6.1 Einleitung

Kirchlich gefasste Religiosität nimmt von Generation zu Generation ab. So beschreiben es Jörg Stolz und Jeremy Senn.Footnote 1 Jede Generation rückt damit ein Stück weiter von der Kirche ab als die vorangehende. Die steigenden Austrittszahlen bei den großen Kirchen in der Schweiz, der evangelisch-reformierten und der römisch-katholischen, zeigen vor diesem Hintergrund lediglich noch den formalen Schlusspunkt der Kirchenbindung der Mitglieder – nach oftmals Jahrzehnten langsamer Entfremdung und Distanzierung.Footnote 2

Dieser Beitrag geht den Symptomen von Entkirchlichung nach und sucht nach möglichen Ursachen oder Erklärungen dafür. Dabei stützt er sich neben den Datensätzen der MOSAiCH-BefragungenFootnote 3 und Daten des Bundesamtes für Statistik (BfS) auch auf Daten der Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI), insbesondere auf Zahlen zu Taufen, Erstkommunionen und Firmungen bzw. Konfirmationen und schließlich zu kirchlichen Eheschließungen in der Schweiz. Folgende Thesen geben den Gang des Artikels vor:

  1. 1.

    Die Kirchenbindung der Zugehörigen der beiden großen Kirchen in der Schweiz wird insgesamt schwächer.

  2. 2.

    Die abnehmende Intensität der Kirchenbindung betrifft primär die persönliche, religiös-spirituelle Identifikation mit Kirche.

  3. 3.

    Die persönliche Identifikation mit der Kirche hängt stark mit in der Familienphase verorteter Tradierung von Kirchlichkeit zusammen.

  4. 4.

    Entfremdung und Distanzierung von kirchlicher Religiosität kommen in großer Bandbreite vor, ohne dass darin ein bestimmbarer Kippmoment in Richtung Abbruch der Kirchenzugehörigkeit feststellbar ist.

  5. 5.

    Die auf die Familienphase mit Kindern und Jugendlichen bezogenen Ritualangebote der Kirche fördern keine nachhaltige, die gesamte Biografie prägende persönliche Identifikation mit kirchlich gefasster Religiosität und führen zu keiner dauerhaften Stabilität der Kirchenbindung.

6.2 Abnehmende Religions- und Kirchenbindung

In der Schweiz verliert die Kirchenbindung der Zugehörigen der beiden großen Kirchen an Kraft. Ihre abnehmende Intensität hängt insbesondere mit der persönlichen – vor allem religiös-spirituellen – Identifikation mit einer Kirche zusammen.

Im Folgenden werden die Veränderungen im Bereich der kirchlichen Religion vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels erörtert. Mit der Einführung von vier «Religionsprofiltypen» in Anlehnung an Stolz et al. (2014) lassen sich dann unterschiedliche individuelle Positionierungen gegenüber Kirche, Religion und Spiritualität skizzieren und vertiefte Analysen zum Verständnis der Entkirchlichungsprozesse in der Schweiz vornehmen.

6.2.1 Einfluss des gesellschaftlichen Wandels

Der gesellschaftliche Wandel der vergangenen Jahrzehnte und die Veränderungen der Sozialstrukturen der Gesellschaft sind an den «Beständen religiöser Traditionen und Institutionen nicht folgenlos» vorübergegangen.Footnote 4 Die umwälzenden Prozesse der Modernisierung in EuropaFootnote 5 haben, so betonen Säkularisierungstheoretiker:innen, letztlich einen negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und herkömmlichen religiösen Überzeugungen.Footnote 6 Zugleich verliefen diese Modernisierungsprozesse keineswegs linear. Auch ging die Säkularisierung, als Einflussverlust christlich-religiöser Vorstellungen ebenso wie als EntkirchlichungFootnote 7, nicht einfach mit Modernisierung einher. Vielmehr zeigten sich insbesondere seit dem 19. Jahrhundert komplexere Dynamiken, in denen sich insbesondere die Kirchen durchaus als anpassungsfähig erwiesen. Franz-Xaver KaufmannFootnote 8 machte denn auch schon früh darauf aufmerksam, dass die Kirchen auf die Säkularisierung mit einer verstärkten Verkirchlichung und damit Institutionalisierung des Christentums reagiert haben. Auch in der Schweiz führte dies zu einer gesellschaftlichen Ortsveränderung des Christlichen und zu einer Veränderung seiner Sozialform, z. B. durch die Gründung zahlreicher neuer Kirchgemeinden und Pfarreien. Die Kirchen traten somit vermehrt als Mitgliederorganisationen auf, die als solche herausgefordert waren, ihre Mitglieder durch eine intensivierte Verkirchlichung zu binden. Diese Verkirchlichungspraxis entfaltete sich in vielerlei Formen: z. B. bei der vermehrten amtskirchlichen Kontrolle der individuellen Religiosität ebenso wie den selbstorganisierten Formen des EngagementsFootnote 9, aber auch durch die Ausweitung pädagogischer Maßnahmen zur Geltendmachung kirchlicher Lehre und Praxis. Wenn man heute auf Entkirchlichungsprozesse schaut, dann ist es wichtig, sich die verschiedenen Anstrengungen zur Verkirchlichung vor Augen zu halten, die in hohem Maße auf Familiensituationen (Angebote für Ehepaare, Kinder und Eltern) bezogen waren und es bis heute sind.

Die fortschreitende Modernisierung entfaltete sich jedoch je länger je mehr zunehmend plural und auch widersprüchlich. Sie führte zu Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsprozessen. Diese gingen häufig mit Emanzipationsprozessen gegenüber traditionellen Autoritäten und ihren Institutionen, insbesondere auch (in) den Kirchen, einher. Dies wurde als «kulturelle Revolution»Footnote 10 in den 1960er-Jahren deutlich sichtbar. Der somit festzustellende Kulturwandel führt bis heute zur gesellschaftlichen wie binnenkirchlichen Problematisierung kirchlicher Autorität, insbesondere in der katholischen Kirche.Footnote 11

In der Religionslandschaft der Schweiz, in der bis in die 1960er-Jahre über 90 % der Bevölkerung einer konfessionellen Großkirche angehörten, zeigen sich diese Symptome des Wandels mehr als deutlich. Nicht nur die seit Jahrzehnten schrumpfenden Mitgliederzahlen der Kirchen, sondern auch das zunehmend distanzierte Mitgliederverhalten gegenüber kirchlichen Traditionen weisen auf einen Rückgang der institutionalisierten Religion bzw. ein wachsendes Bindungsproblem der Kirchen hin, wie die Beiträge dieses Buches aufzeigen.

Prozesse der DeinstitutionalisierungFootnote 12 der kirchlichen Religion in der Schweiz können in der Folge anhand von messbaren Indikatoren wie Zugehörigkeit, Teilnahme an kirchlichen Feiern und Ritualen und bestimmten Glaubensvorstellungen untersucht werden – diese weisen auf einen sinkenden Organisations- und Sozialisationsgrad kirchlicher Religion hin. Grundlage der Analyse zur Lage und zum Wandel der institutionellen kirchlichen Religion in der Schweiz sind einerseits kirchenstatistische DatenFootnote 13 zum Mitgliederverhalten (kirchliche Ritualvollzüge), die in jährlichen Vollerhebungen gewonnen wurden, sowie andererseits Daten repräsentativer Erhebungswellen zu Religion, Weltanschauung und Spiritualität, die in der Schweiz seit 1988/1989 ungefähr alle zehn Jahre durchgeführt werden. Gewisse Frageblöcke wurden zu allen Erhebungszeitpunkten berücksichtigt, einige nur zu Beginn, andere bis 2018, aber nicht seit Beginn.

6.2.2 Verschiebungen bei (nicht)religiösen Zugehörigkeiten

Die vier Umfrage-Wellen zeigen in groben Umrissen, was die Volkszählungen und StrukturerhebungenFootnote 14 des BfS für die Schweiz detaillierter zeigen: Die Daten dokumentieren einen Rückgang des Bevölkerungsanteils von Mitgliedern der beiden großen Kirchen – und dementsprechend einen Anstieg der Zahlen ehemaliger Kirchenmitglieder sowie von Menschen, die bereits ohne Religionszugehörigkeit aufgewachsen sind.

Die Entwicklung der Kirchenmitgliederzahlen in der Schweiz unterliegt den oben erwähnten gesamtgesellschaftlichen Trends. Eine diesbezüglich wichtige Einflussgröße ist Migration. Die großen Verschiebungen im Verhältnis der Anteile der beiden großen Kirchen in ihrem «Duopol» der Religionslandschaft in der Schweiz bis in die 1970er-Jahre können durch Migration erklärt werden.

Die sogenannte «Gastarbeitermigration» hat zu einem starken Anstieg des katholischen und zum Rückgang des evangelisch-reformierten Bevölkerungsanteils geführt. Bis heute profitiert die katholische Kirche von der Zuwanderung vor allem aus Europa,Footnote 15 die auch einen verjüngenden Einfluss auf die Altersstruktur ihrer Mitglieder hat. Ebenso lässt sich die Zunahme religiöser Pluralität (andere christliche Glaubensgemeinschaften und nichtchristliche, vor allem islamische Glaubensgemeinschaften) in hohem Maße durch Migration erklären. Die größte Verschiebung der religiösen Verhältnisse in der Schweiz wird jedoch durch den seit den 1970er-Jahren steigenden Anteil an Menschen ohne religiöse Zugehörigkeit markiert (Abb. 6.1). Das Wachstum dieser Personengruppe geht fast ausschließlich zulasten des Mitgliederanteils der großen Kirchen.

Abb. 6.1
figure 1

Ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren nach Religionszugehörigkeit 1910–2019Footnote

Anmerkungen: 1) 1900–1970: «Evangelisch-reformiert» inkl. Anhänger christlicher Sondergemeinschaften. Ab 1970 nur die öffentlich-rechtlich anerkannte Evangelisch-reformierte Kirche. 2) 1910–1920: inkl. Christkatholische Kirche. 3) Ab 1960 «Andere christliche Glaubensgemeinschaften» inkl. Christkatholische Kirche, Christlich-orthodoxe Kirchen sowie andere evangelische Kirchen, wie z. B. Methodistische Kirche, Neuapostolische Kirche. 4) «Islamische Glaubensgemeinschaften», «Ohne Religionszugehörigkeit» und «Religion/Konfession unbekannt» werden ab 1960 separat erfasst.

aus: https://kirchenstatistik.spi-sg.ch/religionslandschaft-schweiz/

Die vier Umfrage-WellenFootnote 17 bilden in groben Umrissen auch ab, was die Volkszählungen und Strukturerhebungen des BfS für die Schweiz zur Frage der Sozialisierung aufzeigen: Die meisten Personen ohne religiöse Zugehörigkeit wurden zwar noch katholisch oder reformiert sozialisiert. Der Anteil konfessionsloser Personen, die bereits ohne Zugehörigkeit aufgewachsen sind, nahm jedoch von 2009 zu 2018 von rund 15 % auf rund 27 % zu.Footnote 18

6.2.3 Anstieg der Kirchenaustritte

Die Zahl der Kirchenaustritte in der Schweiz steigt in den letzten Jahren immer weiter an, auch dann, wenn man besondere Austrittshäufungen, die durch konkrete, medial thematisierte Skandale und Skandalisierungen ausgelöst wurden und in der Regel nach einiger Zeit abklingen, berücksichtigt.Footnote 19

Allerdings lassen sich Austritte sinnvoll nur für die Kantone der Schweiz berechnen, in denen es eine Form der Mitgliedschaft gibt, die mit der Pflicht zur Kirchensteuerentrichtung verbunden ist und die formal – und damit messbar – beendet werden kann. Kantone ohne eine solche Form der Mitgliedschaft weisen deutlich tiefere Austrittszahlen auf, die kirchenrechtlich als «Apostasie» gesehen werden, allerdings zivilrechtlich keine Folgen haben und deswegen selten sind. In den anderen Kantonen geschieht «Austritt» somit am ehesten durch einfaches formloses Fernbleiben und den Verzicht auf die Taufe der eigenen Kinder, die dann ohne einen eigentlichen Austritt «konfessionslos» sind.

Bei den Kantonen, in denen ein formaler Kirchenaustritt möglich ist, zeigen sich große Parallelen bezüglich Entwicklung der Austrittszahlen. Dies gilt auch im Vergleich der beiden großen Konfessionen in der Schweiz, deren Austrittszahlen mit geringen Varianzen insgesamt ähnliche Kurven zeigen, wie dies in Abb. 6.2 am Beispiel der Zahlen des Kantons Zürich zu sehen ist.

Abb. 6.2
figure 2

Kirchenaustritte pro 1′000 Kirchenmitglieder der Römisch-katholischen und der Evangelisch-reformierten Kirchen des Kantons Zürich (1985–2020). Quelle: Römisch-katholische und evangelisch-reformierte Kirche des Kantons Zürich, Grafik: spi/uw

Sowohl Jahre mit herausstechenden Spitzenwerten bei den Austritten als auch die übrigen Jahre mit insgesamt ansteigender Austrittstendenz bilden sich in allen Kantonen ab. Lediglich das Ausgangsniveau der Kirchenaustrittszahlen ist in konfessionell homogenen, ländlichen Kantonen geringer, in konfessionsgemischten und urban geprägten Kantonen höher. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass der insgesamt stetig steigenden Austrittstendenz in der Schweiz keine besonderen regionalen oder diözesanen Ursachen zugrunde liegen, sondern dass sie verknüpft ist mit gesamtgesellschaftlichen Trends im Bereich institutionalisierter Religion.

Zugleich lässt der wachsende Anteil ehemaliger Konfessionszugehöriger beider großer Kirchen zwischen den Erhebungszeitpunkten 2009 und 2018 (bei den katholisch erzogenen Befragten von rund 25 % auf rund 31 %, bei den Reformierten von gut 22 % auf 28 %) nach den konkreten Prozessen fragen, wie die Kirchendistanzierung abläuft, welche Bindungsdimensionen eine Rolle spielen, ob es ein typisches Muster im Prozess der Kirchendistanzierung gibt, in denen die Zugehörigkeit beendet wird, und wie Sozialisationsangebote der Kirchen zur Kirchenbindung beitragen.

6.2.4 Prozesse der Kirchendistanzierung

Die Dynamik anwachsender Kirchendistanzierung bzw. schwindender Kirchenbindung widerspiegelt sich einerseits in den steigenden Zahlen der Befragten mit ehemaliger Konfessionszugehörigkeit und andererseits im Rückgang kirchlicher Ritualvollzüge. Die steigenden Austrittszahlen lassen vermuten, dass die Dynamiken sich nicht abschwächen. Sie bilden zudem nur «Schlusspunkte» formaler Kirchenmitgliedschaft ab, denen in der Regel ein längerer Prozess der Distanzierung bis zum Abbruch der Zugehörigkeit vorausging.

Grundlage der folgenden Darstellungen sind kirchenstatistische Daten sowie Daten der MOSAiCH-Erhebungswellen, wobei hier nur jene Befragten berücksichtigt werden, die angeben, katholisch oder reformiert aufgewachsen bzw. erzogen worden zu sein.

6.2.4.1 MOSAiCH-Daten zur Intensität von Kirchenbindung

Reformierte und Katholik:innen, die sich mit ihrer religiösen ZugehörigkeitFootnote 20 eher wenig identifizieren, denken eher darüber nach, aus der Kirche auszutreten. Der AustrittsgedankeFootnote 21 findet sich jedoch auch bei Personen mit mittlerer bis höherer Identifizierung (Abb. 6.3).

Abb. 6.3
figure 3

Index «Identifizierung mit religiöser Zugehörigkeit» und Austrittsneigung (Ja/Nein) von reformierten und katholischen Befragten 2018 (N = 915, Skala von schwacher (1) bis starker (5) Identifizierung)

Fragt man (in Unterscheidung zur sozialen oder gesellschaftlichen Wichtigkeit) nach der persönlichen Wichtigkeit der Kirche (Abb. 6.4), lässt sich ein noch genauerer Einblick in die prekäre Situation der Kirchenbindung gewinnen. So ist der Anteil Reformierter 2018, welche die Kirche für sich persönlich (eher) nicht wichtig finden mit 34,8 % leicht größer als der Anteil derjenigen, denen sie (eher) wichtig ist (31,5 %). Die katholische Kirche kann bei ihren Mitgliedern bei dieser Frage noch eine etwas stärkere Kirchenbindung verzeichnen. Hier ist der Anteil derjenigen, denen die Kirche (eher) persönlich wichtig ist, mit 41,8 % zwar größer als der Anteil derer, denen die Kirche (eher) nicht wichtig ist (25,1 %). Allerdings gilt für beide Konfessionen, dass die größte Gruppe an Mitgliedern sich bezüglich der Einschätzung persönlicher Wichtigkeit ihrer Kirche als «neutral» (weder noch) bezeichnet.

Abb. 6.4
figure 4

Persönliche Wichtigkeit der Kirche nach reformierter oder katholischer Konfessionszugehörigkeit (2018, N = 968)Footnote

Gesamt-MW = 3,06, SD = 1,11. Reformierte und Katholik:innen unterscheiden sich signifikant: Ref. (N = 463, MW = 2,91, SD = 1,11, p< 0.05), kath. (N = 505, MW = 3,19, SD = 1,09, p< 0.05). 2009 unterschieden sich die Mittelwerte der Reformierten (MW = 3,20, SD = 1,10) und Katholik:innen (3,30, SD = 1,05) noch nicht signifikant (p = 0.34). Der Mittelwertsrückgang von 2009 zu 2018 ist nur bei den Reformierten signifikant: −0,29, p< 0.05 (kath. −0,11, p = 0.22).

Den Kirchen scheint es also zu gelingen, ihre Mitglieder auch noch über einen gewissen Zeitraum persönlicher Entfremdung in der Kirche zu halten. Gleichzeitig stellen sich Fragen, was eigentlich mit persönlicher Wichtigkeit gemeint ist und welche anderen Wichtigkeitsdimensionen es noch geben könnte.

Für eine genauere Analyse bietet sich hier die Typisierung unterschiedlicher religiös-spiritueller Profile an. Im MOSAiCH-Fragebogen (2009 und 2018) kann man sich selbst einem von vier ProfilenFootnote 23 zuordnen:

  1. 1.

    religiös und spirituellFootnote 24

  2. 2.

    religiös, aber nicht spirituellFootnote 25

  3. 3.

    spirituell, aber nicht religiösFootnote 26

  4. 4.

    weder religiös noch spirituellFootnote 27.

Diese Zuordnung lässt sich mit dem komplexeren Konstrukt von Jörg Stolz et al. vergleichen, das mit einer clusteranalytischen Auswertung der MOSAiCH-Umfrage von 2009 und mit ergänzenden qualitativen Analysen vier Typen bestimmt hatte.Footnote 28

  1. 1.

    Die «Institutionellen» weisen eine Religionszugehörigkeit (gemäß MOSAiCH-Daten in der Schweiz in der Regel eine Kirchenzugehörigkeit) auf und messen dieser Zugehörigkeit auch eine persönliche Bedeutung für die eigene Religiosität, religiöse Praxis und Identität zu.

  2. 2.

    Die «Distanzierten» halten ebenfalls eine Religionszugehörigkeit (meist Kirchenzugehörigkeit) aufrecht, ohne allerdings diese Zugehörigkeit mit einer intensiveren persönlichen religiösen Überzeugung und Praxis im Alltag zu leben.

  3. 3.

    Die «Alternativen» verhalten sich spiegelbildlich zu den «Distanzierten»: Sie gehören zwar zumeist keiner Kirche (mehr) an bzw. fühlen sich ihr nicht mehr zugehörig, pflegen aber individuell durchaus Formen von Spiritualität (z. B. holistische, synkretische und naturverbundene Glaubensüberzeugungen und Praktiken), die jenseits der offiziellen Angebote der großen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften angesiedelt sind.

  4. 4.

    Die «Säkularen» zeigen sich im Gegensatz zu den anderen weder religionsgebunden noch «spirituell».

Es zeigt sich, dass die damals gewonnene Typisierung gut mit der religiös-spirituellen Selbsteinschätzung korrespondiert.Footnote 29 Daher verwenden wir in diesem Beitrag für die Befragten, die reformiert oder katholisch aufwuchsen, dieselben Typenbezeichnungen wie Stolz et al., markieren jedoch durch Anführungszeichen, dass unsere Typisierung lediglich von der oben genannten Selbsteinschätzung der Befragten abgeleitet wird.Footnote 30

Unter reformiert oder katholisch aufgewachsenen Befragten haben die Anteile der «Säkularen» und «Alternativen» von 2009 zu 2018 zusammen um rund 7 % zugenommen, während der Anteil der «Distanzierten» und «Institutionellen» entsprechend abgenommen hat.

Bei jenen, die sich der Kirche nicht (mehr) zugehörig fühlen bzw. ausgetreten sind, dominieren die «Säkularen» und «Alternativen», die zusammen 94 % bei den früher Reformierten und 93 % bei den ehemaligen Katholik:innen ausmachen (Abb. 6.5).

Abb. 6.5
figure 5

Religiös-spirituelle Profile nach (ehemaliger) Konfessionszugehörigkeit 2018 (N = 1585)

Ein Ende des Trends zur Abwendung von den Großkirchen ist vor dem Hintergrund dieser Daten nicht abzusehen. Die Daten zur katholischen Kirche zeigen: Im insgesamt kleiner werdenden Bevölkerungsanteil der katholischen Kirchenmitglieder werden zwischen 2009 und 2018 zwar relativ stabile Anteile an «Distanzierten» (+ 0,4 %) und «Institutionellen» (− 1,0 %) sichtbar, allerdings heißt dies, dass die Abbrüche der Kirchenzugehörigkeit nicht zur Folge haben, dass es zu einer Stabilisierung eines «Mitgliederkerns» kommt. Im Gegenteil, auch der Mitgliederkern der «Institutionellen» schmilzt. Aufseiten der evangelisch-reformierten Kirche ist das Bild ähnlich, wobei hier sogar ein verstärkter Trend zur Auflösung des Kerns der «institutionellen Kirchenmitglieder» (−6,8 %) sichtbar wird («Distanzierte»: +7,2 %).

Die Erhebungen von 2009 und 2018 zeigen, dass es für die Beurteilung der Relevanz der Kirchen unterschiedliche Wichtigkeitsdimensionen gibt, namentlich die persönliche, die gesellschaftliche oder die soziale Bedeutung der Kirchen (Abb. 6.6). Die beiden Wichtigkeitsdimensionen gesellschaftlich und sozial werden in der Regel auch von «Alternativen» und «Säkularen» anerkannt – sie sind also nicht notwendig mit Kirchenzugehörigkeit gekoppelt.

Über alle Profile hinweg, also generell unter den reformiert oder katholisch aufgewachsenen Befragten, ist zudem im Vergleich zu 2009 keine signifikante Veränderung der Beurteilung der gesellschaftlichen und diakonischen Bedeutung der Kirchen feststellbar.

Abb. 6.6
figure 6

Persönliche Wichtigkeit von Kirche (N = 1263), Wichtigkeit für die Gesellschaft (N = 1214) und Wichtigkeit für sozial Benachteiligte (N = 1176) nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018. Skala von 1 «überhaupt nicht wichtig» über 3 «weder noch» bis 5 «sehr wichtig»Footnote

2018: Persönliche Wichtigkeit der Kirche: Die vier Untergruppen (Typen) unterscheiden sich signifikant voneinander (ANOVA mit Post-Hoc-Test nach Games-Howell).

Wichtigkeit der Kirchen für die Gesellschaft und für sozial Benachteiligte: Die «Distanzierten» und «Institutionellen» unterscheiden sich signifikant von allen anderen. Die «Säkularen» und «Alternativen» unterscheiden sich nicht signifikant.

Wo sich dagegen die Profile deutlich voneinander unterscheiden, ist die Beurteilung der Wichtigkeit der Kirche für die Befragten selbst. Abb. 6.6 gibt einen Hinweis darauf, dass diese persönliche Wichtigkeitseinschätzung der Kirchen vor allem mit dem Grad der eigenen religiös-spirituellen Selbsteinschätzung verbunden ist. Mit anderen Worten, wer die Kirche für sich persönlich als wichtig taxiert, ist aus religiös-spirituellen Gründen mehr an sie gebunden und ist entsprechend weniger austrittsgeneigt als Personen, die die Kirchen nur als wichtig für andere bezeichnen.

Bei der persönlichen Wichtigkeit weisen nur die «institutionellen Kirchenzugehörigen» noch ähnlich hohe Zustimmungswerte auf, wie bei der Beurteilung der gesellschaftlichen und diakonischen Relevanz der Kirchen. Zudem unterscheiden sie sich bei der Beantwortung dieser Frage 2018 kaum von den Ergebnissen ihrer Gruppe 2009. Unter den katholisch oder reformiert aufgewachsenen Befragten generell wird die persönliche Relevanz der Kirche von 2009 zu 2018 im Mittel dagegen signifikant tiefer eingeschätzt. Sowohl die «distanzierten Zugehörigen» als auch die «Säkularen» und «Alternativen» stimmten 2009 der persönlichen Wichtigkeit der Kirchen noch deutlich stärker zu.Footnote 32

Für die Frage nach einem besseren Verständnis der (prekären) Kirchenbindung bzw. der Distanzierung vieler Kirchenmitglieder von ihrer Kirche ist vor allem die große Gruppe der «Distanzierten» aufschlussreich. Obwohl in der Regel Mitglied einer Kirche, messen sie dieser keine besonders wichtige Rolle im eigenen Leben bei und teilen selbst weder die kirchliche Religiosität noch beachten sie bewusst kirchliche Normen im Alltag.

Bei den «Distanzierten» spiegelt sich vielmehr deren Distanznahme von den Kirchen im Vergleich zu den «Institutionellen» in einer geringeren Einschätzung der persönlichen Wichtigkeit der Kirche. Die Erhebung von 2018 zeigt zudem, dass die persönliche Wichtigkeitseinschätzung der «distanzierten» Kirchenmitglieder seit 2009 im Schnitt weiter gesunken ist.

Die MOSAiCH-Daten erlauben im Blick auf die persönliche Wichtigkeitseinschätzung der Kirchen einige weiteren Differenzierungen. Es scheint nämlich so, dass sich die Entfremdung der «Distanzierten» stärker auf die Kirchenzugehörigkeit als auf die christliche Religionszugehörigkeit bezieht. Fragt man sie nämlich nach der Wichtigkeit der eigenen Religiosität, dann zeigt sich bei ihnen sowohl eine stärkere positive Bejahung der persönlichen Religionszugehörigkeit (48 % im Vergleich zu 38 %) als auch eine schwächer ausgeprägte Ablehnung der Wichtigkeit von Religionszugehörigkeit (11 % zu 24 %) als bei der Frage nach der persönlichen Wichtigkeit der Kirche.Footnote 33 Die Konnotationen um den Begriff Kirche könnten sich also negativ auf die Einschätzung der eigenen religiösen Zugehörigkeit auswirken.Footnote 34

Verbindet man die Frage nach Religionszugehörigkeit noch mit der Frage, ob man auf diese Zugehörigkeit stolz sei, zeigt sich ein ähnliches Bild (Abb. 6.7). Auch hier positionieren sich die «Distanzierten» eher zustimmend als ablehnend, mehrheitlich jedoch im indifferenten Bereich des «weder-noch».

Abb. 6.7
figure 7

Persönliche Wichtigkeit von Kirche (N = 1263), Wichtigkeit der Religionszugehörigkeit (N = 1246) und Stolz auf Religionszugehörigkeit (N = 1198) mit Skala von 1 «starke Ablehnung» bis 5 «starke Zustimmung», Vertrauen in Kirche (N = 1610) mit Skala von 1 «überhaupt kein Vertrauen» bis 5 «volles Vertrauen» nach religiös-spirituellem Profil unter reformiert oder katholisch aufgewachsenen Befragten 2018

Als Ursachen für diese Haltung gegenüber der eigenen Religion können die oben beschriebenen sozialen und gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen (Abb. 6.6) bezüglich der Kirchen gelten. Die MOSAiCH-Daten machen allerdings auch noch eine dritte Dimension der Nützlichkeit von Kirchen bzw. der durch sie repräsentierten christlichen Religion deutlich, die wie der soziale und gesellschaftliche Zusammenhalt jenseits einer persönlichen religiös-spirituellen Wichtigkeitszuschreibung liegt.

Hinsichtlich religiöser Zugehörigkeit zeigt sich nämlich eine Dimension kultureller Identifikation.Footnote 35 Diese kulturell-identitätsbezogene Ebene persönlicher Wichtigkeit der Zugehörigkeit zu einer Religion funktioniert gewissermaßen als «kulturchristliches» Identitätsmuster und wird unter anderem als Abgrenzung zu anderen Religionen, insbesondere gegenüber dem Islam, relevant.Footnote 36 Dieses Abgrenzungsmuster lässt sich bei der Hälfte der «Distanzierten» finden.

Die «abgrenzend Distanzierten» unterscheiden sich von den «nicht-abgrenzend Distanzierten» weder in ihrer religiösen Sozialisation oder Praxis noch in der Einschätzung der Wichtigkeit der Kirche für sich selbst, die Gesellschaft oder für sozial Benachteiligte. Sie sind aber stolzer auf ihre Religionszugehörigkeit (Abb. 6.8). Die «abgrenzend Distanzierten» kennzeichnet ein tieferer Bildungsabschluss sowie geringeres Einkommen und Grundvertrauen. Sie präferieren stärker traditionelle Geschlechterrollen und Verbote sichtbarer religiöser Zeichen, wie z. B. ein Verbot des Kopftuchs. Im Kontext eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und insbesondere im Kontext der Schweiz als einer Einwanderungsgesellschaft wird religiöse Zugehörigkeit zum Christentum und damit auch noch eine gewisse Verbundenheit mit den Kirchen als möglicher Ausdruck einer die eigene kulturelle Identität wahren wollenden Haltung der Abgrenzung gegenüber anderen erkennbar.

Abb. 6.8
figure 8

Stolz auf Religionszugehörigkeit unter (nicht-)abgrenzenden «Distanzierten» (N = 439)

Für alle drei Nützlichkeitsdimensionen (sozial, gesellschaftlich, identitätsbezogen-kulturell), die den Kirchen zugeschrieben werden, gilt es zu beachten, dass diese Dimensionen auch ohne eine Kirchenzugehörigkeit Anerkennung genießen, was insbesondere für die sozialen Leistungen der Kirchen gilt. Die Nützlichkeitsdimensionen des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts wie der kulturellen Identitätswahrung sind also nur begrenzt als Kirchenbindungsfaktoren anzusehen. Anders verhält es sich mit der Dimension persönlicher, religiös-spiritueller Wichtigkeitszuschreibung zu den Kirchen. Dies zeigt sich auch im Blick auf die «Vertrauensfrage» gegenüber den Kirchen,Footnote 37 die von «Säkularen», «Alternativen» und «Distanzierten» deutlich negativer beantwortet wird als von den «Institutionellen» (Abb. 6.7).

6.2.4.2 Kirchenstatistische Daten zur Kirchenbindung

Die voranschreitende Distanzierung von den Kirchen zeigt sich auch in den kirchenstatistischen Daten zum Mitgliederverhalten. Diese dokumentieren zwischen 1970 und 2019Footnote 38 einen stetigen Rückgang kirchlicher Ritualvollzüge (kirchliche Eheschließung, Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Firmung) im Lebensverlauf. Sie bestätigen damit die Trends der MOSAiCH-Erhebungen im selben Zeitraum. Die folgenden Abbildungen zeigen Daten zu Taufen, Firmungen, Konfirmationen und kirchlichen Heiratsfeiern in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten.

Der Anteil an Taufen in Bezug zu den Geburtszahlen in der Schweiz ist in den letzten 20 Jahren in der katholischen Kirche um mehr als ein Drittel, in der reformierten Kirche um die Hälfte zurückgegangen (Abb. 6.9). In der Schweiz wird somit noch ca. ein Drittel der Kinder in einer der großen Kirchen getauft – bei einem Bevölkerungsanteil katholischer und evangelisch-reformierter Kirchenzugehöriger von zusammen knapp 57 %.

Abb. 6.9
figure 9

Taufanteile im Verhältnis zu allen Geburten in der Schweiz (Daten: BfS, SPI-Kirchenstatistik und Annuarium Statisticum Ecclesiae)

Ein weiterer Rückgang zeigt sich im Biografieverlauf der Kirchenmitglieder nach der Taufe. Die Abb. 6.10 und 6.11 zeigen den Anteil der Firmungen bzw. Konfirmationen im Verhältnis zur Taufzahl. Im Verlauf der letzten 30 Jahre hat sich der Anteil getaufter Jugendlicher, die sich konfirmieren oder firmen ließen, signifikant reduziert, bei Konfirmationen auf ca. drei Viertel eines getauften Jahrgangs, bei Firmungen auf ca. zwei Drittel der getauften Altersgruppe.

Abb. 6.10
figure 10

Katholische Taufen (13–15 Jahre zuvor) und Firmungen. (Daten: SPI-Kirchenstatistik)

Abb. 6.11
figure 11

Reformierte Taufen (15 Jahre zuvor) und Konfirmationen. (Daten: SPI-Kirchenstatistik)

Noch stärker rückläufig ist das Verhältnis kirchlicher Eheschließungen zu zivilen Eheschließungen (Abb. 6.12). Kirchliche Hochzeiten machten 2019 nur noch gut 14 % im Verhältnis zu den zivilen Eheschließungen aus, während es 1970 noch knapp 87 % waren.

Abb. 6.12
figure 12

Ehen: Zivile Eheschließungen, röm.-kath. und ev.-ref. Eheschließungen in der Schweiz 1970–2019 (Daten: BfS und SPI-Kirchenstatistik)

Der Rückgang der Ritualvollzüge im Biografieverlauf ist ein Hinweis auf ein Scheitern traditioneller Sozialisationsformen der Kirchen. Die ritualbezogenen Gelegenheiten zur Etablierung und Festigung von Kirchenbindung verlieren an Bedeutung.

6.3 Zusammenhang zwischen Kirchenbindung, kirchlicher Sozialisation und individueller Religiosität/Spiritualität

Der Zusammenhang zwischen Sozialisation (im Sinne der Partizipation an kirchlichen Feiern und Ritualen), Kirchenbindung (im Sinne von Zugehörigkeitsgefühl und Identifikation mit Kirche) und individueller Religiosität (im Sinne religiös-spiritueller Praxis und Glaubensvorstellungen) lässt die Frage offen, ob der Prozess der Distanzierung sich vor allem auf die institutionelle Ebene (Kirchenbindung) bezieht oder ob damit auch ein Abschmelzen der individuellen Religiosität (religiös-spirituelle Praxis) einhergeht. Zudem stellt sich die Frage, ob sich hinsichtlich der Kirchenbindung möglicherweise Kippmomente identifizieren lassen, in denen ein Abbruch der Kirchenzugehörigkeit am ehesten zu erwarten ist.

6.3.1 Kirchliche Sozialisation

Der Kirchgangsindex bündelt Daten zum Kirchgang von Mutter, Vater und befragter Person in ihrer Kindheit.Footnote 39 Er steht in der folgenden Darstellung für den Aspekt religiöser Sozialisation. Dabei zeigt sich, dass regelmäßige Gottesdienstbesuche im Kindesalter für eine kirchliche Sozialisation wichtig sind und die spätere Kirchenbindung beeinflussen. Auch wenn die Kirchenbindung durch unterschiedliche Dimensionen der Wichtigkeitszuschreibung aufrechterhalten wird (siehe Abschn. 3.4.1),Footnote 40 muss die persönliche Wichtigkeitseinschätzung («Wie wichtig oder nicht wichtig ist Kirche für Sie persönlich?») als besonders relevant angesehen werden. Diese persönliche Wichtigkeitseinschätzung hängt wiederum oft mit dem Grad der kirchlich-religiösen Sozialisation in der Kindheit zusammen (Abb. 6.13).

Abb. 6.13
figure 13

Persönliche Wichtigkeit der Kirche nach Intensität kirchlich-religiöser Sozialisation (Quintile) unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018, N = 1338Footnote

Die Variablen weisen einen statistisch signifikanten mittelstarken Zusammenhang auf (Korrelation nach Spearman: r = 0,310, p< 0.01). Die beiden Variablen korrelierten 2009 auch signifikant, aber der Zusammenhang war schwächer ausgeprägt (r = 0,251, p< 0.01, N = 647).

Wer etwa als Kind regelmäßig Gottesdienste besuchte, wird dies mit größerer Wahrscheinlichkeit auch als erwachsene Person tun.Footnote 42

Bei den Gottesdienstbesuchen unterscheiden sich die religiös-spirituellen Profile voneinander (Abb. 6.14, oberer Bereich).Footnote 43 Dabei ist bei den «Institutionell-Kirchenzugehörigen» zwischen 2009 und 2018 keine signifikante Veränderung bei der Häufigkeit der Gottesdienstbesuche feststellbar.Footnote 44 «Distanziert-Zugehörige», «Alternative» und «Säkulare» weisen dagegen 2018 weniger Gottesdienstbesuche auf als 2009.

Die eigene religiös-spirituelle Profileinschätzung hängt nicht nur mit der aktuellen Gottesdienstpraxis zusammen, sondern zeichnete sich bereits im Kindesalter ab (Abb. 6.14, unterer Bereich). Eine durch häufigen Kirchgang geprägte religiöse Sozialisation führt also eher zu einer persönlich-spirituell unterfütterten Kirchenbindung, wie sie die «Institutionellen» zeigen. Dennoch blicken auch Kirchenmitglieder ohne «institutionelle» religiös-spirituelle Selbsteinschätzung oft auf eine Sozialisation mit häufigerem Kirchgang zurück. Kirchlich-religiöse Sozialisation in Form eines regelmäßigen Gottesdienstbesuches führt also nicht automatisch zu einer persönlichen und biografisch nachhaltigen Religiosität bzw. Spiritualität.

Abb. 6.14
figure 14

Kirchgangshäufigkeit in der Ursprungsfamilie (2009: N = 977, 2018: N = 1608) und zum Befragungszeitpunkt (2009: N = 767, 2018: N = 1598) nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten (Skala: 0: kein Kirchgang, 0,011: quartalsweise, 0,033: monatlich, 0,14: wöchentlich, 1: täglich)

Vergleicht man die Zahlen von 2018 mit 2009, so zeigt sich, dass zwar der Zusammenhang zwischen früherem Kirchgang und aktueller religiös-spiritueller Selbsteinschätzung und Praxis stabil ist,Footnote 45 dass die Kirchgangshäufigkeit in der Kindheit aber innerhalb des vergangenen Jahrzehnts einen deutlichen Rückgang erfahren hat.Footnote 46 Die gleiche Tendenz zeigt sich, wie oben dokumentiert, im Rückgang der Taufen, Konfirmationen, Firmungen und kirchlichen Hochzeiten in diesem Zeitraum. Die religiöse Sozialisations- und Bindungskraft der Kirchen über kirchliche Feiern und Ritualvollzüge ist demnach zwischen 2009 und 2018 markant gesunken.

6.3.2 Individuelle Religiosität/Spiritualität – Praxis und Glaubensvorstellungen

Neben der kirchlichen Sozialisation und ihrer Bedeutung für die Kirchenbindung zeigt sich auch ein Zusammenhang zwischen Kirchenbindung und aktueller persönlicher religiöser Praxis, etwa bei religiös-spirituellen Orientierungsmustern im Alltag (Abb. 6.15) oder beim persönlichen Gebet (Abb. 6.16). Dieser Befund mag nicht überraschen, denn wer sich mit einer Kirche stark identifiziert, teilt in der Regel auch deren religiöse Ausdrucks- und Praxisformen.

Die Bedeutung von Religiosität bzw. Spiritualität bei Fest- und Feiertagen in der Familie, für den Umgang mit der Natur, bei der Bewältigung von Krankheit und in der Kindererziehung liegt bei den «Institutionellen» hoch, bei «Säkularen» niedrig und bei «Distanzierten» und «Alternativen» fast gleichauf (Abb. 6.15).

Abb. 6.15
figure 15

Bedeutung von religiös-spirituellen Orientierungsmustern im Alltag nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018 (N = 1231–1252). Skala: Religion oder Spiritualität spielen keine Rolle (1), eine untergeordnete Rolle (2), eine wichtige Rolle (3)Footnote

Familienfeste: N = 1249, MW = 1,66, SD = 0,71/ Umwelt: N = 1252, 1,63, SD = 0,80/ Krankheit: N = 1231, MW = 1,65, 0,78/ Erziehung: N = 1054, MW = 1,73, SD = 0,74. Alle Profile unterscheiden sich signifikant voneinander, außer «Alternative» und «Distanzierte» bei «Umwelt» und «Krankheit».

Nun zeigt sich aber im Verlauf der letzten Jahre neben dem Abschmelzen der kirchlichen Bindung bei «Distanzierten», «Alternativen» und «Säkularen» auch ein Rückgang der individuellen religiösen Praxis (Gebetshäufigkeit) – und zwar bei allen Profilen (Abb. 6.16).Footnote 48

Abb. 6.16
figure 16

Gebetshäufigkeit nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2009/2018. Skala von 0 bis 1: nie bis täglich. Interpretation: Institutionelle beteten 2009 im Schnitt 4.4 × in der Woche, 2018 noch 3,6 × pro Woche. Distanzierte beteten 2009 im Schnitt 2,5 × pro Woche, 2018 noch 1,3 × pro Woche

Diese Beobachtung unterstreicht die obige Feststellung, nach der nicht nur die Ränder wegbrechen, sondern auch eine Erosion gelebter Religiosität im Kernbereich der Kirchenzugehörigen stattfindet. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die Veränderungen bei den «Institutionellen» nicht ganz eindeutig sind. Zwar sinkt ihre absolute Zahl vor allem im Bereich der evangelisch-reformierten Kirche, aber die verbleibenden «Institutionellen» beider Kirchen zeigen sich 2018 stärker den christlichen Glaubensvorstellungen verbunden als noch 2009 (Abb. 6.17). Dazu bleiben sie gegenüber 2009 stabil in ihrer religiösen Selbsteinschätzung (Abb. 6.18) und bei der Kirchgangshäufigkeit (Abb. 6.14). Insgesamt nimmt also der Profilunterschied der «Institutionellen» gegenüber «Distanzierten», «Alternativen» und «Säkularen» zu.

Fasst man die Fragen zu den religiösen Vorstellungen, soweit sie (nicht ausschließlich, aber vor allem) in der christlichen Religion vorkommen, zu einem Index «christliche Glaubensvorstellungen»Footnote 49 zusammen, so zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen dem Grad institutioneller Identifikation und dem Grad der Zustimmung zu den Glaubensvorstellungen, wie sie die Kirchen vermitteln. Entsprechend stimmen die «Institutionellen» den offiziellen kirchlichen Glaubensvorstellungen am stärksten zu. Die «Distanzierten» bewegen sich dagegen schwerpunktmäßig im mittleren Bereich, gefolgt von den «Alternativen» und «Säkularen» (Abb. 6.17). Dabei fällt wie schon bei den religiös-spirituellen Orientierungsmustern im Alltag auf, dass «Distanzierte» und «Alternative» auch bei der Zustimmung zu «christlichen Glaubensvorstellungen» sehr nah beieinanderliegen.

Abb. 6.17
figure 17

Index «Christliche Glaubensvorstellungen» nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2009/2018Footnote

«Christliche Glaubensvorstellungen» 2018 (N = 1635, MW = 2,29, SD = 0,83), 2009 (N = 995, MW = 2,38, SD = 0,81). Die «Distanzierten» unterscheiden sich 2009 und 2018 nicht signifikant von den «Alternativen», ansonsten unterscheiden sich die Profile signifikant voneinander. Insgesamt ist ein signifikanter Rückgang der Zustimmung von 2009 zu 2018 festzustellen, was sich auch in den Profilen der «Distanzierten» und «Säkularen» wiederspiegelt. Die «Alternativen» unterscheiden sich nicht signifikant zwischen 2009 und 2018, die «Institutionellen» verzeichnen eine signifikante Zunahme der Zustimmung.

Schaut man auf die Selbsteinschätzung der «Distanzierten», dann ergibt sich ein diffuses Bild. Im Blick auf die eigene Religiosität sehen sie sich mehrheitlich schwach religiös oder unentschieden (Abb. 6.18).

Abb. 6.18
figure 18

«Religiöse Selbsteinschätzung»Footnote

«Religiöse Selbsteinschätzung»: Skala von 1 = überhaupt nicht religiös, 4 = weder noch, 7 = tief religiös. 2018 (N = 1643, MW = 3,56, SD = 1,67) und 2009 (N = 1004, MW = 4,00, SD = 1,55) unterscheiden sich alle Profile signifikant. Von 2009 zu 2018 sind die Einschätzungswerte insgesamt signifikant zurückgegangen, was sich auch in den einzelnen Profilen widerspiegelt – außer bei den Institutionellen, die stabil bleiben.

nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018

Auch das Gottesbild der «Distanzierten» ist wenig festgelegt. Für viele von ihnen ist es als eine «höhere geistige Macht» vorstellbar (Abb. 6.19).

Abb. 6.19
figure 19

«Glauben an Gott» nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018

Die bisherigen Befunde zeigen, dass die Kirchenbindung in hohem Maße mit dem Grad persönlicher Überzeugung von christlichen Glaubensvorstellungen und der Intensität kirchlich-religiöser Praxis zusammenhängt. Allerdings steht der Endpunkt der Kirchenbindung, also der (formale oder innerliche) Kirchenaustritt, nicht automatisch für den Totalverlust christlicher Glaubensvorstellungen oder für den Abbruch einer persönlichen Gottesbeziehung. So geben viele heute sich «säkular», «alternativ» oder «distanziert» beschreibende Menschen   an, auch ohne Kirche oder Gottesdienste einen Zugang zu Gott zu finden (Abb. 6.20).

Abb. 6.20
figure 20

«Eigener Zugang zu Gott»Footnote

«Eigener Zugang»: Skala von 1 = lehne stark ab, 3 = weder noch, 5 = stimme stark zu. 2018 (N = 1582, MW = 3,50, SD = 1,15) unterscheiden sich alle Profile signifikant. 2009 (N = 995, MW = 3,62, SD = 1,14) unterscheiden sich die «Institutionellen» nicht signifikant von den «Distanzierten» und von den «Säkularen». Von 2009 zu 2018 ist die Zustimmung insgesamt signifikant zurückgegangen, bei den Profilen zeigt sich aber nur bei den «Säkularen» ein signifikanter Unterschied zu 2009.

nach religiös-spirituellem Profil unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018

Im Blick auf subjektive Religiosität/Spiritualität lässt sich also zwischen (hoch)-religiösen bzw. «institutionellen» Kirchenzugehörigen und ehemaligen Zugehörigen kein klarer Bruch feststellen, sondern vielmehr ein Kontinuum der Auflösung christlich-religiöser Vorstellungen und Praxen. Ein Kirchenaustritt kann in diesem Kontinuum früher oder später stattfinden. Distanzierungsprozesse gegenüber Glaubensvorstellungen, christlichen Praxisformen und Kirche setzen sich auch noch nach einem Austritt fort.

Die Beobachtung der Kirchenaustrittsentwicklung der letzten Jahre lässt zudem vermuten, dass für eine Austrittsentscheidung und eine Austrittsumsetzung nicht nur die Erosion der persönlichen Kirchenbindung bedeutsam ist, sondern dass es dazu auch konkreter Anlässe, z. B. Empörung über einen Skandal in der Kirche, und Gelegenheiten bedarf, um einen Kirchenaustritt zu vollziehen. So lassen sich regelmäßig in zeitlicher Nähe zu medialen Berichten über Skandale im Kontext der Kirchen auch Häufungen der Kirchenaustritte feststellen.Footnote 53

6.4 Kirchliche Sozialisierungsroutinen gescheitert?

Traditionell geschieht die Sozialisationspraxis der Kirchen durch Feiern und (Ritual-)Angebote, die sich auf Familien mit Kindern und Jugendlichen beziehen. Insbesondere seit der Reformation dominiert in beiden großen christlichen Konfessionen der Schweiz eine starke Betonung ritualbezogener pädagogischer «Glaubensvermittlung», die sich vor allem auf Kinder und Jugendliche konzentriert und auch die Eltern im Blick auf ihre religiösen und ethischen Erziehungsaufgaben einbezieht.

Die kirchlichen Sozialisationsanstrengungen im Biografieverlauf reichen von katechetischen Begleitmaßnahmen (vor allem bei Erstkommunion, Konfirmation und Firmung) bis zu Seelsorgegesprächen, die mitunter auch eine kontrollierende Funktion besitzen (Taufgespräch, Beichte, Ehevorbereitungsprotokoll).

Die zunehmende Erosion der Kirchenbindung könnte darauf hindeuten, dass ebendiese traditionellen Sozialisationsformen keine nachhaltige Kirchenbindungswirkung mehr erzeugen, weil sie entweder weniger nachgefragt werden oder weil die mit ihrer Hilfe erzeugte Kirchenbindung nur noch von begrenzter Dauer ist.

6.4.1 Bedeutungsverlust kirchlicher Rituale und Feiern

Die Bindungskraft der Kirchen nimmt seit Jahrzehnten kontinuierlich ab. Das zeigen sowohl die Trends der MOSAiCH-Erhebungen als auch die Daten der Kirchenstatistik. Letztere zeigen nicht nur, dass die allgemeine Zustimmung zu den konkreten kirchlichen Sozialisationsangeboten, wie Taufen, Erstkommunionen, Konfirmationen, Firmungen und Eheschließungen, seit Jahren sinkt, sondern dass sie je weniger gefragt sind, desto mehr sie sich vom Kindesalter entfernen. Die Datenentwicklung bei der evangelisch-reformierten wie der römisch-katholischen Kirche nimmt dabei im Großen und Ganzen eine ähnliche Entwicklung, wenn auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ausgangsniveaus.

6.4.2 Religionspädagogisches Handeln der Kirchen misslingt

Eine Schlüsselfunktion für kirchliche Sozialisation nimmt zunächst die Taufe ein. Sie wird in der Schweiz überwiegend im Baby- und Kleinkindalter und auf Wunsch der Eltern gespendet. Beide Kirchen erreichen zusammen, bei einem Bevölkerungsanteil von ca. 57 % im Jahr 2019, noch eine Taufquote von einem Drittel der in einem Jahr in der Schweiz geborenen Kinder (knapp 21 % katholisch und gut 12 % reformiert – siehe Abb. 6.9). Verfolgt man die biografisch vorgesehene Linie der religiösen Feiern weiter, so zeigt sich, dass die Erstkommunion in der katholischen Kirche, in der Regel für Kinder im Alter von 8 oder 9 Jahren, von nahezu allen Kindern gefeiert wird, die auch getauft wurden (Abb. 6.21).Footnote 54 Für diese Lebensphase zeichnet sich also in Familien mit katholischer Kirchenbindung und -praxis eine hohe Stabilität der Wahrnehmung kirchlich sozialisierender Angebote ab.

Abb. 6.21
figure 21

Taufen und Erstkommunionen acht Jahre später in den Bistümern St. Gallen und Lugano (1990/1998 – 2011/2019)Footnote

Die kirchenstatistischen Daten der einzelnen Bistümer in der Schweiz liegen zu einzelnen Fragen in unterschiedlichen Qualitäten vor, sodass hier auf langjährig erfasste Daten der Bistümer St. Gallen und Lugano zurückgegriffen wird. Der Befund einer hohen Koppelung zwischen Tauf- und Erstkommunionfällen zeigt sich auch in Deutschland und Österreich, nicht aber in Frankreich. Vgl. Grafik 3.10 in: https://kirchenstatistik.spi-sg.ch/erstkommunionen/ (7.1.2022).

Die Firmung, die je nach Bistum oder Pfarrei in unterschiedlichem Alter, durchschnittlich etwa im Alter von 16 Jahren, gefeiert wird, erreicht aktuell nur noch knapp zwei Drittel der Jugendlichen, die getauft wurden (Abb. 6.10). Die Konfirmation in der evangelisch-reformierten Kirche, meistens gefeiert um das 15. Lebensjahr, erreicht dagegen 2019 nur noch ca. drei Viertel des entsprechenden Taufjahrgangs. Hier ist der Zuspruch zur Konfirmation in den letzten Jahrzehnten gesunken (Abb. 6.11).

Die kirchlichen Heiratsfeiern schließlich runden traditionell den Sozialisationsweg ab und eröffnen mit Blick auf die Erwartung von Kindern die Sozialisation der nächsten Generation. Gerade bei kirchlichen Eheschließungen zeigt sich jedoch eine sehr starke Zurückhaltung. Die Bereitschaft der Kirchenzugehörigen zu einer kirchlichen Trauung ist in den letzten Jahren in beiden Konfessionen stark gesunken. 2019 wurden lediglich 14 % aller Zivilehen in der Schweiz auch kirchlich geschlossen – bei einem Anteil von gemeinsam 57 % katholischer oder reformierter Personen an der Gesamtbevölkerung (Abb. 6.12).

Die Beobachtungen machen deutlich: Die Nachfrage nach klassischen biografischen Sozialisationsangeboten der Kirchen, die sich stark auf die Zeit der Familien mit Kindern konzentrieren, bricht kontinuierlich ein. Für die Kirchen ergibt sich hier ein Problem, da die Familie jener Ort ist, an dem Menschen in ihren (auch religiösen) Grundwerten und -orientierungen nachhaltig geprägt werden.Footnote 56 Mit der sinkenden Akzeptanz gegenüber paar- und familienzentrierten religiösen Angeboten schwinden für die Kirchen bislang zentrale Gelegenheiten zur Stabilisierung der religiösen Sozialisation ihrer Mitglieder. Die Folgen sind eine verminderte Kontakthäufigkeit mit Kirchenrepräsentant:innen und ein Rückgang der inhaltlichen Auseinandersetzung mit christlichem Glauben und christlicher Praxis.

6.4.3 Die Familie als Ort kirchlicher Sozialisation?

Trotz dieses Befundes gilt: Religiöse Zugehörigkeit wird in der Schweiz noch immer überwiegend familiär tradiert. Die Mitgliedschaft zu einer der großen Konfessionskirchen erfolgt meist automatisch über die Zugehörigkeit der Eltern – also durch Geburt und Einfügung in die religiöse Zugehörigkeitstradition der Familie. Konversionen über den Rahmen der familiär «geerbten» Zugehörigkeit (oder Nichtzugehörigkeit) hinaus sind selten. Auch die Entwicklung und Nachhaltigkeit von Kirchenbindung und Religiosität/Spiritualität über die Kindheit hinaus beginnt in der Familie, denn hier erlernt und internalisiert ein Mensch Grundwerte und -orientierungen, die ihn ein Leben lang prägen. Im Vergleich dazu bleiben die Ergebnisse jedes späteren Sozialisationsprozesses tendenziell labiler.Footnote 57 Die Familie ist also wohl der wichtigste Ort für eine nachhaltige religiöse und kirchliche Sozialisation.Footnote 58 Das Bundesamt für Statistik bezeichnet die Familie sogar als «Nährboden für Religionen».Footnote 59

Obschon die MOSAiCH-Daten und die Kirchenstatistik keine Einstellungen von Kindern erfassen und auch junge Menschen im Konfirmations- oder Firmalter höchstens in Einzelfällen befragt werden, tritt der Zusammenhang zwischen Familie und kirchlich-religiöser Sozialisation deutlich zutage. So zeigt sich nämlich, dass Erwachsene in einer Familiensituation mit jüngeren Kindern im eigenen Haushalt deutlich stärkere Merkmale von Kirchenbindung aufweisen als deren Altersgenoss:innen ohne Kinder. Eltern mit (kleinen) Kindern zeigen eine geringere Austrittsneigung (Abb. 6.22), mehr Vertrauen in die Kirche (Abb. 6.23) und eine intensivere Gebetspraxis (Abb. 6.24).

Abb. 6.22
figure 22

Austrittsneigung nach Altersgruppen und Aufteilung mit/ohne Kinder im Haushalt bei 31- bis 55-Jährigen, unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018Footnote

Die Austrittsneigung unterscheidet sich bei den 31- bis 55-Jährigen nach Kindern im Haushalt signifikant: Kinder (N = 262, MW = 0,27, SD = 0,45), keine Kinder (N = 231, MW = 0,37, SD = 0,48).

Abb. 6.23
figure 23

Vertrauen in Kirchen nach Altersgruppen und Aufteilung mit/ohne Kinder im Haushalt bei 31- bis 55-Jährigen, unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten 2018.Footnote

Der Grad an Vertrauen in Kirchen unterscheidet sich bei den 31- bis 55-Jährigen mit Kindern im Haushalt signifikant: Kinder (N = 369, MW = 2,60, SD = 0,97), keine Kinder (N = 362, MW = 2,34, SD = 0,97).

Skala von «überhaupt kein Vertrauen» (1) bis «volles Vertrauen» (5)

Diese Beobachtungen spiegeln mit dem Abschluss der Familienphase mit kleinen Kindern einen hohen Wirksamkeitsverlust kirchlicher Sozialisationsroutinen wider. Zwar haben die klassischen kirchlichen Sozialisationsangebote für eine bestimmte Altersgruppe und Familiensituation noch einen stabilisierenden Einfluss auf das religiöse Selbstverständnis und die Kirchenbindung von Erwachsenen, allerdings verlieren sie ihre Wirkung mit Abschluss dieser Lebensphase. Mit Beginn des Jugendalters und jenseits familiärer Lebenssituationen mit Kindern scheinen diese Sozialisationsmaßnahmen der Kirchen deutlich weniger zu greifen. So tragen sie heute insgesamt kaum noch zu einer lebenslangen stabilen Kirchenbindung und zur Entwicklung einer eigenen religiösen Praxis und zur Übernahme christlicher Glaubensvorstellungen bei.

Dies wird durch die MOSAiCH-Daten untermauert, die eine zeitliche Längsschnitt-Beobachtung von Jahrgangskohorten im ungefähr zehnjährigen Rhythmus zwischen 1988 und 2018 erlauben. Dabei zeigen sich zwei Effekte, die hier anhand der persönlichen Gebetspraxis «Wie oft beten Sie ungefähr», sichtbar werden.

Die Geburtsjahrgangsgruppe 1958–1967 zeigt für den Zeitraum der Altersspanne zwischen 31 und 40 Jahren eine große Differenz der Gebetshäufigkeit zwischen Personen mit Kindern und ohne Kinder (Abb. 6.24). Personen dieser Altersgruppe ohne Kinder beteten zum Messzeitpunkt 1998 signifikant seltener als gleichaltrige Personen mit Kindern. Allerdings fällt auf, dass 2009 beide Personengruppen zusammen (dann im Alter von 42 bis 51 Jahren) weniger beteten als die kinderlosen Personen zehn Jahre zuvor. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass kirchliche Sozialisationspraxen, die sich an Familien mit (kleinen) Kindern richten, zu einer befristeten Intensivierung der religiösen Praxis und Kirchenbindung führen, allerdings mittelfristig an Wirkung einbüßen.

Abb. 6.24
figure 24

Gebetshäufigkeit der Jahrgangskohorte 1958–1967 unter ref. oder kath. aufgewachsenen BefragtenFootnote

21–30 Jahre: N = 337, MW = 0,37, SD = 0,46/ 31–40 Jahre mit Kindern im Haushalt: N = 195, MW = 0,49, SD = 0,47/ 31–40 Jahre ohne Kinder im Haushalt: N = 152, MW = 0,39, SD = 0,45/ 42–51 Jahre: N = 214, MW = 0,30, SD = 0,42/ 51–60 Jahre: N = 364, MW = 0,17, SD = 0,34/ Gesamt: N = 1262, MW = 0,32, SD = 0,44.

Die zweite Beobachtung, ebenfalls am Beispiel der Gebetshäufigkeit, könnte darauf hindeuten, dass auch diese befristete Wirksamkeit kirchlicher Sozialisationsangebote aktuell bei Eltern mit kleinen Kindern kaum noch erreicht wird. Abb. 6.25 zeigt jedenfalls für 2018, dass sich eine deutlich höhere Gebetshäufigkeit für Erwachsene im Alter zwischen 31 und 40 Jahren mit eigenen Kindern nicht mehr zeigen lässt – und dass die Gebetshäufigkeit insgesamt seit Jahren sinkt. Zusammen mit dem massiven Einbruch der kirchlichen Heiratspraxis und dem gestiegenen Anteil an ehemaligen Kirchenzugehörigen deutet sich damit an, dass es den Kirchen aktuell kaum noch gelingt, ihre alten Sozialisationspraxen so anzuwenden, dass sie eine breitere Wirksamkeit erzeugen.

Abb. 6.25
figure 25

Mittelwerte der Gebetshäufigkeit unter ref. oder kath. aufgewachsenen Befragten im Alter von 31–40 mit/ohne Kinder im Haushalt 1988–2018

6.5 Fazit und Ausblick

6.5.1 Entkirchlichungsprozesse

Die Entkirchlichungsprozesse in der Schweiz verlaufen äußerst stabil und sie weisen auf einen grundlegenden Funktionsverlust der Kirchen in der aktuellen Gesellschaft hin.

Die steigende Zahl der Kirchenaustritte verweist auf eine insgesamt abnehmende Intensität der Kirchenbindung, die sich schon innerhalb der Kirchen bei ihren Zugehörigen zeigt. Diese Erosion der Kirchenbindung ist sowohl gegenüber der Kirche als Institution als auch in den Feldern subjektiven Glaubens und persönlicher religiöser Praxis feststellbar.

Kirchenbindung basiert auf verschiedenen Dimensionen, wobei vor allem die Dimension der persönlichen Wichtigkeit der Kirche für die Aufrechterhaltung der Zugehörigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Dennoch behalten auch viele Kirchenzugehörige ohne eine hohe persönliche Wichtigkeit der Kirche ihre Zugehörigkeit aufrecht. Als Gründe werden die Anerkennung und Wertschätzung sozialer und gesellschaftlicher Integrationsleistungen der Kirchen genannt.

Die vorliegende Untersuchung erkennt noch eine weitere Dimension, nämlich die der Bedeutung der Kirchen als Repräsentantinnen kultureller Identitätsmuster, die ihnen von ihren Kirchenzugehörigen zugeschrieben werden. Ein genauerer Blick zeigt, dass zwei konfligierende Identitätsmuster, ein religionsplural-tolerantes und ein gegenüber religiös-kultureller Diversität abgrenzendes Muster vorliegen. Insbesondere die Zustimmung zu einem abgrenzenden kulturellen Identitätsmuster dürfte bei ungefähr der Hälfte der ansonsten persönlich kirchendistanzierten Zugehörigen zur Aufrechterhaltung der Kirchenzugehörigkeit beitragen.

Entkirchlichungsprozesse nehmen zu, wenn es den Kirchen nicht gelingt, für die Kirchenzugehörigen persönlich wichtig zu bleiben oder wenn Störungen dazu führen, dass die übrigen Wichtigkeitsdimensionen der Kirche nicht mehr ausreichen, um die Kirchenbindung aufrechtzuerhalten. Solche Störungen können z. B. Skandale oder die Kommunikation umstrittener Positionen sein, die fragen lassen, ob man sich noch länger mit seiner Kirche als zugehörig identifizieren möchte.

Für den Grad persönlicher Wichtigkeit der Kirche ist schließlich die Intensität der kirchlichen Sozialisation relevant, die eine Person in ihrer Biografie erfährt. Ein wichtiges Merkmal dieser kirchlichen Sozialisation ist die Teilnahme an kirchlichen Feiern und Ritualen, z. B. Sakramente oder Gebet. Hier zeigt sich, dass die Teilnahmehäufigkeit insgesamt seit Jahrzehnten sinkt.

Zudem zeigt sich, dass die Teilnahme an kirchlichen Feiern und Ritualen stark durch die familiäre Situation und durch das Alter geprägt wird: Wo Kinder sind, kommen kirchliche Feiern und Rituale stärker ins Spiel als bei Erwachsenen ohne Kinder. Allerdings nimmt die Intensivierung der kirchlichen Praxis bei Familien mit Kindern nach Abschluss dieser Lebensphase wieder ab. Die Sozialisationswirkung der kirchlichen Angebote für junge Familien ist also kaum nachhaltig.

Die Krise kirchlicher Sozialisation und Bindungsfähigkeit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass insbesondere die Rituale der Taufe und der kirchlichen Eheschließung, die für die weitere familiär orientierte kirchliche Sozialisationsarbeit entscheidend sind, starke Akzeptanzprobleme erfahren. Es fällt den Kirchen also zunehmend schwerer, die jüngeren Generationen zu erreichen und zu binden.

6.5.2 Eine doppelte kulturelle Entfremdung

Die seit Jahrzehnten anhaltende Erosion der Kirchenbindung in der Schweizer Bevölkerung erlaubt es, die zunehmend prekäre Lage der großen Kirchen nicht als Folge einzelner Krisen, sondern als Ausdruck einer grundsätzlichen kulturellen Entfremdung zu verstehen. Diese kulturelle Entfremdung dürfte zum einen mit der Säkularisierung zusammenhängen, welche die Geltungsbereiche religiöser Weltdeutungen stark eingeschränkt hat. Zum anderen könnte gerade die Reaktion auf die Säkularisierung, nämlich die „Verkirchlichung des Christentums“ und damit die Intensivierung der Anstrengungen zur Gewährleistung der Kirchenbindung der Kirchenmitglieder, mit den aktuellen Entkirchlichungsprozessen zu tun haben. Denn die verstärkten Bemühungen um Kirchenbindung waren und sind mehr oder weniger stark und in den verschiedenen Kirchen in unterschiedlicher Ausprägung auch mit der Ausübung von Autoritätsansprüchen gegenüber den Kirchenzugehörigen und mit dem Einsatz von Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen verbunden.

Genau hier setzt die zweite kulturelle Begründung der Kirchendistanzierung an. Der gestiegene Autoritätsanspruch der Kirchen gegenüber den Kirchenzugehörigen wird zu ihrem Problem: Individualisierung und Enttraditionalisierung bringen eine Infragestellung der bisherigen, jetzt oft als autoritär empfundenen Formen der Herstellung von Kirchenzugehörigkeit und Kirchenbindung mit sich.

Die hier präsentierten Analysen zur Entkirchlichung zeigen mehr als deutlich, dass es den Kirchen bislang nicht gelungen ist, die doppelte kulturelle Herausforderung durch Säkularisierung und Individualisierung mit der Folge des Autoritätsproblems der Kirchen gegenüber ihren Zugehörigen zu meistern. Die religiös-spirituellen Selbsteinschätzungen der großen Mehrheit der ehemaligen Kirchenzugehörigen stützen diese Vermutung eines doppelten kulturellen Bruchs. So zählen sich viele ehemalige Kirchenzugehörige zu einem strikt säkularen (A-)Religiositätstyp, während sich die anderen Ehemaligen durchaus spirituell identifizieren, allerdings als „Alternative“.

6.5.3 Die Frage, die sich den Kirchen stellt

Für die Kirchen stellt sich die Frage der strukturellen und inhaltlich-methodischen Ausrichtung und Qualität herkömmlicher kirchlicher Sozialisierungsangebote in Bezug auf ihre Wirksamkeit: Strukturell sind viele Angebote auf das Setting der Familienphase mit Kindern ausgerichtet, was bedeutet, dass weite Teile der Kirchenmitglieder nicht mehr oder kaum erreicht werden, da die Elterngeneration einen hohen Grad an Kirchendistanzierung aufweist. In inhaltlich-methodischer Hinsicht stoßen viele kirchliche Angebote bei dieser Generation kaum mehr auf Akzeptanz oder Interesse.

Zudem nimmt die Konzentration der sozialisierenden Anstrengungen der Kirchen im Blick auf Kinder und Jugendliche zu wenig ernst, dass auch die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen zunehmend unter die Anforderung «lebenslangen Lernens» fällt. Die Erwartung, dass die Prägung von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich konkreter Glaubensvorstellungen oder religiöser Praxisformen ein Leben lang wirksam sei, wird durch die Daten dieser Studie widerlegt.

Die Anstrengungen der Kirchen bleiben somit für eine biografisch relevante Kommunikation mit ihren Adressat:innen zunehmend erfolglos. In der Folge fällt für viele Menschen das Thema kirchlicher Religion in der eigenen Biografie aus. Dies verstärkt die Entfremdung der Schweizer Bevölkerung von den Kirchen, die in deren institutionalisierten Formen von Religion keine ausreichenden Identifikationsmöglichkeiten mehr findet und ihre Angebote immer weniger nutzt. Die Kirchen sind hier herausgefordert, ein neues Selbstverständnis gegenüber der Gesellschaft zu finden, sich den grundlegenden kulturellen Standards der Gesellschaft nicht länger zu versperren sowie Formen ihrer religiösen Kommunikation zu suchen und zu finden, um die doppelte kulturelle Entfremdung, ihren zunehmenden Relevanzverlust und die fortschreitende Entkirchlichung zu überwinden.