5.1 Einleitung

Teile der Einleitung stützen sich auf die Studie Kirchenreputation (bes. Kap. 6): Winter-Pfändler (2015).

Die Pflege der Mitglieder oder der Kund:innen steht im Zentrum sowohl von Profit- als auch von Nonprofit-Organisationen wie Hilfswerken, Stiftungen, Bildungseinrichtungen etc. Sie alle sind an langfristigen Beziehungen interessiert. Nur dank der Mitglieder und ihres finanziellen wie personellen Engagements ist es Organisationen möglich, ihre Visionen zu realisieren. Aus organisationssoziologischer Sicht gehören Kirchen und religiöse Organisationen in den Nonprofit-Bereich. Doch nicht nur aus organisations- oder anspruchsgruppenbezogenen Überlegungen heraus müssen die Kirchenmitglieder den Kirchen am Herzen liegen. Dem Selbstverständnis der Kirchen entsprechend ist für sie eine möglichst lebenslange Bindung ihrer Mitglieder von zentraler Bedeutung. Schliesslich hängt auch die Erfüllung ihres Auftrags an der Qualität ihrer Mitgliederbindung. «Die eigenen Mitglieder und alle Menschen guten Willens dafür gewinnen, sich als Glaubensgemeinschaft für die Botschaft und Praxis des Evangeliums einzusetzen»Footnote 1, dafür setzt sich Kirche ein. Umso bitterer ist es für sie, wenn Gläubige das Vertrauen in sie verlieren und sich von den Kirchen abwenden. Manche Autoren sprechen gar von einem noch nie dagewesenen Massenexodus.Footnote 2

Entsprechend veränderte sich die Religionslandschaft in der Schweiz innerhalb der letzten 50 Jahre grundlegend.Footnote 3 Während der Mitgliederanteil der römisch-katholischen Kirche um ca. 10 % abnahm, halbierte sich dieser Anteil im selben Zeitraum bei der evangelisch-reformierten Kirche. Der Unterschied zwischen den Kirchen lässt sich durch die Migration in die Schweiz erklären. Weit mehr Migranten und Migrantinnen gehören der katholischen als der evangelischen Kirche an. Der Anteil der Konfessionslosen wuchs von 1,2 % (1970) auf 29,5 % (2019). Die Kirchen sind also mit einem radikalen Umbruch der Religionslandschaft konfrontiert. Der vorliegende Beitrag zeichnet diesen Umbruch nach und umreißt die sich daraus ergebenden persönlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Auf der persönlichen Ebene geht es um die Frage, ob ein Mitglied angesichts von Vertrauensverlust vermehrt über einen Austritt aus seiner Kirche nachdenkt. Auf der gesellschaftlichen Ebene wird untersucht, wie sich das Vertrauens in die Kirche verglichen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren entwickelte.

5.1.1 Vertrauen im Zentrum eines kirchlichen Mitgliederbindungsmanagements

In der Fortführung des Werkes von Jesus aus Nazareth setzen sich die Kirchen für eine gerechte, barmherzige und solidarische Welt ein.Footnote 4 Ihrem Selbstverständnis nach wollen sie als Volk Gottes den Menschen Gottes Liebe erfahrbar machen, sei es in der Verkündigung, in ihrem caritativen und diakonischen Engagement oder der Gemeinschaftsbildung aller Gläubigen.Footnote 5 Daher ist für die Kirchen eine langfristige, ja, wenn möglich, lebenslange Beziehung der Gläubigen zu ihnen entscheidend.

Die Wirtschaftswissenschaften untersuchen, wie Beziehungen zu Kund:innen, Lieferant:innen, Mitgliedern, Mitarbeiter:innen etc. gestaltet werden müssen, damit langfristige und loyale Beziehungsnetze entstehen.Footnote 6 Dabei stellt sich heraus, dass diverse Faktoren diese Beziehungen zwischen einem Mitglied und einer Organisation beeinflussen, beispielsweise psychologische Faktoren wie die gefühlsmäßige Einstellung gegenüber der Organisation. Diese Einstellung ist das Resultat eines Abgleichungsprozesses zwischen den Werten eines Individuums und einer Organisation. Fühlt sich ein Mitglied mit seinen Werten, Lebensansichten oder der Art, das eigene Leben zu gestalten, von einer Organisation unterstützt, wirkt sich dies positiv auf die Beziehung aus, andernfalls negativ.

Selbstverständlich können die Kirchen ihr Tun und Lassen nicht nur von den Erwartungen und Bedürfnissen ihrer Mitglieder abhängig machen. Sie sind der Bibel und ihrer Tradition verpflichtet. Zudem sind sie oft mit widersprüchlichen Erwartungen und Bedürfnissen konfrontiert, da Kirchenmitglieder und gesellschaftliche Gruppen sehr unterschiedliche Wertvorstellungen an die Kirchen herantragen. Dies zeigt sich etwa bei ethischen Themen oder der Frage, ob Kirchen bei politischen Abstimmungen Position beziehen sollen. So konnte Winter-Pfändler in seiner Studie zur Kirchenreputation zeigen, dass die befragten Mitglieder von rechtskonservativen Parteien eine Einmischung der Kirchen ins politische Tagesgeschäft ablehnen, während Mitglieder von Mitte-links-Parteien dies eher befürworten.Footnote 7

Je nach politischer Einstellung des Kirchenmitglieds und dem politischen Handeln und Sprechen der Kirchen verstärkt sich in der Folge die Bindung zur Kirche bzw. schwächt sie sich ab. Eine vertiefte Analyse zum Zusammenhang zwischen Religion und Politik liefert der Beitrag von Antonius Liedhegener im vorliegenden Buch.Footnote 8

Entscheidend ist, inwiefern es den Kirchen gelingt, ihre Positionen glaubwürdig und nachvollziehbar zu vertreten und mit der Vielzahl unterschiedlicher Meinungen und Wertvorstellungen in der eigenen Organisation kreativ und konstruktiv umzugehen.

Weitere Einflussfaktoren auf die Bindung zur Kirche sind Erfahrungen mit der Kirche allgemein oder mit kirchlichen Mitarbeiter:innen. Wurden beispielsweise Begegnungen mit lokalen Seelsorgepersonen als aufbauend, tröstend und hilfreich oder als überheblich, autoritär und lebensfremd erlebt? Neben der Sozialkompetenz der Mitarbeiter:innen braucht es viele weitere Fähigkeiten aber auch reibungslose und «kundenorientierte» organisatorische Abläufe, damit Menschen mit kirchlichen Angeboten zufrieden sind und sich positiv an die Kontakte mit den Kirchen erinnern. Ein gelingender Religionsunterreicht beispielsweise hängt von den pädagogischen Kompetenzen der Lehrperson ab und für die Angehörigen eines Verstorbenen ist es entscheidend, wie unkompliziert und schnell der:die zuständige Seelsorger:in erreichbar ist (Stichwort: Dienstleistungsqualität).Footnote 9 Zu den persönlichen Erfahrungen mit einzelnen Menschen gesellen sich oft medial vermittelte Erfahrungen mit der Kirchenleitung (z. B. mit den Bischöfen).

All diese Aspekte prägen die Bindung zur Kirche und führen dazu, ob jemand ein gutes, ein schlechtes oder ein zwiespältiges Gefühl bekommt, wenn er:sie an die Kirche denkt, und ob Vertrauen gewonnen oder verloren wurde.

Der Aufbau von Vertrauen und Verbundenheit steht infolge im Zentrum jedes Bindungsmanagements.Footnote 10 Gelingt es den Kirchen, sich ihren Mitgliedern und der Gesellschaft, in welcher sie wirken, als glaubwürdige und vertrauensvolle Institutionen zu präsentieren? Dies dürfte gerade auch im Hinblick auf die öffentlich-rechtliche Anerkennung der Kirchen mit den damit verbundenen Privilegien (z. B. erleichterter Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, finanzielle Zuwendungen durch die Kantone, das Recht, Kirchensteuern zu erheben, etc.) von Bedeutung sein. (Kirchen-)rechtliche Aspekte, welche Menschen an die Kirchen binden, sind heute in den mitteleuropäischen Gesellschaften irrelevant.Footnote 11

Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen helfen mit, die Welt, in der wir uns bewegen, einzuschätzen. Menschen sehen durch eine Vertrauens- und Misstrauensbrille auf ihre Welt. Somit besitzen sowohl Vertrauen als auch Misstrauen eine «komplexitätsreduzierende Funktion»Footnote 12 und ein erst einmal gewonnenes Bild tendiert dazu, fortgeschrieben zu werden. D. h. Kirchen, die ein hohes Vertrauen und einen guten Ruf genießen, können auf motiviertere Mitarbeiter:innen zählen, die Berichterstattung in den Medien ist in der Regel positiver und die Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Akteuren (z. B. aus dem Bildungs- oder Gesundheitswesen) fällt leichter. Diese Magnetwirkung zeigt sich leider auch umgekehrt: Misstrauen fördert Mitarbeiterdemotivation oder schlechte Presse, wodurch wiederum ein schlechtes Bild bestärkt wird.Footnote 13

Gerade die Gruppe der Distanzierten, also Menschen, die mit der Kirche einen losen Kontakt pflegen, betrachtet ihre Kirchenmitgliedschaft vermehrt unter einem Kosten-Nutzen-Aspekt. Kirchenmitgliedschaft ist für sie dann sinnvoll, «wenn sie einen individuellen Nutzen haben oder damit für andere oder die Gesellschaft einen Nutzen gestiftet wird»Footnote 14. Umso entscheidender ist es, wie diese Mitglieder die wenigen Kontakte zur Kirche erleben und ob es den Kirchen gelingt, ihren gesellschaftlichen Nutzen für die Gesellschaft allgemein oder für sozial Benachteiligte auszuweisen.Footnote 15 Und damit trotz Distanz zur Kirche ein Stück Verbundenheit mit ihr verspüren.

5.1.2 Motive für die Kirchenmitgliedschaft

Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, ist die Bindung der Mitglieder davon abhängig, ob eigene Erwartungen erfüllt oder positive Erfahrungen im Kontakt mit den Kirchen gemacht wurden. Es stellt sich daher die Frage, was die Mitglieder von ihrer Kirche erwarten und was sie sich von ihr versprechen.

Die Mitglieder der Kirchen sind vielfältig motiviert. Für kirchennahe Mitglieder, also Mitglieder der Kerngemeinden, ist beispielsweise die Trost- und Schutzfunktion wichtig.Footnote 16 Die Kirche soll sie unterstützen, mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen. Zudem fühlen sich diese Menschen zu den Werten und religiösen Inhalten hingezogen, für welche die Kirche eintritt. Distanziertere Mitglieder schätzen die Kirchen als Anbieterinnen für Rituale bei Lebensübergängen.Footnote 17 Weiter finden sie wichtig, dass sich die Kirchen für sozial Benachteiligte einsetzen (caritativ-diakonisches kirchliches Engagement). Schließlich schätzen sie, dass die Kirchen die christliche Tradition pflegen («Traditionsbewahrerin»)Footnote 18. Diese traditionsbewahrende Aufgabe nehmen die Kirchen wahr. So zeigte etwa die Studie zur Kirchenreputation, dass die Befragten die Erhaltung von sakralen Gebäuden durch eine Kirche mit Bestnoten versahen.Footnote 19

5.1.3 Der Rückgang von Verbundenheit und die Folgen

Dass Vertrauen und Verbundenheit auch zerstört werden können, musste insbesondere die römisch-katholische Kirche in den vergangenen Jahren erfahren. Das verheerende Ausmaß der MissbrauchsskandaleFootnote 20 und deren systematische Vertuschung,Footnote 21 die Diskussionen um die Stellung der Frau in der Kirche sowie Berichte zum Umgang mit kirchlichen Mitarbeiter:innen haben der Kirche geschadet und Vertrauen zerstört. Das führte dazu, dass die Austrittszahlen in die Höhe schossen (siehe Abb. 5.1). In diesen Zahlen lassen sich deutliche Spitzenwerte im Jahr 2010 (Skandal um den Holocaustleugner und Piusbruder Williamson) sowie in jüngster Vergangenheit im Zusammenhang mit den oben beschriebenen Skandalen beobachten.Footnote 22

Abb. 5.1
figure 1

Kirchenaustritte pro 1000 Mitglieder im Kanton Zürich (1985–2020)

Der Kirchenaustritt steht in der Regel am Schluss eines (meist) längeren Prozesses.Footnote 23 Häufig lässt sich bereits eine zunehmende Entfremdung von der Kirche während der Noch-Mitgliedschaft beobachten. Das zeigt sich etwa an den sinkenden Tauf- und Trauquoten: Im Jahr 2018 heiratete nur noch jedes dritte Paar, bei dem beide in der katholischen Kirche sind, kirchlich (Vergleich 2011: 44 %). Gleiches zeigt sich bei den Taufzahlen: So hat in den vergangenen Jahren die Taufquote (mit Ausnahme des Bistums Lugano) kontinuierlich abgenommen.Footnote 24 Diese Entwicklung führt neben der Überalterung der Kirchen (insbesondere bei der evangelisch-reformierten Kirche) zu den Umbrüchen in der Religionslandschaft der letzten Jahrzehnte.Footnote 25 Ein Schneeballeffekt droht, da es zunehmend sozial akzeptiert ist, nicht Mitglied einer Kirche zu sein.Footnote 26 Die Distanzierungsprozesse, welche in den Kirchen derzeit stattfinden, beleuchtet der Artikel von Oliver Wäckerlig, Eva Baumann-Neuhaus und Arnd Bünker im vorliegenden Buch ausführlich.Footnote 27 Dieser Beitrag zeigt auch, dass die Verbundenheit mit der Kirche bei ihren Mitgliedern in den vergangenen Jahren sank.

Es ist eine Frage der Zeit und der Umstände (z. B. das Bekanntwerden von Missständen in der Kirche), bis der Faden schließlich ganz reißt (oder bei den Kindern erst gar nicht aufgenommen wird) und die Gläubigen aus der Kirche austreten.

Wie es um die Austrittsneigung der Teilnehmer:innen der vorliegenden Studie steht und welche Faktoren diese Austrittsneigung beeinflussen, wird im Kapitel zu den Ergebnissen im vorliegenden Artikel erläutert.

5.1.4 Gründe für den Kirchenaustritt

Ulrich Riegel et al. beschreiben in ihrer qualitativen Studie zu den Austrittsgründen aus der katholischen Kirche sieben Dimensionen und fassen viele der in weiteren Studien beschriebenen Gründe zusammen: Die Ausgetretenen erwähnten persönliche Ansichten, z. B. das Missfallen mit katholischen Lehrmeinungen (Homosexualität, Rolle der Frau in der Kirche, Zölibat, Auffassung der Kirche zum Thema Abtreibung etc.) (individuelle Dimension). Weitere Gründe waren negative Erfahrungen mit kirchlichen Angestellten (interaktive Dimension), während auf der zwischenmenschlichen Ebene ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Kirche geäußert wurde (z. B. dass sie ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft für eigene Zwecke missbrauche) (soziale Dimension). Die Befragten bekundeten weiter Mühe mit der Art und Weise, wie die katholische Kirche Gottesdienste feiert (unverständlich, starr, unpersönlich und von gestern) (liturgische Dimension), oder empfanden die Kirche als hierarchisch, unflexibel und machtausübend (strukturelle Dimension). In der finanziellen Dimension fassten die Autoren Zweifel an der Sorgfalt der Kirche mit anvertrauten Geldern aber auch den Wunsch nach Steuerersparnis zusammen.Footnote 28 Schließlich, subsumierten die Verfasser den schlechten Ruf der Kirchen in der kommunikativen Dimension.Footnote 29 Viele dieser genannten Faktoren dürften ineinander spielen und miteinander verzahnt sein.Footnote 30

In einer weiteren empirischen Studie ordnen Ulrich Riegel et al. die Fülle der Austrittsgründe nach deren zeitlichem Verlauf. Sie unterscheiden als grundlegende Motive den Glaubenszweifel, das Erscheinungsbild der Kirche, die Diskrepanz zu ethischen Positionen sowie die rückständige Haltung der Kirche. Diese Motive führen zu einer zunehmenden Distanzierung zur Kirche («bestimmendes Motiv»). Gesellen sich zu dieser Entfremdung ein persönliches Enttäuschungserlebnis oder die Pflicht, Kirchensteuer zu bezahlen («Anlass»), kann dies zum Kirchenaustritt führen:Footnote 31 «Wer sich von seiner Kirche entfremdet, kann sie in der Regel weitgehend aus seinem Leben ausblenden. Dann gibt es auch keinen Grund, aus ihr auszutreten. Dieser Schritt ist erst dann notwendig, wenn Kirche im Leben wieder spürbar wird. In unseren Porträts tritt dieser Fall dann ein, wenn man entweder Kirchensteuer zahlen soll oder aufgrund einer Angelegenheit mit der Kirche in Kontakt kommt, und dieser Kontakt enttäuschend verläuft.»Footnote 32

Diverse empirische Studien versuchen, den typischen Austrittskandidaten zu beschreiben. Stichworte wie männlich, im städtischen Kontext lebend, gut ausgebildet, ledig und jünger wurden dabei genannt: «Der ideale Austrittskandidat ist also ein junger, kinderloser, in einer Grossstadt lebender Deutschschweizer Mann mit hohem Einkommen.»Footnote 33 Oder wie es Jörg Stolz und Thomas Englberger formulierten: «Ein Gedanke an einen Kirchenaustritt ist wahrscheinlich bei jüngeren Personen, Männern, in einer Stadt Wohnenden, im Konkubinat Lebenden, Personen mit keinen oder wenigen Kindern und höher Gebildeten.»Footnote 34 Auf Generationseffekte im Zusammenhang mit der Kirchenbindung geht der Beitrag von Jörg Stolz und Jeremy Senn im vorliegenden Band ein,Footnote 35 zur Sozialisation religionsloser Menschen finden sich vertiefte Untersuchungen im Beitrag von Pascal Tanner.Footnote 36

In der Reputationsstudie konnten weitere signifikante Zusammenhänge zwischen Austrittsneigung, Kontakthäufigkeit mit der Kirche und persönlicher Religiosität aufgezeigt werden: Je weniger Kontakt zwischen den Befragten und ihrer Kirche besteht und je areligiöser sie sich empfinden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, aus der Kirche auszutreten. Schließlich konnte die Reputationsstudie auch einen Effekt der Konfession nachweisen: Die befragten katholischen Politiker und Politikerinnen zeigten eine größere Austrittsneigung als ihre evangelisch-reformierten Kolleginnen und Kollegen. Dieses Ergebnis dürfte auf die publik gewordenen Missstände in der katholischen Kirche zurückzuführen sein.Footnote 37 Inwiefern sich all diese Einflussfaktoren im vorliegenden Datensatz replizieren lassen, wird im Kapitel zu den Ergebnissen des vorliegenden Artikels dargestellt.

Es lohnt sich daher, die Daten der MOSAiCH Studie genauer zu betrachten und zu analysieren: Wie entwickelte sich das Vertrauen in die Kirchen und im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Akteuren während der letzten 20 Jahre? Weiter: Wie wichtig sind die Kirchen in den Augen der Befragten für sie selbst, für die Gesellschaft allgemein sowie für sozial Benachteiligte und hat sich diese Wichtigkeit innerhalb von zehn Jahren verändert? Schließlich: Wie groß ist die Austrittsneigung der Teilnehmer:innen (auch im Vergleich zur letzten Befragung vor zehn Jahren) und welche Faktoren beeinflussen die Austrittsneigung? All diese Fragen sollen im Ergebnisteil beantwortet werden. Zuvor noch einige Bemerkungen zur Methodik.

5.2 Methodik

5.2.1 Stichprobe

Die Grundlagen des vorliegenden Beitrages bilden die alle zehn Jahre stattfindenden MOSAiCH-Erhebungen mit dem Schwerpunkt «Religion» (Measurement and Observation of Social Attitudes in Switzerland). Während sich im Jahr 2018 2′350 Personen aus der gesamten Schweiz per Online-Umfrage beteiligten,Footnote 38 waren es im Jahr 2009Footnote 39 1′229 Personen und im Jahr 1998Footnote 40 1′204 Personen. Sowohl 2009 als auch 1998 wurde per Telefoninterview erhoben.

Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf den Datensatz aus dem Jahr 2018, schaut jedoch auch in die Vergangenheit und stellt Daten im Längschnitt von über 20 Jahren dar. Im Zentrum stehen die beiden großen Kirchen, d. h. die römisch-katholische (N = 560) und die evangelisch-reformierte Kirche (N = 554). Selbstverständlich haben sich auch Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften an der MOSAiCH-Umfrage beteiligt. Leider sind die Fallzahlen dieser Religionsgemeinschaften zu klein, um in den vorliegenden statistischen Analysen berücksichtigt zu werden.Footnote 41 Als «Kontrastgruppe» dient die Gruppe der Konfessionslosen (N = 795).

Gemäß Bundesverfassung Artikel 72 liegt die Kompetenz, das Kirche-Staat-Verhältnis zu definieren, bei den Kantonen. Daher existieren in der Schweiz unterschiedliche Systeme bzw. Modelle der Kirchenfinanzierung. Während sich die öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen der Deutschschweiz über Kirchensteuern finanzieren, sieht die Situation in den Kantonen Tessin, Waadt, Neuenburg, Genf sowie Wallis anders aus: In diesen Kantonen erfolgt die Finanzierung entweder über Beiträge der öffentlichen Hand (Kantone Wallis und Waadt) oder über Spenden (insbesondere in den Kantonen Genf, Tessin oder Neuenburg). Die gilt vorwiegend für die katholische Kirche. Diese Unterschiede in der Finanzierung der Kirchen beeinflussen auch die AustrittsneigungFootnote 42: Während eine natürliche Personen in den Kantonen mit Kirchensteuern diesen Betrag bei einem Austritt einspart, ist der ökonomische Anreiz für einen Kirchenaustritt in den Kantonen Waadt, Neuenburg, Genf, Tessin und Wallis vernachlässigbar. Daher wurden für die Modelle zur Austrittsneigung (sowohl Längsschnittdaten als auch interferenzstatistische Berechnungen) die Daten gefiltert und die Personen aus den Kantonen Genf, Neuenburg, Waadt, Tessin und Wallis aus den Analysen ausgeschlossen. Die Ergebnisse dürften damit der Realität wesentlich näher kommen als ohne den Ausschluss der Bewohner:innen dieser fünf Kantone.

5.2.2 Verwendete Items

Jede MOSAiCH Umfrage umfasst mehrere hundert Fragen bzw. Items. Der vorliegende Beitrag stellt die Fragen zu den Kirchen und ihren Mitgliedern in den Mittelpunkt und analysiert, wie die Befragten die Kirchen im Allgemeinen wahrnehmen: Wie viel Vertrauen haben die Teilnehmer:innen in die Kirchen, gerade auch im Vergleich mit anderen wichtigen gesellschaftlichen Akteuren wie Parlament, Gerichte, Bildungssystem oder Wirtschaft?Footnote 43 Weiter wurde untersucht, ob die Kirchen für die Befragten persönlich wichtig, für die Gesellschaft allgemein oder für sozial Benachteiligte wichtig sind.Footnote 44 Schließlich: Haben sich die Teilnehmer:innen bereits einmal überlegt, aus der Kirche auszutreten?Footnote 45 All diese Fragen werden im Längschnitt aufbereitet sowie in Zusammenhang gebracht mit demografischen Angaben wie Alter, ReligiositätFootnote 46, Geschlecht, Ausbildung, Wohngebiet und aktuellem Zivilstand.Footnote 47

5.3 Ergebnisse

Abb. 5.2 zeigt die Ergebnisse zur Wichtigkeit gesellschaftlicher Akteure über die letzten 20 Jahre, aufgeschlüsselt nach den Gruppen römisch-katholisch, evangelisch-reformiert und konfessionslos. Am meisten Vertrauen haben die Befragten in das Schul- und Bildungswesen sowie in die Gerichte und das Rechtssystem. Die Kirchen und religiösen Organisationen schneiden am schlechtesten ab. So haben die Gruppen der Katholik:innen und der Evangelischen «etwas Vertrauen» in die Kirchen, während die Konfessionslosen «sehr wenig» Vertrauen in die Religionsgemeinschaften setzen. Es fällt auf, dass die Vertrauenswerte innerhalb der konfessionellen Gruppen über die letzten 20 Jahre leicht und in der Gruppe der Konfessionslosen deutlich sanken (siehe Tab. 5.1). Setzt man das Vertrauen in die Kirchen und religiösen Organisationen in Bezug zu demografischen Variablen, so scheinen Alter und Religiosität einen Einfluss auf das Vertrauen zu haben, d. h. je älter die Befragten sind und je religiöser sie sich einschätzen, umso mehr Vertrauen haben sie in die Kirchen. Diese Effekte zeigen sich in allen drei Gruppen.

Abb. 5.2
figure 2

Vertrauen in wichtige gesellschaftliche Akteure (Längsschnitt)

Tab. 5.1 Unterschiede Vertrauen in Kirchen und religiöse Organisationen x röm.-kath., evang.-ref. und konf.los

Auch bei der Wichtigkeit der Kirchen für einen persönlich, für die Gesellschaft allgemein oder für sozial Benachteiligte zeigt sich, dass die Gruppe der Katholik:innen und der Evangelischen ähnliche Einschätzungen im Bereich «weder noch» bis «eher wichtig» vornahmen. Am meisten Zustimmung erhielt die Wichtigkeit der Kirchen für sozial Benachteiligte, die tiefsten Werte verzeichnete die Wichtigkeit für einen persönlich. Auch bei der Frage nach der Wichtigkeit zeigen sich Unterschiede zwischen den Kirchenmitgliedern und den Konfessionslosen: Nicht nur schätzen die Konfessionslosen die Wichtigkeit der Kirchen in allen drei Bereichen niedriger ein als die Gruppen der Kirchenmitglieder, der Abfall der Werte zwischen den Jahren 2009 und 2018 ist darüber hinaus deutlicher (siehe Tab. 5.2). Gleichwohl sprechen auch die Konfessionslosen den Kirchen eine gewisse Wichtigkeit für sozial Benachteiligte zu. Wie auch beim Vertrauen in die Kirchen und religiösen Organisationen hängt die Einschätzung der Wichtigkeit mit der persönlichen Religiosität zusammen (siehe Tab. 5.3).

Tab. 5.2 Wichtigkeit für sich persönlich, die Gesellschaft allgemein und für sozial Benachteiligte: Differenzen zwischen den Jahren 2009 und 2018, aufgeschlüsselt nach römisch-katholisch, evangelisch-reformiert und konfessionslos
Tab. 5.3 Pearson Korrelationen: Religiosität und Wichtigkeit der Kirchen (persönlich, Gesellschaft allg., sozial Benachteiligte), aufgeschlüsselt nach Konfession bzw. Konfessionslosigkeit

Bei der Austrittsneigung (siehe Abb. 5.3) zeigt sich folgendes Bild: Die Austrittsneigung ist innerhalb von zehn Jahren gestiegen auf aktuell 37 % (evangelisch-reformierte Mitglieder) bzw. 38 % (römisch-katholische Mitglieder). D. h. mehr als ein Drittel aller Mitglieder überlegt sich derzeit, aus der Kirche auszutreten. Tab. 5.4 setzt diese Austrittsneigung in Bezug zu demografischen Faktoren. Dabei zeigen sich signifikante Unterschiede in Bezug auf die Variablen Alter, Geschlecht, Zivilstand, Ausbildungsstand und Wohnort: Jüngere, Männer, Nicht-Verheiratete, in der Stadt/Agglomeration Lebende und höher Ausgebildete sind austrittsgeneigter. Damit bestätigt sich auch der Befund anderer empirischer Untersuchungen (siehe Abschn. 5.1.4). Weitere Einflussfaktoren sind das Vertrauen und die persönliche Religiosität. Auch hier werden bereits beschriebene Ergebnisse bestätigt: Je weniger Vertrauen in die Kirchen besteht und je weniger religiös sich die Befragten einschätzen, umso größer ist die Austrittsneigung.

Abb. 5.3
figure 3

Austrittsneigung (Längsschnitt)

Tab. 5.4 Kennzeichen der Stichprobe sowie bivariate Assoziationen mit der Wahrscheinlichkeit zum Kirchenaustritt (N = 772, ohne Fehlerwerte und ohne TN aus den Kantonen VS, TI, NE, GE, VD)

Schließlich wurden die untersuchten Faktoren in drei unterschiedlichen Modellen mithilfe von Logit-Regressionsanalysen untersucht (siehe Tab. 5.5: Modell 1: demografische Variablen, Modell 2: religiöse Variablen = Konfession, Religiosität und Vertrauen, Modell 3: alle Variablen). Im Modell 1 weisen alle demographischen Variablen mit Ausnahme des Ausbildungsstandes signifikante Zusammenhänge auf. Gleiches gilt für die konfessionelle Zugehörigkeit, der Religiosität und dem Vertrauen in Modell 2. Führt man Modell 1 und 2 zusammen zeigt sich im letzten Modell (Modell 3), dass das Geschlecht und der Zivilstand ihren signifikanten Einfluss beibehalten. Gleiches gilt für die organisations-bezogenen/religiösen Variablen. Interessant ist die Zunahme der Varianz zwischen den Modellen. Insbesondere die Variablen Vertrauen/Konfessionalität/Religiosität scheinen einen maßgeblichen Einfluss zu haben. So wollen signifikant mehr Katholik:innen ihre Kirche verlassen als die Mitglieder der evangelisch-reformierten Kirche. Anzumerken ist, dass der Effekt der Konfessionalität bei den Gruppenunterschieden nicht gefunden wurde.

Tab. 5.5 Logistische Regressions-Modelle für die Wahrscheinlichkeit zum Kirchenaustritt (1 = Ja, 0 = Nein), N = 772

Insgesamt lässt sich schlussfolgern, dass die kirchenbezogenen sowie religiösen Faktoren die Haupttreiber der Austrittsneigung sind.

5.4 Diskussion

Die Ergebnisse decken sich zum großen Teil mit bisherigen Arbeiten. Die Kirchen haben in den vergangenen Jahren Vertrauen verloren. Dieses Ergebnis wird auch durch das Sorgenbarometer der Credit Suisse und gfs.bern der letzten drei Jahre gestützt. Gerade zwischen den Jahren 2018 und 2019 zeigen diese Arbeiten einen deutlichen Abbruch im Vertrauen, welches den Kirchen entgegengebracht wird. In der jüngsten CS-Studie aus dem Jahr 2021 rutschten die Kirchen gar auf den letzten Platz. Am meisten vertrauen die Befragten gegenwärtig der Polizei, gefolgt vom Bundesgericht und dem Bundesrat.Footnote 49

Aber ohne zugesprochenes Vertrauen wird es den Kirchen nicht gelingen, im Leben der Beteiligten und in der Gesellschaft wichtig zu sein. Wie die vorliegenden Daten zeigen, distanziert sich gerade die Gruppe der Konfessionslosen zunehmend von den Kirchen. Dies führt dazu, dass der gesellschaftliche Einfluss der Kirchen sinkt.Footnote 50

Mit dem Vertrauen, das die Kirchen im diakonisch-sozialen Bereich noch erfahren, gilt es unbedingt sorgsam umzugehen. Ansonsten droht die Gefahr, dass sich diese Trends fortschreiben, die Entfremdung wächst und die Mitgliederzahlen weiter abnehmen. Dazu gehört sicherlich auch, aus Fehlern zu lernen und Verbesserungsmaßnahmen einzuleiten.Footnote 51

Ob dies den Kirchen gelingt, hängt selbstverständlich nur zu Teilen von ihrem Handeln und Wirken ab.Footnote 52 Den gesellschaftlichen Megatrends wie Individualisierung und Säkularisierung können sich die Kirchen nicht entziehen und gesellschaftliche Werte wie Autonomie und Selbstbestimmung decken sich nur teilweise mit dem gemeinschaftlichen Charakter der Kirche.Footnote 53 So ist es heute durchaus möglich, eine selbst umrissene und gestaltete Religiosität/Spiritualität individuell zu leben, ohne einer Kirche anzugehören.Footnote 54

Gleichwohl müssen die Kirchen alles daransetzen, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Für die Kirchen bedeutet dies einen anstrengenden Weg, denn Vertrauen entsteht nicht mithilfe einer noch so professionell konzipierten PR-Kampagne. Vertrauen entsteht in mühseliger, tagtäglicher Kleinarbeit. Es wächst in kleinen Schritten bei denen Menschen, die kirchliche Mitarbeiter:innen und die Kirche als Organisation als verlässlich, zugewandt, integer, barmherzig und glaubwürdig erleben.Footnote 55

Es gibt immer wieder Möglichkeiten, sich als vertrauenswürdige Kirche «ins Spiel zu bringen». Der vorliegende Artikel entstand in Zeiten der ersten Welle der Corona-Pandemie. Innerhalb von kurzer Zeit entwickelten die Kirchen vielfältige Angebote: Online-Gottesdienste und Jodel-SegenFootnote 56, spirituelle Impulse auf YouTube, Hilfsdienste für bedrohte Bevölkerungsgruppen,Footnote 57 finanzielle Zuwendungen für Bedürftige,Footnote 58 Corona-Bibel-SchreibenFootnote 59, Online-Gesprächsrunden, WhatsApp-Gebetsgruppen, Ausbau der Seelsorge am Telefon etc. Es darf vermutet werden, dass die Kirchen mit diesem Engagement positive Zeichen setzen konnten.Footnote 60 Ob es den Kirchen gelingt, durch dieses «Nahe-bei-den-Menschen-Sein» mittel- und längerfristig Vertrauen zurückzugewinnen, ist zu hoffen und wird sich zukünftig zeigen.