2.1 Einleitung

In einflussreichen Arbeiten haben Alasdair Crocket und David Voas behauptet, dass Säkularisierung in westlichen Gesellschaften vor allem generationell verlaufe.Footnote 1 Aufgrund von Problemen in der religiösen Sozialisation entwickle jede neue Generation eine etwas weniger starke Religiosität als die vorangehende, behalte aber im weiteren Erwachsenenleben die einmal erreichte Religiosität im Wesentlichen bei. Die abnehmende Religiosität der Gesamtgesellschaft resultiere nicht etwa aus dem Glaubensverlust von Individuen, sondern daraus, dass religiösere Generationen durch weniger religiöse ersetzt würden.

Das von Crockett und Voas beschriebene Phänomen ist seither in diversen westlichen Ländern aufgezeigt worden.Footnote 2 Gut belegte Fälle sind insbesondere Großbritannien, Frankreich, Deutschland, die USA, Australien und Neuseeland. Allerdings zeigen sich auch wichtige Ausnahmen und die Kohorten-Säkularisierung scheint keineswegs ein ehernes soziologisches Gesetz zu sein.Footnote 3

Das Ziel dieses Artikels ist es, zu untersuchen, inwieweit das Modell der Kohorten-Säkularisierung auch den Fall der Schweiz gut beschreibt und somit die Entwicklung der Religiosität partiell erklärt. Das Modell ist deshalb nur eine partielle Erklärung, weil es sich darüber ausschweigt, weshalb jede neue Generation etwas weniger religiös ist als die vorhergehende. Auch wir ignorieren diese weitergehende Frage bewusst, um uns ganz der Prüfung des Kohortenmodells widmen zu können.Footnote 4 Der vorliegende Artikel führt die Analysen, die schon im Buch «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft» begonnen wurden, fort.Footnote 5 Dort war der generationelle Aspekt der Säkularisierung zwar auch schon Thema, er wurde jedoch nicht systematisch behandelt.

Obwohl dieser Artikel primär das Modell der Kohorten-Säkularisierung testet, ermöglicht er doch auch, Aussagen über eine Reihe konkurrierender Theorien zu machen.Footnote 6 So werden wir sehen, dass unsere Ergebnisse insgesamt die Kohorten-Säkularisierungstheorie für christliche Religiosität stützen.Footnote 7 Sie widersprechen jedoch sowohl der These eines «believing without belonging» wie auch der Idee einer «spirituellen Revolution».Footnote 8

Unsere drei forschungsleitenden Fragen lauten:

  1. 1.

    Wie verändern sich christliche Religiosität und holistische Spiritualität in der Schweiz im Zeitverlauf?

  2. 2.

    Wieviel der Veränderung ist auf Sozialisation und Generationeneffekte zurückzuführen?

  3. 3.

    Wie stark wird der Verlust institutionengebundener christlicher Religiosität durch individualisierte christliche Religiosität («believing without belonging») oder holistische Spiritualität wettgemacht?

Um diese Fragen beantworten zu können, benötigen wir natürlich Definitionen dessen, was unter christlicher Religiosität und holistischer Spiritualität zu verstehen ist.Footnote 9 Unter Religiosität verstehen wir individuelle Ausdrucksweisen (Handlungen, Erlebensweisen, Glaubensüberzeugungen, Werte, Identifikationen und Emotionen), die eine Religion individuell reproduzieren. Als Religion definieren wir ein kulturelles System, das sich auf eine transzendente Wirklichkeit (z. B. einen Gott, Götter, eine übernatürliche Ebene) bezieht, mit welcher die Menschen in Kontakt treten, um Probleme zu lösen. Mit Spiritualität bezeichnen wir individuelle Ausdrucksweisen, die eine starke Bindung des Individuums aufzeigen. Hierbei kann es sich um Bindung an eine transzendente Realität, eine soziale Gruppe, einzelne Menschen, moralische und wertmäßige Überzeugungen, die Umwelt (eine Landschaft, Natur) oder das Selbst des Individuums handeln.Footnote 10 Spiritualität kann religiös, religiös-säkular hybrid oder säkular sein. Mit holistischer Spiritualität meinen wir eine Spiritualität, welche die kulturellen Bestände des sogenannten „holistischen Milieus“ reproduziert. Hierzu gehören beispielsweise Phänomene wie das Wahrsagen, Meditation, Yoga, Heilung durch Pflanzen, Steine oder Kristalle, das Durchführen esoterischer Rituale und das Interesse an Engeln.Footnote 11

Die oben genannten Fragen können gegenwärtig sehr viel besser beantwortet werden als vor rund 30 Jahren, als die systematische quantitative Erforschung der Religiosität in der Schweiz einsetzte. Einerseits verfügen wir inzwischen über Längsschnittdaten, sodass es möglich wird über die Zeit zu verfolgen, wie sich Religiosität für Individuen wie auch für spezielle Gruppen entwickelt hat. Insbesondere können wir versuchen, Generationeneffekte, Lebenszykluseffekte und Periodeneffekte zu unterscheiden. Andererseits führt die Tatsache, dass wir über eine große Anzahl von Surveys verfügen, dazu, dass unsere Schätzungen für die «wahren Werte» in der Grundgesamtheit sehr viel genauer werden. So stützen wir unsere Aussagen mithilfe des integrierten CARPE Datensatzes auf 27 Surveys mit insgesamt 31′686 Befragten.

Gleichzeitig ist es wichtig, sich auch die Grenzen der vorliegenden Studie klarzumachen. Christliche Religiosität wird hier nur mit sehr wenigen Indikatoren gemessen (für ein deutlich umfangreicheres Messmodell s. HuberFootnote 12). Zudem können nichtchristliche, z. B. muslimische, jüdische oder buddhistische Religiosität in dieser Studie aufgrund einer ungenügenden Datenlage nicht behandelt werden.Footnote 13 Repräsentative Studien liegen erst seit den späten 1980er-Jahren vor und diese erheben meist nur Items zu christlicher Religiosität. Religiosität vor den 1980er Jahren kann durch zwei Indikatoren erhoben werden. Einerseits liegen Konfessionszahlen aus der Volkszählung seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Andererseits können wir einen Trick anwenden, um eine retrospektive Beobachtung des Kirchgangs bis zurück in die 1930er-Jahre vorzunehmen. Der Trick besteht darin, den eigenen Kirchgang und denjenigen der Eltern als man ein Kind war nach Alterskohorte auszuwerten. Vereinzelte Studien haben auch versucht, holistische Spiritualität zu erheben, die wenigen entsprechenden Items lassen aber eine Längsschnittbeobachtung erst seit 1998 zu.

2.2 Theorie

Da es in unserer Leitfrage darum geht, inwieweit die Veränderung des religiösen Wandels in der Schweiz auf Kohorteneffekte zurückzuführen ist, gehen wir in diesem theoretischen Abschnitt kurz darauf ein, was unter Kohorten und Kohorteneffekten zu verstehen ist und wie sich diese von Lebenszyklus- und Periodeneffekten unterscheiden. Anschließend behandeln wir mögliche Ursachen von Kohorteneffekten sowie alternative Theorien religiösen Wandels, welche mit unseren Daten bestätigt oder verworfen werden können.

2.2.1 Lebenszyklus-, Kohorten- und Periodeneffekte

Seit dem klassischen Aufsatz von RyderFootnote 14 unterscheidet man in der Analyse sozialen Wandels zwischen Lebenszyklus-, Kohorten- und Periodeneffekten.Footnote 15 Individuelle Lebenszykluseffekte treten auf, wenn Individuen im Laufe ihres Lebens ihre Religiosität ändern, beispielsweise indem sie religiöser werden, wenn sie älter werden oder Kinder haben, oder wenn sie aufgrund einer unheilbaren Krankheit den Glauben verlieren. Kohorteneffekte sind gegeben, wenn Veränderungen in einer Gesellschaft durch die Tatsache verursacht werden, dass bestimmte Kohorten auf bestimmte Weise betroffen sind und dann ihre geänderten Attribute im Laufe der Zeit mitnehmen. Beispielsweise kann eine bestimmte Kohorte von wehrpflichtigen Männern aufgrund von Kriegserfahrungen betroffen sein. Die wichtigsten Kohorteneffekte sind in der Regel Geburtskohorteneffekte, wenn sich Kohorten in der Art und Weise unterscheiden, wie sie sozialisiert wurden. In diesem Artikel geht es uns ausschließlich um diese Effekte, sodass wir anstatt von Kohorten auch von Generationen sprechen könnten. Periodeneffekte treten auf, wenn alle Personen in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ähnliche Weise betroffen sind. Sowohl Perioden- als auch Lebenszykluseffekte gehen davon aus, dass sich die individuelle Religiosität im Laufe des Lebens ändert, während Kohorteneffekte betonen, dass Religiosität hauptsächlich eine Frage der Sozialisation ist und sich daher im Lauf einer Biografie nicht oder kaum mehr ändert. Lebenszyklus- (oder Alter), Geburtsjahreskohorte und Periodeneffekte sind durch die Gleichung Geburtsjahr + Alter = Periode logisch miteinander verbunden. Dies bedeutet, dass wir ihre Auswirkungen nicht unabhängig voneinander abschätzen können.Footnote 16 Obwohl die Lebenszyklus-, Kohorten- und Periodeneffekte niemals vollständig getrennt werden können, ist es aufgrund von Plausibilitätsüberlegungen oft dennoch möglich, eine sinnvolle Interpretation vorzunehmen. Lebenszyklus-, Kohorten- und Periodeneffekte auf religiösen Wandel können die verschiedensten Ursachen aufweisen, die aber nicht Thema des vorliegenden Aufsatzes sind.Footnote 17 Stattdessen kontrastieren wir die Voraussagen der Kohorten-Säkularisierungstheorie mit Voraussagen anderer Theorien – dies führt uns zum nächsten Abschnitt.

2.2.2 Alternative Theorien zur Entwicklung von Religiosität in der Schweiz

In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Thesen darüber aufgestellt worden, was mit Religion und Spiritualität in westlichen Gesellschaften geschehe. Wir wählen drei prominente Ansätze, aus welchen sich klare Hypothesen ableiten lassen und die sich mit unseren Daten testen lassen. Weil diese verschiedenen Theorien schon oft dargestellt worden sind, können wir uns hier darauf beschränken, die Hauptaussagen knapp zu beschreiben.Footnote 18

  1. 1.

    Kohorten-Säkularisierung. Die gegenwärtig vielleicht plausibelste Version der Säkularisierungsthese behauptet, dass Säkularisierung in westlichen Ländern hauptsächlich die Form von Kohortenersetzung aufweise.Footnote 19 Der Hauptgrund der Säkularisierung besteht hiernach darin, dass verschiedene Faktoren (z. B. Pluralisierung, höhere Bildung, säkulare Alternativen) religiöse Sozialisierung erschweren. Sollte diese These zutreffen, so müssten wir beobachten, dass jede jüngere Kohorte weniger religiös wäre als die jeweils vorhergehende; ausserdem müssten die Kohorten ihr jeweiliges Religiositätsniveau über die Zeit relativ konstant beibehalten.Footnote 20

  2. 2.

    Believing without belonging. In oft zitierten Arbeiten hat Grace Davie die Ansicht vertreten, dass zwar Personen in westlichen Ländern immer weniger häufig organisierten Religionen angehörten; dennoch würden sie aber ihren religiösen Glauben durchaus behalten.Footnote 21 Sie würden mit anderen Worten «glauben, aber nicht mehr zugehören» («believing without belonging»). Sollte diese These zutreffen, müssten wir in den Daten einerseits eine Abnahme der formalen religiösen Konfessions- und Religionszugehörigkeit finden, während etwa der Gottesglaube, der Glaube an ein Leben nach dem Tode oder an Wunder konstant bleiben sollte.Footnote 22

  3. 3.

    Spiritual revolution. Paul Heelas und Linda Woodhead haben in einem einflussreichen Buch behauptet, dass zwar christliche Religiosität im Zeitverlauf abnehme, diese aber im Gegenzug durch die Spiritualität des sogenannten holistischem Milieus ersetzt werde.Footnote 23 Sollte diese These für die Schweiz zutreffen, so müssten Indikatoren wie Kirchgang, Gebetshäufigkeit oder Taufe über die Zeit abnehmen, holistische Spiritualität, gemessen etwa am Erfolg von Praktiken wie Yoga, Meditation, Heilung durch Steine und Kristalle, Handlesen usw., dagegen müsste zunehmen.

Aus den dargestellten Theorien lassen sich drei Hypothesen ableiten:

  • H1: Kohorten-Säkularisierungsthese: Christliche Religiosität (Zugehörigkeit, Praxis und Glaube) nimmt ab aufgrund von Kohorten-Ersetzung. Religiosität von Kohorten über die Zeit bleibt konstant.

  • H2: Believing-without-belonging-These: Christliche religiöse Zugehörigkeit nimmt ab; christliche Glaubensüberzeugungen bleiben konstant.

  • H3: Spirituelle-Revolutions-These: Christliche Religiosität (Zugehörigkeit, Praxis und Glaube) nimmt ab, holistische Spiritualität nimmt zu.

2.3 Der schweizerische Kontext

Der vorliegende Artikel untersucht, inwiefern das in vielen anderen westlichen Ländern nachgewiesene Phänomen der Kohorten-Säkularisierung auch für die Schweiz gilt. Um dem spezifisch schweizerischen Kontext gerecht zu werden, muss der traditionell bikonfessionelle Charakter des Landes beachtet werden.Footnote 24 Zu Beginn des Bundesstaates 1848 sind die Kantone entweder katholisch, reformiert oder gemischt. Die interne konfessionelle Homogenität der Kantone ist äußerst hoch und die religiöse Praxis unter Katholik:innen ist deutlich höher als unter Reformierten. Zweitens profitieren die großen Konfessionen in der Schweiz in unterschiedlichem Masse von der Immigration. Zwar sind beide großen Konfessionen in recht ähnlicher Weise von der Säkularisierung betroffen, dennoch aber bleibt der Anteil der Katholik:innen seit 1910 recht konstant, während derjenige der Reformierten seit den 1950er-Jahren stetig sinkt (Abb. 2.1). Die Katholik:innen können ihren prozentualen Anteil vor allem deshalb halten, weil Immigrant:innen aus verschiedenen Ländern überwiegend katholisch sind. Für unsere Zwecke wird es daher wichtig sein, bestimmte Analysen für Reformierte und Katholik:innen getrennt durchzuführen.

Abb. 2.1
figure 1

Ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren nach Religionszugehörigkeit 1910–2019 1910–2019: Volkszählungsdaten. Ab 2010 basieren die Zahlen auf aufeinanderfolgenden jährlichen StrukturerhebungenFootnote

Anmerkungen: (1) 1900–1970: «Evangelisch-reformiert» inkl. Anhänger:innen christlicher Sondergemeinschaften. Ab 1970 nur die öffentlich-rechtlich anerkannte Evangelisch-reformierte Kirche. (2) 1910–1920: inkl. Christkatholische Kirche. (3) Ab 1960 «Andere christliche Glaubensgemeinschaften» inkl. Christkatholische Kirche, Christlich-orthodoxe Kirchen sowie andere evangelische Kirchen, wie z. B. Methodistische Kirche, Neuapostolische Kirche. (4) «Islamische Glaubensgemeinschaften», «Ohne Religionszugehörigkeit» und «Religion/Konfession unbekannt» werden ab 1960 separat erfasst.

2.4 Methode

2.4.1 Daten

Um unsere Leitfragen zu beantworten, stützen wir uns auf die folgenden Datensätze, in denen Fragen zur Religiosität in der Schweiz gestellt worden sind.

  1. 1.

    Ein Survey, welcher 1988/89 von Roland Campiche und Alfred Dubach durchgeführt und dessen Ergebnisse im Buch «Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz» (Dubach und Campiche 1993) publiziert wurden (oft auch als «Sonderfall-Studie» bezeichnet).

  2. 2.

    Drei Wellen des Measurement of Social Attitudes in der Schweiz (MOSAiCH)/International Social Survey Program (ISSP) zum Schwerpunkt Religion: 1998, 2008, 2018. Zwar wurde schon 1991 ein internationaler ISSP Survey zum Schwerpunkt durchgeführt, die Schweiz nahm damals jedoch leider noch nicht teil.

  3. 3.

    CARPE. Hierbei handelt es sich um einen Meta-Datensatz, welcher die Daten von fünf Surveyprogrammen zum Kirchgang und zur religiösen Zugehörigkeit in 45 Ländern integriert (Biolcati et al. 2019). Die Surveyprogramme sind Eurobarometer (EB), European Social Survey (ESS), International Social Survey Program (ISSP), European Value Survey (EVS) und World Value Survey (WVS). In dieser Studie verwenden wir die CARPE-Daten für die Schweiz.

In Tab. A.1 im Appendix sind der Zeitraum, die Anzahl Zeitpunkte, die Indikatoren und die Anzahl befragter Individuen für die verschiedenen Surveys bzw. Surveyprogramme zusammengestellt. Es wird deutlich, dass wir für religiöse Zugehörigkeit und Kirchgang über Datenpunkte zwischen 1987 und 2015 verfügen. Der Kirchgang der Mutter und des Vaters ist für den Zeitraum von 1988/89 bis 2018 verfügbar. Alle anderen Indikatoren sind nur für geringere Zeiträume verfügbar. Insbesondere die Entwicklung der Praxis holistischer Spiritualität lässt sich nur für den Zeitraum zwischen 2008 und 2018 betrachten.

Die Auswertung der Volkszählungsdaten bezieht sich auf die Daten von 1910–2009 und auf die Ergebnisse von fünf aufeinanderfolgenden jährlichen Strukturerhebungen von 2010–2018. Grundgesamtheit ist die ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahre.Footnote 26

In der Auswertung der CARPE, der Sonderfall-Studie sowie der ISSP-Daten werden nichtchristliche Religionen ausgeschlossen, da die Überprüfung des Kohortenmechanismus in dieser extrem heterogenen Gruppe einer gesonderten Untersuchung bedürfte. Wir betrachten in diesen zuletzt genannten Studien ferner ausschließlich Individuen zwischen 18 und 85 Jahren.

2.4.2 Analysestrategie

Für die Analysen wurde das Programm R (Version 3.6.3) verwendet. Das syntax-file, mit dem sämtliche Ergebnisse repliziert werden können, kann bei den Autoren angefordert werden. Wir verwenden in einem ersten Schritt einfache grafische Methoden. Für alle interessierenden Indikatoren zeigen wir zunächst die Entwicklung über die Zeit vom Beginn bis zum Ende des Beobachtungszeitraums. Anschließend differenzieren wir nach Kohorten. Wo nicht anders vermerkt, lassen wir nur Mittelwerte zu, welche auf der Basis von mindestens 100 Personen zustande kommen. Liegen genügend Datenpunkte vor, bilden wir die Kurven als gleitende Mittelwerte nach der Methode «loess».Footnote 27 In gewissen Grafiken schränken wir die Altersspannbreite ein und vermerken dies jeweils.

In einem zweiten Schritt wenden wir die sogenannte Firebaugh Methode an, welche für die Variablen Kirchenzugehörigkeit, Kirchgang, Beten, Gottesglaube und Glaube an ein Leben nach dem Tod berechnet, wieviel der Prozentveränderungen auf Periodeneffekte einerseits, Kohorteneffekte andererseits zugerechnet werden können. Die Technik der Firebaugh Methode wird im Anhang beschrieben.

2.5 Resultate

2.5.1 Christliche Religiosität

2.5.1.1 Religiöse Zugehörigkeit und Praxis

Für religiöse Zugehörigkeit finden wir deutliche Belege dafür, dass Kohorten-Säkularisierung in der Schweiz stattfindet (Abb. 2.2). Religiöse Zugehörigkeit (oder: Konfessionszugehörigkeit) ist ein Indikator selbst deklarierter individueller Identität. Hierbei wird nur erfasst, ob das Individuum angibt einer Religion anzugehören, nicht aber die Intensität des Mitgliedschaftsgefühls.Footnote 28 Auf der linken Seite (Abb. 2.2) ist der Anteil der Personen mit Religionszugehörigkeit angegeben (aus der Grundgesamtheit sind andere Christ:innen und Personen mit anderer Religion ausgeschlossen). Wir sehen, dass der Anteil der Personen, die einer Religion angehören, seit 1987 stetig sinkt. In Abb. 2.2 auf der rechten Seite sehen wir die Religionszugehörigkeit nach Kohorten aufgesplittet. Es wird deutlich, dass über die Zeit eine Art Auffächerung nach Kohorten stattfindet. Während die Kohorten mit ihren Zugehörigkeitsanteilen um 1987 noch sehr nah beieinander liegen, unterscheiden sie sich 2015 deutlich, und zwar nach Kohortenreihenfolge: Jede spätere Kohorte weist weniger religiöse Zugehörigkeit auf als die jeweils vorhergehende. Die jüngsten Kohorten zeigen einen starken Abfall, um schließlich auf ein der Kohortenreihenfolge entsprechendes Niveau zu gelangen.Footnote 29 Generell ist festzuhalten, dass das insgesamt absinkende Niveau der Religionszugehörigkeit nur zu einem beschränkten Teil durch Kohortenersetzung zustande kommt, sondern vielmehr dadurch, dass die Religionszugehörigkeit jüngerer Kohorten im Lebensverlauf etwas schneller absinkt als dasjenige älterer Kohorten.

Abb. 2.2
figure 2

(Quelle: CARPE)

Personen mit einer Religion nach Jahr der Umfrage und Kohorte (Prozent).

Die neben der religiösen Zugehörigkeit am besten abgestützten Ergebnisse besitzen wir für die Variable Kirchgangshäufigkeit. Wir betrachten hier den Prozentsatz der Personen, welche angeben, wöchentlich oder fast wöchentlich in die Kirche zu gehen.

In Abb. 2.3 sehen wir zunächst auf der linken Seite, dass der (fast) wöchentliche Kirchgang seit 1987 langsam aber sehr kontinuierlich abnimmt. Diese Grafik verrät jedoch noch nichts darüber, ob diese Abnahme auf individuelle Veränderungen oder auf Generationenersetzung zurückzuführen ist. In Abb. 2.3 auf der rechten Seite erkennen wir wiederum sehr klar, dass letzteres der Fall ist. Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit zeigt jede Generation weniger Kirchgang als die vorherige, wobei die Kirchgangshäufigkeiten innerhalb der Generationen über die Zeit relativ stabil bleibt.

Abb. 2.3
figure 3

(Quelle: CARPE)

Wöchentlicher Kirchgang nach Jahr der Umfrage und Kohorte.

Neben dem Kirchgang ist das persönliche Gebet die vielleicht wichtigste Form der individuellen religiösen Praxis, sowohl im Christentum wie auch in vielen anderen Religionen. Noch in den 1990er-Jahren konnten Religionssoziolog:innen meinen, die Gebetspraxis in der Schweiz entziehe sich der Säkularisierung und bleibe über den Zeitverlauf konstant oder nehme möglicherweise sogar noch zu.Footnote 30 Wie wir heute sehen, war diese Einschätzung nicht richtig. Abb. 2.4 zeigt, dass sich die Bethäufigkeit verblüffend ähnlich wie der Kirchgang verhält. Über alle Befragten gemittelt, sinkt die Bethäufigkeit in angenähert linearer Weise von 42.6 % täglich Betender im Jahr 1988 zu 14.3 % täglich Betender im Jahr 2018 (Abb. 2.4 links). Unterscheidet man jedoch die Kohorten (Abb. 2.4 rechts), so wird deutlich, dass der Rückgang des Betens zu einem wichtigen Teil auf eine Ersetzung der Kohorten zurückzuführen ist. Jede neue Kohorte scheint etwas weniger häufig zu beten als die vorherige, die Gebetspraxis wird dann mit leicht sinkender Tendenz «durchs Leben mitgenommen».

Abb. 2.4
figure 4

(Quelle: ISSP)

Tägliches Gebet nach Umfragejahr und Kohorte.

2.5.1.2 Religiöser Glaube: Gott, Wahrheit der Bibel, Leben nach dem Tod

Die folgenden Auswertungen zum christlichen Glauben werden die Leser:innen nicht erstaunen, da sie (mit einer Ausnahme) das gleiche Bild zeichnen, das wir schon für die Praxis beobachtet haben. Wir zeigen hier den Prozentsatz der Personen, welche «wissen, dass es Gott gibt und keinen Zweifel daran haben» (Abb. 2.5).Footnote 31 Erneut zeigt sich insgesamt eine leichte (signifikante) Abnahme des Gottesglaubens (Abb. 2.5, links), die zu einem nicht unerheblichen Teil auf einen Kohorteneffekt (Abb. 2.5, rechts) zurückgeführt werden kann.Aus Platzgründen zeigen wir hier nicht die Analysen zum Glauben an die Wahrheit der Bibel oder die Selbsteinschätzung als religiös; sie zeigen alle ein der Analyse des Gottesglaubens völlig analoges Bild.

Abb. 2.5
figure 5

(Quelle: ISSP)

Wissen, dass Gott existiert, nach Umfragejahr und Kohorte.

Eine interessante Ausnahme bildet der Glaube an ein Leben nach dem Tod (Abb. 2.6). Zwar nimmt auch dieser Indikator insgesamt signifikant ab. Anders als bei allen bisher betrachteten Indikatoren ist diese Abnahme jedoch nicht vor allem auf einen Kohorteneffekt zurückzuführen. Jüngere Kohorten (1961–70, 1971–80) glauben eher an ein Leben nach dem Tod als ältere; der Kohorteneffekt hat sich z. T. umgekehrt. Insgesamt scheint bei allen Kohorten der Glaube an ein Leben nach dem Tod im Lebensverlauf zurückzugehen. Die Tatsache, dass dieses Item sich anders verhält als andere Items zur Religiosität ist schon verschiedentlich beschrieben worden.Footnote 32 Eine Erklärung lautet, dass junge Menschen aufgrund von Filmen, Serien oder Büchern der Populärkultur in eher vager Weise glauben, es könne nach dem Leben noch «irgendetwas» geben.

Abb. 2.6
figure 6

(Quelle: ISSP)

Glaube an ein Leben nach dem Tod nach Umfragejahr und Kohorte.

Als Zwischenfazit können wir festhalten, dass die These der Kohortensäkularisierung christlicher Religiosität klar bestätigt wird. Demgegenüber finden wir kein «believing without belonging». Sowohl die Glaubensitems wie auch die Items zu religiöser Zugehörigkeit zeigen einen Rückgang.

2.5.2 Holistische Spiritualität

Könnte es sein, dass die christliche Religiosität einfach durch holistische Spiritualität ersetzt wird?Footnote 33 Unsere Ergebnisse zeigen, dass dies – wenigstens für den von uns überblickbaren Zeitraum – nicht der Fall ist.Footnote 34 In Abb. 2.7 sehen wir die Einstellung zur Wirksamkeit von vier holistischen Methoden wie Glücksbringern, Wahrsager:innen, Horoskopen oder spiritueller Heilung. Auf der linken Seite der Abb. 2.7 sehen wir den Prozentanteil der Befragten, welche es für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich halten, dass «manche Wahrsager [die] Zukunft vorhersagen [können]», dass «manche Wunderheiler übernatürliche Kräfte [haben]», dass, «Sternzeichen bzw. das Geburtshoroskop eines Menschen einen Einfluss auf den Verlauf seines Lebens [haben]» und dass «Glücksbringer tatsächlich manchmal Glück [bringen]». Insgesamt finden wir für alle vier Methoden weniger als 50 % der Befragten, welche diese Aussagen für wahr oder wahrscheinlich wahr halten. Für drei der vier Methoden werden die Befragten über die Zeit signifikant skeptischer, nur bei Glücksbringern zeigt sich ein leichter, statistisch jedoch nicht signifikanter Anstieg.

Abb. 2.7
figure 7

(Quelle: ISSP)

Einstellung zur Wirksamkeit und Praxis von holistischen Methoden.

Das gleiche gilt für holistische Praxis (Abb. 2.7, rechts). Hier fällt die sehr unterschiedliche Verbreitung der fünf erhobenen Praktiken auf. Konsum alternativer Medizin (z. B. Bachblüten, Homöopathie) kam in irgendeiner Form bei rund 45 % der Befragten im Jahr der Befragung vor. Yoga und das Lesen von spirituellen Büchern spielt sich im Bereich zwischen rund 15 % und 20 % ab, während spirituelle Heilung oder der Besuch bei Wahrsager:innen bei weniger als 10 % der Befragten mindestens einmal im vergangenen Jahr vorgekommen ist. Uns interessiert aber vor allem der Trend – und hier sehen wir, dass zwei Items konstant bleiben, zwei abnehmen und ein Item – Yoga – deutlich zunimmt (von 13.3 % im Jahr 2008 auf 22 % im Jahr 2018). Insgesamt ist zu bedenken, dass gerade bei alternativer Medizin und Yoga nicht klar ist, inwieweit für die Befragten tatsächlich viel Spiritualität mit im Spiel ist.

Generell kann man sagen, dass von einer deutlichen Zunahme holistischer Spiritualität – wie es die Rede von einer spirituellen Revolution suggeriert – aufgrund dieser Daten keine Rede sein kann.Footnote 35

Anzumerken bleibt, dass holistische Spiritualität – sei es in Bezug auf Glaubenseinstellungen oder Praxis – nicht der Logik einer Kohortenersetzung unterworfen ist (aus Platzgründen präsentieren wir die Grafiken hierzu nicht gesondert). Dennoch sind Kohorten wichtig. Es zeigt sich nämlich, dass holistische Spiritualität besonders eine Sache der zwischen 1951 und 1970 Geborenen ist, also etwas älterer Semester. Einzig Yoga ist eine Ausnahme: Es scheint bei der jüngsten beobachteten Kohorte (1981+) im letzten Jahrzehnt einen erstaunlichen Aufschwung erlebt zu haben.

2.5.3 Religiöse Praxis seit den 1930er-Jahren

In einem nächsten Schritt werfen wir einen Blick auf die religiöse Praxis seit den 1930er-Jahren. Hierfür verwenden wir retrospektive Daten. In den ISSP Daten wurde gefragt, wie oft die Befragten in die Kirche gingen, «als sie ein Kind waren». Leider wird in der Frage keine genaue Altersangabe gemacht, wir können aber näherungsweise annehmen, dass die Befragten für ein Alter rund um das 12. Lebensjahr antworten. Nun können wir für die Befragten jeder Geburtskohorte die Kirchgangshäufigkeit im 12. Lebensjahr berechnen und grafisch darstellen (Abb. 2.8).

Abb. 2.8
figure 8

Kirchgang der befragten Person, der Mutter und des Vaters, als die befragte Person ein Kind war nach Geburtsjahr + 12

Die Säkularisierung der Gesellschaft erscheint hier sehr deutlich für Männer, Frauen und Kinder. Noch um 1930 gingen etwas mehr als 40 % der Mütter und etwas weniger als 40 % der Väter (fast) wöchentlich in die Kirche. Die Kinder gingen noch häufiger (um die 60 %).

Ein Rückgang des Kirchgangs ist seit den 1930er-Jahren für Mütter, Väter und Kinder zu beobachten; er scheint seit den 1960er-Jahren an Schwung gewonnen zu haben.

Hierbei müssen jedoch Konfessionsunterschiede berücksichtigt werden. Traditionellerweise gehen Katholik:innen häufiger in die Messe als Protestant:innen in den Gottesdienst. In Abb. 2.9 wird deutlich, wie stark diese Unterschiede in den vergangenen Jahrzehnten waren und in verminderter Form immer noch existieren. Bei den Reformierten gingen nie mehr als 30 % der Mütter und nie mehr als 20 % der Väter (fast) wöchentlich in den Gottesdienst (Abb. 2.9, links). Die Kinder schickte man aber häufiger in die Sonntagsschule und den Konfirmationsunterricht, sodass auch der Gottesdienstbesuch hier sehr viel höher ausfiel. Demgegenüber gingen in der für die Kirchen besten Zeit um 1955 rund 80 % der katholischen Mütter und 70 % der katholischen Väter (fast) wöchentlich in die katholische Messe (Abb. 2.9, rechts). Erneut finden wir die höchsten Werte bei den katholischen Kindern. Ein Rückgang des wöchentlichen Kirchgangs ab den 1960er-Jahren war aufgrund der höheren Ausgangswerte bei den Katholik:innen sehr viel stärker als bei den Reformierten.

Abb. 2.9
figure 9

Kirchgang der befragten Person, der Mutter und des Vaters, als die befragte Person ein Kind war nach Geburtsjahr + 12 und nach Konfession

2.5.4 Wie wichtig ist der Kohortensäkularisierungsmechanismus?

Bisher haben wir die Daten fast ausschließlich grafisch betrachtet, wobei wir immer drei Variablen gleichzeitig in den Blick genommen haben: die jeweils abhängige Religiositätsvariable (z. B. Kirchgang) sowie die unabhängigen Variablen Surveyjahr (Periode) und Kohorte. In diesem Abschnitt verwenden wir die sogenannte Firebaugh Methode, um numerisch abzuschätzen, wieviel der aggregierten Veränderung auf den Periodeneffekt und wieviel auf den Kohorteneffekt zuzurechnen ist (wir gehen davon aus, dass es keinen individuellen Lebenszykluseffekt gibt). Die Firebaugh-Methode beginnt mit dem Gesamtprozentsatz der Änderung einer abhängigen Variablen und zerlegt ihn in einen Teil, der durch einen Kohorteneffekt verursacht wird, und einen anderen Teil, der durch einen Periodeneffekt verursacht wird (zur weiteren Erklärung der Firebaugh Methode s. Anhang).

Wendet man dieses Verfahren auf unsere Daten an (Tab. 2.1), dann zeigt sich beispielsweise, dass die aggregierte Zugehörigkeitsänderung von 1987 bis 2015 bei – 28.4 % (Spalte 5) liegt. Die Methode zerlegt diesen Prozentsatz in einen Periodeneffekt (Individuelle Veränderung, Spalte 10): −23.3 % und ein Kohorteneffekt (Spalte 11): −9.1 %. Da die Beziehungen nicht perfekt linear sind, ist auch die Zerlegung nicht perfekt, aber es zeigt sich in diesem Fall deutlich, dass die Änderung der Zugehörigkeit stärker durch einen Periodeneffekt als durch einen Kohorteneffekt erklärt werden muss. Der Rückgang des Kirchgangs um 7,3 % (Spalte 5) muss vollständig auf einen Kohorteneffekt zugerechnet werden. Der Rückgang des Betens um 28,4 % wird zu zwei Dritteln auf einen Periodeneffekt, zu einem Drittel auf einen Kohorteneffekt attribuiert. Auch der Gottesglaube ist etwa zu zwei Dritteln auf einen Periodeneffekt und einem Drittel auf einen Kohorteneffekt zugerechnet. Wie schon grafisch deutlich wurde, ist der Glaube an ein Leben nach dem Tod anders gelagert. Hier ist der Rückgang um 19,3 % durch einen Periodeneffekt zu erklären, wobei wir einen leichten positiven Kohorteneffekt sehen.

Tab. 2.1 Dekomposition der aggregierten Trends: individuelle Veränderung und Kohorten-Ersetzung

Insgesamt wird deutlich, dass der Kohorteneffekt zwar wichtig ist, aber bei verschiedenen Indikatoren unterschiedlich stark ins Gewicht fällt und den Rückgang an Religiosität nicht ausschließlich erklären kann. Auch Periodeneffekte weisen einen wichtigen Einfluss auf. Schließlich kann man sich fragen, ob die Bedeutung der Kohorteneffekte nennenswert durch eine Drittvariable, z. B. städtisches oder ländliches Umfeld, beeinflusst («moderiert») wird. Verschiedene Analysen zeigen allerdings, dass Kohorteneffekte in der Stadt und auf dem Land, in jeglicher Sprachregion, in traditionell protestantischen und traditionell katholischen Gegenden, in stark oder schwach regulierten KantonenFootnote 36 und sowohl für Frauen als auch für Männer nachweisbar sind (hier aus Platzgründen nicht dargestellt).

2.6 Schluss

In diesem Artikel sind wir der Frage nachgegangen, wie sich christliche Religiosität und holistische Spiritualität in der Schweiz im Zeitverlauf entwickelt haben, welchen Anteil Generationeneffekte an dieser Veränderung hatten und ob es Anzeichen für einen Säkularisierungsschub in den 1960er-Jahren gibt. Die Tatsache, dass mittlerweile mehrere Zeitreihen für religiöse und spirituelle Indikatoren vorliegen, hat es uns ermöglicht, sehr viel genauer als bisher den religiösen Wandel in der Schweiz zu beschreiben. Fassen wir die Ergebnisse im Hinblick auf unsere vier Hypothesen zusammen:

  1. 1.

    Die Kohorten-Säkularisierungsthese wird für christliche Religiosität teilweise bestätigt. Die wichtigsten Indikatoren für christliche Religiosität – Konfessionszugehörigkeit, Kirchgang, Gebet und Gottesglaube – zeigen alle das gleiche Muster: Beginnend mit der ältesten von uns beobachteten Kohorte (−1920) ist jede jüngere Kohorte etwas weniger religiös als die jeweils vorhergehende. Insbesondere bei der religiösen Praxis (Kirchgang und Gebet) zeigt sich der Kohortenmechanismus sehr ausgeprägt. Dennoch ist er nicht allein für den Rückgang von Religiosität verantwortlich. Wir finden für die meisten Indikatoren (und vor allem für formale Zugehörigkeit) auch einen Periodeneffekt, der darauf hindeutet, dass individuelle Religiosität im Zeitverlauf bei allen Kohorten abnimmt. Holistische Spiritualität bleibt relativ stabil und folgt nicht einer Kohorten-Säkularisierungs-Logik.

  2. 2.

    Für die Believing-without-belonging-These finden wir in den Daten wenig Unterstützung. Gottesglaube, Glaube an die Bibel oder an Wunder nehmen genauso ab wie religiöse Zugehörigkeit (oder religiöse Praxis). Insgesamt gilt zunehmend «neither believing nor belonging». Interessanterweise zeigen die Indikatoren christlicher Religiosität ein je unterschiedliches Beharrungsvermögen. Säkularisierung wird zunächst im Sinken des Kirchgangs sichtbar, es folgen Glaubensitems, zuletzt sinkt die Konfessionszugehörigkeit. Es scheint, als gäben die Menschen «kostenintensive» Verhaltensweisen schneller auf. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod scheint etwas anders gelagert als andere Items. Dieser nimmt im Lebensverlauf aller Kohorten ab, aber jüngere Kohorten weisen leicht höhere Werte auf. Möglicherweise ist hierfür die Populärkultur verantwortlich, die jüngere Menschen in diffuser Weise davon überzeugt, dass es möglicherweise nach dem Tod «noch etwas gebe».

  3. 3.

    Der These einer spirituellen Revolution ergeht es nicht besser. Indikatoren für holistische Spiritualität, sei es bezüglich Glaubensaussagen oder Praxis, finden in der Population nur eine beschränkte Zustimmung; diese bleibt im beobachteten Zeitverlauf relativ konstant. Von einer Zunahme derart, dass die Verluste an christlicher Religiosität etwa aufgewogen würden, kann keine Rede sein.

Blickt man auf die internationale Literatur, so lässt sich abschließend festhalten, dass die Schweiz sich ganz offensichtlich in religiöser Hinsicht sehr ähnlich verhält wie fast alle westlichen Länder. Die Säkularisierung entsteht zu einem wichtigen Teil durch eine Ersetzung von Kohorten. Es handelt sich um «Generationen abnehmenden Glaubens».