Bildungspolitische Bemühungen zur Linderung des ungedeckten Bedarfs an tertiär qualifizierten Pflege- und anderen Gesundheitsfachkräften zielen in der Schweiz fast ausnahmslos auf die quantitativ bedeutendste Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II, die berufliche Grundbildung zur/zum Fachfrau bzw. Fachmann Gesundheit (BGB FaGe), ab. Gleichzeitig bleibt die hinsichtlich ihrer formalen Anschlüsse zu den tertiären Gesundheitsausbildungen funktional anschlussäquivalente schulisch-allgemeinbildende Fachmittelschule mit Berufsfeld Gesundheit (FMS Gesundheit) von der Bildungspolitik weitestgehend unbeachtet. Die vorliegende Studie hat sich dieser erklärungsbedürftigen Ausgangslage angenommen. Es wurde die Bedeutung der allgemeinbildenden FMS Gesundheit als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems im Vergleich zur BGB FaGe untersucht.

Mithilfe des theoretischen Instrumentariums der Soziologie der Konventionen/Économie des conventions (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018a) und basierend auf einem Mixed-Methods-Design (Dokumentenanalysen, Experteninterviews, Beobachtungen, deskriptiv-statistische Analysen, theoriegeleitete qualitative Inhaltsanalyse, Argumentationsanalyse) sowie vier kantonalen Fallstudien (Kanton Zürich, Basel-Landschaft, Waadt und Tessin) wurden die beiden Hauptfragen beantwortet,

  1. 1.

    wie sich die FMS Gesundheit neben der BGB FaGe als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II positioniert(e) und

  2. 2.

    wie sich die FMS Gesundheit heute im Vergleich zur BGB FaGe profiliert, d. h. welche Ausbildungsspezifika (Zielgruppe, Bildungsziele, Bildungsinhalte, Wissensformen, Modi der Wissensvermittlung und -aneignungFootnote 1) die beiden Ausbildungsprogramme charakterisieren.Footnote 2

Die Studie gibt eine Antwort darauf, wie die zurückhaltende und vernachlässigende Haltung der Bildungspolitik, -verwaltung und anderen relevanten Akteurinnen und Akteuren gegenüber der FMS Gesundheit als schulischer Zugangsweg in die tertiären Gesundheitsausbildungen im Vergleich zur BGB FaGe gedeutet und erklärt werden kann.

Im Folgenden werden zunächst die beiden Hauptfragen zur Positionierung und Profilierung der FMS Gesundheit neben der und im Vergleich zur BGB FaGe beantwortet (Abschn. 9.1, 9.2 und 9.3). Anschließend wird die im Titel der Studie aufgeworfene Frage nach der Andersartigkeit und Gleichwertigkeit der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe aufgegriffen und resümierend reflektiert (Abschn. 9.4). Nach der Einordnung der zentralen Ergebnisse in den bisherigen Forschungsstand (Abschn. 9.5) erfolgt eine kritische Reflexion des Forschungsprozesses sowie der Grenzen der Studie (Abschn. 9.6). Als Ausblick (Abschn. 9.7) werden schließlich Forschungsdesiderata und bildungspolitische Implikationen formuliert.

9.1 Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe

Die Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II wurde aus zwei Perspektiven untersucht: aus einer historischen, die basierend auf einer Dokumentenanalyse sowie Experteninterviews den Zeitraum von 1990 bis 2004 fokussiert, sowie aus einer gegenwärtigen, die auf einem deskriptiv-statistischen Zugang beruht. Die zentralen Ergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst.

9.1.1 Vorbehaltliche und subsidiäre Positionierung

Mit der Integration der Gesundheitsausbildungen ins eidgenössische Berufsbildungsgesetz von 2002 und der damit einhergehenden Schaffung des eidgenössischen Fähigkeitszeugnisses FaGe (beruflicher Erstabschluss) (Baumeler et al. 2014a; Belser 2002; Bender 2011; Bender und Bondallaz 2016; EDK 2003a; Flury 2002; Kiener 2004a, b; Oertle Bürki 2008; SDK 2003; Spitzer und Perrenoud 2007; Wittwer-Bernhard 2002) wurde eine betriebsgestützte, praktisch ausgerichtete Ausbildungslogik für die traditionell primär schulisch organisierten Gesundheitsausbildungen dominant. Mit Bezug auf die häuslich-betrieblicheFootnote 3 Ausbildungslogik, die u. a. praxisintegriertes Lernen, körpergebundene Handarbeit sowie die Konfrontation mit Anforderungen des praktischen Berufsalltags als bedeutsame Ausbildungseigenschaften definiert, werteten Berufsbildungsvertreter/-innen die schulisch-allgemeinbildende FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe als defizitär ab. Ausgehend davon stellten dieselben Akteurinnen und Akteure das Weiterbestehen der FMS Gesundheit auf der Sekundarstufe II (bildungspolitisch) immer wieder grundlegend infrage. Die Einführung der BGB FaGe kam für die FMS Gesundheit demnach einer existenziellen Bewährungsprobe gleich, die sich in unterschiedlichen Facetten zeigte, u. a. in der Reduktion von FMS-Klassen, Bestrebungen zu Schulschliessungen oder zur Transformation der FMS Gesundheit in eine berufsqualifizierende Ausbildung. Diese unterschiedlichen seitens Berufsbildung beförderten Vorhaben erfolgten insbesondere in der Absicht, die Positionierung und damit verbunden das quantitative Wachstum der neu eingeführten BGB FaGe keiner Konkurrenz durch alternative Ausbildungsprogramme auf der Sekundarstufe II auszusetzen. Aus Sicht der Berufsbildungsvertreter/-innen sollte daher die Positionierung der FMS Gesundheit im Verhältnis zur BGB FaGe eine vorbehaltliche und subsidiäre sein. Die Parallelität und funktionale Anschlussäquivalenz zwischen den beiden Gesundheitsausbildungen wurde von Vertreterinnen und Vertretern der dualen Berufsbildung entsprechend überwiegend nicht als doppeltes Potenzial verstanden, z. B. zur Rekrutierung von tertiär qualifizierten Gesundheitsfachkräften, sondern als Konkurrenzsituation, die sich zulasten der dualen Berufsbildung auswirken könnte.

Auch im Disput um die Etablierung der FMS Gesundheit als schulisch-allgemeinbildender Zubringer zu den wissenschaftlich orientierten Fachhochschulen (FH) im Bereich Gesundheit, beruhten die kritischen Stimmen auf Seiten der Berufsbildung auf Argumenten der häuslich-betrieblichen Rationalität: Während in betrieblichen Arbeitsprozessen erworbene berufspraktische Erfahrungen und Fertigkeiten als unerlässliche Zulassungsvoraussetzungen für ein Studium an der FH betont wurden, wurden stärker schulische Formen des Erwerbs von Praxiserfahrung (kein Ernstfall, sondern im geschützten Rahmen und didaktisch unterstützt), wie dies die FMS Gesundheit u. a. vorsieht, als «Alibifunktion» (DBK 1997, S. 3) abgewertet. Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung haben demnach das Kriterium der Praxiserfahrung i. S. der häuslich-betrieblichen Ausbildungslogik als Berufspraxis ausgelegt und in der Handlungskoordination als zentrale (De-)Legitimationsressource und damit als Instrument der (De-)Valorisierung eingesetzt, um die FMS Gesundheit im Disput um den Fachhochschulzugang abzuwerten und im Gegenzug den berufsbildenden Zugangsweg als «Königsweg zu den Fachhochschulen» (EBMK 1997, S. 1) zu rechtfertigen und zu schützen.

Um der Kritik seitens der Vertreter/-innen der Berufsbildung zu begegnen und die Positionierung der FMS Gesundheit als Zubringer zu den FH im Bereich Gesundheit dennoch abzusichern, haben die FMS-Vertreter/-innen in betrieblich-praxisbezogene Ausbildungsformate der häuslichen Konvention investiert und diese im FMS-Curriculum verankert. Trotz des erheblichen Widerstands seitens der Berufsbildung ist es der FMS Gesundheit im Jahr 2004 schließlich gelungen, die für ihr Weiterbestehen existenziellen formalen Anschlüsse an die Tertiärstufe abzusichern und sich neben Gymnasium und Berufsbildung als dritter eidgenössisch anerkannter Zubringer zu den FH zu etablieren (Esposito et al. 2019).

Mit Blick auf die rekonstruierten Konventionen zeigt sich, dass die häuslich-betriebliche Konvention, die die Ausbildungslogik der dualen Berufsbildung begründet, mit der Einführung der BGB FaGe eine große Mächtigkeit erlangt hat. Die in der häuslich-betrieblichen Konvention eingelagerten Eigenschaften und Wertigkeiten leiteten die Handlungskoordination der Berufsbildungsvertreter/-innen in den Aushandlungen der untersuchten Critical Moments (Einführung der BGB FaGe sowie Disput um den Fachhochschulzugang für die FMS) an, legitimierten den berufsbildenden Weg der BGB FaGe und werteten im Gegenzug die FMS Gesundheit ab, deren Ausbildungsqualitäten in puncto Vermittlung von Praxis stärker schulische Aspekte der häuslichen Konvention betonen.

Zusammenfassend wird festgehalten, dass die FMS Gesundheit in der Vergangenheit oftmals nicht selbst «Treiber» (Vertretung_1 EDK) ihres Positionierungsprozesses gewesen ist. Vielmehr ist ihre Positionierung ein Ergebnis davon, dass sie «ständig betroffen [war] von dem, was dort [auf der Berufsbildungsseite, R. E.] geht» (Vertretung_1 EDK). Der Ausdruck einer vorbehaltlichen und subsidiären Positionierung erscheint daher treffend, um die Positionierung der allgemeinbildenden FMS Gesundheit in der Zeit von 1990 bis 2004 neben der BGB FaGe als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems zu charakterisieren und damit die erste Hauptfrage aus historischer Perspektive zu beantworten.Footnote 4

9.1.2 Positionierung als Zugangsweg in verschiedene tertiäre Gesundheitsausbildungen an Fachhochschulen

Die Positionierung der FMS Gesundheit wurde nicht nur aus einer historischen, sondern auch aus einer quantitativen Perspektive untersucht. Dabei wurde die Bedeutung der FMS Gesundheit und der BGB FaGe als Zubringer zu den tertiären Gesundheitsausbildungen fokussiert. Die statistische Auswertung von Daten der Längsschnittanalysen im Bildungsbereich (LABB) zeigen, dass die FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe zum einen überproportional viele Schüler/-innen in die Tertiärstufe führt. Zum anderen bringt die FMS Gesundheit Bildungsverläufe hervor, die mehrheitlich in eine wissenschaftlich orientierte FH münden, während diejenigen über den berufsbildenden Weg der BGB FaGe primär in die arbeitsmarktorientierte und praxisnahe Höhere Fachschule führen (Salzmann et al. 2016; Trede 2016). Die Auswertungen zeigen weiter, dass die BGB FaGe ihre Absolventinnen und Absolventen (wenn überhaupt in die Tertiärstufe) fast ausschließlich in den Pflegebereich führt, während die FMS Gesundheit zusätzlich zur Pflege ein vielfältiges Spektrum weiterer Gesundheitsausbildungen (insbesondere im medizinisch-technischen Bereich) bedient.

Hinsichtlich der Ausbildung tertiär qualifizierter Pflegefachkräfte zeigen die absoluten Zahlen, dass mehr als ein Viertel (n = 400) aller Jugendlichen, die im betrachteten Zeitraum über die FMS Gesundheit oder die BGB FaGe in eine tertiäre Pflegeausbildung eingetreten sind (n = 1508), den schulischen Zugangsweg gewählt haben. Damit trägt die FMS Gesundheit in Ergänzung zur BGB FaGe substanziell zur Rekrutierung tertiär qualifizierter Pflegefachkräfte bei.

Insgesamt kann aus quantitativer Perspektive Folgendes festgehalten werden: Zum einen positioniert sich die FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe als Zugangsweg in verschiedene tertiäre Gesundheitsausbildungen an FH. Zum anderen wird mit der weitgehenden bildungspolitischen Zurückhaltung gegenüber der FMS Gesundheit in den Fachkräftediskussionen ihr Potenzial für die Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften nicht vollständig ausgeschöpft.

9.2 Profilierung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe

Die Profilierung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe wurde im Rahmen von vier kantonalen Fallstudien sprachregionalübergreifend sowie basierend auf einem multi-methodischen Vorgehen (Dokumentenanalysen, Experteninterviews, Beobachtungen) untersucht. Leitend waren dabei die von Baethge (2006) vorgeschlagenen Dimensionen zur Charakterisierung der institutionellen Ordnungen von Allgemein- und Berufsbildung: Zielgruppe, Bildungsziele, Bildungsinhalte, Wissensformen sowie Modi der Wissensvermittlung und -aneignung (siehe Abschn. 2.5.1). Die Ergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst. Dabei wird die im Titel der Studie aufgegriffene Andersartigkeit der beiden Ausbildungsprogramme hinsichtlich ihrer Lehr- und Wissenskulturen dargestellt.

9.2.1 Andersartige Lehr- und Wissenskulturen als doppeltes Potenzial zur Rekrutierung tertiärer Gesundheitsfachkräfte

Die Lehr- und Wissenskultur der BGB FaGe ist auf das grundlegende industriell-marktliche Bildungsziel ausgerichtet, handlungskompetente, professionell einsatzfähige und produktive Fachkräfte für den unmittelbaren Arbeitsmarkteintritt sowie die Berufstätigkeit und -fähigkeit auszubilden. Die während der Ausbildung stattfindende Persönlichkeitsentwicklung wird von FaGe-Vertreterinnen und -Vertretern basierend auf einem Kompromiss aus industrieller und häuslicher Konvention als ein Erwachsenwerden und Herausbilden einer Berufspersönlichkeit valorisiert. In Übereinstimmung mit dem Ziel, Arbeitsmarktbefähigung und Berufsfachlichkeit auszubilden, sind die in der BGB FaGe vermittelten Bildungsinhalte auf die Berufsaufgaben einer bzw. eines FaGe ausgerichtet und weisen mit Unterrichtsthemen wie Ausscheidung, Sexualität und Tod zusätzlich eine häusliche Eigenschaft, i. S. eines engen Ineinandergreifens von Ausbildungs- und Lebensalltag, auf. Gefördert werden damit sowohl häusliche als auch industrielle Wissensformen, d. h. berufsspezifisches und -praktisches (Handgriffe, Routinen und Arbeitsprozesswissen), handlungsleitendes sowie funktionales Wissen, das unmittelbar angewendet und verwertet werden kann. In der BGB FaGe wird kein an der staatsbürgerlichen Konvention ausgerichtetes allgemeinbildendes und abstraktes Wissen, etwa warum es zum Fischsterben in den Ozeanen kommt, vermittelt. Entsprechend orientieren sich die Modi der Wissensvermittlung und -aneignung am Bezugspunkt der Berufspraxis und damit an der häuslichen Konvention. Dies gilt nicht nur für den betrieblich-praktischen Ausbildungsteil, in dem die Wissensvermittlung und -aneignung in Konfrontation mit den tatsächlichen Anforderungen des Berufsalltags – im Falle der BGB FaGe in unmittelbarem Kontakt und in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten – stattfindet, sondern auch für den berufsschulischen Ausbildungsteil, den sogenannten Berufskundeunterricht. Auch hier bildet die Berufspraxis, in Form typischer Situationen aus dem Pflegealltag, stets den Ausgangspunkt des Lernens. Allerdings wird die Berufspraxis im Berufskundeunterricht, i. S. der schulischen Eigenschaften der häuslichen Konvention, in den geschützten Rahmen des Schulzimmers übersetzt. Dies ist z. B. der Fall, wenn die Lernenden mithilfe eines im Lehrmittel didaktisch aufbereiteten und grafisch illustrierten Prozesses des Vorzeigens und Nachahmens konkrete Handgriffe zur Durchführung einer atemstimulierenden Einreibung oder einer atemerleichternden Lagerung von Patientinnen und Patienten erlernen sollen.

Mit ihrem Lehr- und Lerndispositiv bereitet die FMS Gesundheit ihre Schüler/-innen hingegen über die Vermittlung eines vertieften allgemeinbildenden Wissens berufsfeldspezifisch auf weiterführende Tertiärausbildungen vor. Dieses industriell-staatsbürgerlich ausgerichtete Bildungsziel spiegelt sich, anders als bei der BGB FaGe, in einem an der Studierfähigkeit ausgerichteten Lehr- und Lerndispositiv wider. Inhaltlich erwerben die Schüler/-innen entsprechend zusätzlich zu einer mittels großer Vielfalt unterschiedlicher Fächer angestrebten allgemeinen Menschenbildung (staatsbürgerliche Ausbildungseigenschaft) auch eine berufsfeldspezifische disziplinäre Fachlichkeit (industrielle Ausbildungseigenschaft). Letztere bezeichnet eine theoretisch fundierte Grundlagenausbildung in den naturwissenschaftlichen Fächern, die in den meisten Kantonen das FMS-Berufsfeld Gesundheit konstituieren. Diese in der FMS Gesundheit erworbene naturwissenschaftliche Grundlagenausbildung umfasst z. B. grundlegende Konzepte, theoretische Modelle oder fachdisziplinäre Gesetzmässigkeiten. Die dabei herausgebildeten Wissensformen sind, anders als in der BGB FaGe, nicht durch eine unmittelbare Anwendbarkeit und Verwertbarkeit charakterisiert, sondern umfassen abstraktes, disziplinäres Wissen, das keinen direkten und anwendungsorientierten Bezug zur Arbeits- oder Alltagswelt hat. Diese sowohl industriellen als auch staatsbürgerlichen Qualitäten der Bildungsinhalte und Wissensformen werden damit legitimiert, dass die Absolventinnen und Absolventen der FMS Gesundheit diese theoretischen Grundlagen brauchen, um im Rahmen einer weiterführenden Tertiärausbildung im Bereich Gesundheit verstehen und nachvollziehen zu können, wie z. B. ein Ultraschall- oder ein Röntgengerät funktioniert. Die Vorbereitung auf eine Tertiärausbildung (insbesondere FH) zeigt sich in der FMS Gesundheit auch im geförderten Lernhabitus (Ahrens 2012), der die Schüler/-innen u. a. befähigt, große Stoffmengen in unterschiedlichen Fächern zu lernen, Vernetzungen herzustellen, Informationen zu beschaffen und sich Wissen selbstständig anzueignen. Die damit angestrebten überfachlichen Kompetenzen (Soft Skills), insbesondere mit Blick auf wissenschaftliches Arbeiten und den Alltag eines Studiums, vereinen Eigenschaften der projektförmigen und industriellen Konvention. Anders als in der BGB FaGe erfolgt die Wissensvermittlung und -aneignung in der FMS Gesundheit ohne einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den vermittelten Bildungsinhalten und dem Ausbildungsalltag oder einer spezifischen künftigen Berufstätigkeit im Bereich Gesundheit. Entsprechend wird die Wissensvermittlung und -aneignung nicht durch konkrete Situationen eines gesundheitsnahen Berufsalltags angeleitet, sondern, i. S. der staatsbürgerlichen Konvention, vielmehr durch die Ausrichtung am Allgemeinen, wie etwa die Herleitung physikalischer Gesetzmässigkeiten oder das Verstehen fundamentaler biologischer Prozesse, die in unterschiedlichen tertiären Gesundheitsausbildungen (und nicht nur für ein spezifisches Berufsprofil wie z. B. FaGe) bedeutsam sind.

In den ersten drei Jahren erwerben die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit zudem praktische Fertigkeiten. Diese werden von FMS-Vertretern/-innen jedoch, anders als in der BGB FaGe, nicht als Berufspraxis verstanden, sondern i. S. der industriellen Konvention als grundlegende Arbeitsmethoden (z. B. der Laborarbeit). In den praktischen Ausbildungsgefäßen sind mit Blick auf die Modi der Wissensvermittlung und -aneignung häuslich-schulische Ausbildungseigenschaften mächtig. Dies wird z. B. daran ersichtlich, dass das Durchführen von chemischen Versuchen angeleitet stattfindet und keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten oder anderen Drittpersonen hat, sondern (wenn überhaupt) ausschließlich die entsprechende Fachnote beeinflusst. Die in den ersten drei Jahren praktisch ausgerichteten Ausbildungsgefäße vereinen damit häuslich-schulische sowie industrielle Ausbildungseigenschaften.

Anders als die Lernenden in der BGB FaGe, die von Ausbildungsbeginn an mit dem Berufsalltag im Gesundheitswesen konfrontiert werden, lernen die Schüler/-innen der FMS Gesundheit in den ersten drei Jahren fast ausschließlich im geschützten Rahmen der Schule und kommen kaum mit der Berufswelt in Kontakt. Dafür erhalten die Schüler/-innen in der FMS Gesundheit zusätzlich drei Jahre Zeit, ihre individuelle Persönlichkeit durch die Auseinandersetzung mit einem vielfältigen Fächerangebot sowie eingebunden in eine Gruppe Gleichaltriger ganzheitlich herauszubilden. Im vierten Ausbildungsjahr, wenn die Fachmaturandinnen und -maturanden Gesundheit während des Fachmaturitätspraktikums in einer Institution des Gesundheitswesens in die Arbeitswelt eintreten und dort mit Patientinnen und Patienten konfrontiert werden, werden dann, i. S. der Berufspraxis, häuslich-betriebliche Ausbildungseigenschaften relevant.

Resümierend konnte für die BGB FaGe ein eng auf den Pflegeberuf ausgerichtetes, berufsbezogenes und -praktisches Lehr- und Lerndispositiv ausgemacht werden, während sich die FMS Gesundheit mit ihrem schulischen Lehr- und Lerndispositiv als breiter Zubringer zu den unterschiedlichen Tertiärausbildungen im Bereich Gesundheit (und Naturwissenschaften [siehe Abschn. 8.1]) profiliert. Mit ihren andersartigen Lehr- und Wissenskulturen sprechen die beiden Ausbildungsprogramme verschiedene Zielgruppen an.

Mit den für die Profilierung der beiden Ausbildungsprogramme rekonstruierten mächtigen Konventionen konnte nicht nur theoriebezogen aufgezeigt werden, worin sich die beiden funktional anschlussäquivalenten Bildungswege unterscheiden, welche Lehr- und Wissenskulturen sie verfolgen und worin ihre spezifische Qualität besteht, sondern auch welche weiteren Bildungsverläufe sie aufgrund ihres Lehr- und Lerndispositivs befördern. Die vergleichende Analyse der Ausbildungsspezifika verdeutlicht damit zum einen, dass Lehr- und Wissenskulturen – neben anderen institutionellen Faktoren wie einem unterschiedlichen Leistungsvermögen der Jugendlichen (SKBF 2018), einem berufsqualifizierenden Abschluss (nur im Falle der BGB FaGe) sowie dem finanziellen Anreiz eines Ausbildungslohns – eine weitere Dimension zur Erklärung ausbildungsprogrammspezifischer Tertiärquoten und unterschiedlicher Bildungsverläufe sind (Leemann et al. 2019a). Zum anderen untermauern die Ergebnisse das komplementäre und damit doppelte Potenzial der beiden Ausbildungsprogramme für die Ausbildung von Nachwuchsfachkräften im Gesundheitsbereich.

9.2.2 Profilierung als Fachhochschulzubringer in den Bereichen Gesundheit und Life Sciences

In Bezug auf die Profilierung der beiden Ausbildungsprogramme konnte gezeigt werden, dass sich die FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe in zweifacher Hinsicht als breiter Zubringer zu den FH profiliert: erstens mit Blick auf das breite Spektrum tertiärer Gesundheitsausbildungen (u. a. Geburtshilfe, Physiotherapie, Pflege und Ergotherapie sowie medizinisch-technische Gesundheitsausbildungen), auf die das in der FMS Gesundheit vermittelte theoretische Grundlagenwissen in den naturwissenschaftlichen Fächern gezielt vorbereitet; zweitens zeigt sich eine Profilierung der FMS Gesundheit als breiter Zubringer zu den FH auch darin, dass sich dieser schulische Zugangsweg nicht mehr nur als Vorbereitung auf Tertiärausbildungen im Bereich Gesundheit, sondern zunehmend auch im Bereich Life Sciences profiliert (Esposito et al. 2018).

Die zusätzlich naturwissenschaftliche Profilierung und das damit einhergehende Image eines doppelten Zugangswegs zu den Bereichen Gesundheit und Life Sciences an FH haben die FMS-Akteurinnen und -Akteure durch Investitionen in unterschiedliche rufförmige Formate, z. B. ein Informationsvideo über die FMS, stabilisiert. Den FMS-Akteurinnen und -Akteuren ist es darüber hinaus gelungen, die kombinierte Berufsfeldbezeichnung Gesundheit/Naturwissenschaften (unter Berücksichtigung bestimmter Auflagen) in Grundlagendokumenten des FMS-Ausbildungsprogramms offiziell als Variante der Berufsfeldbezeichnung Gesundheit zu formatieren und zu verankern (EDK 2018d).

Diese Neuprofilierung des Berufsfelds Gesundheit birgt Chancen für die bis heute stark geschlechtersegregierte Berufswahl (Aepli et al. 2019; Buchmann und Kriesi 2012; Faulstich-Wieland 2016; Faulstich-Wieland und Scholand 2015; Gianettoni et al. 2015; Kriesi und Grønning 2019; Kriesi und Imdorf 2019; Leemann et al. 2019b; Leemann und Keck 2005; Makarova und Herzog 2013; Scambor 2015; SKBF 2018; Stamm 2017; World Economic Forum 2017): Zum einen hat die Kombination Gesundheit/Naturwissenschaften auf Ebene der Berufsfeldbezeichnung das Potenzial, mehr junge Männer als Zielgruppe anzusprechen und über eine naturwissenschaftlich fundierte Grundlagenausbildung an die tertiären Gesundheitsausbildungen heranzuführen, da die für junge Männer oftmals eher abschreckende Wirkung der Monoberufsfeldbezeichnung Gesundheit abgeschwächt wird (Matthes 2016; Ulrich et al. 2004). Zum anderen kann das kombinierte Berufsfeld Gesundheit/Naturwissenschaften aus dem gleichen Grund dazu beitragen, mehr junge Frauen für Ausbildungen in den Bereichen Life Sciences bzw. MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu begeistern (Esposito et al. 2018). Eine zentrale Herausforderung der Neuprofilierung des Berufsfelds Gesundheit wird künftig die vollumfängliche formale Anerkennung der Fachmaturität Naturwissenschaften durch die Abnehmerinstitutionen in den Bereichen Life Sciences/Naturwissenschaften sein, für die das Profil der FMS teilweise nach wie vor oftmals eine große Unbekannte darstellt.

9.2.3 Sprachregional unterschiedliche Profilierung und Legitimation der FMS Gesundheit

Mit Blick auf die Profilierung der FMS Gesundheit zeigen sich sprachregionale Unterschiede. In Übereinstimmung mit Cortesi (2017) konnte gezeigt werden, dass sich die FMS in der Deutschschweiz als Fachmittelschule profiliert. Das heisst, dass sowohl ihr allgemeinbildender als auch ihr berufsfeldvorbereitender Bildungsauftrag betont wird. In der Westschweiz konnte hingegen eine Profilierung der FMS Gesundheit als École de Culture Générale beobachtet werden, das heisst primär eine starke Ausrichtung am Allgemeinen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse am Beispiel der FMS Gesundheit, wie die unterschiedlichen Wertigkeiten von Allgemein- und Berufsbildung in den beiden Sprachregionen die Profilierung von Ausbildungsprogrammen und deren Verhältnis zueinander beeinflussen.

Die unterschiedliche soziokulturelle Bedeutung von Allgemein- und Berufsbildung in den untersuchten Sprachregionen vermag zusammen mit den rekonstruierten Konventionen zu erklären, warum es zu sprachregional unterschiedlichen Dynamiken zwischen den beiden Ausbildungsprogrammen kommt: In der Deutschschweiz wurde und wird die FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe von Berufsbildungsakteurinnen und -akteuren mit Bezug auf die häuslich-betriebliche Konvention immer wieder abgewertet, ihr schulisches Lehr- und Lerndispositiv wird kritisiert und ihre Existenzberechtigung fundamental infrage gestellt. Dies ist möglich, weil die die Kritik fundierende häuslich-betriebliche Ausbildungslogik (auf der auch die BGB FaGe basiert) in der Deutschschweiz einen starken bildungspolitischen Rückhalt und entsprechend Mächtigkeit hat. In der Westschweiz, die eine stark zugunsten der allgemeinbildenden Bildungsangebote hierarchisierte Sekundarstufe II aufweist (Cortesi 2017; Delay 2018; Geser 2003a), ist hingegen die staatsbürgerliche Legitimationsressource der Ausrichtung am Allgemeinen vorherrschend. Entsprechend wird die FMS Gesundheit mit ihren staatsbürgerlichen Ausbildungsqualitäten (vertiefte Allgemeinbildung, Ausrichtung am Allgemeinen, theoretisch-abstrakte Wissensform) im Vergleich zur BGB FaGe als höherwertig valorisiert. Die häuslich-betriebliche Ausbildungslogik ist in der Westschweiz hingegen deutlich weniger anerkannt und steht damit nicht als Ressource zur Abwertung der FMS Gesundheit zur Verfügung. Dies vermag zu erklären, warum in der Westschweiz keine Spannungsfelder zwischen der FMS Gesundheit und der BGB FaGe ausgemacht werden konnten.

Mit der sprachregional unterschiedlichen Profilierung der FMS Gesundheit gehen auch unterschiedliche ihr zugeschriebene Funktionen auf der Sekundarstufe II einher: Während die FMS in der Deutschschweiz von Vertreterinnen und Vertretern als Wahlschule charakterisiert wird, fungiert sie in der Westschweiz als «Ventil» (Vertretung_3 EDK), das Jugendlichen, die es nicht ins Gymnasium geschafft haben oder die keine Lehrstelle gefunden haben, trotzdem eine Ausbildungsmöglichkeit bietet. In der Westschweiz zeichnet sich die FMS demnach stärker als in der Deutschschweiz durch eine sozial integrative Funktion auf der Sekundarstufe II aus.

9.3 Dynamische Positionierungs- und Profilierungskämpfe

Wie ausgeführt, muss die Positionierung der FMS Gesundheit auf der Sekundarstufe II neben der BGB FaGe in der Deutschschweiz als vorbehaltlich und subsidiär verstanden werden. Vonseiten der Berufsbildung wurde der FMS Gesundheit nach Einführung der BGB FaGe nur eine kleine Nische als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II zugestanden (NZZ 1998). Diese Nische versuchten FMS-Vertreter/-innen zu verteidigen und zu bewahren. Sie waren jedoch stets darauf bedacht, das Bildungsangebot der dualen Berufsbildung nicht zu konkurrieren, um eine Infragestellung gefundener Kompromisse und das Hervorrufen erneuter Konfliktsituationen zu vermeiden. Wie das Beispiel der Neuprofilierung der FMS Gesundheit zeigt, versuchen FMS-Vertreter/-innen diese Nische auf der Sekundarstufe II auszuloten. Die in der Vergangenheit häufig nur reaktiv weiterentwickelte Positionierung der FMS Gesundheit wird nun von den FMS-Akteurinnen und -Akteuren mithilfe gezielter Veränderungen der Profilierung des Bildungsangebots proaktiv vorangetrieben, verbreitert und in die gewünschte Richtung gelenkt.

Auch das in einem Kanton eingeführte neue Zulassungsverfahren für die FMS, das u. a. darauf abzielt, die duale Berufsbildung zu stärken, verdeutlicht, dass die Positionierung und Profilierung von Ausbildungsangeboten als unabgeschlossene, dynamische, sich gegenseitig bedingende sowie konfliktträchtige Prozesse zu verstehen sind. Kompromisse zwischen Vertreterinnen und Vertretern der FMS Gesundheit und der BGB FaGe, verstanden als situative Handhabung der Handlungskoordination, sind in der Vergangenheit immer wieder das Verständnis von Praxis betreffend aufgebrochen. Dies verdeutlicht, dass Begriffe wie Allgemeinbildung, Berufsvorbereitung und Praxis vorerst als «verschwommene Begriffe» (Dodier 2011, S. 96) bzw. «Containerbegriffe» (Knoll 2015, S. 15) zu verstehen sind, die «die Spezifik [ihrer] konventionellen Wertigkeit offen [lassen] und deshalb unterschiedliche Bezüge» (Knoll 2015, S. 14) ermöglichen.

Der Begriff der Praxis wurde und wird z. B. von Vertreterinnen und Vertretern der FMS Gesundheit und denjenigen der BGB FaGe unterschiedlich ausgelegt und mit unterschiedlichen Wertigkeiten in Verbindung gebracht: Für Berufsbildungsvertreter/-innen sind insbesondere Berufspraxis und damit häuslich-betriebliche Ausbildungsqualitäten maßgeblich, darunter das Eintreten in die Berufs- und Erwachsenenwelt sowie das Erlernen des praktischen Handlings in der Interaktion mit Patientinnen und Patienten. FMS-Vertreter/-innen hingegen erachten zusätzlich schulische Qualitäten der häuslichen Konvention – u. a. im Schonraum praktische Aspekte üben, inszenierte, didaktisch unterstützte Simulation der Berufspraxis – sowie solche der industriellen Konvention – u. a. das Erlernen grundlegender Arbeitstechniken und -methoden – als bedeutsam und legitim, um Praxis zu valorisieren. Ausgehend davon kam und kommt es hinsichtlich der Positionierung und Profilierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe und im Vergleich zu dieser immer wieder zu Aushandlungen und Disputen darüber, was als legitime und akzeptierte Praxiserfahrung angesehen und anerkannt wird.Footnote 5 Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Bedeutung alltagstheoretischer, für die (Bildungs-)Politik nützlicher Begriffe – wie Allgemeinbildung oder Praxis – diesen nicht inhärent ist, sondern ihnen von Akteurinnen und Akteuren situativ und mit Bezug auf unterschiedliche, teils konfligierende Konventionen zugeschrieben wird (Diaz-Bone 2018a; Kiener 2004a).

Hinsichtlich der Valorisierung von Praxis bzw. praktischer Erfahrung ist es den FMS-Akteurinnen und -Akteuren der lateinischen Schweiz – dank der Investition in das Format eines sprachregionsspezifischen Rahmenlehrplans zur Ausgestaltung des außerschulischen Fachmaturitätspraktikums Gesundheit (CIIP 2011; Sottas 2011) – gelungen, schulische Eigenschaften der häuslichen Konvention als gleichermaßen legitimen Äquivalenzmaßstab wie die betrieblichen Aspekte derselben Konvention zu verankern. Diese Forminvestition steht den FMS-Akteurinnen und -Akteuren künftig in Situationen der Aushandlung oder des Disputs um die Bedeutung und das Verständnis von Praxis als Instrument der Valorisierung zur Verfügung. Dessen Mobilisation stärkt die Durchsetzungskraft und Machtposition der FMS-Akteurinnen und -Akteure in der entsprechenden Situation (Diaz-Bone 2017a). Um den auf einem unterschiedlichen Praxisverständnis beruhenden Konflikt zwischen Vertreterinnen und Vertretern der FMS Gesundheit und denjenigen der (dualen) Berufsbildung theoretisch fassbar und erklärbar zu machen, wurde in dieser Studie erstmalig eine Artikulation der häuslichen Konvention im Feld der Schule versus Betrieb (häuslich-schulisch und häuslich-betrieblich) empirisch ausgearbeitet und systematisiert (Abschn. 5.3 und 7.4).

Zwei Schlussfolgerungen können gezogen werden: Erstens begründet die Frage, welcher Äquivalenzmaßstab innerhalb der häuslichen Konvention Geltung beansprucht (was also innerhalb der häuslichen Konvention gilt), wenn es in Aushandlungssituationen darum geht, den per se bedeutungsoffenen Praxisbegriff mit Inhalt zu füllen, ein zentrales Spannungsfeld zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der beiden Ausbildungsprogramme. Zweitens wird angelehnt an die Soziologie der Konventionen dafür plädiert, die Qualität unterschiedlicher Ausbildungsprogramme und -spezifika künftig nicht als simple Zuweisungen zu einer vermeintlich reinen institutionellen Logik – Allgemein- oder Berufsbildung – zu verstehen (Baethge 2006), sondern als Kompromisse pluraler Bewertungslogiken zu theoretisieren (Kiener 2016).

9.4 Bedeutung der FMS Gesundheit: andersartig, aber (noch) nicht gleichwertig

In dieser Studie wurde anhand verschiedener Beispiele verdeutlicht, dass die beiden Ausbildungsprogramme FMS Gesundheit und BGB FaGe hinsichtlich ihrer charakteristischen Ausbildungseigenschaften andersartig sind, was angesichts unterschiedlicher Bedürfnisse junger Heranwachsender ein doppeltes Rekrutierungspotenzial tertiärer Gesundheitsfachkräfte darstellt. Die im Titel der Studie formulierte Frage ‹andersartig, aber gleichwertig?›Footnote 6 wird im Folgenden basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen und mithilfe zweier konventionensoziologischer Konzepte – die Mächtigkeit von Konventionen und das Dispositiv der Valorisierung – reflektiert.

Vertreterinnen und Vertretern der dualen Berufsbildung stehen Formate mit großer Reichweite zur Verfügung, die sie als Instrumentierungen der Valorisierung in Aushandlungs- bzw. Koordinationssituationen mobilisieren können, um die Vorstellung und Legitimität der BGB FaGe als dominante Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II zu betonen, zu stabilisieren und abzusichern. Diese Instrumentierungen ergeben in Summe ein weit aufgespanntes Dispositiv der Valorisierung, das den Berufsbildungsakteurinnen und -akteuren zur Verfügung steht und ihnen situativ eine Machtposition ermöglicht (Diaz-Bone 2017a). Einige Bestandteile dieses stabilen Dispositivs der Valorisierung werden im Folgenden ausgeführt.

Die Ausgestaltung der BGB FaGe nach Maßgabe und Standardmodell einer primär auf gewerblich-industrielle Berufe zugeschnittenen Berufsausbildung erlaubte es den FaGe-Vertreterinnen und -Vertretern, i. S. eines Nutzens dieser Investition, von Anfang an von den in der Schweizer Bevölkerung weit verbreiteten Auffassungen und Qualitätszuschreibung der dualen Berufsbildung als bewährt, traditionsreich und langlebig zu profitieren (Gonon 2015). Diese in der häuslichen Konvention verankerten und mit einer großen zeitlichen und räumlichen Reichweite ausgestatteten kognitiven Schemata werden zusätzlich durch weitreichende rufförmige kognitive Formate stabilisiert, z. B. die weitverbreiteten Auffassungen der Schweizer Berufsbildung als «Erfolgsmodell» (NZZ 2018; Schellenbauer et al. 2010) oder des berufsgestützten Zugangswegs an die FH als «Königsweg» (Gonon 2013, S. 136; SKBF 2018, S. 230).

Die Visibilität und Bekanntheit der BGB FaGe in der Öffentlichkeit verdeutlichen die Mächtigkeit der den FaGe-Vertreterinnen und -Vertretern zur Verfügung stehenden rufförmigen Bestandteile dieses Dispositivs der Valorisierung. So wurde die BGB FaGe z. B. im Rahmen der größten nationalen Berufsmesse und -meisterschaften, der SwissSkills, in Form eines großen und wiedererkennbaren Messestands nicht nur mehreren tausend Jugendlichen präsentiert, sondern auch die berufsspezifischen Tätigkeiten wurden während der Wettkämpfe der nationalen Berufsmeisterschaften live präsentiert. In dort ausliegenden Informationsbroschüren wurde der FaGe-Beruf zudem als «[e]in Beruf für Weltmeister und Weltmeisterinnen» (OdASanté 2018, S. 3) beworben.Footnote 7 Die SwissSkills als «großer Werbeanlass für die Schweizer Berufslehre» (Scheurer 15.09.2018) sind damit ein weitreichendes und mit großer zeitlicher und räumlicher Reichweite ausgestattetes Format der rufförmigen Konvention, das das Image sowie das Ansehen und die Bekanntheit der Berufsbildung als Ganzes, jedoch auch die Visibilität und Bekanntheit der BGB FaGe erweitert und verstärkt. Auch die lancierten Kampagnen berufsbildungplus.ch und gesundheitsausbildungen.ch sind Ergebnisse von Investitionen in rufförmige Formate. Diese zielen ebenfalls darauf ab, die Bekanntheit und Attraktivität der BGB FaGe in der Öffentlichkeit zu fördern, das Selbstverständnis der BGB FaGe als «wichtigste Ausbildung im Gesundheitsbereich und als Pforte zu weiteren Ausbildungen in der Branche» (Maurer 2013, S. 32) sowie als «Hauptzugangsweg in die berufliche Tertiärbildung» (Trede 2016, S. 12) in der Öffentlichkeit und in der Bildungspolitik zu verankern. Es sind solche materiellen und kognitiven Formate, die im Zusammenspiel ein höchst stabiles und mächtiges Dispositiv der Valorisierung ergeben und den Berufsbildungsvertreterinnen und -vertretern – insbesondere in der berufsbildungsaffinen Deutschschweiz – in Aushandlungssituationen zur Verfügung stehen, um das Verständnis der BGB FaGe als primäre Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II zu stützen und ihre zentrale bildungspolitische Bedeutung sowie die damit einhergehende Stärkung und Unterstützung dieses berufsbildenden Ausbildungsprogramms zur Selbstverständlichkeit zu befördern.

Hinsichtlich der FMS Gesundheit konnten hingegen u. a. Vorstellungen einer «noch junge[n] Schule» (FMS-Leitung_2_A), eines «Gymnasiums light» (FMS-Leitung_2_1), der FMS als «zweite Wahl» (FMS-Leitung_2_1) oder als Umweg zur Erlangung der gymnasialen Maturität ausgemacht werden. Mithilfe von Investitionen in rufförmige Formate, z. B. über die Veröffentlichung eines offiziellen Informationsvideos, versuchen FMS-Akteurinnen und -Akteure verstärkt, dieses Image der FMS in der Öffentlichkeit zu ändern und Wissen über den Bildungsauftrag und die Ausbildungsspezifika der FMS einfacher zugänglich zu machen. Im Gegensatz zu den Vertreterinnen und Vertretern der Berufsbildung steht denjenigen der FMS Gesundheit kein solch mächtiges und aus weitreichenden und stabilen Formaten bestehendes Dispositiv der Valorisierung zur Verfügung, um die Legitimität der FMS Gesundheit zu betonen und zu bestärken.

Mit Blick auf das übergeordnete Ziel dieser Studie, die Bedeutung der allgemeinbildenden FMS Gesundheit als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems im Vergleich zur BGB FaGe zu untersuchen, kann resümiert werden, dass die FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe zwar ein andersartiges und funktional anschlussäquivalentes Ausbildungsprogramm ist, sie sich jedoch – insbesondere in der Deutschschweiz – (noch) nicht als gleichwertige Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems positionieren, profilieren sowie insgesamt etablieren konnte und bis heute weder in der Öffentlichkeit noch bei Entscheidungsträgern aus Bildungsverwaltung und -politik als solches verankert ist.

9.5 Einordnung der Ergebnisse in den Forschungsstand

Bisherige Forschung zum historischen Institutionalisierungsprozess der FMS Gesundheit hat gezeigt, dass nach der Schaffung der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II im Jahr 2004 und der damit eingeführten Parallelität der beiden Ausbildungsprogramme ein Spannungsfeld zur Berufsbildung geschaffen wurde und die Weiterexistenz der FMS im Bereich Gesundheit vonseiten der Berufsbildung grundlegend in Frage gestellt wurde (Kiener 2004b). Leemann und Imdorf (2019b) haben Konfliktlinien zwischen der FMS und der Berufsbildung bereits für den Zeitraum ab den 1970er Jahren nachgezeichnet. Die vorliegende Studie erweitert diese historische Forschung, indem sie das Spannungsfeld zwischen der FMS und der Berufsbildung für den Bereich Gesundheit im Zeitraum von 1990 bis 2004 und anhand der beiden Critical Moments (Boltanski und Thévenot 1999, S. 359) – der Einführung der BGB FaGe sowie des Disputs um den Fachhochschulzugang für die FMS Gesundheit – fokussiert hat. Die daraus resultierenden Erkenntnisse bestätigen zum einen eine Pfadabhängigkeit der konfliktträchtigen Dynamiken zwischen der FMS Gesundheit und der Berufsbildung und vermögen zum anderen die aktuell beobachtbaren Spannungsfelder zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der beiden Ausbildungsprogramme zu erklären.

Mit Blick auf die Positionierung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe als Zubringer zu den tertiären Gesundheitsausbildungen war bisher bekannt, dass die FMS Gesundheit proportional mehr Jugendliche in die Tertiärstufe führt als die BGB FaGe (BFS 2018b; Leemann et al. 2019a), und dass Absolventinnen und Absolventen einer BGB FaGe ihren Ausbildungsweg, wenn überhaupt, an einer arbeitsmarktorientierten und praxisnahen HF und nicht an einer wissenschaftlich orientierten FH fortsetzen (Salzmann et al. 2016; Trede 2016). Beides konnte basierend auf den durchgeführten statistischen Analysen der LABB-Daten bestätigt werden. Erweitert werden konnte dieser bisherige Wissensstand um die Komponente des bei Eintritt in eine Tertiärausbildung gewählten Bildungsfelds bzw. Studiengangs. Die aus den eigenen statistischen Analysen hervorgegangenen Sankey-Diagramme (Kap. 6) verdeutlichen somit erstmals die von Jugendlichen der beiden Ausbildungsprogrammkohorten bestrittenen Bildungsverläufe innerhalb von 54 Monaten nach ihrem Erstabschluss im Jahr 2012. Die daraus hervorgehenden Ergebnisse belegen das sich ergänzende und damit doppelte Potenzial der beiden Bildungswege für die Rekrutierung von Nachwuchsfachkräften im Gesundheitsbereich.

Untersuchungen mit Fokus auf die Ausbildungsqualitäten bzw. -spezifika der beiden Ausbildungsprogramme fehlten bisher gänzlich. Mit der vergleichenden qualitativen Untersuchung (vier sprachregionalübergreifende kantonale Fallstudien sowie zwei Ausbildungsprogramme) zur Profilierung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe hat die vorliegende Studie diese Forschungslücke adressiert. Die auf einem vielfältigen Datenkorpus (Interviews, Dokumente, Fotos, Video) basierenden Ergebnisse verdeutlichen differenziert die Andersartigkeit der Lehr- und Wissenskulturen der beiden Ausbildungsprogramme. Damit ist es gelungen, die unterschiedlichen institutionellen Logiken von Allgemein- und Berufsbildung entlang der Dimensionen Zielgruppe, Bildungsziele, Bildungsinhalte, Wissensformen und Modi der Wissensvermittlung und -aneignung (Baethge 2006) am Beispiel zweier funktional anschlussäquivalenter Gesundheitsausbildungen zu veranschaulichen. In Ergänzung zu Leemann et al. (2019a) ist festzuhalten, dass Lehr- und Wissenskulturen von Ausbildungsprogrammen – neben anderen institutionellen Faktoren – eine weitere erklärende Dimension für ausbildungsprogrammspezifisch unterschiedliche Bildungsverläufe von Jugendlichen in die Tertiärstufe sind. Die in der vorliegenden Studie generierten Ergebnisse sind demnach auch für ein internationales Publikum aufschlussreich, insbesondere für Vertreter/-innen aus Ländern wie Deutschland und Österreich, deren nationales Bildungssystem ebenfalls eine Dualität allgemein- und berufsbildender Ausbildungswege vorsieht und/oder deren Gesundheitswesen ebenfalls einen erhöhten Fachkräftebedarf verzeichnet.

Mit Blick auf die Berufsbildung bestärken die empirischen Ergebnisse die Hypothese von Meyer (2019), der zufolge zur Erreichung einer intendierten Erhöhung der Tertiärquote in der Berufsbildung das Augenmerk verstärkt auf die schulische Lern- und Wissenskultur in der Berufsausbildung zu legen ist. In Anlehnung an Georg Spöttl et al. (2009) und Daniela Ahrens (2012) konnte zudem nachgezeichnet werden, dass die beiden Ausbildungsprogramme unterschiedliche Bildungstypen (betrieblich-beruflich bzw. akademisch) sowie verschiedene Lernhabitus von Jugendlichen fördern und herausbilden.

Des Weiteren kann mit der vorliegenden Studie auch an die Erkenntnis von Capaul und Keller (2014) angeknüpft werden, wonach der sowohl allgemeinbildende als auch berufsfeldvorbereitende Bildungsauftrag der FMS eines ihrer zentralen Spannungsfelder konstituiert. Die Ergebnisse verdeutlichen und spezifizieren dies sowohl am Beispiel des Berufsfelds Gesundheit als auch im Verhältnis zur Berufsbildung und zeigen darüber hinaus auf, dass dieses Spannungsfeld insbesondere auf einer unterschiedlichen Auslegung der Begriffe Allgemeinbildung, Berufsvorbereitung und Praxis beruht.

Die Ergebnisse ermöglichen eine neue Perspektive auf die von Baethge (2006) als Bildungsschisma bezeichnete Segmentation von Allgemein- und Berufsbildung sowie die hier anschließenden Konzeptionen von Hybridisierungen, die in diversen neueren Studien zur Berufs- und Hochschulbildung (u. a. Graf 2013) eingeführt wurden. In Anlehnung an Reflexionen Kieners (2016) kann festgehalten werden, dass die (bildungspolitische) Vorstellung reiner und homogener institutioneller Logiken und fixer Kategorien von Allgemein- und Berufsbildung aus konventionensoziologischer Perspektive zurückzuweisen ist. Die Ergebnisse bieten damit auch für weitere Phänomene im Bildungsbereich, in denen es um einen Disput zwischen Allgemein- und Berufsbildung geht, eine mögliche Erklärung und sind deshalb auch für internationale Leserinnen und Leser von Interesse.

Die Analysen zur Profilierung der FMS in unterschiedlichen Sprachregionen der Schweiz bestätigen für das FMS-Berufsfeld Gesundheit Cortesis (2017) Erkenntnisse, denen zufolge die sprachregional unterschiedliche soziokulturelle Bedeutung und Valorisierung von Allgemein- und Berufsbildung die Profilierung und Positionierung von Ausbildungsprogrammen auf der Sekundarstufe II beeinflussen.

Die Analyse der Neuprofilierung der FMS Gesundheit in Richtung Life Sciences und der damit einhergehenden Einführung einer offiziellen kombinierten Berufsfeldbezeichnung Gesundheit/Naturwissenschaften bestärkt bestehende Forschungsergebnisse, denen gemäß Veränderungen auf Ebene der Berufs(feld)bezeichnung zu einer offeneren Berufswahl beitragen (Matthes 2016; Ulrich et al. 2004).

Die Studie ist zum einen in die Entwicklung eines seit den 2000er Jahren wachsenden Interesses der deutschsprachigen Bildungsforschung für konventionensoziologisch angeleitete Untersuchungen einzubetten. Mit dem vorgelegten theoretischen Originalbeitrag einer feldspezifischen Artikulation der häuslichen Konvention (häuslich-schulisch und häuslich-betrieblich) leistet die vorliegende Studie außerdem einen Beitrag dazu, das Erklärungspotenzial der EC für Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildung weiterzuentwickeln und besser auszuschöpfen. Zum anderen reiht sich die Studie mit dem methodischen Einbezug diverser Artefakte, Objekte und Formatierungen, die die Soziomaterialität der rekonstruierten Konventionen illustrieren, in ein wachsendes Interesse an der Artefaktwelt und deren Bedingungen und Folgen für die Gesellschaft ein (u. a. Froschauer und Lueger 2020).

9.6 Reflexion des Forschungsprozesses und der Grenzen der Studie

9.6.1 Reflexion des Forschungsprozesses

Konventionensoziologischer Rahmen

Das analytische Instrumentarium der EC hat sich als geeigneter Rahmen erwiesen, um institutionelle Transformationen und Wandel, bildungspolitische Auseinandersetzungen (Kritik, Konfliktlinien, Spannungsfelder) um die Wertigkeit von (funktional anschlussäquivalenten) Ausbildungsprogrammen konzeptionell zu erfassen, differenziert zu verstehen und zu erklären. Außerdem war es mit Bezug auf die EC möglich, in der Ausbildungssituation der FMS Gesundheit bzw. der BGB FaGe verankerte und teilweise objektivierte Dispositive der Valorisierung sichtbar zu machen. Es ist gelungen, die Andersartigkeit der beiden Ausbildungsprogramme, losgelöst von einer verbreiteten Besser-schlechter-Diskussion, mit unterschiedlichen von Akteurinnen und Akteuren mobilisierten Qualitätskonventionen zu erklären. Der konventionensoziologische Ansatz hat sich entsprechend als vielversprechendes Instrumentarium erwiesen, um den bildungssystematischen Dualismus von Allgemein- und Berufsbildung zu überwinden sowie das Konzept einer (zunehmenden) Hybridisierung dieser beiden institutionellen Ordnungen im Kontext steigender Durchlässigkeit der Bildungswege zu hinterfragen (Kiener 2016). Die in der Studie geleistete empirische Anwendung des analytischen Instrumentariums der EC auf (Qualitäts-)Fragen der (Berufs-)Bildung kann demnach auch für Bildungsforschende auf der Suche nach einem alternativen, innovativen und methodisch vielfältigen theoretischen Zugang inspirierend sein.

Vergleichende Untersuchung

Die vorliegende Arbeit zeichnet sich methodisch durch diverse Vergleichsperspektiven aus. Bereits der grundlegende Vergleich der beiden institutionell unterschiedlich zugehörigen Ausbildungsprogramme zur Allgemein- und Berufsbildung stellte eine Herausforderung dar: So kennt z. B. die BGB FaGe drei verschiedene Lernorte und sowohl ein duales als auch ein schulisch organisiertes Ausbildungsmodell. Während in der BGB FaGe der Erwerb der Fachhochschulreife aus einem allgemeinbildenden Ausbildungsteil besteht, ist die Fachmaturität Gesundheit als primär betrieblich-praktisches Ausbildungsjahr ausgestaltet. In diesem Zusammenhang war insbesondere herausfordernd, ähnlich gelagerte Ausbildungsteile (schulisch-theoretisch, schulisch-praktisch, betrieblich- bzw. außerschulisch-praktisch) in den beiden Ausbildungsprogrammen zu finden, um einen Vergleich anstellen zu können. Ein grundlegendes Entscheidungskriterium in diesem Zusammenhang war ausgehend von begrenzten Ressourcen stets auch, die Machbarkeit der Untersuchung zu gewährleisten. Die Komplexität der Studie wurde durch den Einbezug von drei Sprachregionen zusätzlich erhöht.

Mixed-Methods-Ansatz

Der verfolgte Mixed-Methods-Ansatz hat sich für die konventionensoziologisch angeleitete empirische Untersuchung der beiden Hauptfragen der Positionierung und Profilierung als gewinnbringender Zugang erwiesen. Der gewählte beobachtende Zugang ermöglichte nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf visueller Ebene den ertragreichen Einbezug der soziomateriellen Ausstattung des zu untersuchenden Ausbildungsprofils in die Qualitätsanalyse (u. a. anhand von Fotos der Schulräumlichkeiten, Arbeitsblättern und Lehrmitteln). Dies hat dazu beigetragen, die Komplexität der beiden andersartigen Lehr- und Wissenskulturen und die damit verbundenen mächtigen Konventionen für die beiden Ausbildungsprogramme FMS Gesundheit und BGB FaGe sichtbar werden zu lassen. Der punktuelle Einbezug statistischer Daten in die primär qualitativ ausgerichtete Studie ermöglichte es zudem, die Bedeutung der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe auf der Sekundarstufe II aus einer quantitativen Perspektive zu betrachten. Dabei konnte zahlenbasiert gezeigt werden, dass der FMS Gesundheit als Zubringer zu den tertiären Gesundheitsausbildungen im Vergleich zur BGB FaGe eine überproportionale Bedeutung zukommt. Im Hinblick auf künftige Fachkräftediskussionen im Bereich Gesundheit stellt diese Studie damit faktenbasierte Informationen für Entscheidungsträger von Bildungspolitik und -verwaltung zur Verfügung.

Kantonsauswahl

Die Auswahl der Kantone hat sich grundsätzlich bewährt. Der Einbezug vier verschiedener Kantone war jedoch, wie sich im Verlaufe des Forschungsprozesses herausstellte, eine große Herausforderung. Daher wurde entschieden, einen allgemeinbildungsstarken Kanton der lateinischen Schweiz nicht im selben Umfang zu untersuchen wie die restlichen drei Kantone (hier wurden keine Interviews mit Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern sowie keine Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt). Die Ergebnisse dieser Fallstudie sind nur punktuell in die Ergebnisdarstellung eingeflossen. Mit der Kantonsauswahl war auch eine sprachregional vergleichende Perspektive intendiert, die insgesamt aufzeigen konnte, dass die Profilierung und Positionierung von Ausbildungsprogrammen stets kontextabhängig erfolgt. So haben Ausbildungsprogramme bzw. -typen sprachregional unterschiedliche Funktionen und deren Positionierung und Profilierung wird entscheidend durch die vertikale Dimension, d. h. das kantonal und sprachregional unterschiedlich ausgestaltete Tertiärangebot, beeinflusst.

9.6.2 Grenzen der Studie

In der vorliegenden Studie wurde die Bedeutung der allgemeinbildenden FMS Gesundheit als Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems im Vergleich zur BGB FaGe aus unterschiedlichen Perspektiven (historisch, quantitativ, qualitativ) eingehend untersucht. Sie gibt Aufschluss darüber, wie die vernachlässigende Haltung der Bildungspolitik gegenüber der FMS Gesundheit im Vergleich zur BGB FaGe als schulischer Zugangsweg in die tertiären Gesundheitsausbildungen gedeutet und erklärt werden kann.

Das gewählte Forschungsvorgehen weist jedoch auch Einschränkungen auf, die im Folgenden aufgeführt sind. Während in einer synchron-vergleichenden Perspektive die berufs(feld)spezifischen Ausbildungsbestandteile der beiden Ausbildungsprogramme (Berufskundeunterricht bzw. Berufsfeldunterricht) ausführlich untersucht wurden, ist ein Vergleich der allgemeinbildenden Ausbildungsbestandteile weitgehend unberücksichtigt geblieben. Insbesondere die allgemeinbildende Berufsmaturität mit Ausrichtung Gesundheit als fachgebundener Hochschulzulassungsausweis in Ergänzung zum eidgenössischen Fähigkeitszeugnis FaGe hat sich im Verlauf des Forschungsprozesses als interessante Vergleichsdimension herausgestellt. Sie wurde jedoch aus forschungspragmatischen Gründen nicht in die qualitative Analyse der Lern- und Wissenskulturen miteinbezogen.

Des Weiteren hat sich der Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der Abnehmerinstitutionen (Höhere Fachschulen und FH) als fruchtbare Ergänzung zur Perspektive der Vertreter/-innen der beiden Ausbildungsprogramme erwiesen und hätte ausführlicher in die qualitative Untersuchung miteingeschlossen werden können. Außerdem haben die beschränkten zur Verfügung stehenden Ressourcen dazu geführt, dass die Perspektive von Vertreterinnen und Vertretern des Arbeitsmarktes, die eine ergänzende Sichtweise auf die unterschiedlichen Ausbildungsqualitäten der beiden Gesundheitsausbildungen verspricht, nicht berücksichtigt wurde.

9.7 Ausblick

9.7.1 Forschungsdesiderata

Mit der vorliegenden Studie wurden Anhaltspunkte für die von Jugendlichen genannten Ausbildungsmotive für die BGB FaGe resp. die FMS Gesundheit vorgebracht. Im Rahmen der Erläuterungen zur Einführung eines neuen Zulassungsverfahrens für die FMS, das eine bewusste Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrer nachobligatorischen Bildungsentscheidung anstrebt, wurde die Bedeutung dieser Ausbildungsmotive in den Kontext von Governance von Bildung eingebettet. Untersuchungen zur Frage der individuellen Beweggründe der Ausbildungswahl für unterschiedliche, insbesondere funktional anschlussäquivalente Ausbildungsprogramme wurden in der Schweiz bisher nur wenige durchgeführt (Delay 2018) und sind folglich ein relevantes Forschungsdesiderat. Für die Berufsbildung stellt sich in diesem Zusammenhang insbesondere die bislang noch nicht untersuchte Frage nach den individuellen Beweggründen von Inhaberinnen und Inhabern eines EFZ FaGe für bzw. gegen eine Berufsmaturität sowie deren (Nicht-) Verwertung. Die damit angestrebte Antwort auf die Frage der Ausschöpfung des berufsbildenden Ausbildungswegs über die Berufsmaturität im Bereich Gesundheit begründet zugleich das Forschungsdesiderat, die Lern- und Wissenskultur im Rahmen der Berufsmaturität Gesundheit zu untersuchen und diese mit derjenigen der FMS Gesundheit zu vergleichen.

Basierend auf den Ergebnissen des geleisteten sprachregionalen Vergleichs wäre es aus bildungssystemischer Perspektive zudem interessant zu untersuchen, wie sich die gegenwärtigen bildungspolitischen Bemühungen zur Revalorisierung der Berufsbildung in der lateinischen Schweiz auf die Positionierung und Profilierung der Westschweizer FMS auswirken. Dabei können u. a. folgende Fragen gestellt werden: Welche Dynamiken, Konfliktlinien und Spannungsfelder zeichnen sich zwischen der FMS und der Berufsbildung ab? Welche Parallelen und Unterschiede sind in diesem Zusammenhang im Vergleich zur Deutschschweiz erkennbar?

Ausgehend von den skizzierten konkurrenzartigen und konfliktträchtigen Dynamiken und Spannungsfeldern zwischen FMS und Berufsbildung stellt sich zudem die Frage, wie die Verteilung und damit die quantitative Bedeutung der drei nachobligatorischen Ausbildungstypen Gymnasium, FMS und BGB auf der Sekundarstufe II in den Kantonen gesteuert, d. h. reguliert, organisiert und legitimiert werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich z. B. folgende Forschungsfragen: Wie können die teilweise kantonal stark voneinander abweichenden quantitativen Anteile der drei Ausbildungstypen auf der Sekundarstufe II erklärt werden? Welche inner- und interkantonalen Spannungsfelder können in dieser Governance beobachtet werden? Wie werden diese von den steuerungsrelevanten Akteurinnen und Akteuren bearbeitet? Wie beeinflussen diese Spannungsfelder die Positionierung der drei Ausbildungstypen? Das Augenmerk ist in diesem Zusammenhang besonders auf sprachregionale Unterschiede zwischen der Deutsch- und der Westschweiz zu legen. Das Forscherteam Leemann, Hafner und Esposito wird im Rahmen des vom Schweizer Nationalfonds geförderten und im Sommer 2020 anlaufenden Projekts Governance von Transitionen im Schweizer Bildungssystem. Studie zur Steuerung der Übergänge Primarstufe – Sekundarstufe I und Sekundarstufe I – Sekundarstufe II u. a. diese Fragen untersuchen.Footnote 8

Mit Blick auf den internationalen Kontext stützen die Erkenntnisse das Forschungsdesiderat, die Akademisierung des Gesundheitswesens und die damit beobachtbaren Dynamiken zwischen funktional anschlussäquivalenten schulischen und berufsbildenden Angeboten in anderen Ländern genauer zu betrachten. Dabei stellen sich etwa folgende Fragen: Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den international beobachtbaren Dynamiken für die Positionierung und Profilierung von Ausbildungsprogrammen in der Schweiz ableiten? Welche Determinanten können das Verhältnis zwischen funktional anschlussäquivalenten, aber institutionell unterschiedlich ausgerichteten (allgemein- versus berufsbildenden) Ausbildungsprogrammen noch beeinflussen?

9.7.2 Bildungspolitische Implikationen

Mit dieser Studie wurde ein umfassender Überblick über die Struktur der Gesundheitsausbildungen in der Schweiz gegeben. Insbesondere wurde erstmals evidenzinformiertes Steuerungs- und Handlungswissen über die FMS Gesundheit generiert, eine bislang (bildungspolitisch) im Vergleich zur BGB FaGe wenig beachtete Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II des Schweizer Bildungssystems und damit ein Zugangsweg in die tertiären Gesundheitsausbildungen. Dieses Wissen ist u. a. für Akteurinnen und Akteure aus Bildungsverwaltung und -politik von Bedeutung. Es wurden mögliche Erklärungen dafür dargelegt, dass die FMS Gesundheit als Ausbildungsprogramm im Bereich Gesundheit vor allem in der Deutschschweiz bildungspolitisch bislang im Vergleich zur BGB FaGe (bildungspolitisch) nicht als gleichwertig anerkannt wurde. Die systematische Auslegung der Ausbildungsqualitäten und -spezifika, die die beiden Ausbildungsprogramme auszeichnen, ist u. a. auch für weiterführende Abnehmerinstitutionen, die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung sowie für Jugendliche, die sich für einen nachobligatorischen Bildungsweg im Bereich Gesundheit interessieren, relevant.

Für die FMS Gesundheit sowie die FMS als Ganzes ist es weiterhin zentral, ihre Visibilität und Bekanntheit zu steigern, da bei vielen Akteurinnen und Akteuren (z. B. Lehrpersonen der Sekundarstufe I, Schüler/-innen und Eltern) noch immer wenig Wissen über den Bildungsauftrag sowie die Ausbildungsspezifika der FMS vorhanden ist (Wohlgemuth 2015). Die Aufgabe der Bildungspolitik und -verwaltung könnte es daher künftig sein, nicht nur Wissen über das Gymnasium und die Berufsbildung zur Verfügung zu stellen, sondern auch Forschungsarbeiten zur FMS zu fördern. Zudem könnten Bemühungen angestrebt werden, um dieses Wissen über die FMS insbesondere in der Ausbildung angehender Lehrpersonen der Sekundarstufe I sowie der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung zu verankern. Diese Akteurinnen und Akteure begleiten und unterstützen die Jugendlichen im Prozess ihrer nachobligatorischen Ausbildungsentscheidung intensiv.

Wie die statistischen Analysen gezeigt haben, kommt zu einer niedrigen Berufsmaturitätsquote der FaGe-Absolventen ein erheblicher Anteil hinzu, der zwar zusätzlich zum beruflichen Erstabschluss eine Berufsmaturität erworben hat, diese jedoch nicht als Zulassungsausweis zu den FH verwertet. Unter anderem mit Blick auf den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen sind seitens der Bildungspolitik Bemühungen zu unterstützen, die darauf abzielen, den Übergang der Berufsbildung im Bereich Gesundheit in die Tertiärstufe und hier insbesondere in die FH Gesundheit zu stärken. Die in diesem Zusammenhang laufenden Bestrebungen, alternative Ausbildungsmodelle der Berufsmaturität auszuarbeiten, wie z. B. die Flexibilisierung der lehrbegleitenden Berufsmaturität (EBMK 2016; econcept 2015), sind weiterhin zu fördern.

Die Erkenntnisse dieser Studie verweisen schließlich auch auf die Bedeutung der vertikalen Nahtstelle zwischen der FMS und den FH, die in den untersuchten Kantonen bis heute oftmals personenabhängig und (noch) nicht institutionalisiert ist. Dies führt dazu, dass die Ausbildungseigenschaften der FMS für einige Vertreter/-innen der FH auch heute noch weitgehend unbekannt sind. Diese vertikale Schnittstelle zwischen FMS und FH, d. h. die Regelungen der Übergänge sowie eine präzise (auch inhaltliche) Abstimmung an dieser Nahtstelle, ist für die Qualität und Attraktivität von Ausbildungsprogrammen auf der Sekundarstufe II zentral (ZHAW 2018). Der Kanton Zürich hat zu diesem Zweck das Projekt BMFHFootnote 9 lanciert, das darauf abzielt, diese vertikale Schnittstelle für den berufsbildenden Zugangsweg an die FH zu intensivieren, d. h. eine institutionalisierte Verbindung zwischen den kantonalen Anbietern der Berufsmaturität und den FH zu schaffen und damit insgesamt die Berufsmaturität als Zulassungsausweis zu den FH zu stärken (ZHAW 2018). Analog könnten bildungspolitische Bemühungen künftig ebenfalls die vertikale Nahtstelle zwischen der FMS und den FH in den Fokus rücken und damit zu einer Stärkung sowohl der Fachmaturität als Zulassungsausweis für die FH als auch der bildungssystemischen Positionierung der FMS insgesamt auf der Sekundarstufe II beitragen. Ein engeres Ineinandergreifen von FMS und den FH könnte auch die Profilierung der FMS beeinflussen und damit eine (noch) gezieltere inhaltliche Ausrichtung des FMS-Ausbildungsprogramms in Hinblick auf unterschiedliche Bereiche an FH ermöglichen. In diesem Zusammenhang sind sprachregionale Unterschiede in der vertikalen Zusammenarbeit zwischen FMS und FH zu bedenken und einzubeziehen.

An mehreren Stellen dieser Studie wurde verdeutlicht, dass der Zugang über die Fach- sowie die Berufsmaturität Gesundheit zu den tertiären Gesundheitsausbildungen mit beschränkten Studienplätzen (z. B. Geburtshilfe oder Physiotherapie) durch Absolventinnen und Absolventen einer gymnasialen Maturität konkurriert wird (Billotte 2015). Vonseiten der Bildungspolitik wurde diese Thematik bislang nur in geringem Ausmaß diskutiert, sodass gemäß den Aussagen befragter Akteurinnen und Akteure aus Bildungsverwaltung und FMS entsprechender bildungspolitischer Klärungsbedarf besteht.

Am Ende dieser Studie bleibt offen, ob die FMS Gesundheit als Zubringer zu den tertiären Gesundheitsausbildungen künftig seitens der Bildungspolitik eine stärkere Unterstützung und Aufmerksamkeit erhalten wird, so z. B. auch mit Blick auf die 2019 lancierte Volksinitiative Für eine starke Pflege, die fordert, «bis Ende 2028 zu einer bedarfsgerechten Erhöhung der Anzahl Ausbildungsabschlüsse in Pflege [sic] an den Fachhochschulen» (Schweizerische Eidgenossenschaft 27.11.2019, S. 3) beizutragen. Die schulisch-allgemeinbildende FMS Gesundheit könnte in Zukunft nicht nur als in Bezug auf die BGB FaGe andersartiges, sondern auch als gleichwertiges Ausbildungsprogramm anerkannt werden, sodass das doppelte Potenzial zur Rekrutierung und Ausbildung tertiärer Nachwuchsfachkräfte im Bereich Gesundheit vollständig ausgeschöpft werden kann.