Seit mehreren Jahrzehnten ist die Religionslandschaft der Schweiz Gegenstand intensiver empirischer Sozialforschung. Hierbei ist eine Tradition entstanden, in welcher seit 1989 im Abstand von ungefähr zehn Jahren quantitativ orientierte Studien zur religiösen Lage der Schweiz erscheinen. Dies ist das bisher vierte Buch in der erwähnten Reihe.Footnote 1

Der Grund für den Zehn-Jahres-Abstand liegt im Erscheinen jeweils neuer, hochwertiger Datensätze. Insbesondere die Befragung MOSAiCH (Measurement of Social Attitudes in Switzerland) ist in diesem Zusammenhang zu nennen.Footnote 2 In Rotation mit anderen Themen bildet die MOSAiCH-Studie Religion in der Schweiz alle zehn Jahre auf Basis einer repräsentativen Stichprobe ab, wobei die letzte Erhebungswelle zu Religion 2018 durchgeführt wurde. Sie wird in diesem Band erstmals vertieft ausgewertet.

Die erste Studie, welche auf Daten von 1989 beruhte, trug den Titel «Jeder ein Sonderfall? Religion in der Schweiz» und wurde von Alfred Dubach und Roland J. Campiche herausgegeben.Footnote 3 Sie enthielt Beiträge von den beiden Herausgebern wie auch von Michael Krüggeler, Peter Voll und Claude Bovay. Diese Forschung stützte sich noch nicht auf MOSAiCH Daten, sondern auf eine von den Forschenden selbst konzipierten Erhebung, welche jedoch in vielen Fragen der späteren MOSAiCH Studie gleicht. Beim Vergleich der damaligen Beiträge der Lausanner und St.-Galler Forschungsgruppe fällt auf, dass die Lausanner stärker deinstitutionalisierungs- und individualisierungstheoretisch argumentierten, während die St. Galler stärker system- und säkularisierungstheoretisch dachten.

Die Ergebnisse der zweiten Studie, beruhend auf Daten von 1999 (unter anderem MOSAiCH), wurden in zwei Büchern publiziert. Roland Campiche gab «Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung» heraus (mit Beiträgen von ihm, Alfred Dubach und Jörg Stolz).Footnote 4 Alfred Dubach und Brigitte Fuchs publizierten «Ein neues Modell von Religion. Zweite Schweizer Sonderfallstudie – Herausforderung für die Kirchen». In dieser zweiten Welle stellte Roland Campiche sein Modell der «Dualisierung der Religion» vor, wonach eine institutionelle Religion sich im Niedergang befinde, eine universale Religion aber auf Dauer Bestand haben werde.

Die dritte Studie wurde von Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger und Michael Krüggeler verfasst und beruhte auf 2008/2009 erhobenen Daten. Sie trug den Titel «Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens». Neu wurden hier quantitative MOSAiCH Daten mit 73 qualitativen Interviews in einem Mixed-methods-Design kombiniert. Im Unterschied zu den vorherigen Studien wurden vier (Un-)Glaubensprofile beschrieben («Institutionelle», «Alternative», «Distanzierte», «Säkulare»). Außerdem wurde eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz als Erklärung der beobachtbaren Veränderungen nicht nur in der Schweizer Religionslandschaft vorgestellt.

Der hier vorliegende vierte Band weist viele Eigenschaften der Vorgängerstudien auf. Erneut ist der Zugang dezidiert religionssoziologisch; erneut werden vor allem MOSAiCH Daten ausgewertet; erneut arbeiten ein Lausanner und ein St. Galler Team zusammen, verstärkt durch Antonius Liedhegener vom Zentrum Religion, Wirtschaft, Politik (ZRWP) Luzern. Es finden sich jedoch auch Unterschiede. So wurde das vorliegende Publikationsprojekt, anders als die vorherigen, ohne Drittmittelzuschuss durch den SNF durchgeführt. Die Organisation war sehr viel dezentraler: Die interessierten Forschenden übernahmen je ein Thema und waren anschließend frei, dieses nach ihren Präferenzen zu behandeln. Alle Beiträge wurden von der Gesamtheit der Autor:innen intensiv diskutiert und aufgrund der Kritik und den Anmerkungen revidiert. Die abgedruckten Beiträge wurden bewusst so verfasst, dass jeder für sich stehen kann. Hierdurch wirkt das Buch insgesamt weniger «aus einem Guss» als die bisherigen Bände; auf der anderen Seite finden sich nicht nur mehr Individualität und z. T. auch voneinander abweichende Meinungen, sondern vor allem auch eine breitere Themenpalette, die auch interdisziplinäre Bezüge zu anderen gesellschaftlichen Feldern sichtbar werden lässt. Schließlich verwenden die Autor:innen in diesem Band nicht nur die MOSAiCH Daten von 2018, sondern auch diejenigen aller bisheriger Wellen wie auch andere quantitative religionsbezogene Daten für die Schweiz.

Im Folgenden seien die einzelnen Beiträge kurz skizziert:

Jörg Stolz und Jeremy Senn stützen sich in ihrem Beitrag Generationen abnehmenden Glaubens. Säkularisierung in der Schweiz 1930–2020 auf Datenquellen, die bis zurück in die 1930er-Jahre reichen. Sie weisen nach, dass die Säkularisierung in der Schweiz, wie in anderen westlichen Ländern, stark durch die Ersetzung von Geburtskohorten zustande kommt. Gleichzeitig finden sie keine Hinweise darauf, dass dieser Säkularisierungstrend durch alternative Spiritualität oder ein «believing without belonging» aufgefangen würde.

Der Beitrag von Irene Becci und Zhargalma Dandarova-Robert, Selbstbezeichnungen und ihre Bedeutungsnuancen. Zur kontextsensitiven Interpretation der Bezeichnungen «religiös» und «spirituell» in Umfragen, stellt die Frage, welche Bedeutungsnuancen sich in den Identitätsbegriffen «spirituell» und «religiös» verbergen und wie diese in unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft unterschiedlich verwendet werden. Damit legen sie den Akzent ihres Beitrages auf kontextuelle, sprach- und kulturabhängige Bedeutungsunterschiede und entwickeln eine kritische Reflexion jener Nomenklatur, die der Gewinnung und der Analyse der Umfragedaten zugrunde liegt.

Pascal Tanner wendet sich in seiner Teilstudie Religionslose Personen in der Schweiz. Soziologisches Porträt einer wachsenden Bevölkerungsgruppe einer bislang wenig beachteten, aber stetig wachsenden Bevölkerungsgruppe zu. Mit Blick auf die Gruppe der Religionslosen stellt er fest, dass diese ein näher bestimmbares soziodemografisches Profil aufweisen und dass viele von ihnen vor allem deshalb religionslos sind, weil sie entsprechende Sozialisationserfahrungen gemacht haben. So zeigt er auf, dass religiöse Nicht-Zugehörigkeit ihren Ursprung insbesondere dort hat, wo Sozialisation beginnt: in der Herkunftsfamilie.

Mit Blick auf die Kirchen in der Schweiz untersucht Urs Winter-Pfändler in seinem Beitrag Schwerpunkt Kirchenmitgliedschaft. Vertrauen in die Kirchen, Mitgliederbindung sowie individuelle und gesellschaftliche Folgen das Thema Kirchenbindung der Mitglieder. Sein Beitrag zeichnet nach, wie das Vertrauen in die gesellschaftliche Akteurin Kirche über die Jahre hinweg gesunken ist. Dabei macht er deutliche Zusammenhänge zwischen dem Grad des Vertrauens, der Austrittsneigung und soziodemografischen Merkmalen der befragten Personen aus.

Oliver Wäckerlig, Eva Baumann-Neuhaus und Arnd Bünker setzen diese kirchensoziologischen Beobachtungen in ihrem Beitrag Entkirchlichung als Prozess. Beobachtungen zur Distanzierung gegenüber Kirche und kirchlicher Religiosität fort. In ihrem Beitrag skizzieren sie die Erosionsprozesse individueller Kirchlichkeit in den Dimensionen Zugehörigkeit, Identifikation und Praxis und weisen auf die geringer werdende Wirksamkeit traditioneller kirchlicher Sozialisationsbemühungen hin.

Schließlich bettet Antonius Liedhegener im Beitrag Politik und Religion in der Schweiz. Aktuelle Befragungsergebnisse zu einem komplexen Verhältnis die Ergebnisse der aktuellen Umfrage in eine politikwissenschaftliche Analyse ein. Dabei fragt er nach den Auswirkungen der Veränderungen der Religionslandschaft auf die Politik in der Schweiz, genauer auf das Wahlverhalten der Schweizer Bevölkerung und auf deren parteipolitische Präferenzen, politische Einstellungen und Sachthemen sowie auf ihre Bewertung des politischen Systems.

Die Zusammenarbeit am gemeinsamen Projekt war für alle Beteiligten fruchtbar und gewinnbringend. Wir danken Andrea Langenbacher für das Lektorat, Cori Antonia Mackrodt und Katharina Gonsior bei Springer VS und den Institutionen, welche die Publikation finanziell und personell unterstützt haben. Insbesondere sind dies das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) in St. Gallen, das Institut de sciences sociales des religions (ISSR) an der Universität Lausanne sowie das Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) an der Universität Luzern.

Lausanne, St. Gallen und Luzern 2022.

Jörg Stolz, Arnd Bünker, Antonius Liedhegener, Eva Baumann-Neuhaus, Irene Becci, Zhargalma Dandarova-Robert, Pascal Tanner, Jeremy Senn, Oliver Wäckerlig, Urs Winter-Pfändler.