Sachthema kaum in den Blick geraten. Dabei sind die religionspolitischen Aktivitäten in den Kantonen, aber auch im Bund zahlreich.Footnote 26 Sehr gut erforscht ist allerdings das Abstimmungsergebnis der Anti-Minarett-Initiative.Footnote 27 Im vorliegenden Zusammenhang wichtig ist der Befund, dass die Einschätzung der vorgebrachten Argumente und die Parteibindung für die Annahme des Verbots, nicht aber die Religionszugehörigkeit oder Religiosität entscheidend waren.Footnote 28 Schließlich interessiert auch, ob und, wenn ja, wie das politische System der Schweiz und die politische Gemeinschaft gegenwärtig mit religiösen Aspekten in Beziehung stehen, etwa wenn es um die Gottesanrufung in der Präambel der Schweizer Bundesverfassung oder das Selbstverständnis der Schweiz als einer christlichen Nation geht.Footnote 29 Dies berührt Fragen der kollektiven Identität und des sozialen KapitalsFootnote 30 und damit der politischen Kultur,Footnote 31 deren empirische Erforschung mit den Mitteln der Umfrageforschung für die Schweiz jüngeren Datums ist.Footnote 32

7.2.3 Religion

Religion ist ein komplexer Forschungsgegenstand. Auf der Ebene des Einzelnen (Mikro-Ebene) geht es um Identitätsbezüge, religiöses Handeln und werthaltige Glaubensüberzeugungen und Einstellungen. Daneben stellt Religion im Rahmen eines politischen Systems (Makro-Ebene) ein kulturelles System dar, das zwar durch religiöse Institutionen und Organisationen erzeugt wird (Meso-Ebene), aber keineswegs im intentionalen Handeln der heute Lebenden allein aufgeht.Footnote 33 In der bi-konfessionellen Schweiz ist im Blick auf das Schnittfeld von Politik und Religion daher auch mit Pfadabhängigkeiten zu rechnen, die sich im Wahlverhalten zeigen könnten bzw. sollten.

Die religionssoziologische Forschung zu den Verhältnissen in der Schweiz zeichnet ein ambivalentes Bild der religiösen Lage. Einerseits gibt es unstrittig einen starken Trend der Entkirchlichung in der Bevölkerung. Die Daten des Bundesamts für Statistik demonstrieren den anhaltenden Rückgang der formalen Mitgliedschaft in einer der beiden Großkirchen bzw. Traditionen des westlichen Christentums (Abb. 7.3). Der Anteil der Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören, ist von 11,4 % im Jahr 2000 auf 29,5 % im Jahr 2019 angewachsen. Auch der Anteil muslimischer Einwohner:innen ist im gleichen Zeitraum gestiegen – wenn auch nicht so rasant wie derjenigen ohne Religionszugehörigkeit – und beträgt gegenwärtig 5,5 %. Ein ähnliches Bild des Rückgangs ergibt sich für die klassischen Indikatoren der Kirchlichkeit wie den Gottesdienstbesuch. Die Entwicklung ist stark durch den Verhaltenswandel zwischen den Generationen gekennzeichnet.Footnote 34 Es wird im Sinne einer anhaltenden Säkularisierung vermutet, dass sich diese Entwicklung als ein ‚säkulares Driften‘ fortsetzen wird. Die Religionslosigkeit könnte in der Schweiz zur dominanten Sozialform werden.Footnote 35 Dem wird entgegengehalten, dass der Verlust die institutionellen Religionen betreffe, nicht aber die Religiosität des Einzelnen. In der individualisierungstheoretischen Linie wird mit einer Transformation des Religiösen gerechnet, die auf größere Wahl- und Gestaltungsfreiheit und damit die Verbuntung des Religiösen setzt.Footnote 36 Religion sei für viele Menschen zentral für die eigene Persönlichkeit, vielleicht hintergründig, aber spätestens im Bedarfs- und Krisenfall bei biografisch einschneidenden Erfahrungen abrufbar.Footnote 37 Bezieht sich diese Diskussion wenn auch nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich auf die (bisherigen) Mehrheitskonfessionen der Schweiz, so ist mit Recht darauf verwiesen worden, dass viele kleinere Religionsgemeinschaften bei einer ausschließlich statistischen Betrachtung oft übersehen werden und vor allem eine beachtliche Zahl muslimischer Gemeinschaften in der Schweiz beheimatet ist.Footnote 38

Abb. 7.3
figure 3

(Bemerkung: Wohnbevölkerung über 15 Jahre. Quelle: eigene Darstellung nach Datenreihen des Bundesamts für Statistik (BfS); https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/religionen.assetdetail.15384753.html)

Religionszugehörigkeit der Schweizer Bevölkerung 1970 bis 2019.

Auch in der Wahlforschung gibt es unterschiedliche Herangehensweisen an Religion. Es besteht dabei durchaus ein Zusammenhang mit der religionssoziologischen Forschung. Meist konkurrierend, teils sich aber auch ergänzend werden seit geraumer Zeit Erklärungen für den Wandel von Religion und Religiosität in der Moderne im Rahmen der Säkularisierungstheorie, der Individualisierungstheorie und der Markttheorie gesucht.Footnote 39 Während der ‚Markt der Religionen‘ als Erklärungsansatz bislang vor allem in makro-vergleichenden Studien zum Einfluss des Staat-Religionen-Verhältnisses auf die religiöse Vitalität herangezogen wurde,Footnote 40 spielen die anderen beiden Theorieansätze für die Erklärung von Wahlverhalten und politischen Einstellungen eine wichtige Rolle. Sarah Nicolet und Anke Tresch greifen explizit die Individualisierungsthese auf. Sie gehen davon aus, dass das Phänomen der Religiosität ohne Kirchen- oder Organisationsbindung, das Believing without Belonging,Footnote 41 ein Effekt der Individualisierung ist,Footnote 42 der politisch relevant ist. In ihrer Studie haben sie eine neue Typologie vorgelegt, die alle Befragten jeweils genau einer einzigen Kategorie bzw. Form von Religiosität zuordnet.Footnote 43 Die Wirkung von Religion auf Politik wird dann entlang dieser Typen anhand von Umfragedaten untersucht. Christof Wolf und Sigrid Roßteutscher formulieren das Gegenprogramm des Säkularisierungsparadigmas: «Zur Messung der Religiosität greifen wir auf eine Typologie der Kirchlichkeit zurück, die einerseits formale Mitgliedschaft, andererseits den Grad des Engagements, gemessen am Kirchgang, abbildet. Wir entscheiden uns damit bewusst für eine ‚traditionelle‘ Typologie und gegen neuere Kategorisierungen, die wie Davie […] zwischen ‚believing‘ und ‚belonging‘ oder wie Nicolet und Tresch […] kirchengebundene von ‚freier‘ Religiosität unterscheiden. Grund hierfür ist die Überlegung, dass eine ‚politisierte Sozialstruktur‘ die institutionelle Einbettung und Mobilisierung durch Organisationen benötigt. Neue Formen der Spiritualität oder einer privatisierten Religion sind daher zwar aus religionssoziologischer Sicht interessant, aber hinsichtlich der Ausbildung gruppenspezifischer politischer Präferenzen folgenlos. Dementsprechend unterscheiden wir zwischen katholischen und protestantischen Kern- und Randmitgliedern und Konfessionslosen, wobei wir letztere nochmals danach differenzieren, ob sie zumindest gelegentlich in die Kirche gehen oder nicht.»Footnote 44

Der vorliegende Beitrag teilt mit Wolf und Roßteutscher die Annahme, dass der Gruppenbezug von Religion für die politische Relevanz der Religiosität als wesentlich angesehen werden kann. Er geht in der Messung von Religion aber einen Mittelweg, denn die Festlegung von Wolf und Roßteutscher auf allein zwei Variablen, nämlich Religionszugehörigkeit und Kirchgang, schließt alternative Befunde im Sinne der Individualisierungstheorie durch die theoretische Vorannahme bzw. Setzung von vornherein aus. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich eine wichtige Einsicht in die Frage der Operationalisierung von Religion in empirischen Studien. Vor die Wahl gestellt, ob man versuchen soll, Religion bzw. Religiosität in einer einzigen Typologie oder Skala zu verdichtenFootnote 45 oder ob man die verschiedenen Dimensionen von ReligionFootnote 46 analytisch besser getrennt halten soll,Footnote 47 spricht einiges für die letztere Option, denn man kann unterschiedliche Effekte von Religion auseinanderhalten. Im Folgenden wird daher unterschieden zwischen Religionszugehörigkeit als formaler Zugehörigkeit und/oder einer bewussten Identifikation mit der eigenen Religionsgemeinschaft als einer sozialen Identität (belonging), gruppenbezogene religiöse Praxis (behaving) und persönliche Religiosität (believing). Dies scheint zumindest für neue oder seltener untersuchte Zusammenhänge von Religion mit anderen Bereichen der sozialen Wirklichkeit sinnvoll zu sein, um – wie im Folgenden – unterschiedliche Wirkmechanismen in den Blick nehmen zu können.

7.3 Forschungsfrage und Ausgangsvermutungen

Die vorliegende Studie geht der Frage nach, ob Religion einen Einfluss auf Schweizer Politik hat, und, wenn ja, wie stark er ist und warum er besteht. Diese Frage gehört zu den grundlegenden Fragen einer interdisziplinären Religionsforschung. Diese Forschungsfragen sollen mit den Mitteln der Umfrageforschung untersucht werden. Dazu sind einige vorgängige Definitionen und Präzisierungen nötig.

Politik wird im Folgenden unter den Aspekten von Macht und Einfluss (politics), politischen Sachthemen (policy) und politischer Gemeinschaft (polity) analysiert. Gefragt wird nach dem Einfluss von Religion in ihren verschiedenen Dimensionen auf parteipolitische Präferenzen, auf politische Einstellungen und Sachthemen sowie auf die Bewertung des politischen Systems.

Die Frage, warum Religion einen Einfluss auf die genannten Dimensionen von Politik hat bzw. haben könnte, wird aus der Perspektive der Wahlforschung und ihrer Theorien angegangen. Als Ausgangspunkt werden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen des Wahlverhaltens herangezogen.Footnote 48 Bei Ersteren wird – wie üblich – nochmals zwischen makrosoziologischen und mikrosoziologischen Begründungsansätzen unterschieden. Gemeinsam ist allen angesprochenen Theorien, dass sie jeweils unterschiedliche, konkrete Mechanismen benennen können, wie und warum Religion eine Wahlentscheidung bzw. politische Positionierung (mit)verursacht.

Makrosoziologische Theorien erklären Wahlverhalten als Ergebnis von Verhaltensvorgaben in und von Großgruppen. Hinter den grundlegenden politischen Konflikten etwa von Staat und Kirche oder Arbeit und Kapital stehen soziale Gruppen von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung. Die Interessen und Weltdeutungen solcher Großgruppen setzen sich politisch in dauerhafte Verbindungen mit bestimmten Parteien um. Parteien repräsentieren gemäß der klassischen Cleavage-Theorie also gesellschaftliche Konfliktkonstellationen, die in der Sozialstruktur einer Gesellschaft vorhanden sind.Footnote 49 Entlang dieser gesellschaftlichen Hauptkonfliktlinien entstehen für große Teile der Gesellschaft somit Wahlnormen, die mit der Mitgliedschaft in einer der Großgruppen fest verbunden sind.Footnote 50 Konfessionelle Sondergesellschaften oder Milieus sind ein prominenter Fall solcher Großgruppen. Die besondere Rolle des katholischen Milieus für die Schweiz wurde oben herausgestellt.

Was aber passiert im Zuge der Entkirchlichung? Angesichts des anhaltenden Rückgangs von Konfessionsbindung und kirchlicher ReligiositätFootnote 51 bei einer weiterhin wirksamen Rolle der Konfessionszugehörigkeit im Wahlverhalten ist, so die erste Ausgangsvermutung, eine Transformation des ursprünglichen Zusammenhangs eingetreten: «Katholiken, die im Laufe ihres Lebens aufhören, Katholiken im kirchlichen Sinne zu sein, bleiben es mit großer Wahrscheinlichkeit im wahlsoziologischen Sinne. Der Säkularisierungseffekt zeigt sich erst in der darauffolgenden Generation.»Footnote 52 Für die Schweiz lässt sich daher annehmen, dass nicht nur, wie in der Forschung schon gezeigt, mit der aktuellen Konfessionszugehörigkeit, sondern auch mit der ehemaligen Konfessionszugehörigkeit eine Präferenz für bestimmte Parteien einhergeht: Katholik:innen im wahlsoziologischen Sinne, d. h. Katholik:innen ohne Kirchenbindung, sollten weiterhin die CVP wählen, ehemalige Reformierte in diesem Sinne die FDP oder EVP präferieren und Menschen ohne Religionszugehörigkeit – in Übertragung der These auf das sozialistische Milieu – weiterhin linke Parteien unterstützen. Ähnliches sollte auch für die Übertragung von sozial-moralischen Vorstellungen, die aus den religiösen Großgruppen stammen oder stammten, auf politische Sachthemen gelten.

Die mikrosoziologische Theorie des Wahlverhaltens betrachtet die Wählenden als Menschen, deren Wahlentscheidung sehr stark durch lokale Gruppenmitgliedschaft bzw. das personale Umfeld bestimmt wird. Vor allem durch Face-to-face-Begegnungen bilden sich, so die zweite Ausgangsvermutung, Meinungen, politische Urteile und damit Wahlnormen, die innerhalb kleinerer, lokaler Gemeinschaften eine sehr hohe Verbindlichkeit annehmen. Dies sollte zumindest so lange gelten, wie der Einzelne nicht erheblichem cross pressure, also divergierenden Gruppenerwartungen unterschiedlicher, relevanter Kleingruppen ausgesetzt ist. Kirchen- und speziell Gottesdienstgemeinden zählen zu jenen Gruppenmitgliedschaften, die über einen häufigen persönlichen Kontakt Einfluss auf Lebensführung und Wahlnormen erlangen. Der Ursprung des Effekts ist hier aber ein anderer als in der Cleavage-Theorie, denn ein bestimmtes konfessionelles Groß-Milieu ist nicht nötig. Entscheidend ist vielmehr die «Stärke kirchlicher Verankerung im allgemeinen – ob im katholischen oder protestantischen Bereich scheint dabei von eher sekundärer Bedeutung.»Footnote 53 Übertragen auf die Schweizer Verhältnisse wäre danach zu vermuten, dass die Stärke der Kirchenbindung Effekte auf das Wahlverhalten und Themen hat. Dieser Effekt sollte statistisch stärker sein als derjenige der formalen Religionszugehörigkeit, insbesondere dann, wenn er in Kombination mit der Religionszugehörigkeit untersucht wird.Footnote 54

In der gegenwärtigen Wahlforschung ist der dritte, sozialpsychologische Ansatz der am häufigsten herangezogene. Ein Grund dafür ist, dass die drei Theorien in je unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Kontexten entstanden sind und daher die Theoriebildung selbst einer geschichtlichen Entwicklung unterliegt.Footnote 55 Der sozialpsychologische Ansatz ist der jüngste. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er die Wahlentscheidung aus der psychischen Disposition des Individuums zu erklären versucht. Nach dieser Theorie entwickeln Menschen in Demokratien im Laufe ihrer politischen Sozialisation in der Regel eine ‚Parteiidentifikation‘, eine feste, auch emotional verankerte Bindung an eine einzelne Partei. Solange es die Umstände erlauben, wird eine Person bei einer konkreten Wahlentscheidung dieser Parteiidentifikation folgen. Kandidatenfragen oder besondere politische Themen, wie z. B. der Fukushima-Effekt bei den Nationalratswahlen 2011, können eine Parteiidentifikation zeitweise außer Kraft setzen oder sie sogar dauerhaft verschieben. Die statistisch oft gute Erklärungsleistung sozialpsychologischer Ansätze beruht darauf, dass die Erklärung auf der Ebene des Individuums selbst gesucht wird und dabei Identifikationsleistungen und äußere Einflüsse systematisch berücksichtigt.Footnote 56 Übertragen auf Religion kann man neben der eigentlichen Parteiidentifikation auch die religiöse Identität des Einzelnen als Antrieb und Ursache für politische Einstellungen und Verhaltensweisen vermuten, sofern die religiöse Identität ähnlich wie die Parteiidentifikation religiöse Sozialisations- und Umfeldeinflüsse auf der Ebene der Persönlichkeit gleichsam «aufspeichert» und damit verhaltenswirksam werden lässt. Menschen, die auf eine kohärente Identität nach innen sowie in Relation zu ihrem aktuellen sozialen Umfeld achten, verbinden ihre religiösen Bindungen, Haltungen und Überzeugungen auch mit politischen Präferenzen. Wer sich mit einer Religion identifiziert, ist daran interessiert, eine passende Partei zu wählen. Wer sich religiös-moralischen Standards im Gewissen verpflichtet fühlt, wird diese auch bei der Bewertung von sozialmoralischen Streitthemen wie etwa Lebensschutz, sozialem Ausgleich und Hilfe für Schwache, ökologischer Nachhaltigkeit oder friedensethischen Fragen an den Tag legen. Wenn das stimmt, müsste der Zusammenhang von Politik und Religion auch in der Schweiz nicht so sehr über die Großgruppe Konfession und die lokalen Face-to-face-Kontakte der Kirchengemeinden als vielmehr vor allem über die Identifikation mit der eigenen Religionsgemeinschaft und ihren leitenden Wertvorstellungen vermittelt sein. Im empirischen Vergleich entlang der Theorien sollte sich zeigen, dass es diese subjektive Bindung, die Identifikation mit der eigenen Glaubensgemeinschaft oder, anders gesagt, die soziale Identität Religion ist,Footnote 57 die politisch wirksam wird. Je stärker die religiöse Identität ist und je klarer sie auf bestimmte Inhalte ausgerichtet ist, desto deutlicher sollten sich Effekte im Wahlverhalten und bei politischen Sachthemen zeigen. Selbstverständlich kann eine solche Erklärung über die persönliche Identifikation mit einer Gruppe auch für nichtreligiös bestimmte Gruppen wie etwa säkulare Weltanschauungsgemeinschaften in Anschlag gebracht werden.

Schließlich lassen alle drei vermuteten Erklärungszusammenhänge auch erwarten, dass Menschen, für die ein starker Zusammenhang von Religion mit Wahl- und Sachthemen besteht, auch bei der Bewertung des politischen Systems insgesamt und seinen grundlegenden Normen und Institutionen davon geprägt sind. Dies dürfte bezogen auf Religion insbesondere im Hinblick auf die generelle Frage der Trennung von Staat und Kirche und auf potenzielle Konflikte zwischen staatlichem Recht und der eigenen Religion eine Rolle spielen. Man könnte vermuten: Je religiöser eine Person ist, desto stärker sind die Spannungen zu einem rein säkularen Welt- und Politikverständnis.

7.4 Daten und Auswertungsverfahren

Der MOSAiCH-Datensatz 2018 erlaubt es, diese theoretischen Überlegungen zur Wirkung der unabhängigen Variablen Religion auf die abhängigen Politikvariablen empirisch zu prüfen. Für den Bereich Religion/Religiosität stellt er zahlreiche Variablen zur Verfügung. Anhand dieser wird Religion in einer seltenen Breite erfasst. Für alle im Theorieteil genannten Aspekte von Religion lassen sich Indikatorvariablen bilden. Die wenigen nennenswerten Einschränkungen bestehen im Bereich der religiösen Identität. Erstens ist es nicht möglich, bestimmte Ausprägungen einer religiösen Identität als liberal oder konservativ, als progressiv oder fundamentalistisch zu bestimmen – obwohl sich dies in der jüngeren Forschung als vielversprechend erwiesen hat.Footnote 58 Und zweitens sind nicht alle Fragen des Fragebogens für nicht-christliche Religionen gleichermaßen gut geeignet, was neben den niedrigen Fallzahlen dieser Gruppen die Analysemöglichkeiten für kleinere nicht-christliche Gemeinschaften zusätzlich begrenzt.

Für die Großgruppen des makrosoziologischen Ansatzes werden die aktuelle und die frühere Religionszugehörigkeit als unabhängige Variable verwendet. Für die Face-to-face-Kontakte des mikrosoziologischen Ansatzes stehen der Gottesdienstbesuch und zivilgesellschaftliche Aktivitäten im religiösen Rahmen zur Verfügung. Im Verlauf der Analyse wird sich zeigen, dass beide Variablen in gleicher Weise wirken. Die hohe Korrelation zwischen beiden Variablen entspricht der theoretischen Annahme, dass es bei beiden Variablen in der Tat um Face-to-face-Kontakte geht. Im Interesse der Übersichtlichkeit wurde schlussendlich der Gottesdienstbesuch wegen der etwas höheren Fallzahlen verwendet. Im Sinne des sozialpsychologischen Ansatzes wurde eine ganze Reihe von persönlichkeitsrelevanten Indikatorvariablen gebildet, um Facetten von Religion und religiöser Identität auf der Individualebene sichtbar machen zu können: die Selbstbewertung als religiöser oder nicht-religiöser Mensch, die Gottesvorstellung bzw. die Form des Nichtglaubens (believing), die Häufigkeit des persönlichen Gebets, die Häufigkeit spiritueller oder esoterischer Praktiken (Geistheilung, Horoskop, esoterische Bücher oder Zeitschriften lesen), die persönliche Einschätzung der Wichtigkeit der Mitgliedschaft in der eigenen Religionsgemeinschaft, d. h. die Wichtigkeit der sozialen Identität Religion.Footnote 59

Abhängige Variablen für den Bereich Politik standen nicht im gleichen, aber doch im ausreichenden Maße zur Verfügung. Als zu erklärende Größen wurden für die politics-Dimension die Wahlbeteiligung und die Wahlentscheidung für eine Partei in den Nationalratswahlen 2015 herangezogen. Für die policy-Dimension stehen die Befürwortung oder Ablehnung von Frauenrechten, Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität, Nacktwandern und kirchlicher Sozialarbeit sowie die Haltung zu religionspolitischen Fragen wie dem Verbot des Tragens sichtbarer religiöser Zeichen oder dem Verbot der Burka bzw. der Gesichtsverhüllung. Für Religion auf der polity-Ebene wurde die Bewertung der Trennung von Staat und Kirche, des Einflusses der Kirchen auf die Politik und die Haltung der Befragten in einem potenziellen Konflikt zwischen einem staatlichen Gesetz und dem eigenen Glauben sowie das Vertrauen in den Nationalrat als Indikator für das Vertrauen in politische Institutionen generell benutzt.

Als Kontrollvariablen wurden neben den üblichen Fragen zu Geschlecht, Alter, Bildung, Einkommen, Urbanität und Sprachregion drei weitere Variablen zum politischen Umfeld gebildet. Dies sind eine Variable für die Parteiengruppen auf dem Links-Rechts-Kontinuum im Nationalrat, für die Wahrnehmung von Muslimen als bedrohlich und für das generelle Vertrauen in andere Menschen, d. h. für das kulturelle Sozialkapital.Footnote 60 Diese zusätzlichen, politiknahen Variablen ermöglichen es, Effektgrößen aus den religionsbezogenen unabhängigen Variablen mit den Effektgrößen politischer Variablen so zu vergleichen, dass man das Gewicht der religionsbezogenen Einflussgrößen abschätzen kann (s. u. Abschn. 6.2 und 6.3).

Die allermeisten Variablen besitzen ein nominales Datenniveau. Das verlangt nach statistischen Verfahren, die für dieses Datenniveau sinnvoll verwendet werden können.Footnote 61 Wenn man die Stärke von Zusammenhängen zwischen Variablen mit nominalem Datenniveau testen möchte, um wahrscheinlichkeitsstatistisch abgesicherte Aussagen für die Gesamtbevölkerung treffen zu können, dann eignet sich vor allem die Masszahl ‚Cramers V‘ in Kombination mit einer visuellen Residuenanalyse als Teststatistik. Mit einer solchen Kontingenztabellenanalyse steht also ein robustes Datenauswertungsverfahren zur Verfügung. Darüber hinaus ergeben sich zwischen den zahlreichen abhängigen Variablen und den diversen unabhängigen Variablen sehr viele Kombinationsmöglichkeiten. Dies ist der Idee geschuldet, die Komplexität des Verhältnisses von Politik und Religion sichtbar werden zu lassen. Für diesen Beitrag wurde gleichwohl auch eine Vereinfachung der komplexen Datenanalyse gesucht. Die gewählte Lösung ist eine serielle Kontingenztabellenanalyse, in der die unterschiedlichen Beziehungen und deren Stärke zwischen den diversen Kombinationen vergleichend bewertet werden können.Footnote 62 Dieses Verfahren reduziert im Vergleich zu Regressionen die Möglichkeit zur Drittvariablenkontrolle, bietet aber den Vorteil, dass die Ergebnisse nah an den Aussagen der Befragten bleiben. Zudem erweisen sich schwache bivariate Zusammenhänge in multivariaten Verfahren in aller Regel nicht als erklärungskräftig (vom seltenen Fall einer Suppression einmal abgesehen). Mittlere und stärkere Zusammenhänge lassen sich im Rahmen einer Kontingenztabellenanalyse durch die Betrachtung von Schichten immerhin einer gewissen Kontrolle auf Effekte dritter Variablen unterziehen, sofern die Fallzahl dann noch die Testvoraussetzungen erfüllen.Footnote 63

Ein Vorzug dieser robusten Auswertungsmethode besteht darin, dass die statistischen Ergebnisse eine substanzielle Interpretation der Daten und der in ihnen nachweisbaren Muster erlauben. Schwache Effekte stehen für eine Kontingenztabelle, in der es kein generelles Muster gibt. Bei schwachen Effekten gibt es vielmehr einige auffällige Zellen, die einen besonders starken Zusammenhang aufweisen, während der Rest der Zellen keine relevanten Zusammenhänge anzeigt. Im Folgenden tritt dieser Fall zum Beispiel oft ein, wenn man Menschen ohne Religionszugehörigkeit im Kontext von Religion und politischen Variablen betrachtet. Bei mittleren Zusammenhängen bestehen in den Daten Muster, die in aller Regel sinnvoll interpretiert werden können. So steigt beispielsweise mit der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches die Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs über die Kategorien insgesamt an, es gibt aber noch deutlich Abweichungen von der Regel. Starke Zusammenhänge nähern sich dagegen einer gesetzesförmigen Regelmäßigkeit. Das Muster ist markant und die abweichenden Fälle in den übrigen Zellen sind quasi einzelne Ausreißer. Unabhängige Variablen, hier also Religionsvariablen, mit starken Zusammenhängen zur Politik lassen sich in statistischen Modellen im Prinzip gegeneinander austauschen, ohne dass sich deren statistische Erklärungskraft wesentlich verändert. Ein solches Ergebnis verlangt dann gegebenenfalls nach weiteren Erklärungen.

7.5 Religion als Verbund – Befunde

7.5.1 Religion und Wahlverhalten: Religion als lebensweltlich verankertes Geflecht von politischer Bedeutung

Freie und faire Wahlen sind für liberale Demokratien grundlegend. Sie entscheiden über die Verteilung von Macht und Einfluss und legitimieren die Handlungen von Parlamenten und Regierungen. Dem Wahlrecht und seiner Ausübung kommt damit eine zentrale Rolle zu. Noch vor der eigentlichen Parteienwahl kann es entlang des Wahlrechts zu Ausschlusseffekten kommen. Autoritäre Regime setzen dies als Einflussmöglichkeit ein, um ihnen genehme Wahlergebnisse zu erlangen. In liberalen Demokratien kann es ebenfalls zu gewissen Verzerrungen kommen, die aber in der Regel nicht bewusst gewollt sind und oft mehr mit dem Partizipationsverhalten der Stimmbürgerschaft als mit institutionellen Vorgaben zu tun haben. Vor dem Hintergrund der starken Migration kommt aber dem Besitz der Staatsbürgerschaft eine Schlüssel- und Filterfunktion zu. Sie entscheidet über den Zugang zur politischen Partizipation in Wahlen und Abstimmungen.

Für den Zusammenhang von Religion und Wahlverhalten in der Schweiz ergeben sich auffallende Effekte (Tab. 7.1).

Tab. 7.1 Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung 2015 nach Religionszugehörigkeit

Nach den Daten von MOSAiCH 2018 verteilen sich die Religionsgemeinschaften im Großen und Ganzen so auf die Bevölkerung, wie es auch in anderen Umfragen berichtet wird (siehe oben Abb. 7.3).Footnote 64 Aufschlussreich sind die Konfessionsanteile beim Wahlrecht und bei der Wahlbeteiligung für die Nationalratswahlen von 2015.Footnote 65 Bei den nicht Wahlberechtigten sind reformierte Wählerinnen und Wähler kaum anzutreffen. Unter den Nichtwählenden sind sie im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil leicht unterrepräsentiert. In der tatsächlichen Wählerschaft sind Reformierte mit 29,5 % stark überrepräsentiert. Im katholischen BevölkerungsteilFootnote 66 bleiben die Anteile nahezu unverändert. Bei Menschen ohne Religionszugehörigkeit zeigt sich ein umgekehrtes Muster. Sie besitzen überdurchschnittlich oft kein Wahlrecht und sind in der tatsächlichen Wählerschaft unterrepräsentiert. Abgesehen von den Freikirchen, deren Muster den Reformierten gleicht, weisen auch die übrigen kleineren Religionsgruppen das Muster wie diejenigen ohne Religionszugehörigkeit auf. Muslime stellen 7,2 % aller Menschen über 18 Jahre ohne Wahlrecht in der Schweiz, aber nur 1,1 % der Wählerschaft. Eine Erklärung für diese Befunde liegt in der Zuwanderung in die Schweiz. Der statistische Zusammenhang des Wahlrechts mit der Herkunft der Eltern ist sehr stark (Cramers V – im Folgenden CV – ist höchstsignifikant und beträgt 0,46). Menschen, die sich zu anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, zum Islam oder zu anderen Religion zählen, nutzen aber auch ihr Wahlrecht deutlich seltener, was sehr unterschiedliche, in weiteren Spezialstudien zu klärende Ursachen haben kann. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass vor allem die reformierte Bevölkerung einen überproportional großen Einfluss auf die Entscheidung nimmt, wer in den Nationalrat einziehen kann.

Die Parteienwahl in der Schweiz ist nicht unabhängig von der Religionszugehörigkeit (Tab. 7.2). Auch in der Nationalratswahl 2015 tritt das eingangs für 2019 berichtete Muster hervor. Ordnet man die Parteien entlang des Links-Rechts-Kontinuums an und trägt das Stimmverhalten allgemein wie innerhalb des katholischen und reformierten Bevölkerungsanteils sowie des Anteils anderer Religionen bzw. ohne Religionszugehörigkeit ab, zeigt sich ein übergreifendes Muster. Der linke Flügel der Wählerschaft ist stärker säkular ausgerichtet. Dies gilt für die GPS noch mehr als für die SP. Für die SVP, die den rechten Flügel im Parteienspektrum darstellt, gibt es keine religionsspezifische Präferenz.Footnote 67 Sie wird von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeitskategorien nahezu gleichermaßen gewählt. Für die Mitteparteien liegen die Anteile unterschiedlich. Der Einfluss der Religionszugehörigkeit variiert hier stark. Unter katholischen Wähler:innen findet die GLP fast keinen Zuspruch, in der Gruppe der weiteren Religionen, zu der hier insbesondere auch die Mitglieder der Freikirchen zählen, punktet die EVP. In Detailanalysen zeigt sich, dass die Freikirchen das Rückgrat dieser Partei stellen. Die reformierte Wählerschaft stimmt überdurchschnittlich für die BDP. Die katholische Bevölkerung entscheidet sich wie erwartet zu großen Teilen für die CVP. Schließlich wählen Reformierte die FDP überdurchschnittlich oft. Statistisch erzeugen diese Effekte der Religionszugehörigkeit auf die Parteienwahl einen höchst signifikanten Zusammenhang mittlerer Stärke (CV = 0,27 bei k = 4).Footnote 68 Die reine Mitgliedschaft in Großgruppen hat also einen Effekt auf die Parteipräferenz von Menschen. Dieser Befund ist somit kongruent mit der makrosoziologischen Erklärung von Wahlverhalten.

Tab. 7.2 Parteiwahl nach Religionsgruppen in den Nationalratswahlen 2015

Nicht nachweisen lässt sich der behauptete langfristige Effekt der Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit auf der Individualebene (Tab. 7.3). Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen jenen, die in der Kindheit in einer der beiden großen Kirchen sozialisiert worden sind, und jenen, die nie religiös sozialisiert worden sind. Auf der Individualebene haben sich die alten Gräben bzw. Hauptkonfliktlinien in der Schweiz nicht fortgeschrieben.

Tab. 7.3 Frühere Religionszugehörigkeit und Parteiwahl 2015

Anders liegen die Dinge auf der Makroebene. Hier sind die Spuren des 19. und 20. Jahrhunderts noch deutlich erkennbar (Tab. 7.4). Unterteilt man die 26 Schweizer (Halb-)Kantone nach ihrer historischen Rolle im Staat-Kirchen-Konflikt des 19. Jahrhunderts dann tritt vor allem der lange Schatten des konfessionellen Konflikts und speziell des katholischen Milieus hervor. Die unterlegenen katholischen «Sonderbundskantone» des Krieges von 1847, d. h. die Kantone der Zentralschweiz, der Kanton Fribourg und das Wallis, sind auch in der Gegenwart die eigentlichen Hochburgen der CVP. In den ehemaligen Kulturkampfkantonen, in denen sich der Freisinn und eine katholische Minderheit unmittelbar gegenüberstanden, also in den Kantonen Aargau, beider Basel, St. Gallen, Solothurn, Thurgau, Genf und dem heutigen Kanton Jura, hat die CVP auch Wähler:innen, hingegen in den übrigen, traditionell reformierten Kantonen kaum. Statistisch ist dieser Zusammenhang höchst signifikant und von mittlerer Stärke (CV = 0,22 bei k = 4). Da beide Kontingenztabellen den gleichen Zähler von k = 4 haben, kann man die Stärke anhand von CV direkt vergleichen. Danach liegt die Religionszugehörigkeit (CV = 0,27) deutlich näher am Schwellenwert für einen starken Effekt (Schwellenwert CV = 0,29) als der Sonderbunds- und Kulturkampfeffekt. Insgesamt gelangt man zu der Erkenntnis, dass Pfadabhängigkeiten in einer regionalen Betrachtung durchaus noch nachweisbar, aber auf der individuellen Ebene verblasst sind. Die erhebliche Binnenmigration zwischen den Schweizer Kantonen dürfte ein Grund für diese Entkopplung sein.

Tab. 7.4 Parteienwahl in historischen Kantonsgruppen

Es kommt hinzu, dass der Religionszugehörigkeitseffekt keineswegs der einzige nachweisbare Zusammenhang von Religion und Parteiwahl ist (Tab. 7.5). Der Gottesdienstbesuch, die Selbsteinstufung als religiöse Person, die Art der Gottes- bzw. Glaubensvorstellung (believing), die Häufigkeit des Betens sowie die soziale Identität Religion (Wichtigkeit der Mitgliedschaft) – all diese Variablen haben für sich genommen ebenfalls eine mittlere Wirkung auf die Parteiwahl. Insbesondere der Gottesdienstbesuch steht der Religionszugehörigkeit an Erklärungskraft nicht nach, und auch die anderen Variablen weisen eine beachtliche Zusammenhangsstärke auf. Lediglich die esoterische Praxis wirkt deutlich schwächer. Dieser geringe Zusammenhang wird interessanterweise von der Kombination «esoterische Praxis» und «Wahl der GPS» erzeugt. Jene, die esoterische Praktiken für sich entdeckt haben, finden also in der GPS überdurchschnittlich oft ihre politische Heimat.Footnote 69

Tab. 7.5 Statistische Zusammenhänge von Religion mit der Parteiwahl (Quelle: eigene Berechnungen nach MOSAiCH/ISSP 2018)

Die dargestellten, sehr ähnlichen Effekte der betrachteten acht unabhängigen Variablen auf das Wahlverhalten führen zu einem auf den ersten Blick verblüffenden Befund. Keiner der vorgestellten theoretischen Erklärungsmechanismen kann anhand der statistischen Ergebnisse auf bivariater Ebene widerlegt werden. Die beiden soziologischen Erklärungen vereinen ebenso statistische Evidenz auf sich wie die hier recht differenziert gemessene sozialpsychologische Sichtweise. Egal ob auf die Selbstwahrnehmung als religiöse Person, auf die Gottesvorstellung, die Gebetshäufigkeit oder die Bewertung der sozialen Identität Religion geschaut wird, immer liefert die Kontingenztabellenanalyse einen mittleren Zusammenhang. Die Ursache dafür ist schnell gefunden: Abgesehen von der Variable Esoterik sind alle Religionsvariablen untereinander hochgradig korreliert. Entsprechende CV-Werte liegen weit über dem Grenzwert für einen starken Zusammenhang. Wer einer Religionsgemeinschaft angehört, findet häufiger den Weg in den Gottesdienst. Wer häufiger am Gottesdienst teilnimmt, glaubt an Gott als einen personalen Gott. Wer ein solches Gottesbild hat, betet öfter – um nur einige hochkorrelierte Zusammenhänge zu nennen. Es überrascht dann auch nicht, dass die eigene Religionszugehörigkeit als wichtig für die eigene Identität eingestuft wird. Diese Effekte stufen sich freilich je nach Intensität ab, und der Anteil jener, die ihre Religion intensiv praktizieren, ist nicht sehr hoch, aber doch nennenswert. Eine Größenvorstellung liefert der Zusammenhang von Gottesdienstbesuch und der persönlichen Wichtigkeit der Religionszugehörigkeit als soziale Identität (Tab. 7.6). 13,1 % der Bevölkerung gehen monatlich oder öfter in den Gottesdienst, 40,7 % nie (Spalte Total Gottesdienstbesuch). 11,3 % nehmen monatlich oder öfter teil und geben gleichzeitig an, dass ihre Religionsgemeinschaft für ihre soziale Identität wichtig ist; 28 % besuchen nie einen Gottesdienst und messen der Kategorie Religionszugehörigkeit keine Bedeutung für ihre Identität bei. Beide Variablen decken sich nie ganz, aber überschneiden sich in beachtlichem Maße. Die Stärke des Zusammenhangs beträgt beachtliche CV = 0,490 (k = 3), was einem starken statistischen Zusammenhang entspricht. Für weitere Paare finden sich ähnlich starke Effekte. Religion erweist sich als ein sowohl auf Gruppenebene als auch auf der Ebene der Persönlichkeit wirkendes Geflecht von Dimensionen, die stark miteinander verbunden sind.

Tab. 7.6 Gottesdienstbesuch und Wichtigkeit der Religionszugehörigkeit als soziale Identität

Aus Sicht der Parteien führt dieses Geflecht zur hohen Ähnlichkeit der Effektstärken unterschiedlicher Religionsvariablen auf die Parteipräferenz der Wählenden. Am Indikator Gottesdienstbesuch soll abschließend die jeweilige Bedeutung von Religion für die Schweizer Parteien dargestellt werden (Abb. 7.4). Rund 20 % der Wählerschaft der SP, GLP, BDP, FDP und SVP gehen mindestens mehrmals pro Jahr in den Gottesdienst. Bei der GPS ist dieser Anteil dagegen sehr viel kleiner. CVP und EVP weichen von den anderen Parteien sehr markant ab. Die Wählerschaft der CVP besteht zu über 60 % aus regelmäßigen Gottesdienstbesucher:innen, die der EVP sogar zu über 90 %. Sieht man die beiden Säulen von BDP und CVP nebeneinander, so wird klar: In religiöser Hinsicht hat die politische Hochzeit der beiden ein sehr ungleiches Paar aneinander gebracht. Die Skepsis von Thomas Milic und Adrian Vatter am Erfolg einer solchen politischen Ehe wird auch von diesen Befunden genährt.Footnote 70

Abb. 7.4
figure 4

(Bemerkung: Zusammensetzung der Wählerschaft der jeweiligen Partei nach Gottesdienstbesuch in Prozent. Lesehilfe: Menschen mit einem monatlichen oder häufigeren Gottesdienstbesuch stellen 2015 über 40 % aller Wähler der CVP. Quelle: eigene Berechnungen nach MOSAiCH 2018)

Die Zusammensetzung der Wählerschaft der Parteien nach Gottesdienstbesuch 2015/2018.

Da die allermeisten, die regelmäßig einen Gottesdienst besuchen, zu einer christlichen Kirche oder Religionsgemeinschaft gehören, darf man am Schluss dieser Analyse von Religion und Wahlverhalten die Einsicht festhalten, dass ein gelebter christlicher Glaube in der Schweiz die politische Mitte stärkt. Es könnte also durchaus sein, dass diese Tatsache zum Funktionieren der Schweizer Konsensdemokratie und ihres Parteiensystems einen nicht unwichtigen Beitrag leistet.Footnote 71

7.5.2 Religion und politische Themen: sozialmoralische Kontroversen und die jüngere Religionspolitik

Obschon moderne liberale Demokratien auf der Unterscheidung und prinzipiellen Trennung von Politik und Religion aufbauen, sind politische Themen und Entscheidungen auch mit Blick auf Religion bedeutsam. Einerseits werden sie durch Religion beeinflusst, insbesondere wenn sozialethische und moralische Aspekte ins Spiel kommen. Andererseits versuchen demokratische Gesetzgeber zunehmend, das religiöse Feld und seine Akteur:innen politisch zu regulieren. Insbesondere gegenüber historisch jüngeren religiösen Minderheiten wie muslimischen Gemeinschaften bestehen bei Parteien und Wählerschaft Vorbehalte. So finden laut MOSAiCH-Daten 54,4 % Muslime bedrohlich. Von Juden sagen dies immerhin 12,7 %. Alle anderen Religionsgemeinschaften werden nur marginal als bedrohlich bewertet.

Der Zusammenhang von politischen Themen und Religion wird im Folgenden mit dem gleichen statistischen Verfahren wie für das Wahlverhalten untersucht. Da dieses Vorgehen einschließlich einzelner Detailuntersuchungen durch das vorgehende Kapitel dargestellt wurde, werden im Weiteren nur die Kernbefunde der Analyse präsentiert. Um die Effekte, die von den unterschiedlichen Religionsvariablen auf politische Themen ausgehen, besser abschätzen zu können, wurden quasi als Referenz zusätzlich vier relevante Variablen zum Parteiensystem und zur politischen Kultur als unabhängige Variablen herangezogen: Parteien im Parlament, die Links-Mitte-Rechts-Orientierung der Parteien, die Bedrohungswahrnehmung von Muslimen und das generalisierte Vertrauen, d. h. die Bereitschaft, Menschen generell Vertrauen entgegenzubringen. Generalisiertes Vertrauen gilt als ein wesentlicher Bestandteil des Sozialkapitals einer Gesellschaft,Footnote 72 das zur Integration und zum Funktionieren der politischen Institutionen beitragen soll.

Auf die Frage, ob der Staat Moral ganz allgemein in der Schweiz besser schützen soll, finden sich über alle erklärenden Variablen hinweg nur schwache Zusammenhänge (vgl. hier und folgend Tab. 7.7). Die Einschätzung der Notwendigkeit staatlicher Moralpolitik hat kaum etwas mit Religion, aber auch sehr wenig mit politischen Einschätzungen zu tun. Ob man dies fordert oder ablehnt, liegt offenkundig sehr im individuellen Ermessen. Gleiches gilt für die in den Medien immer wieder als Aufreger lancierte Frage des Nacktwanderns. Bei der Wichtigkeit der Frauenrechte zeigt sich für Religion dasselbe Bild, bei den politischen Variablen besteht aber ein mittlerer Zusammenhang. Je nach Parteiwahl werden Frauenrechte mehr wertgeschätzt, und der Zusammenhang steht erwartungsgemäß für stärkere Zustimmungswerte im linken Parteienlager. Bei den moralpolitischen Themen Homosexualität – gefragt wurde, ob entsprechende Beziehungen immer falsch seien – und Schwangerschaftsabbruch – gefragt wurde nach einem Schwangerschaftsabbruch aus ökonomischen Gründen – ist der Einfluss über alle Religionsvariablen mittelstark. Je mehr jemand zum Religiösen neigt bzw. sich einer Religionsgemeinschaft verbunden fühlt, desto stärker ist die Zustimmung bzw. die Ablehnung. Von der esoterischen Praxis gehen dagegen keine Effekte aus. In beiden Streitfragen bilden Menschen ohne Religionszugehörigkeit und ohne Religiosität den Gegenpol, wobei die Übereinstimmung zwischen der formalen Religionslosigkeit und der Unwichtigkeit der übrigen Religionsfragen in dieser Gruppe sehr hoch ist (siehe auch oben Tab. 7.6). Die beiden Kontroversthemen sind aber auch im politischen Spektrum verankert. Für die beiden Parteivariablen (Parteien[gruppen] und Links-Rechts-Orientierung) ist der Zusammenhang ebenfalls ein mittlerer. Interessant ist schließlich die Bewertung der Kirchen als wichtig für sozial Schwache in der Gesellschaft. Im Bereich der politischen Variablen bestehen keine oder allenfalls schwache Zusammenhänge. Alle Variablen zu Religion und Religiosität verzeichnen dagegen mittlere Zusammenhänge zur sozialen Rolle der Kirche. Die Wichtigkeit der Kirchen für die Erbringung sozialer Leistungen wird von den religionsnahen Bevölkerungsteilen deutlich höher eingestuft als im säkularen Bevölkerungsteil.

Tab. 7.7 Stärke des Zusammenhangs von Religion und politischen Themen (Quelle: eigene Berechnungen nach MOSAiCH/ISSP 2018)

Insgesamt zeigt sich zweierlei: Zum einen eine deutliche Relevanz von Religion bei der Bewertung der klassischen Streitthemen Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität in der Schweiz.Footnote 73 Zum anderen wird in den hier nicht gezeigten einzelnen Kontingenztabellen eine Tendenz zu einer religiös-säkularen Konfliktlinie sichtbar. Insbesondere beim Lebensschutz und bei der Gleichstellung von Homosexuellen waren die Unterschiede entlang dieses Gegensatzes am stärksten.

Religionspolitik gehört zu den strittigsten Bereichen der Schweizer Innenpolitik. Die Aussage im Fragebogen «Der Staat sollte keine Religion daran hindern, ihren Glauben zu verbreiten», bejahen 34,8 %; 27,4 % verhalten sich neutral, die übrigen 37,8 % lehnen diese Aussage ab. Man kann darüber streiten, wie gut mit dieser Frage das Prinzip der Religionsfreiheit in einer alltagssprachlichen Fassung zum Ausdruck gebracht worden ist. Die Zahlen deuten jedoch darauf hin, dass die freie, öffentliche religiöse Betätigung von Religionen auf beachtliche Vorbehalte stößt. Diese Vorbehalte stammen weniger aus dem Bereich des Religiösen selbst – hier sind alle Zusammenhänge schwach –, sondern eher aus dem politischen Bereich. Insbesondere die Wahrnehmung von Muslimen als bedrohlich lässt die Zustimmung zur freien Religionsausübung sinken (Tab. 7.8).

Tab. 7.8 Religionspolitische Kontroversthemen und Religion (Quelle: eigene Berechnungen nach MOSAiCH/ISSP 2018)

Am sichtbaren Tragen religiöser Symbole allgemein stoßen sich hingegen nur wenige; nur 18,2 % treten für ein Verbot ein. Ein Versammlungsverbot für religiös-extremistische Gruppen fordern 13,2 %. Zusammenhänge sind in beiden Fällen nur schwach. Anders sieht es beim allgemeinen Verbot der Gesichtsverhüllung und beim Verbot des Tragens einer Burka aus. Beides wollten 2015 rund 70 % verbieten.Footnote 74 Obschon das Phänomen des Burka-Tragens in der Schweiz nahezu inexistent ist («20 bis 30, allerhöchstens 37»Footnote 75), hat das Thema immer wieder starke Emotionen und Konflikte produziert. Die Daten der MOSAiCH-Umfrage zeigen, dass der Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum Verbot und den diversen religiösen Variablen gering ist.Footnote 76 Ein mittlerer Effekt auf das Entscheidungsverhalten in der Frage des Verhüllungsverbots geht stattdessen von der Politik aus. Wer linke Parteien wählt, lehnt die Initiative eher ab.Footnote 77 Hier zeigt sich eine klare Parallele zum Abstimmungsverhalten in der Anti-Minarett-Abstimmung von 2009.Footnote 78 Wer Muslime als bedrohlich wahrnimmt, befürwortet hingegen das Verhüllungsverbot. Auch dies ein Zusammenhang, der aus Studien zur Diskriminierung von Muslimen bekannt ist.Footnote 79 Alles in allem entspringen religionspolitische Themen und Kontroversen damit eher dem politischen Feld als dem religiösen.

7.5.3 Religion in der politischen Kultur der Schweiz

Stellt sich am Schluss die Frage, ob Religion mit den tieferliegenden Strukturen des politischen Systems und seiner kulturellen Grundlagen einen Zusammenhang aufweist. Dass dies nicht ganz abwegig ist, wird erkennbar, wenn man sich jene politischen Traditionen und Bestimmungen vor Augen führt, die ohne die Geschichte der Schweiz als einem christlichen Land nicht verständlich sind. Die Bundesverfassung der Schweiz beginnt nach wie vor mit einer zivilreligiösen, direkten Gottesanrufung in der Präambel: «Im Namen Gottes, des Allmächtigen!» Der Eidgenössische Dank-, Buß- und Bettag, dem nach dem Sonderbundskrieg von 1847 die Aufgabe zukam, die Einheit des neuen Staatsgebildes über die Konfessionsgrenzen hinweg darstellen und feiern zu können, ist auch im 21. Jahrhundert eine feste Institution. In den meisten Kantonen wird er am dritten Sonntag im September begangen. Die Nationalhymne hat starke christliche Anklänge und wird trotz wiederholter Kritik beibehalten.

Während Religion auf das Vertrauen in den Nationalrat nur einen schwachen Effekt ausübt, sieht dies bei Fragen zu den Grundlagen des politischen Systems anders aus. Üblicherweise wird in der politischen Kulturforschung im Anschluss an David Easton die politische Unterstützung für die aktuellen Mandats- und Amtsträger:innen von Fragen der Unterstützung der politischen Institutionen und der Unterstützung des politischen Systems insgesamt getrennt.Footnote 80 Die Fragen bzw. Items des MOSAiCH-Datensatzes dazu sind nur mäßig passend und die folgenden Ergebnisse deuten mehr die Richtung an, als dass der Zusammenhang in der gewünschten Tiefe geklärt werden könnte. Gleichwohl sind die ersten Befunde zu diesem Thema aufschlussreich (Tab. 7.9). Die Trennung von Staat und Religion gehört sicherlich zu den systemischen Grundlagen moderner Demokratien.

Tab. 7.9 Aspekte der politischen Kultur und Religion (Quelle: eigene Berechnungen nach MOSAiCH/ISSP 2018)

Das Statement «Stimmen Sie der folgenden Aussage zu oder lehnen Sie diese ab? Die Gesetze eines Landes dürfen nicht auf einer Religion beruhen» findet breite Zustimmung (76,5 %).Footnote 81 Die Aussage «Religiöse Instanzen sollten nicht versuchen, das Wahlverhalten der Leute zu beeinflussen» ebenfalls (77,2 %). Beide Aussagen werden in der politischen Linken noch stärker unterstützt als im Rest der Bevölkerung. Unter Menschen mit starker religiöser Einbindung zeigen sich hingegen gewisse Vorbehalte. Die Frage, ob man in einem hypothetischen Konfliktfall zwischen einem verabschiedeten staatlichen Gesetz, «das zu den Grundsätzen und Lehren Ihres Glaubens im Widerspruch steht», das Gesetz oder den eigenen Glaubensgrundsätze folgt, bringt ein gespaltenes Bild. Gut 40 % geben an, keine eigenen Glaubensgrundsätze zu haben, d. h. sie erklären den potenziellen Konflikt für sie als nicht existent. Der Rest der Bevölkerung teilt sich in zwei Lager. 26,2 % würden dem Gesetz Folge leisten, 34,1 % würden ihren Glaubensgrundsätzen folgen. Beachtlich ist, was hier mit den Zusammenhängen passiert. Alle genannten Fragen weisen in der Regel mit Religion einen mittleren Zusammenhang auf. Der Effekt der unabhängigen Variablen zur Politik ist hingegen in der Regel erkennbar schwächer. In der letzten Frage zur Gesetzesbefolgung im Konfliktfall aber treten Zusammenhänge auf, die bislang bei keiner andere Variable zu beobachten waren. Fast alle Religionsvariablen korrelieren stark mit der Frage nach dem Vorrang der eigenen Glaubensüberzeugung. Besonders stark sind Zusammenhänge mit Religionsvariablen, die näher an der Persönlichkeit als an der Gruppenzugehörigkeit liegen. Im (hypothetischen) Konfliktfall wird, so könnte man den Befund deuten, von Menschen, die lebensweltlich einen starken Religionsbezug haben, quer durch alle Konfessionen, der Integrität der eigenen religiösen Identität ein Vorrang vor äußerem Gesetzeszwang eingeräumt. Dies ist zumindest ein starkes Indiz dafür, dass sich staatliche Ordnung und die religiösen Überzeugungen auch unter den Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie nicht beliebig weit voneinander entfernen können. Man wird darauf achten müssen, dass in wichtigen Fragen ein Grundkonsens, ein «overlapping consensus», wie ihn John Rawls beschrieben hat, bestehen bleibt, der Menschen mit und ohne religiöse Bindung sowie mit unterschiedlichen religiösen Beheimatungen einbindet.Footnote 82

7.6 Fazit

Der vorliegende Beitrag hat die eidgenössische Gemengelage von Politik und Religion mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung untersucht. Dazu dient ein politikwissenschaftlicher Ansatz in interdisziplinärer Perspektive. Es wurde davon ausgegangen, dass es sich beim Wechselverhältnis von Politik und Religion in demokratisch verfassten Gemeinwesen um ein komplexes Gefüge komplexer Größen handelt. Ausgehend davon wurde für die Schweizer Bevölkerung bzw. Wählerschaft die Frage nach dem gegenwärtigen Einfluss von Religion auf die Schweizer Politik gestellt und für das Wahlverhalten, politische Themen und die politische Kultur der Schweiz anhand der Umfragedaten des MOSAiCH-Datensatzes 2018 untersucht.

Aus der Analyse dieser Daten gehen folgende Resultate hervor: In der Schweizer Bevölkerung bestehen nach wie vor zahlreiche Zusammenhänge zwischen Politik und Religion. Für die Ebene der politics konnte insgesamt ein schwacher, aber relevanter Zusammenhang zwischen dem Wahlentscheid für eine der Schweizer Parteien und den zahlreichen Indikatorvariablen für die verschiedenen Dimensionen von Religion nachgewiesen werden. In Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung ist der Effekt der konfessionellen Zugehörigkeit für das Wahlergebnis von CVP und EVP wichtig. Die CVP hat eine mehrheitlich katholische Wählerbasis, die der EVP ist in den Freikirchen verankert. Auch bei anderen Religionsvariablen zeigte sich dieser Effekt in der gleichen Art und Weise. Für die GPS hat sich gezeigt, dass vor allem Menschen ohne Religionszugehörigkeit sowie mit einem esoterischen Religionsprofil häufig für sie stimmen. Schließlich gehen auch von der Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft Effekte auf die Parteienwahl aus. Wähler ohne Religionszugehörigkeit präferieren Flügelparteien; einerseits und historisch verständlich die SP und die GPS, andererseits findet man sie aber auch bei der SVP. Bezogen auf den Nationalrat 2015 kann man daher schlussfolgern, dass mit einem christlichen Glaubensprofil in der Schweiz eine Stärkung der politischen Mitte einhergeht.

Für die Einordnung dieser Zusammenhänge ist zudem zu bedenken, dass alle Schweizer Parteien Menschen mit ganz unterschiedlichem religiösem Profil in ihren Reihen haben. Scharfe, dauerhaft wirkende konfessionelle oder religiöse Gräben im Wahlverhalten sehen anders aus. Obschon die Zeit konfessioneller Gräben im Sinne der Milieutheorie also vorbei ist, zeigt sich im Wahlverhalten auf nationaler wie regionaler Ebene zumindest ein langer Schatten jenes konfessionellen Konflikts, der die Schweiz bis weit in das 20. Jahrhundert hinein mitgeprägt hat.

Bei jenen politischen Sachthemen, die mithilfe des Datensatzes untersuchbar waren, zeigten sich für die diversen Religionsvariablen überwiegend ähnlich starke Zusammenhänge. Einige moralpolitische Themen ragten heraus. Für die Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs und von Homosexualität waren die Effekte mittelstark, d. h. es gab ein Muster der Zustimmung bzw. Ablehnung. Je stärker die verschiedenen Dimensionen von Religion, desto höher die Ablehnung. Ein ebenfalls mittlerer Zusammenhang zeigte sich für die Unterstützung der Kirchen als soziale Kraft bzw. Dienstleister in der Gesellschaft. Die Unterstützung steigt mit allen Dimensionen von Religiosität. Bei diesen Themen zeigt sich also eine mäßige Polarisierung entlang der religiös-säkularen Scheidelinie. Bei der generellen Frage nach einem staatlichen Schutz von Moral blieben die Zusammenhänge hingegen durchweg schwach.

Bei religionspolitischen Fragen liegen die Dinge etwas anders. Hier blieben die Zusammenhänge von Religion und einschlägigen religionspolitischen Kontroversthemen schwach. Im Gegensatz dazu zeigten sich politische Faktoren als deutlich erklärungskräftiger. Wer eine Partei der politischen Rechten wählt und – vor allem – wer Muslime für eine Bedrohung hält, befürwortet religionspolitische Verbote stärker. Anders gesagt, weniger Religion und religiöse Vielfalt an sich, sondern vielmehr Politik mit Religion fördert die Konflikthaftigkeit der religionspolitischen Fragen in der Schweiz.

Dies hat Auswirkungen auf der Ebene der politischen Kultur. Von rechter Seite wird auch die Trennung von Staat und Religion allgemein kritischer gesehen. Auch viele Christ:innen wollen hier nicht vorbehaltlos zustimmen. Die stärksten Befürworter:innen kommen von Parteien des linken Spektrums. Das mit der Religionsfreiheit verbundene Trennungsprinzip kann also nicht mehr umstandslos dem politischen Grundkonsens zugeordnet werden. Es deutet sich eine gewisse religiös-säkulare Konfliktkonstellation an. Beachtlich ist auch die vergleichsweise hohe Bereitschaft religiöser Menschen, im Konfliktfall ihren eigenen Glaubensüberzeugungen Vorrang vor einem dazu potenziell widersprechenden staatlichen Gesetz zu geben. Sobald es um die persönliche religiöse Identität geht, ist man bereit, diese zu schützen. Am stärksten, aber keinesfalls ausschließlich war dies unter den Mitgliedern von Freikirchen anzutreffen. Die Frage war zwar nur hypothetisch gestellt, die gefundenen Zusammenhänge deuten aber darauf hin, dass auf einer individuellen wie gesellschaftlichen Ebene die Funktionsbereiche Politik und Religion keineswegs strikt getrennt gehalten werden, sondern dass eine gewisse Kongruenz erwartet wird. Effekte von Religion auf das Institutionenvertrauen sind dagegen schwach ausgeprägt.

Für die weitere Forschung beachtlich ist das Ergebnis dieser Untersuchung im Blick auf die theoretischen Erklärungsangebote der Wahlforschung. Keiner der drei herangezogenen Erklärungsansätze makrosoziologischer, mikrosoziologischer oder sozialpsychologischer Art erlangte empirisch eine bessere Erklärungskraft als die übrigen. Die Frage nach dem Warum, nach der Kausalität der zahlreichen nachgewiesenen Zusammenhänge konnte also empirisch keiner Klärung nähergebracht werden. Der entscheidende Grund dafür liegt in der Struktur der Daten zu Religion. Abgesehen von der Variable Esoterik korrelieren alle Religionsvariablen stark miteinander. Religion auf der gesellschaftlichen Ebene ist in der Schweiz zweifelsohne vielstimmiger und bunter geworden. Auf der individuellen Ebene bleibt aber der Wunsch nach Kohärenz offenkundig stark. Die meisten Menschen haben ein für sie stimmiges Religionsprofil. Die gefühlte Religionszugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, die religiöse Praxis, der eigene Glaube und die soziale Identität Religion werden in ungefähr gleichem Maße je als wichtig oder unwichtig eingestuft. Unterschiedliche Dimensionen von Religion führen daher im Bereich des Politischen zu ganz ähnlichen Zusammenhängen. Dieser überraschende Befund verlangt freilich nach einer weiteren Überprüfung anhand anderer Datensätze, zumal in den MOSAiCH-Daten die «Parteiidentifikation» als Variable fehlt.

Insgesamt zeigt sich: Ein christliches Profil der Wählenden stärkt in der Schweiz die politische Mitte allgemein. Es sind heute aber weniger die alten konfessionellen Gräben als vielmehr neue politische Konflikte um religionsbezogene Themen und soziale Identitäten, die dem Faktor Religion seine zum Teil konfliktive Wirkung in der Schweizer Politik verleihen. Dort wo, Religion und Religionspolitik strittig und konfliktbeladen sind, speist sich der Konflikt zudem stärker aus der Politik selbst als aus dem religiösen Feld. Diese Einsichten dürften Konsequenzen sowohl für eine angemessene gesellschaftliche Problembearbeitung der Streitfragen als auch für die Revision des verbreiteten, aber falschen Bildes der Religionsgemeinschaften als Konfliktursache haben. Im europäischen Vergleich weisen die Mitglieder der verschiedenen Religionsgemeinschaften in der Schweiz nämlich ein wohl weitestgehend harmonisches Neben- und Miteinander auf – eine durchaus nicht selbstverständliche Tatsache, deren genauer Prüfung nach Art, Umfang und Ursachen die quantitative Sozial- und Religionsforschung zukünftig einen Teil ihrer Aufmerksamkeit widmen sollte.