3.1 Einleitung

Den religiösen Wandel des letzten JahrhundertsFootnote 1 durch quantitative Erhebungen zu erfassen, stellt für die Sozialwissenschaften eine große Herausforderung dar. Von entscheidender Bedeutung ist es, über qualitativ hochwertige Daten zu verfügen, die den Wandel sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sichtbar und schließlich begreifbar machen. In der wissenschaftlichen Erforschung dieser religiösen Veränderungen im sozialen Leben entstehen differenzierte Kategorien, um diese komplexen Prozesse zu bezeichnen. Die Einführung neuer Fragen, z. B. zur Ermittlung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern, wurde häufig durch wachsende gesellschaftliche Sensibilität und Besorgnis ermöglicht. In der MOSAiCH Umfrage finden sich Fragen aus der Debatte zu den Kategorien «spirituell, aber nicht religiös». Im Hintergrund dieses Beitrags steht die Frage nach der Relevanz der Unterscheidung zwischen spirituell und religiös und ihrem empirischen Wert.

Wir können hier nur eine kurze Kontextualisierung der langen Diskussion über die sich verändernde Bedeutung von Spiritualität in der westlichen KulturFootnote 2 anbieten  wie sie auf verschiedenen Ebenen geführt wurde (Mainstream, Wissenschaft, Theologie). In den Sozialwissenschaften wird der Begriff Spiritualität wie derjenige der Religion aus konstruktivistischerFootnote 3 Perspektive behandelt. Mehrere Studien belegen, dass durch den kulturellen Austausch zwischen dem Westen und dem Osten seit Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere durch die Verbreitung von Praktiken wie Yoga und Meditation nach dem Ende der Weltkriege, ein breites Verständnis von Spiritualität eingeführt und dann von einem liberalen Diskurs aus erweitertFootnote 4 wurde. Einige gegenkulturelle Bewegungen, wie die New Age-Bewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren, brachten den Begriff Spiritualität mit der Idee institutioneller und dogmatischer Unabhängigkeit in Verbindung. Dieses Verständnis steht eindeutig im Widerspruch zu dem, was wir aus historischer Sicht über die christlichen Vorstellungen von Spiritualität im 17. Jahrhundert wissen, als die monastische Tradition viele Überlegungen zur persönlichen religiösen ErfahrungFootnote 5 anstellte. Während der Begriff in der Vergangenheit mindestens zwei verschiedene Bedeutungen hatte, vervielfachen sich die Unterscheidungen, wenn man die Perspektive auf verschiedene sprachliche und konfessionelle Kontexte ausweitet.Footnote 6 Die gesellschaftlichen Auswirkungen der gegenkulturellen Bewegungen waren von Land zu Land unterschiedlich, wobei der angelsächsische Raum den Ton angab. Andere Länder haben eine stärkere Säkularisierung erlebt. Im deutschsprachigen Raum bietet beispielsweise das Wort «geistlich» die Möglichkeit, den Begriff «religiös» über «spirituell» hinaus zu nuancieren.

Um den Prozess zu bezeichnen, durch den die religiöse Identität immer weniger durch die konfessionelle Zugehörigkeit und immer mehr durch subjektives und emotionales EmpfindenFootnote 7 definiert wird, werden in der Soziologie eher die Begriffe von «Subjektivierung»Footnote 8, «Individualisierung»Footnote 9 oder «schrumpfenden Transzendenzen»Footnote 10 verwendet. Erst in den letzten Jahren hat sich der Begriff Spiritualität auch im weltweiten akademischen Austausch als «eine Trope der säkularisierten Gesellschaften durchgesetzt, die an die Stelle des Begriffs der Religion getreten ist»Footnote 11, was vor allem auf eine gewisse PopularisierungFootnote 12 einer Spiritualität verweist, die vor einem halben Jahrhundert marginal war, als sie mit Esoterik oder exotischer MystikFootnote 13 assoziiert wurde. Einige Forschende fragen sogar, ob wir nicht gar eine «spirituelle Revolution» erleben.Footnote 14 Wie Géraldine Mossière schreibt, umfasst Spiritualität heute «ein breites Spektrum ethischer Praktiken und Haltungen, die sich auf eine Suche nach Transzendenz, Wahrheit und Authentizität zu beziehen scheinen, wie sie sich in der Immanenz manifestieren»Footnote 15. «Spiritualität» beschränkt sich nicht mehr auf den religiösen Bereich, sondern kann «auch eine Lebensphilosophie bedeuten, die die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen in ihrem Zustand und ihrer Beschaffenheit hervorhebt, also ihr konvergentes Streben nach Transzendenz sowie den Wunsch, Unterschiede zu überwinden, die als bloße Produkte des Sozialen und Kulturellen wahrgenommen werden»Footnote 16. Um den Begriff der Religion zu vermeiden, den die säkularen Institutionen eindeutig beiseitegeschoben haben, scheint der Begriff der «Spiritualität nun eine einvernehmliche semantische Wahl zu sein». Schließlich «ist der Begriff der Spiritualität in einem globalisierten neoliberalen Umfeld zu einer Frage des sozialen Unterschieds und der ‚Kommerzialisierung’ geworden»Footnote 17. Es ist daher von Interesse und nützlich, diese Veränderungen bei der Verwendung des Begriffs der Spiritualität in soziologischen Umfragen zu berücksichtigen, insbesondere wenn es um die Selbstidentifikation der Befragten in Bezug auf Religion und Spiritualität geht. Wenn sich nämlich die Bedeutung des Begriffs Spiritualität je nach sozialer Situation ändert, dann dürften sowohl strukturelle als auch kulturelle Faktoren für die soziale Verwendung des Begriffs bedeutsam sein. Es ist daher wichtig, dass wir die Ergebnisse empirischer Studien genauer untersuchen, und dabei die unterschiedlichen Assoziationen mit den Kategorien des Spirituellen und Religiösen in der Schweiz analysieren und berücksichtigen.

Um den sprachlichen und kulturellen Kontext der wissenschaftlichen Debatten über diesen Begriff zu verdeutlichen, beginnen wir mit einem kurzen Überblick über die Literatur und orientieren uns dabei nach Sprachgebieten.

3.2 Internationaler Überblick über die empirische Forschung

In angelsächsischen Kontexten wurden zahlreiche StudienFootnote 18 durchgeführt, welche die Bedeutung von «spirituell» vor allem außerhalb des institutionalisierten religiösen Bereichs analysieren. Der Soziologe Wade Clark Roof führte in den 1980er- und 1990er-Jahren Erhebungen durch, die auf ausführlichen Tiefeninterviews basierten, um zu untersuchen, «wie sich das religiöse Terrain selbst verändert und wie die Trends, die jetzt bei den Mitgliedern dieser Generation zu beobachten sind, unsere grundlegendsten Vorstellungen von Religion und Spiritualität, unsere Interpretationen historischer religiöser Überzeugungen und Symbole und vielleicht sogar unser Verständnis des Heiligen selbst verändern können»Footnote 19. Robert C. Fuller schreibt, dass die Unterscheidung zwischen Personen, die sich als spirituell, aber nicht religiös betrachten, im 19. Jahrhundert erscheint, als eine Reihe von Bewegungen wie Mesmerismus, Schwedenborgianismus, Transzendentalismus, Theosophie, christliche Wissenschaft, Spiritualität des Unbewussten und alternative Medizin, die in den Vereinigten Staaten ein «großes metaphysisches Erwachen» auslösten.Footnote 20 Menschen außerhalb der Kirchen (die «Unkirchlichen»Footnote 21) bringen ihre Erfahrungen mit dem Heiligen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Nach Roof, in den 1980er-Jahren, haben andere prominente Soziologen diese Überlegungen fortgesetzt, darunter Robert Wuthnow (1998) und Robert Bellah (2008), die die neuen Formen der Spiritualität im Zusammenhang mit der Babyboom-Generation beschrieben.

Die quantitativen Daten für die USA, die die Frage der Identifikation mit dem Begriff «Spiritualität» enthalten, sind beachtlich. Heinz Streib weist darauf hin, dass sich bereits in den frühen 2000er-Jahren etwa 20 % der amerikanischen Bevölkerung mit der Kategorie «spirituell, aber nicht religiös» identifizierte,Footnote 22 ein Prozentsatz, der seither wächst. Mehrere Soziolog:innen, wie zuletzt Nancy Ammerman (2013), stellen fest, dass sich die Menschen zwar zunehmend als spirituell, aber nicht als religiös bezeichnen, die Definition und Auslegung des Begriffs «spirituell» jedoch von Person zu Person unterschiedlich ist.Footnote 23

In der Religionssoziologie in England wird die Debatte über Menschen, die «spirituell, aber nicht religiös» sind, zunächst unter dem Aspekt des Glaubens und der Zugehörigkeit geführt. Die Soziologin Grace Davie entwickelt in einem 1990 veröffentlichten Artikel und dann in einem 1994 erschienenen Buch die Idee, dass immer weniger Menschen in Großbritannien Gottesdienste besuchen und damit auch immer weniger am politischen und sozialen Leben teilnehmen. Im Allgemeinen entfernten sich das Privatleben sowie der Glaube der Bürger:innen von den Autoritätsstrukturen. Diese subjektive Veränderung ist der Ausgangspunkt der Studie von Paul Heelas, Linda Woodhead et al. in der englischen Kleinstadt Kendal. Die Forschenden stellen fest, dass es im religiösen Bereich zwei Milieus gibt, die sich durch Unterschiede in der verwendeten Sprache und der Art der ausgeübten Praxis unterscheiden. Die Veränderungen betreffen vor allem die Werte und das Verhältnis zur Autorität. Das erste Milieu, das hauptsächlich aus Religionsangehörigen besteht, die vordefinierten Rollen folgen (beschrieben als «life-as»Footnote 24), findet sich insbesondere in christlichen Kirchengemeinden. Die Individualität wird durch diese sozialen Rollen geprägt, es herrscht ein gewisser Moralismus vor und die Gottesfigur ist männlich. Da in diesem Milieu das Durchschnittsalter sehr hoch ist, zeigt sich ein Trend des Rückgangs. Demgegenüber steht ein «spirituelles» Milieu – jung und überwiegend weiblich –, in dem die «subjektive» Erfahrung, die Ethik, die Suche nach Selbstverwirklichung, die Einzigartigkeit der Person, die Individualisierung und Privatisierung von Begegnungen im Vordergrund stehen. Diese «Spirituellen» praktizieren Yoga, Reiki, Reflexzonenmassage, Tai-Chi, Homöopathie usw. Dieses spirituelle Milieu ist zwar klein, birgt aber nach Ansicht der Forschenden, die sich fragen, ob es sich um eine «spirituelle Revolution» handelt, ein sehr großes Entwicklungspotenzial.Footnote 25

Seitdem sind verschiedenste Aspekte dieser Analysen diskutiert worden. Abby Day (2011) hat Grace Davies These relativiert, indem sie die vielschichtige christliche Identität von Gläubigen untersucht hat. Kaya Oakes (2015) hat dokumentiert, auf welch vielfältige Weise Amerikaner:innen, insbesondere solche katholischen Glaubens, «dazugehören, ohne zu glauben». Andere Forschungsarbeiten haben die komplexen Verbindungen zwischen Zugehörigkeit, Praxis, Glauben und religiöser Identität hervorgehoben.Footnote 26 Laut den Pew Religious Landscape Studies ist beispielsweise die Meditation, deren wöchentliche Praxis zwischen 2007 und 2014 von 39 % auf 47 % gestiegen ist, unabhängig von Religionszugehörigkeit, Herkunft und Schichtzugehörigkeit. Während viele Buddhist:innen regelmäßig meditieren, gilt dies auch für Zeugen Jehovas, Mormon:innen, Evangelikale, Katholik:innen, Juden und Jüdinnen und in geringerem Maße auch für Menschen ohne religiöse Zugehörigkeit. Allen diesen Bevölkerungsgruppen ist gemeinsam, dass die Menschen, die am meisten meditieren, auch diejenigen sind, die an Gott glauben.Footnote 27 Laut Bron Taylor, Autor einer Studie über Umweltaktivist:innen mit dem Titel «Dark Green Religion», besteht die Tendenz, dass «diejenigen, die sich selbst als spirituell, aber nicht als religiös betrachten, Spiritualität im Allgemeinen als der Religion überlegen ansehen»Footnote 28. Der Begriff Spiritualität scheint daher heute mehr in Mode zu sein als der Begriff Religion. Was meinen diese Begriffe nun also in einem gegebenen Kontext und inwiefern schließt der eine den anderen aus oder bezieht sich auf ihn?

Untersuchungen in Europa haben gezeigt,Footnote 29 dass das säkulare Profil der Gesellschaft als Ganzes eindeutig bestätigt wird. Die Ergebnisse der Europäischen Werteerhebung (EVS) weisen darauf hin, dass die Zahl der religiös nicht gebundenen Menschen in Frankreich weiter ansteigt, von einem Viertel seit den 1980er-Jahren auf mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Jahr 2018.Footnote 30 Darüber hinaus ist auch die Zahl der Personen, die sich als religiös bezeichnen, von 55 % im Jahr 1981 auf 41 % zurückgegangen, während sich der Anteil der «überzeugten Atheist:innen» seit 1981 von 11 % auf 23 % mehr als verdoppelt hat. Laut der ISSP-Umfrage (International Social Survey Program) von 2018 geben 36 % der Franzosen und Französinnen an, weder religiös noch spirituell zu sein, und 18 % bezeichnen sich als nicht-religiös, aber spirituell, offen für das Heilige und Übernatürliche. Zu den entscheidenden soziodemografischen Faktoren gehören Geschlecht, Alter und Bildungsniveau, aber auch die politische Orientierung und die Zugehörigkeit (oder Nicht-Zugehörigkeit) zu autoritären und familiären Werten. Für Deutschland bietet der Religionsmonitor (Bertelsmann-Stiftung)Footnote 31 interessante Daten über die Selbsteinschätzung als «eher spirituell als religiös». Dieses Item schließt eine Überschneidung mit der Religionszugehörigkeit nicht aus. Diejenigen, die sich als «eher spirituell als religiös» bezeichnen, machen 10 % der Mitglieder der evangelischen Kirche aus, 9 % der römisch-katholischen, 5 % der christlichen Freikirchen (z. B. Methodist:innen), 17 % der anderen christlichen Gemeinschaften (Orthodoxe, Pfingstler:innen und Charismatiker:innen) und 10 % der Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Menschen ohne Religionszugehörigkeit machen inzwischen fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung aus. Nach den Analysen von Heinz Streib (2008) beinhaltet diese Identifikation mit der Kategorie «eher spirituell als religiös» eine Offenheit für vielfältige religiöse Erfahrungen und persönliche Entwicklung, für Fremdheit und interreligiösen Dialog sowie eine Ablehnung von Autoritarismus und religiöser Wahrheit. Zu beachten ist auch, dass in Deutschland diejenigen, die sich als spirituell bezeichnen, die Bezeichnung Esoterik eher ablehnen und sich davon distanzieren, im Gegensatz zu der in den USA anzutreffenden «Spiritualität». Diese ist gekennzeichnet durch den Glauben an eine nicht-materielle Dimension der Existenz und ist verbunden mit dem Glauben an höhere Wesen oder Kräfte in einer sehr umfassenden Weise. Sie wird als persönliche Erfahrung durch Praktiken wie Meditation gelebt.

Für die Schweiz liegen dank der eidgenössischen Volkszählung Daten zur Religionszugehörigkeit auf Bundesebene vor. Diese Daten umfassen die französische, deutsche, italienische und rätische Sprachregion des Landes. Sie werden seit 1850 erhoben und sind, in Ergänzung zu soziologischen Studien mit großen Stichproben,Footnote 32 sehr nützlich. Seit 2010 ist die umfassende dezentralisierte Volkszählung jedoch zwei Arten von Erhebungen gewichen. Zum einen gibt es eine Strukturerhebung bei einer Stichprobe von mindestens 20.000 Personen pro Jahr mit einer Frage zur Religion, zum anderen die BFS-Erhebung «Sprachen, Religionen, Kulturen», die alle fünf Jahre durchgeführt wird. Während die Strukturerhebung deutlich zeigt, dass die Kategorie der Personen ohne Religionszugehörigkeit stetig zunimmt (von knapp 1 % vor 50 Jahren auf ein Viertel der Bevölkerung heute), erfassen die thematischen ErhebungenFootnote 33 von 2014 und 2019 auf der Grundlage einer Stichprobe von rund 16.000Footnote 34 Personen mehr Nuancen. Neben einer starken Diversifizierung der Religionszugehörigkeit zeigt sich, dass sich religiöse Gruppen nach soziodemografischen Faktoren, insbesondere Nationalität und Geschlecht, unterscheiden. Die Strukturerhebungen beschreiben auch den Anteil der Schweizer Bevölkerung detaillierter,Footnote 35 der sich eher mit metaphysischen Überzeugungen und alternativen Spiritualitäten identifiziert. Seit dem Jahr 2000 enthält die BFS-Umfrage auch eine Frage zur Identifikation mit «spirituell». Dabei hat sich gezeigt, dass sich insbesondere Angehörige religiöser Minderheiten oft als spirituell bezeichnen und sich gleichzeitig als religiös betrachten.

Abschließend sei noch auf die Studie von Jörg Stolz et al. hingewiesen, die sowohl auf quantitativen als auch auf qualitativen DatenFootnote 36 beruht. Zwei Dimensionen wurden von den Autoren bevorzugt, um die Befragten zu kategorisieren: institutionelle Religiosität (christliche Kirche) und alternative Spiritualität (Distanzierung von der christlichen Kirche). Der Begriff der Spiritualität ist in diesem Schema stark mit der alternativen Sphäre verbunden. Anhand dieser beiden Dimensionen unterteilen die Autor:innen dann die Befragten in vier Typen. Die größte Gruppe (57 %) sind die Distanzierten (Personen, die zwar an eine höhere Macht, aber nicht unbedingt an Gott glauben und für die Religion keinen wichtigen Platz in ihrem Leben einnimmt), gefolgt von den Institutionellen (Kirchenmitglieder mit kirchlich-religiöser Praxis). Mit 17,5 % ist diese letzte Gruppe nur geringfügig größer als die alternative Gruppe (Personen, die eher von «Spiritualität» als von Religion sprechen: Esoterik, Wahrsagetechniken usw.), die 13,4 % ausmacht. Die kleinste Gruppe (11,7 %) besteht aus Säkularisierten (ohne Glaube oder religiöse Praxis). Diese Kategorisierung ist für unsere Studie sehr interessant, auch wenn sich die vorgeschlagenen Kategorien indirekt auf den Begriff der «Spiritualität» beziehen, und zwar durch die Erzählungen, die während der qualitativen Interviews gesammelt wurden. Wir werden im Folgenden auf diese Kategorisierung zurückkommen, um unsere Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen.

3.3 Wer sind die Spirituellen, die Religiösen, die «Religiös-Spirituellen» und die «Weder Religiösen noch Spirituellen» in der Schweiz?

Die Daten, die wir aus der MOSAiCH-UmfrageFootnote 37 gewinnen können, erlauben es uns, den Begriff der Spiritualität näher zu untersuchen und festzustellen, dass eine Assoziation ausschließlich mit dem «alternativen» Bereich – ob negativ oder positiv – in der gegenwärtigen religiösen Landschaft zu kurz greift. Dies setzt zum einen das Vorhandensein einer dominanten religiösen Norm im sozialen Bereich voraus. Die Forschenden gehen oft von einer historischen Norm aus, wonach sich religiöse Akteur:innen in unterschiedlichen strukturellen Positionen befinden, und «Etablierte»Footnote 38, das heißt mit dem Staat verbundene Akteur:innen, zentraler sind. Allerdings gibt es auch andere soziale Normen, welche zum Beispiel religiöse Akteur:innen, die mit der neoliberalen Logik unserer KonsumgesellschaftenFootnote 39 im Einklang stehen, bevorzugen.

Es scheint uns daher entscheidend bei der Analyse der Unterscheidung zwischen religiös und spirituell, den sozialen Kontext stärker zu berücksichtigen, das «Soziale» wieder einzuführen, wie Véronique Altglas und Matthew Wood schreiben.Footnote 40 Auch ist es wichtig, die Instrumente zu entwickeln, die es uns ermöglichen, diese Kategorien in zukünftige Analysen einzubeziehen. Es geht also darum, zu verstehen, was die Unterscheidung zwischen denen, die sich als religiös, sowie denen, die sich als spirituell bezeichnen, oder denen, die beides zu sein behaupten, aus soziologischer Sicht aussagt.

3.3.1 Gruppenbildung und Sprachfragen

Für die Analyse, die wir hier vorschlagen, sind wir von der Zustimmung zu den Aussagen ausgegangen, spirituell zu sein, ohne religiös zu sein, oder sowohl religiös als auch spirituell zu sein oder keines von beiden. Diese Unterscheidungen beruhen auf einer Frage aus dem MOSAiCH-Fragebogen, deren Wortlaut wir hier in drei Landessprachen wiedergeben (der Fragebogen wurde in der Schweiz in vier Landessprachen verteilt, aber die Zahl der rätoromanischen Antworten ist sehr klein, sodass wir dazu keine Aussagen machen können).

Übersicht

  • A.

  • (F) J’obéis aux préceptes religieux, et je considère que je suis une personne pleine de spiritualité, intéressée par le sacré ou le surnaturel.

  • (G) Ich bekenne mich zu einer Religion und betrachte mich als eine spirituelle Person, die sich für das Göttliche oder Übersinnliche interessiert.

  • (I) Seguo una religione e mi considero una persona spirituale interessata al sacro o al soprannaturale.

  • B.

  • (F) J’obéis aux préceptes religieux, sans pour autant considérer que je suis une personne pleine de spiritualité, intéressée par le sacré ou le surnaturel.

  • (G) Ich bekenne mich zwar zu einer Religion, betrachte mich aber nicht als eine spirituelle Person, die sich für das Göttliche oder Übersinnliche interessiert.

  • (I) Seguo una religione, ma non mi considero una persona spirituale interessata al sacro o al soprannaturale.

  • C.

  • (F) Je n’obéis à aucun précepte religieux, mais je considère que je suis une personne pleine de spiritualité, intéressée par le sacré ou le surnaturel.

  • (G) Ich bekenne mich zu keiner Religion, betrachte mich aber als eine spirituelle Person, die sich für das Göttliche oder Übersinnliche interessiert.

  • (I) Non seguo una religione, ma mi considero una persona spirituale interessata al sacro o al soprannaturale.

  • D.

  • (F) Je n’obéis à aucun précepte religieux et je considère que je ne suis pas non plus une personne pleine de spiritualité, intéressée par le sacré ou le surnaturel.

  • (G) Ich bekenne mich weder zu einer Religion noch betrachte ich mich als eine spirituelle Person, die sich für das Göttliche oder Übersinnliche interessiert.

  • (I) Non seguo nessuna religione e non mi considero una persona spirituale interessata al sacro o al soprannaturale.

Einige Bemerkungen zu den Formulierungen dieser Fragen und den Unterschieden in den drei Sprachen sind angebracht. In allen drei Sprachen wird der Begriff Religion unmittelbar mit zu befolgenden Geboten oder Richtlinien, mit Bekenntnis oder Gehorsam assoziiert. Die Begriffe deuten also auf eine passive Haltung hin. Andererseits schlägt die Formulierung vor, Spiritualität als eine persönliche Eigenschaft zu betrachten, die in den Bereich des Interesses fällt, Fülle bietet, dem Göttlichen, dem Heiligen, dem Übernatürlichen nahe ist. Darüber hinaus werden die Aussagen zur Spiritualität als Ausdruck einer individuellen Identität formuliert. Die Formulierungen enthalten also bereits ein Vorverständnis von den Begriffen Religion und Spiritualität und den unterschiedlichen semantischen Feldern, die sie eröffnen. Würde man versuchen, die Begriffe Spiritualität und Religion so zu ersetzen, dass sie umgekehrt assoziiert werden, würde man wahrscheinlich andere Antworten erhalten.

Eine weitere Schwierigkeit, die bei der Bearbeitung der Antworten Vorsicht gebietet, sind die unterschiedlichen Sprachen. In den deutschen und französischen Formulierungen beziehen sich die Begriffe auf die traditionelle religiöse Sprache. Religion wird im Französischen mit Geboten, die befolgt werden oder nicht, und im Deutschen mit dem Glaubensbekenntnis in Verbindung gebracht, während die italienische Version viel neutraler ist und nur die Tatsache erwähnt, dass man einer Religion folgt. Der Begriff des Spirituellen ist in dieser Frage mit einem Interesse am Heiligen oder Übernatürlichen im Französischen und Italienischen, am Göttlichen oder Übersinnlichen im Deutschen verbunden. Es ist offensichtlich, dass die Nuancen unterschiedlich sind. Es ist durchaus plausibel, bestimmte Ergebnisse, wie z. B. die höhere Zahl von Personen in der französischsprachigen Schweiz, die sich als spirituell bezeichnen, durch die unterschiedlichen Sensibilitäten zu erklären, die die Formulierung der Fragen anspricht.Footnote 41

Aufgrund der Antworten auf die obige FrageFootnote 42 wurden vier Gruppen (n = 2161) gebildet. Wir haben diese Gruppen auf einem Kontinuum angeordnet, welches mit den ausschließlich Religiösen beginnt, dann über diejenigen, die Religiöses und Spirituelles kombinieren, und die ausschließlich Spirituellen reicht und mit der Gruppe von Menschen endet, die sich von beiden Optionen distanzieren:

  1. 1.

    Die nicht-spirituellen Religiösen (RnS, n = 725) sind diejenigen, die sich mit der Aussage A identifizieren. Dies ist die größte Gruppe in unserer Analyse, obwohl sie seit der MOSAiCH-Erhebung 2009Footnote 43 von 40 % auf 34 % zurückgegangen ist (siehe Abb. 3.1). Sowohl inhaltlich als auch von der Größe her ist diese Gruppe mit den «Distanzierten» in der Studie von Jörg Stolz et al. vergleichbar, da sie aus Personen besteht, die eine gewisse formale Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe beanspruchen, ohne ihr notwendigerweise innig anzugehören. Fast die Hälfte der Distanzierten (49 %) gab an, «religiös, aber nicht spirituell» zu sein. Das soziodemografische Profil dieser Gruppe ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass mit 51 % Männern das Geschlecht fast gleichmäßig verteilt ist; ein deutlicher Unterschied zu anderen Gruppen. Diese Gruppe zeichnet sich auch durch die höchste Anzahl von Rentner:innen aus (27 %), obwohl das mediane Alter nicht das höchste ist (52 Jahre). Auch im Vergleich zu den anderen Gruppen finden wir hier die höchste Anzahl von Personen, die auf dem Land leben (57 %) und die in einer Partnerschaft leben (58 %), aber die niedrigste Anzahl von Personen mit einem Hochschulabschluss (24 %)Footnote 44.

  2. 2.

    Die Religiösen und Spirituellen (RS, n = 341) bevorzugen Aussage B. 15,8 % der Stichprobe wählten diese Antwort. Diese Gruppe ist mit den Institutionellen der Studie von Jörg Stolz et al. (2014/5) vergleichbar, denn es geht um die Befolgung religiöser Gebote, die also von einer Institution vorgegeben werden. Im Gegensatz zur Studie von Stolz et al. sehen wir hier, dass der Begriff der Spiritualität auch innerhalb einer religiösen Institution verortet werden kann. In diesem Fall handelt es sich um eine enge Bindung an die Überzeugungen, Dogmen oder das Leben der religiösen Institution. Die Größe dieser Gruppe ist seit 2009, als sie 20 % betrug, geschrumpft. Sie ist überwiegend weiblich (59 %) und älter (Median 54 Jahre). Fast ein Viertel dieser Bevölkerung war zum Zeitpunkt der Erhebung im Ruhestand (24 %). Mehr als die Hälfte dieser Gruppe lebt in einer Partnerschaft (56 %) und nur 18 % sind alleinstehend, was der niedrigste Anteil aller Gruppen ist. Die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe, die hauptsächlich in Dörfern lebt, stammt aus der Deutschschweiz (80 %), während die Zahl der Personen aus der Romandie im Vergleich zu den anderen Gruppen am geringsten ist (13 %). Mit 30 % der Personen, die einen Hochschulabschluss haben, zeichnet sich diese Gruppe im Vergleich zu den anderen Gruppen auch durch die höchste Anzahl von Personen mit einem niedrigen persönlichen Einkommen aus (36 % verdienen weniger als 3800 FrankenFootnote 45 pro Monat und nur 26 % erhalten mehr als 6300 Franken pro Monat), was sich durch die höhere Anzahl von Frauen und Rentner:innen in dieser Gruppe erklären lässt.

  3. 3.

    Wir bezeichnen diejenigen, die mit C geantwortet haben, als spirituell, aber nicht religiös (SnR, n = 490). Sie machen 23 % der Gesamtbevölkerung aus, ein Prozentsatz, der seit 2009 gestiegen ist, als er nur 19 % betrug. Wir betrachten diese Gruppe als ähnlich wie die «Alternativen» in der Studie von Jörg Stolz et al. (2014/5): 39 % davon sehen sich als «spirituell, aber nicht religiös». In dieser Gruppe ist der Anteil der Frauen mit 62 % am höchsten. Diese Überzahl wurde auch bei den Alternativen in der Studie von 2015 festgestellt (Stolz et al.). Auch hier handelt es sich um jüngere Personen (Durchschnittsalter = 45 Jahre) als bei den beiden vorherigen Gruppen. Daraus ergibt sich, dass die meisten von ihnen berufstätig sind (66 %), weniger sind im Ruhestand (11 %) und ein etwas höherer Anteil befindet sich zum Zeitpunkt der Umfrage in der Aus- oder Weiterbildung (9 %). Diese Gruppe hat die höchste Anzahl von Personen (37 %) mit einem Hochschulabschluss. Obwohl sie erwerbstätig und jung sind, gibt es auch hier mehr Personen (23 %), die über ein persönliches Einkommen von weniger als 2700 Franken pro Monat verfügen, als in den anderen drei Gruppen. Die «Spirituellen» zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie im Vergleich zu den anderen drei Gruppen die geringste Anzahl von Personen haben, die in einer Partnerschaft leben (37 %), und die höchste Anzahl von Geschiedenen (12 %). Eine weitere Besonderheit dieser Gruppe ist der höhere Anteil an Einwohner:innen der Romandie (34 % der Bevölkerung der Romandie). Dies ist der höchste Anteil im Vergleich zu den anderen Gruppen.

  4. 4.

    Schließlich sind die «weder religiös noch spirituellen» (NN, n = 605)Footnote 46 Menschen diejenigen, die der Aussage D zustimmen. Dies ist die zweitgrößte Gruppe, die 28 % ausmacht und seit 2009 am meisten zugenommen hat (21 %). Sie liegt nahe bei der Gruppe der «Säkularen» in der Studie von Stolz et al., die überwiegend mit «weder religiös noch spirituell» antworteten. In beiden Studien waren die meisten Angehörigen dieser Gruppe männlich. Obwohl das Geschlecht in deutlichem Gegensatz zu den «spirituell-nicht religiösen» steht, haben beide Gruppen viele soziodemografische Merkmale gemeinsam. Erstens das Alter: Diese Bevölkerungsgruppe ist genauso jung wie die vorherige (Medianalter = 45 Jahre). Die meisten von ihnen sind berufstätig (68 %), es gibt nur wenige Rentner:innen (13 %) und sie haben einen hohen Bildungsgrad: 37 % der Befragten haben einen Hochschulabschluss. Die Zahl der Alleinstehenden (ein Drittel) und Geschiedenen (12 %) ist fast gleich hoch und fast ein Drittel (30 %) lebt in der Westschweiz. Ein Merkmal dieser Gruppe ist, dass mehr Menschen in Städten leben: insgesamt 57 %, von denen wiederum 17 % in Großstädten leben, der höchste Anteil aller Gruppen. Ein weiteres Merkmal ist, dass es mehr Personen (39 %) mit einem Einkommen von mehr als 6’300 Franken pro Monat und deutlich weniger Personen (16 %) mit einem niedrigen persönlichen Nettoeinkommen (weniger als 2’700 Franken) gibt.

3.3.2 Der Erfolg des Begriffs des Spirituellen

Wenn wir die Befragten aus der Umfrage 2018 zusammenfassen, wählen insgesamt etwa 49 % unserer Stichprobe (ausschließlich oder nicht) den Begriff religiös und 51 % den Begriff spirituell. Im Jahr 2009 betrug das Verhältnis 60 zu 39. Die Tendenz, sich als «religiös-nicht-spirituell» zu bezeichnen, ist jedoch am stärksten rückläufig, während «spirituell-nicht-religiös» und «weder/noch» deutlich zunehmen. Die «religiösen» und «spirituellen» Gruppen überschneiden sich teilweise, aber in einer Bewegung, in der das Religiöse abnimmt und das Spirituelle zunimmt, wenn es nicht mit dem Religiösen verbunden ist.Footnote 47

Dieser Abwärtstrend bestätigt sich auch für die «institutionellen» und «distanzierten» Gruppen der Studie von Jörg Stolz et al. (2014/5), allerdings nur, wenn wir die distanzierte Gruppe betrachten, die sich als «nicht-spirituell, religiös» (RnS) bezeichnet. Andererseits haben die beiden anderen Gruppen, die mit «alternativ» (hier die spirituelle Gruppe) und «säkular» (vierte Gruppe) übereinstimmen könnten, zugenommen. Insgesamt steigt die Zahl der Menschen, die sich als spirituell bezeichnen, unabhängig davon, ob sie einer Religion angehören oder nicht, ganz leicht an. Diese Daten stimmen weitgehend mit den Beobachtungen von Stolz und Senn überein, die im vorliegenden Band über den Säkularisierungsprozess in der Schweiz berichten, allerdings liegt dort der Schwerpunkt auf der Unterscheidung zwischen spirituell und religiös.Footnote 48

Im Folgenden wird eine Analyse der religiösen Profile der vier Gruppen vorgestellt, die durch eine Reihe von Fragen zu Mitgliedschaft, Glaube und Praktiken ermittelt wurden. Dazu zeigen wir einige Ergebnisse unserer vergleichenden Analyse dieser vier Gruppen zu verschiedenen Themen (subjektive Gesundheit, Fatalismus, Glück usw.), wobei auch soziodemografische Faktoren berücksichtigt werden. Insgesamt ist dabei zu beachten, dass die MOSAiCH-Stichprobe eine Verzerrung zugunsten der Schweizer:innen enthält, deren Anteil höher ist als im Schweizer Durchschnitt.Footnote 49 Dies deutet darauf hin, dass bei diesen Analysen die Menschen mit Migrationshintergrund, die einen großen Teil der religiösen Vielfalt des Landes ausmachen, wahrscheinlich nicht ausreichend berücksichtigt werden: Für die Minderheitengruppen – sowohl sprachliche als auch religiöse – sind die Zahlen zu gering, um eine Analyse zu ermöglichen.

3.4 Religiöse Zugehörigkeit, Praktiken und Überzeugungen der vier Gruppen

3.4.1 Religiös, aber nicht spirituell (RnS): Tradition und Abstand

Die nicht-spirituellen Religiösen sind die einheitlichste Gruppe in Bezug auf die Religionszugehörigkeit. Diese Gruppe setzt sich hauptsächlich aus Christ:innen zusammen, in erster Linie aus Katholik:innen (48 %) und dann aus Reformierten (39 %). Die restlichen 10 % verteilen sich fast gleichmäßig auf orthodoxe Christ:innen (3 %) und Muslime (2 %). Die anderen Religionszugehörigkeiten machen jeweils weniger als 1 % aus.

Obwohl sich die Befragten in dieser Gruppe als religiös bezeichnen, herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber religiösen Überzeugungen. Nur 19 % sind von der Existenz Gottes überzeugt, während 32 % eher an eine Art höhere Macht als an einen persönlichen Gott glauben. Mehr als ein Drittel dieser Gruppe (36 %) gibt an, dass sie manchmal Zweifel haben und nur zu bestimmten Zeiten an Gott glauben, zu anderen nicht. Außerdem sind 9 % der Befragten Agnostiker:innen und 4 % glauben überhaupt nicht an Gott. Die eher gegenüber christlichen Glaubensaussagen skeptische Position dieser Gruppe im Vergleich zu den Menschen, die sich zusätzlich als spirituell bezeichnen, zeigt sich in dem viel geringeren Anteil derer, die an ein Leben nach dem Tod, an den Himmel, an religiöse Wunder und noch weniger an die Hölle oder an übernatürliche Kräfte der verstorbenen Vorfahren glauben (siehe Tab. 3.1). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass nur wenige Menschen in dieser Frage eine feste Überzeugung haben: Die Antwortquote für «wahrscheinlich» ist drei bis vier Mal höher als für «sicher». Zwar glaubt gut die Hälfte dieser Gruppe, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes ist, aber nicht wörtlich genommen werden sollte (55 %), aber ein Drittel dieser Gruppe (35 %) hält die Bibel eher für ein altes Buch mit Geschichten, Legenden und Moralvorstellungen, und die Zahl derer, für die die Bibel das eigentliche Wort Gottes enthält und wörtlich genommen werden sollte, ist viel geringer als bei der religiös-spirituellen Gruppe (nur 3 %). Eine Identifikation mit dem Spirituellen, wie sie in der Auswahl dieses Artikels formuliert ist, auszuschließen, bedeutet in der Tat, ein Interesse, eine gläubige Identität mit dem Göttlichen, dem Übernatürlichen, dem Sakralen auszuschließen.

Tab. 3.1 Glaubensüberzeugungen
Tab. 3.2 Häufigkeit der religiösen/spirituellen Praktiken

Religiöse Zweifel und eine gewisse Schwäche der religiösen Überzeugungen gehen bei den «religiös nicht-spirituellen» Befragten mit einer geringeren Gebetspraxis und einem selteneren Besuch von Gottesdiensten einher: Nur 15 %Footnote 50 beten mindestens einmal am Tag, 41 % tun dies nur einmal oder einige Male im Jahr und 17 % beten nie. Was die Teilnahme an Gottesdiensten betrifft (ohne besondere Anlässe wie Hochzeiten oder Beerdigungen), so besucht die Hälfte der Befragten diese einmal im Jahr, 17,6 % nie, fast 10 % ein- bis dreimal im Monat und nur 4 % mindestens einmal pro Woche. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass von den «religiös nicht-spirituellen» Menschen nur 21 % sagen, dass sie den Kirchen oder anderen religiösen Organisationen sehr oder vollständig vertrauen, während 30 % ihnen wenig oder gar nicht vertrauen.Footnote 51 Wir haben es hier also mit einer Haltung zu tun, die man durchaus als distanziert bezeichnen kann, ohne dass distanziert spirituell bedeutet.

Abb. 3.1
figure 1

Entwicklung zwischen 2009 und 2018

In der Studie von Jörg Stolz et al. identifizierten sich etwa eine Hälfte der Institutionellen mit «religiös und spirituell» (47 %) die andere mit «religiös, aber nicht spirituell» (48 %).Footnote 52 Die Autor:innen fanden in den Antworten, die sie durch die qualitative Erforschung erhielten, Interpretationshinweise für diese doppelte Identifikation. Sie bemerkten eine negative und eine positive Sichtweise des Begriffs der Spiritualität je nachdem ob der Begriff «spirituell» mit magischen, obskurantistischen und esoterischen Praktiken in Verbindung gebracht wurde oder nicht. In Bezug auf die sogenannten «alternativen» Überzeugungen und Praktiken haben wir in unserer Analyse festgestellt, dass die Hälfte der «religiösen Nicht-Spirituellen» angibt, dass Glücksbringer manchmal Glück bringen,Footnote 53 mehr als ein Drittel glaubt an Astrologie, und ein gutes Drittel glaubt, dass manche Heiler:innen gottgegebene Kräfte haben (siehe Tab. 3.1). Im Gegensatz zur Gruppe der «spirituell-religiösen» Menschen ist es jedoch unwahrscheinlicher, dass diese Gruppe an Reinkarnation und Nirvana glaubt. Ebenso üben nur sehr wenige Befragte in dieser Gruppe regelmäßig Meditation, Yoga, Tai Chi oder Qi Gong aus (siehe Tab. 3.2). Andererseits besteht ein gewisses Interesse an alternativen Arzneimitteln wie Homöopathie, Ayurveda und chinesischer Medizin, da ein gutes Viertel von ihnen diese «einmal pro Woche oder öfter» bis «einige Male im letzten Jahr» gebraucht hat.

3.4.2 Religiös und spirituell (RS): Intensität und Zugehörigkeit

Die Gruppe «Religiös und spirituell» besteht zwar hauptsächlich aus Monotheist:innen, aber vor allem aus Zugehörigen christlicher Kirchen, allen voran Katholik:innen (43 %), gefolgt von Reformierten (26 %) und Zugehörigen evangelikaler Kirchen. Mit 12 % ist der Anteil der Evangelikalen in dieser Stichprobe im Vergleich zu den anderen drei Gruppen am höchsten. Das viertgrößte Segment in dieser Gruppe (8 %) sind die Muslime. Es folgen die orthodoxen Christ:innen mit 2 % und die anderen Konfessionen mit jeweils weniger als 1 %.

Da die Gruppe fast ausschliesslich von Angehörigen monotheistischer Religionen geprägt ist,Footnote 54 geht damit eine gewisse Konvergenz der Überzeugungen einher. Mehr als die Hälfte dieser Gruppe (61 %) ist von der Existenz Gottes überzeugt und zweifelt nicht daran. Für 78 % der Befragten (Antworten «stimme zu» und «stimme eher zu») hat dieser Gott ein persönliches Interesse an jedem Menschen. Wie stark der Glaube an Gott ist, zeigt sich auch an der relativ großen Anzahl von Menschen, die der Aussage zustimmen, dass das Leben nur deshalb sinnvoll ist, weil es Gott gibt.Footnote 55 Fast alle Befragten in dieser Gruppe glauben auch an ein Leben nach dem Tod, an den Himmel und an religiöse WunderFootnote 56 (siehe Tab. 3.1). Mehr als die Hälfte dieser Gruppe glaubt an die Hölle und an die übernatürlichen Kräfte der verstorbenen Vorfahren (Tab. 3.1). Während die meisten dieser Gruppe (62 %) der Meinung sind, dass die Bibel das inspirierte Wort Gottes darstellt, aber nicht wörtlich genommen werden sollte, vertritt ein beträchtlicher Anteil (17 %) in diesem Punkt eine sehr strikte Haltung und glaubt, dass die Bibel das eigentliche Wort Gottes ist und wortwörtlich genommen werden sollte.

Wie die «Institutionellen» in der Typologie von Jörg Stolz et al.Footnote 57 misst diese Gruppe ihrer religiösen Praxis große Bedeutung bei: Nur 4 % antworten, dass sie nie beten, und 13 % tun dies selten (einmal oder ein paar Mal im Jahr), während etwa jede:r Dritte (29 %) mehrmals am Tag und jede:r Fünfte (19 %) einmal am Tag betet. Fast die Hälfte der «religiösen und spirituellen» Personen nimmt regelmäßig an Gottesdiensten teil (wobei besondere Anlässe wie Hochzeiten oder Beerdigungen nicht mitgezählt werden): 26 % tun dies einmal oder mehrmals pro Woche und 19 % mindestens einmal im Monat. Die Befragten dieser Gruppe sind auch in ihren Religionsgemeinschaften gut eingebunden und nehmen regelmäßig an Aktivitäten und Veranstaltungen außerhalb der Gottesdienste teil.Footnote 58 Gleich zu Beginn zeigt sich, dass die «Religiösen und Spirituellen» gut in ihre Religionsgemeinschaften integriert sind und Vertrauen in ihre religiösen Institutionen haben: 47 % geben an, dass sie sehr großes oder völligesFootnote 59 Vertrauen haben.

Trotz ihres recht traditionellen monotheistischen Profils steht ein Großteil dieser Gruppe den verschiedenen Glaubensrichtungen und Praktiken, die in den vorangegangenen Studien als alternativ angesehen wurden, recht offen gegenüber: Fast die Hälfte glaubt, dass Glücksbringer manchmal Glück bringen, und akzeptiert, dass Sternzeichen den Verlauf des Lebens einer Person beeinflussen können (Tab. 3.1). Fast zwei Drittel glauben, dass manche Heiler:innen gottgegebene Kräfte haben, und mehr als ein Drittel glaubt an Reinkarnation und ist der Meinung, dass manche Hellsehende die Zukunft vorhersagen können (Tab. 3.1). Diese Offenheit für alternative Überzeugungen wird auch durch die Tatsache bestätigt, dass fast ein Viertel der Gruppe an das Nirvana glaubt. Diese Tatsache ist überraschend, da die Zahl der Personen, die sich als Buddhist:innen und Hindus bezeichnen, in dieser Gruppe sehr gering ist.Footnote 60 Wir können auch feststellen, dass das Interesse an Meditation ziemlich groß ist (Tab. 3.2). Darüber hinaus nimmt mehr als ein Drittel der «religiösen und spirituellen» Gruppe regelmäßig alternative Arzneimittel wie Homöopathie, Ayurveda und chinesische Medizin in Anspruch (Tab. 3.2). Die Befragten in dieser Gruppe lesen auch am häufigsten Bücher oder Zeitschriften, die sich mit Spiritualität oder Esoterik befassen: 32 % haben dies im letzten Jahr mindestens ein paar Mal getan.

In dieser Gruppe laufen also verschiedene Überzeugungen zusammen. Traditionelle und institutionelle Inhalte koexistieren mit populären, alternativen Glaubensvorstellungen. Es folgt die doppelte Identifikation mit den beiden Kategorien religiös und spirituell.Footnote 61 Angesichts der hohen Präsenz von Evangelikalen und Muslimen in dieser Kategorie ist es möglich, dass «spirituell sein» für diese Gruppe eine intensive religiöse Praxis und starke religiöse Überzeugungen bedeutet. Was in dieser Gruppe zu fehlen scheint, sind esoterische, orientalische oder ganzheitliche Praktiken: nur 11 % praktizieren regelmäßig (wöchentlich oder mehrmals im Monat) Yoga, Tai Chi oder Qi Gong (Tab. 3.2).

3.4.3 Nicht-religiöse Spirituelle (NRS): Verschiebung der Grenzen

Wie erwartet, gab ein Großteil (57 %) dieser Gruppe an, keiner Religion anzugehören. Diejenigen, die sich mit einer der Religionen identifizieren, sind, wie in allen anderen Gruppen, mehrheitlich Katholik:innen (20 %), gefolgt von Reformierten (15 %). Dann finden wir Buddhist:innen, was nicht überrascht, da der Buddhismus von seinen westlichen Anhängern oft nicht als Religion betrachtet wird. Mit einem eher geringen Prozentsatz (3 %) liegen sie dennoch an dritter Stelle in dieser Gruppe. Darüber hinaus betrachten sich mehr als die Hälfte aller Buddhist:innen (die an dieser Umfrage teilgenommen haben) als nicht religiös, aber als spirituell. Ein großer Teil davon sind Buddhist:innen mit Schweizer Staatsangehörigkeit (77 %), vielleicht bekehrte Schweizer:innen oder eingebürgerte Migrant:innen, die schon lange im Land leben. Bei den anderen Religionsgemeinschaften liegt der Anteil der Befragten, die sich zugehörig fühlen nicht über 1 %.

Es überrascht nicht, dass mehr als die Hälfte dieser Nicht-religiösen Spirituellen (52 %) erklärt, dass sie nicht an einen persönlichen Gott, sondern an eine Art höhere Macht glaubt; nur ein kleiner Teil (11 %) dieser Gruppe glaubt an Gott und zweifelt nicht an ihm. 12 % nehmen eine agnostische Haltung ein und 11 % leugnen die Existenz Gottes ganz. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod (67 % der Antworten «sicher» und «wahrscheinlich»), an die übernatürlichen Kräfte der verstorbenen Vorfahren (55 %), an die Reinkarnation (50 %), an das Nirwana (35 %) und an religiöse Wunder (47 %) ist dagegen in dieser Bevölkerungsgruppe sehr weit verbreitet, während der Glaube an den Himmel (38 %) und die Hölle (17 %, vgl. Tab. 3.1) weniger verbreitet ist. Es überrascht auch nicht, dass dieser Teil der Bevölkerung der Bibel eher skeptisch gegenübersteht: Mehr als die Hälfte (55 %) hält die Bibel eher für ein uraltes Buch mit Geschichten, Legenden und Moralvorstellungen. Dennoch hält fast ein Drittel der Gruppe (31 %) die Bibel für das inspirierte Wort Gottes, das jedoch nicht wörtlich zu nehmen ist. In Bezug auf andere Arten von religiösen Überzeugungen glaubt diese Gruppe, wie auch die «Alternativen»Footnote 62, eher als die beiden vorherigen Gruppen an die Wirksamkeit von Glücksbringern (59 % der Antworten «trifft absolut zu» und «trifft wahrscheinlich zu»), an Astrologie (54 %) und an die Vorhersagen von Wahrsagenden (43 %). Dies deutet darauf hin, dass sich der Begriff «spirituell» für diese Gruppe in keiner Weise auf einen Glauben an Gott bezieht, während religiöse und spirituelle Menschen den Glauben an Gott mit dem Begriff «spirituell» verbinden. Was die Praktiken betrifft, so zeigt sich auch, dass ein Großteil dieser Gruppe nicht häufig betet: 40 % beten nie, 32 % einmal oder einige Male im Jahr. Dies gilt auch für die Teilnahme an Gottesdiensten: Mehr als die Hälfte (58 %) geht nie, und nur 1 % geht mehr oder weniger regelmäßigFootnote 63 zum Gottesdienst. Diese Abkehr von traditionellen Praktiken wird durch ein weiteres Merkmal der «nicht-religiösen, aber spirituellen» Menschen verstärkt: das mangelnde Vertrauen in Kirchen und religiöse Einrichtungen. Die vorliegende Umfrage zeigt, dass nur 5 % dieser Gruppe starkes oder absolutes Vertrauen in Kirchen und religiöse Einrichtungen haben, während etwa zwei Drittel kein (30 %) oder nur ein sehr geringes (37 %) Vertrauen haben.

Andererseits sind Praktiken wie Meditation oder Yoga für die Befragten in dieser Gruppe sehr bedeutsam. So wird Meditation von fast einem Drittel dieser GruppeFootnote 64 und Yoga, Tai Chi und Qi Gong von einem Viertel der nicht-religiösen Spirituellen regelmäßig praktiziert (Tab. 3.2). Diese Menschen greifen auch viel häufiger als die anderen Gruppen zu alternativer MedizinFootnote 65 und nutzen Literatur und Zeitschriften zu Spiritualität oder Esoterik.Footnote 66

Die Kategorie der nicht-religiösen Spirituellen kann mit dem in der US-amerikanischen Literatur als metaphysische Religion bezeichneten Begriff in Verbindung gebracht werden, der auf eine recht heterogene Gruppe von Menschen hinweist, die sich von den etablierten Religionen distanzieren, aber an eine höhere Macht glauben und religiöse Erfahrungen stark mit der Erfahrung von Wohlbefinden und Heilung in Verbindung bringen.

3.4.4 Nicht religiös – nicht spirituell (NN): in Richtung Säkularität

Wie nicht anders zu erwarten, erklären sich fast drei Viertel der Gruppe der Nicht-Religiösen und Nicht-Spirituellen (72 %) als «religionslos» und ein Viertel als Mitglied einer religiösen Organisation. Letztere sind hauptsächlich Reformierte und Katholik:innen (jeweils 13 %). Weitere 1 % entfallen auf orthodoxe Christ:innen, und die anderen Konfessionen machen jeweils weniger als 1 % aus. Obwohl diese Gruppe Religion und Spiritualität insgesamt ablehnt, ist sie weder homogen noch fest in dieser Überzeugung: Nur 40 % sagen, dass sie nicht an Gott glauben, 22 % sind Agnostiker:innen, 27 % glauben noch an eine höhere Macht, 6 % glauben manchmal an Gott und manchmal nicht, 3 % haben Zweifel, glauben aber auch noch an Gott, und 2 % sind überzeugt, dass Gott existiert. Während der Großteil dieser Gruppe alles Religiöse im Allgemeinen ablehnt, bestätigt mehr als jede fünfte Person, dass sie an ein Leben nach dem Tod glaubt («ja, auf jeden Fall» und «ja, wahrscheinlich»), fast jede Siebte glaubt an den Himmel, jede Achte an Wunder und jede Zehnte an die Reinkarnation (Tab. 3.1). Außerdem sind in dieser Gruppe esoterische Überzeugungen vergleichsweise beliebter als andere Überzeugungen: 38 % glauben an die Wirksamkeit von Glücksbringern, 25 % an die Astrologie und 15 % an die Vorhersagen von Wahrsagenden (Tab. 3.1).

Obwohl die überwiegende Mehrheit (78 %) der weder religiös noch spirituellen Menschen nie betet, gibt etwa ein Viertel zu, dies von Zeit zu Zeit zu tun. Im Vergleich zu den anderen drei Gruppen sind die Befragten dieser Gruppe sehr wenig an Meditation, Yoga, Tai Chi, Qi Gong interessiert; sie nehmen auch weniger alternative Medizin in Anspruch als die anderen Gruppen (Tab. 3.2). Die areligiöse oder sogar antireligiöse Haltung (hier sehen wir die Parallele zu den «Säkularisierten» in der Typologie von Jörg Stolz et al. 2015) wird auch durch die Haltung des Misstrauens gegenüber den Kirchen und religiösen Institutionen bestätigt: Drei Viertel dieser Personen haben kein oder sehr wenig Vertrauen in sie und 23 % nur «etwas» Vertrauen.

Die beiden folgenden Tabellen, in denen die Ergebnisse für die religiösen Überzeugungen und Praktiken der vier Gruppen zusammengefasst sind, zeigen die unterschiedlichen Antworten und somit sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten.

3.5 Querschnittsprofile

In diesem Abschnitt wird ein Vergleich der soziodemografischen Profile der vier Gruppen vorgestellt, um zu untersuchen, welche Rolle bestimmte strukturelle Faktoren bei der Verteilung der Stichprobe auf diese Gruppen spielen.

Aus der Analyse geht zunächst hervor, dass sich die strukturellen Faktoren Alter, Geschlecht, Sprachregion und Bildung auf die Zusammensetzung der Gruppen auswirken. Während die beiden Gruppen, die sich mit «religiös» identifizieren (R und RS), mehr aus älteren Menschen bestehen (Durchschnittsalter 54 bzw. 52 Jahre und ein hoher Anteil an Rentner:innen), sind die ausschließlich spirituellen und die weder religiösen noch spirituellen Gruppen jünger (Durchschnittsalter = 45 in beiden Gruppen). Die Selbstidentifikation mit der Religion nimmt also mit dem Alter zu. Auch wenn die Bedeutung des religiösen Glaubens und das Interesse daran bei einem Teil der Befragten gering ist (dies gilt für die erste Gruppe der religiösen, aber nicht spirituellen Menschen), stellen wir einmal mehr fest, dass religiöse Bezüge für die kulturelle Identifikation der älteren Generationen in der Schweiz wichtig sind.Footnote 67 Was die Identifikation mit dem Begriff des Spirituellen betrifft, so können wir zwei Tendenzen annehmen. Einerseits gibt es einen Teil der Bevölkerung, für den Religion und Spiritualität komplementär sind: Dies ist die eher ältere Bevölkerung (mit Ausnahme bestimmter religiöser Minderheitengruppen wie Evangelikale und Muslime). Auf der anderen Seite sind es ausschließlich spirituelle, jüngere Menschen, die sich mit Spiritualität identifizieren und Religion ablehnen. Dieser Trend folgt den Tendenzen, die in mehreren anderen westeuropäischen LändernFootnote 68 und in den USA zu beobachten sind.Footnote 69

Was das Geschlecht betrifft, so bezeichnen sich zwar Männer und Frauen gleichermaßen als religiös, aber es gibt deutlich mehr Frauen, die sich als spirituell bezeichnen, unabhängig davon, ob sie auch religiös sind oder nicht, und deutlich mehr Männer, die sich mit keinem der beiden Bereiche identifizieren (Abb. 3.2).Footnote 70 Diese Beobachtung deckt sich auch mit den Daten einer Studie, die in der SchweizFootnote 71 und anderen westlichen LändernFootnote 72 durchgeführt wurde.

Abb. 3.2
figure 2

Verteilung des Geschlechts auf die vier Gruppen

Neben Alter und Geschlecht gibt es auch einen Unterschied im Bildungsniveau zwischen «nicht-religiöse Spirituellen» und nicht-religiösen Personen (ausschließlich spirituell und weder noch). Unsere Analysen zeigen, wie auch andere Studien, dass sowohl die «nicht-religiösen Spirituellen» als auch die Säkularen (weder noch) gebildeter sind als die beiden sogenannten «religiösen» Gruppen (p< 0,001, Cramer’s V = 0,13).

Schließlich haben wir auch festgestellt, dass es einen geringen statistisch signifikanten Unterschied zwischen der Verteilung der GruppenFootnote 73 nach Sprachregionen gibt (p< 0,001, Cramer’s V = 0,16). Die beiden religiösen Gruppen (R und RS) setzen sich überwiegend aus Personen (80 %) aus der Deutschschweiz zusammen, während es deutlich weniger Personen aus der Westschweiz gibt (Abb. 3.3). Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die in den drei Landessprachen verwendeten Begriffe unterschiedliche Konnotationen mit sich bringen. Die italienische Übersetzung enthält eine neutralere und daher wahrscheinlich einheitlichere Auffassung des Begriffs «religiös». Im Deutschen wird das Spirituelle eher mit dem Göttlichen und Übernatürlichen assoziiert, was von vornherein weniger Menschen anspricht. Darüber hinaus wirkt sich die Verwendung des Verbs «gehorchen» in der französischen Fassung wahrscheinlich abstoßend auf die Wahl von Französischsprachigen, insbesondere von Jugendlichen, aus. Laut Larousse bedeutet das französische Verb «obéir» Unterwerfung unter den Willen einer Person, einer Regel oder einer Kraft, während das italienische Verb «seguire» eine neutralere Bedeutung hat (folgen) und der deutsche Begriff «bekennen» eine eher enge – monotheistische – religiöse Konnotation beinhaltet.

Abb. 3.3
figure 3

Aufschlüsselung der vier Gruppen nach Sprachgebieten

Abb. 3.4
figure 4

Religionszugehörigkeit nach Identifikation mit vier spirituellen/religiösen Gruppen

Der Faktor Bildung hängt mit dem Alter und dem Geschlecht zusammen. Wir haben festgestellt, dass es sich vor allem um junge, städtische Männer mit einem hohen Bildungsniveau und einem guten Gehalt handelt, die keiner Religion angehören und sich nicht als religiös oder spirituell bezeichnen. Diese Gruppe unterscheidet sich von den ausschließlich spirituellen Menschen, die über ein niedrigeres Durchschnittseinkommen verfügen, in weniger städtischen Gebieten leben und meist Frauen sind. Die Personen, die sich als religiös und spirituell oder nur religiös bezeichnen, sind älter, fast genauso viele Frauen wie Männer (der Anteil der Frauen ist bei den RS höher, aber da die gesamte Stichprobe eine höhere Anzahl von Frauen aufweist, ist dies für uns von geringer Bedeutung), weniger urban, weniger gebildet und leben nicht allein.

Neben den Unterschieden in den Inhalten der religiösen Überzeugungen und Praktiken ist es interessant, die Verteilung der Religionszugehörigkeit in unseren vier Gruppen genauer zu betrachten. Obwohl religiöse Minderheiten in dieser Umfrage nicht sehr präsent sind, können wir feststellen, dass die Religionszugehörigkeit auch bei der Identifikation mit dem Spirituellen oder Religiösen eine Rolle spielt. So können wir in Abb. 3.4 einen Unterschied zwischen verschiedenen Christ:innen erkennen. Katholik:innen identifizieren sich etwas häufiger sowohl mit religiös als auch mit spirituell, ebenso wie die meisten Evangelikalen und Muslime. Reformierte und Orthodoxe lehnen sowohl die religiöse als auch die spirituelle Seite etwas häufiger ab. Diese Daten decken sich mit den Beobachtungen von Soziolog:innen, die zeigen, dass die reformierte Kirche in der Schweiz immer mehr Gläubige verliert, während die katholische und die evangelikalen Kirchen der Säkularisierungswelle besser standhalten können.Footnote 74

Was die Buddhist:innen betrifft, so scheinen sie den Begriff spirituell mehr zu mögen als den Begriff Religion. Wir haben jedoch nur wenige Buddhist:innen in unserer Stichprobe, und außerdem sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit bekehrte Schweizer (mindestens 77 %).Footnote 75

Fasst man die Analyse der Profile der vier Gruppen zusammen, so wird deutlich, dass die Trennlinie zwischen denjenigen, die sich als spirituell, und denjenigen, die sich als religiös bezeichnen, sozial durch strukturelle Faktoren geprägt ist. Aus diesen Analysen lässt sich in Bezug auf die strukturellen Faktoren kurz zusammenfassen:

  • Für die Identifikation mit dem Begriff Spiritualität ist das Geschlecht wichtig. Frauen identifizieren sich mehr damit.

  • Bei der Frage, wer sich mit dem Begriff Religion identifiziert, ist das Alter ausschlaggebend; je höher das Alter, desto wahrscheinlicher ist eine solche Identifikation.

Wenn also die Identifikation mit dem Begriff Spiritualität zunimmt, kann man sich vorstellen, dass es sich um Menschen handelt, die innovativ sind und den traditionellen Rahmen der Religion sprengen. Sie stellen den Wandel in der religiösen Landschaft dar, den es ernst zu nehmen gilt. Die Forschung im Bereich Gesundheit und Wohlbefinden unterstreicht, wie wichtig es ist, den Begriff des Spirituellen in differenzierter Weise zu berücksichtigen. Im folgenden Abschnitt stellen wir abschließend einige Überlegungen dazu an.

3.6 Gesundheit und Wohlbefinden im Fokus: kleine Unterschiede zwischen religiös und spirituell

Die positive Auswirkung von Religiosität und Spiritualität auf die Gesundheit ist in der umfangreichen wissenschaftlichen Literatur gut belegt. Die Begriffe «Religiosität» und «Spiritualität» wurden in diesen Studien jedoch synonym verwendet, wobei im Allgemeinen nicht zwischen religiösen und nicht-religiösen Spirituellen unterschieden und die Religiosität anhand von Indizes wie Religionszugehörigkeit und/oder Häufigkeit der Religionsausübung gemessen wurde. Die Frage, ob ein positiver Effekt der Spiritualität auf die Gesundheit auch bei nicht-religiösen, aber spirituellen Menschen besteht, bleibt offen. Man könnte erwarten, dass die ausschließlich spirituellen Menschen, eine Gruppe, die jünger ist und eher verschiedene gesundheitsbezogene Praktiken (Yoga, Meditation usw.) anwendet, nach ihrer eigenen Einschätzung gesünder sind. Überraschenderweise ist dies nicht der Fall. Der Unterschied zwischen den Gruppen ist nicht signifikant und scheint eher die Auswirkungen des Alters als die Anwendung dieser Praktiken widerzuspiegeln (Abb. 3.5). Auch hier muss mehr Forschung im Gesundheitsbereich betrieben werden, wobei klar zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschieden werden muss, um herauszufinden, ob Spiritualität in ihrer heutigen Bedeutung für die körperliche und geistige Gesundheit förderlich sein kann. In einer nordamerikanischen Studie (N = 1711) wurde beispielsweise festgestellt, dass in therapeutischen Gruppen für Menschen mit Suchtproblemen mehr nicht-religiöse Spirituelle vertreten waren als Menschen, die sich als religiös-spirituell und nicht-religiös identifizierten.Footnote 76

Abb. 3.5
figure 5

Subjektiver Gesundheitszustand nach vier Gruppen

Die Forschung über den Zusammenhang zwischen Religion und Glücksbefinden ist ebenfalls sehr umfangreich und zeigt eher eine positive Auswirkung der Religiosität auf das Glücksniveau, die Lebenszufriedenheit und den Lebenssinn. Aber auch diese Studien unterscheiden in ihrem Studiendesign nicht zwischen verschiedenen Arten von Spiritualität und Religiosität. In einer in der Schweiz durchgeführten Studie wurde gezeigt, dass das Niveau des.

subjektiven Wohlbefindens bei Reformierten und Katholik:innen (andere Konfessionen wurden aufgrund der geringen Teilnehmerzahl aus der Stichprobe ausgeschlossen) signifikant höher war als bei Personen, die keiner Konfession angehören (Steiner et al. 2010). Darüber hinaus hat diese Studie gezeigt, dass der Besuch von Gottesdiensten positiv mit dem Wohlbefinden zusammenhängt, was jedoch nicht für die Häufigkeit des individuellen Gebets gilt. In unserer Studie ergab die Chi-Quadrat-Analyse keine statistisch signifikanten Ergebnisse. Wir stellen fest, dass der Unterschied zwischen den vier Gruppen vor allem im Grad der Zufriedenheit liegt (sehr oder eher zufrieden). In diesem Sinne geben religiös-spirituelle Menschen im Vergleich zu den anderen Gruppen etwas häufiger an, dass sie sehr glücklich sind (34 %) (Abb. 3.6). Die positive Einstellung dieser Gruppe spiegelt sich auch in der stärkeren Ablehnung des Gedankens wider, dass das Leben keinen bestimmten Zweck hat: 82 % stimmen dem stark und eher nicht zu.Footnote 77 Während die «religiös Spirituellen» sich etwas glücklicher fühlen und häufiger einen Sinn im Leben finden, sind es die «nicht-religiös Spirituellen», die am meisten die Vorstellung ablehnen, dass Menschen nicht viel tun können, um den Verlauf ihres Lebens zu ändern.Footnote 78 Die «nicht-Religiösen nicht-Spirituellen» (NN in der Abbildung) teilen diese Position eher, im Gegensatz zu den beiden religiösen Gruppen, die in dieser Frage fatalistischer sind (73 % bis 75 %). Der statistisch signifikante, aber geringe Unterschied (p< 0,001, Cramer’s V = 0,14) bestätigt im Großen und Ganzen die Beobachtungen von Paul Heelas, Linda Woodhead et al. (2005) in ihrer Studie in Kendal über einen optimistischen Hintergrund mit einem gewissen kulturellen und wirtschaftlichen Kapital.

Abb. 3.6
figure 6

Glücksniveau nach vier Gruppen

3.7 Schlussfolgerung

Ein Vergleich der Umfragedaten von 2009 und 2018 zeigt, dass sich die religiöse Landschaft in der Schweiz weiter verändert: Die institutionalisierte Religion nimmt ab, zumindest bezogen auf die beiden traditionellen Schweizer Kirchen (katholisch und reformiert), während die Zahl der Menschen, die sich als nicht religiös, aber spirituell bezeichnen, zunimmt, vor allem in der jüngeren Generation. Die Erforschung der Besonderheiten der nicht-religiösen Spiritualität als eigenständiges Konstrukt steht noch am Anfang. In unserer Studie haben wir versucht, ein erstes Profil dieser Population zu skizzieren, indem wir die vier Gruppen, die sich aus der Identifikation mit spirituell, religiös, beides oder keines von beidem ergeben, mit den zuvor verwendeten Kategorien institutionell, distanziert, alternativ und säkular verglichen haben. Es scheint uns wichtig zu sein, von nun an die Begriffe «religiös» und «spirituell» zu unterscheiden, wenn wir empirische Untersuchungen über die Auswirkungen von Religion/Spiritualität auf verschiedene Aspekte des menschlichen Lebens und der Gesellschaft, wie Gesundheit oder Wohlbefinden, durchführen.

Unsere Analysen zeigen auch, dass die Assoziation des Begriffs «spirituell» mit «esoterisch» zu einer Verkürzung geführt hat und die Gefahr besteht, dass ein verzerrtes Bild der Menschen entsteht, die sich mit dem Begriff «spirituell» identifizieren. Wir haben nämlich festgestellt, dass Menschen, die eine Religion mehr oder weniger intensiv praktizieren (institutionalisiert, wie es bei Katholik:innen, Reformierte, Orthodoxen, Evangelikalen und Muslimen in unserer Studie der Fall ist), sich zunehmend den Begriff «spirituell» aneignen, während Nicht-Praktizierende, auch solche, die sich zu einer Religion bekennen, von dieser «spirituellen» Welle, die zunehmend den öffentlichen und privaten Raum erobert, Abstand halten.

In Bezug auf den Glauben haben wir festgestellt, dass Personen, die sich nicht als spirituell bezeichnen, am stärksten gegen Hellsehende, Glücksbringer und Heilende sind, während bei allen Personen, die sich als spirituell bezeichnen (S und RS), der Glaube unterschiedlich sein kann (an Gott, Leben nach dem Tod, Himmel, Hölle, Wunder, Schicksal, Glücksbringer, die Macht von Heiler:innen). Bei religiösen Praktiken (Pilgerreisen, aber auch Meditation, Yoga oder Thai-Chi, Gebet) machen wir die gleiche Feststellung. Die Grenzen zwischen rein spirituell oder auch religiös sind durch das Festhalten an der Idee der Reinkarnation, an der Lektüre esoterischer Zeitschriften und am Gebet markiert.

Das Wort «religiös» wiederum ist nicht mehr im Trend, vor allem nicht bei den jüngeren Generationen, die es als veraltet ansehen und oft negativ konnotieren im Zusammenhang mit institutionalisierter, strenger, konservativer Tradition. Es ist also nicht mehr der Begriff «spirituell», der negativ besetzt ist, sondern eher der Begriff «religiös», wenn auch sprachlich differenziert. Die Identifikation mit Spiritualität ermöglicht es jüngeren Menschen, sich von früheren Generationen und deren geschlechtsspezifischen Vorurteilen abzusetzen und eine Reihe von neuen Ideen in Bezug auf transzendenzbezogene Vorstellungen des menschlichen Lebens vorzubringen. Diese Vorstellung ist nicht nur das Ergebnis einer «narzisstischen» und konsumorientierten Sichtweise, die seit langem mit der zeitgenössischen Spiritualität verbunden wird.Footnote 79 Sie wird vielmehr zu einem Projektionsraum, in dem verschiedene Assoziationen möglich sind. Die exklusiv «Spirituellen» sind zum Beispiel am offensten dafür ist, dass jemand mit anderer Religion hat oder ganz anderen religiösen Ansichten als man selbst ein Mitglied der eigenen Familie heiratet. Die Unterschiede in den religiösen Praktiken sind nicht groß, aber sie existieren: Die Praktiken der «spirituellen, nicht-religiösen» Menschen sind intensiver und vielfältiger. Diese Unterschiede hängen weitgehend mit den strukturellen Faktoren zusammen, die diesen Gruppen zugrunde liegen, d. h. Alter, Geschlecht, Einkommensniveau und Bildung. Dies veranlasst uns, die Bedeutung eines wirklich soziologischen Ansatzes für die Untersuchung des religiösen Wandels zu betonen.