Das vorliegende Kapitel knüpft an die im Forschungsstand aufgeführten Erkenntnisse von Leemann und Imdorf (2019b) an, denen zufolge Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung der Diplommittelschule seit den 1970er Jahren kritisch gegenüberstanden. Im Folgenden wird diese Konfliktlinie aufgenommen und das sich daraus ergebende (auch heute noch erkennbare) Spannungsfeld zwischen FMS und Berufsbildung im Bereich Gesundheit erhellt. Dem konventionensoziologisch-methodologischen Standpunkt folgend werden hierfür Situationen fokussiert, in denen sich Vertreter/-innen der Berufsbildung und der FMS koordinieren sowie eine pragmatische Lösung für das Nebeneinander auf der Sekundarstufe II aushandeln mussten. Zum einen ist dies die Einführung der BGB FaGe und damit die Etablierung der funktionalen Anschlussäquivalenz zwischen der FMS Gesundheit und der BGB FaGe (Abschn. 5.1). Zum anderen wird der Disput über die Anerkennung der FMS Gesundheit als dritter eidgenössisch anerkannter Zubringer zu den FH im Bereich Gesundheit untersucht (Abschn. 5.2). Das verbindende Element dieser beiden Situationen ist die Infragestellung der FMS Gesundheit seitens Vertreter/-innen der Berufsbildung. Diese beiden Critical Moments beantworten die beiden Teilfragen zur Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II. Abgeschlossen wird das vorliegende Kapitel mit Überlegungen zur Weiterentwicklung des konventionensoziologischen Rahmens für Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildungsforschung (Abschn. 5.3).

5.1 Einführung der BGB FaGe und ihre Auswirkungen auf die Positionierung der FMS Gesundheit

Um die Frage nach den Auswirkungen der Einführung der BGB FaGe für die FMS Gesundheit zu beantworten, wird im ersten Schritt dargelegt, welche Veränderungen die Einführung von Berufsausbildungen im Bereich Gesundheit auf der Sekundarstufe II für die bis zu diesem Zeitpunkt dominanten Ausbildungslogiken der traditionellen Gesundheitsausbildungen mit sich brachten (Abschn. 5.1.1).Footnote 1 Dazu werden folgende Fragen beantwortet: Welche Konventionen wurden mit der Schaffung der BGB FaGe formatiert? Welche Konventionen haben als leitende Ausbildungslogiken Mächtigkeit erlangt und welche wurden zurückgedrängt? In welche Formen haben die Akteurinnen und Akteure investiert, um diese Ausbildungsprinzipien durchzusetzen? Welche Opfer mussten in diesem Zusammenhang in Kauf genommen werden und welchen Nutzen brachten diese Forminvestitionen? Die Beantwortung dieser Fragen ist essenziell, um die im weiteren Verlauf der Studie geschilderten Konfliktlinien und Dispute zwischen Akteurinnen und Akteuren der Berufsbildung und der FMS Gesundheit besser verstehen zu können.

5.1.1 In-Form-Bringen der Gesundheitsausbildungen auf der Sekundarstufe II

Die bis ins Jahr 2002 kantonal geregelten Gesundheitsausbildungen folgten traditionell einer eigenen Ausbildungssystematik, die «mit dem übrigen Bildungssystem der Schweiz wenig kompatibel» (Kiener 2004b, S. 17) war. Die Integration der Gesundheitsausbildungen in die ordentliche Berufsbildungssystematik erforderte folglich einen «Übergangs- bzw. Übersetzungs-Prozess» (Kiener 2004b, S. 16). Gemäß einer Vertretung der Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen war die bundesseitige Forderung in diesem Zusammenhang eindeutig: Die Eingliederung der Gesundheitsberufe in das neue Berufsbildungsgesetz erforderte die Einführung einer BGB auf der Sekundarstufe II (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen). Das neue Berufsbildungsgesetz wurde dabei als «einheitliche[r] Rahmen für alle Berufe» (Marty et al. 1998, S. 9) bzw. als «gemeinsame[s] Dach einer integrierten Berufsbildung» (Kiener 2004b, S. 16) erachtet. Die Gesundheitsausbildungen, die bis anhin «eine Sonderbehandlung» (Flury 2002, S. 48) erfahren haben, mussten also in eine mit dem neuen Berufsbildungsgesetz kompatible Form gebracht werden. Damit trafen «unterschiedliche Berufsbildungskulturen» (Bundesrat 2000, S. 5708 f.) bzw. «unterschiedliche Berufsbildungstraditionen» (Wittwer-Bernhard 2002, S. 29) aufeinander, was zwischen Vertreterinnen und Vertretern des Bundes sowie jenen der Gesundheitsberufe einen Disput darüber auslöste, welche Ausbildungslogiken für die Gesundheitsberufe als legitim erachtet werden. Eine Vertretung der Task Force beschreibt diese Situation folgendermaßen:

Und das ist schon spannend gewesen, wie dann die unterschiedlichen Kulturen aufeinandergeprallt sind, auch unterschiedliche Vorstellungen von Bildung, unterschiedliche Vorstellungen von Ethik in den Berufen, von Professionalität, von Ausbildung und so weiter. Also das ist eine Herausforderung gewesen. (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen)

Diese Konfliktsituation mündete im Ergebnis in einer «Opferung» (Blokker und Brighenti 2011, S. 385) grundlegender Ausbildungsprinzipien der traditionell schulisch dominierten Gesundheitsausbildungen (Kiener 2003, 2007; Maurer 2013): Das bislang erforderliche Mindesteintrittsalter zum Eintritt in die Gesundheitsausbildungen wurde von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt und die zentrale Bedeutung der Allgemeinbildung als weiterer Aspekt dieses «Kulturschocks» (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen) auf ein für BGB standardisiertes Maß zurückgedrängt. Ein jahrelanger Versuch, «möglichst viele Elemente der traditionellen Gesundheitsausbildungen in die neue Berufsbildungssystematik zu retten» (Kiener 2007, S. 492), ist damit gescheitert. Denn die Ausbildungsstruktur der BGB FaGe «unterscheidet sich strukturell in nichts von der für andere Berufe dominanten Ausbildungsorganisation» (Kiener 2007, S. 492) und ist heute klar dual organisiert. Im Folgenden wird darauf eingegangen, wie diese Transformation erklärt werden kann.

Eine Möglichkeit ist darin zu sehen, dass die Gesundheitsberufe mit der Integration ins neue Berufsbildungsgesetz «zu Berufen unter vielen» (Flury 2002, S. 48) wurden. Wie die folgende Aussage einer Vertretung der genannten Task Force in Bezug auf die Debatte um die Herabsetzung des Eintrittsalters verdeutlicht, wurde mit der Schaffung einer BGB im Bereich Gesundheit die Vergleichbarkeit bzw. Gleichsetzung der bislang gesondert geregelten Gesundheitsberufe mit den übrigen unter dem neuen Berufsbildungsgesetz stehenden gewerblich-industriellen Berufsausbildungen möglich.

In jeder Autogarage […] gibt es auch Automechanikerlehrlinge, die Drähte wechseln und auf eigene Verantwortung die Schrauben anziehen müssen. Da kann es auch tödliche Unfälle geben, wenn jemand das nicht richtig macht. Es gibt nicht nur Gesundheitsausbildungen, die Verantwortung haben. Es gibt auch einen Haufen andere Berufe, die auch eine große Verantwortung haben. (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen)

Diese Gleichsetzung mit den gewerblich-industriellen Berufen machten sich die Vertreter/-innen des Bundes zunutze, um die neu einzuführende BGB FaGe als eine gemäß neuem Berufsbildungsgesetz standardisierte, primär am dualen Ausbildungsmodell ausgerichtete BGB auf der Sekundarstufe II auszugestalten und damit die schulisch-allgemeinbildende und auf persönliche Reife bedachte Ausbildungslogik der traditionellen Gesundheitsausbildungen zugunsten beruflicher Praxis zurückzudrängen (Flury 2002; Kiener 2004b, 2007; Kilchsperger 2004).

Aus konventionensoziologischer Perspektive betrachtet liegt hier eine Aushandlungssituation vor, in der die häusliche Konvention von den Vertreterinnen und Vertretern der Berufsbildung einerseits bezüglich der Bedeutung der persönlichen Reife zurückgewiesen, andererseits von denselben Akteurinnen und Akteuren mobilisiert wird, um berufspraktisches Lernen in der Berufspraxis als bedeutende Ausbildungseigenschaft zu betonen. Zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der Berufsbildung und jenen der traditionellen Gesundheitsausbildungen geht es also um einen Disput über den relevanten Äquivalenzmaßstab innerhalb der häuslichen Konvention. Persönlichkeitsbildung steht dabei betrieblicher Berufspraxis gegenüber.

Konventionensoziologisch kann die Überführung der Gesundheitsberufe in die ordentliche Bildungssystematik und die damit einhergehende Schaffung der BGB FaGe als ein Prozess des In-Form-Bringens beschrieben werden, in dem die Kompatibilität der Ausbildungsorganisation der BGB FaGe mit den Prinzipien und Logiken des neuen Berufsbildungsgesetzes hergestellt sowie Äquivalenzen und Vergleichbarkeit mit anderen diesem Gesetz unterstellten Berufen geschaffen wurde. Der gemeinsame Nenner, um diese Äquivalenz herzustellen, war die Form ‹Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis gemäß neuem Berufsbildungsgesetz›, verstanden als eine allgemeine Form, die i. S. der industriellen Konvention strukturelle Eckpunkte einer BGB über alle Berufe hinweg standardisiert, wie z. B. das Verhältnis zwischen schulischem und betrieblichem Lernen. Dies zeigte sich bei der Konzipierung der BGB FaGe insbesondere an zwei Aspekten. Erstens fand eine Verschiebung des relevanten Äquivalenzmaßstabes innerhalb der häuslichen Konvention statt: Die früher bedeutsame Valorisierung der persönliche Reife wurde zugunsten einer, dem dualen Ausbildungsmodell entsprechenden, deutlich stärkeren betrieblich-praktischen Ausrichtung zurückgedrängt. Zweitens wurde die Bedeutung der «beeindruckenden Breite an Allgemeinbildung» (Kilchsperger o. J., S. 4) als staatsbürgerliche Ausbildungsqualität abgeschwächt. In Anlehnung an Affichard (1986, S. 139) kann in Bezug auf die Überführung der Gesundheitsberufe in die ordentliche Berufsbildungssystematik von einer «homologisation des titres» gesprochen werden, also eine Vereinheitlichung von (Berufs-) Bildungsabschlüssen.

Neben den genannten ‹Opfern› bzw. Kosten, die mit dieser Vereinheitlichung einhergingen, brachte die Standardisierung der BGB FaGe gemäß neuem Berufsbildungsgesetz auch einen zentralen Nutzen mit sich: Die BGB FaGe profitierte von Anfang an vom Image der BGB als «bodenständig», «sicherer Weg», «sehr verankert im Schweizer Bildungssystem» (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen). Als Teil der Berufsbildung, die, gemessen an ihrem quantitativen Anteil, als Standard (Leemann 2019b) der nachobligatorischen Ausbildungen auf der Sekundarstufe II bezeichnet werden kann, erweckte die neu eingeführte BGB FaGe von Anfang an in der Schweizer Bevölkerung ein «Vertrauen in das Etablierte» (Diaz-Bone 2018a, S. 338). Eine Vertretung der Task Force bestätigt dies mit der folgenden Aussage:

Der Weg [über eine Lehre, R. E.] ist natürlich auch verankert in der Bevölkerung. Die Leute kennen die Lehre. Und, dass es jetzt plötzlich eine Lehre gibt [im Gesundheitsbereich, R. E.], das ist bei vielen Leuten natürlich auf ein sehr positives Echo gestoßen. (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen)

Dieser ‹Imagenutzen› stand den FaGe-Vertreterinnen und -Vertretern als rufförmiges Instrument der Valorisierung zur Verfügung, das in Aushandlungssituationen entsprechend eingesetzt und genutzt werden konnte. Diese Erkenntnis liefert erste Hinweise, um zu verstehen, weshalb sich die BGB FaGe in nur wenigen Jahren nach ihrer Einführung 2004 zur am zweithäufigsten gewählten BGB der Schweiz (SBFI 2019) entwickelte und sich in der Schweizer Bevölkerung als bedeutsame, weitestgehend legitimierte und nicht hinterfragte Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II etablieren konnte, die auch einen starken bildungspolitischen Rückhalt hat.

Nachdem aufgezeigt wurde, welche Verschiebung relevanter Ausbildungslogiken mit der Schaffung der BGB FaGe für die Gesundheitsausbildungen einher ging und welche Konventionen formatiert und Mächtigkeit erlangt haben, interessiert im zweiten Schritt, welche Auswirkungen die Einführung der BGB FaGe auf die bildungssystemische Positionierung der FMS hatte, die bis zu diesem Zeitpunkt eine bedeutende schulisch-allgemeinbildende Vorbildung für die Gesundheitsausbildungen war.Footnote 2 In diesem Zusammenhang werden folgende Fragen beantwortet: Welche Konventionen wurden von verschiedenen Akteursgruppen mobilisiert, um die Ausbildungsqualität des jeweiligen Ausbildungsprogramms zu legitimieren? Welche Kritik, Dispute und Konfliktlinien lassen sich ausgehend von der mit der BGB FaGe eingeführten Parallelität schulischer und berufsbildender Gesundheitsausbildung auf der Sekundarstufe II ausmachen? Welches waren in diesem Zusammenhang die kritikübenden und befürwortenden Akteurinnen und Akteure?

5.1.2 Einführung der BGB FaGe – Eine Bewährungsprobe für die FMS Gesundheit

Mit der Schaffung der BGB FaGe wurde auf der Sekundarstufe II im Bereich Gesundheit eine Parallelität zur schulisch-allgemeinbildenden FMS Gesundheit institutionalisiert. Während sich die Berufsbildungsvertreter/-innen «auf eine Position der Stärke beziehen konnte[n], die sich aus dem neuen Berufsbildungsgesetz ergab» (Kiener 2003, S. 53), gerieten die FMS-Akteurinnen und -Akteure unter Druck, die künftige Rolle und Funktion der FMS als alternatives nachobligatorisches Angebot im Bereich Gesundheit zu klären. Im Ergebnis mündete die Einführung der BGB FaGe in einer seitens Berufsbildung befeuerten grundlegenden Infragestellung des Weiterbestehens der FMS. Dieser kritische Moment i. S. einer für die FMS existenziellen Bewährungsprobe wird im Folgenden zuerst auf überkantonaler Ebene und anschließend exemplarisch für die untersuchten Fälle A und D ausgeführt.

Die neue Bildungssystematik für die Gesundheitsausbildungen von 1999 sah neben dem neu einzuführenden berufsgestützten Weg über die BGB FaGe weiterhin auch schulische Zugangswege in die tertiären Gesundheitsausbildungen vor, insbesondere die FMS (Oertle Bürki 2000). Zusätzlich zur Sanitätsdirektorenkonferenz (SDK)Footnote 3 befürworteten auch Vertreter/-innen der FH im Bereich Gesundheit, der Gymnasien sowie des Gesundheitswesens das Weiterbestehen schulischer Zubringerausbildungen zu den weiterführenden Berufsausbildungen im Bereich Gesundheit, ohne dabei gegen die Einführung der BGB FaGe zu opponieren (EDK 2003a; Kiener 2004b; Oertle Bürki 2000). Verstanden als Ergebnis verschiedener vorangehender Forminvestitionen hatte die neue Bildungssystematik für die Gesundheitsausbildungen damit, einer Vertretung der Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen zufolge, vorerst eine bestärkende Wirkung auf die Positionierung der FMS im Bildungssystem (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen). Denn die Funktion der FMS als funktionale und gezielte Vorbereitung auf die tertiären Gesundheitsausbildungen wurde in der neuen Bildungssystematik (auch grafisch) formatiert und damit stabilisiert. Aus Sicht der Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen sollte auch nach Einführung der dualen BGB FaGe weiterhin der schulgestützte Weg über die FMS der «Königsweg» (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen) in die weiterführenden Gesundheitsausbildungen bleiben. Begründet wurde dies insbesondere mit Bezug auf zwei Argumente: Erstens vermittle die FMS als optimale Vorbereitung auf die tertiären Gesundheitsausbildungen eine vertiefte Allgemeinbildung. Diese Ausbildungsqualität wurde nicht zuletzt auch deshalb als bedeutsam erachtet, weil sie dazu beitrage, dass Pflegefachpersonen in der ausgeprägten Berufshierarchie des Gesundheitswesens möglichst weit oben wahrgenommen werden (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen). Zweitens sei die FMS auch aufgrund ihres besonderen Augenmerks auf Persönlichkeitsbildung weiterhin als Königsweg in die tertiären Gesundheitsausbildungen zu erachten. Die Befürworter betonten damit also insbesondere staatsbürgerliche (Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung) und häusliche (Fokus auf Persönlichkeitsbildung) Ausbildungsqualitäten der FMS, um deren Positionierung neben der BGB FaGe als schulgestützten Ausbildungswegs im Bereich Gesundheit auf der Sekundarstufe II zu legitimieren: jene Ausbildungseigenschaften also, die bei der Ausgestaltung der BGB FaGe im Vergleich zu den traditionellen Gesundheitsausbildungen geopfert wurden.

Als «Mischform zwischen Allgemein- und Berufsbildung» (Kiener 2008, S. 247) galt die FMS hingegen für Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung als «Fremdkörper» (Kiener 2008, S. 247), der von der Sekundarstufe II verschwinden sollte (Kiener 2008). Dies bestätigt auch die folgende Aussage einer EDK-Vertretung:

Die [Vertreter/-innen der Berufsbildung, R. E.] haben alle gefunden, die FMS braucht es jetzt, spätestens jetzt nicht mehr, falls es sie überhaupt einmal gebraucht hat. Eben, weil jetzt haben wir ja die Berufsbildung vervollständigt, wir haben sie geklärt, für was braucht es jetzt da dazwischen noch so eine FMS? […] Ja, spätestens seit wir doch eine Lehre haben im Gesundheitsbereich […], braucht es jetzt doch das [die FMS, R. E.] nicht mehr dazwischen. Das ist jedenfalls stark die Reaktion der Berufsbildungsseite gewesen und geworden. (Vertretung_1 EDK)

Die Berufsbildungsvertreter/-innen sahen das Weiterbestehen der FMS im Bereich Gesundheit als nicht weiter notwendig an und vertraten den Standpunkt, «(aus Sicht der Berufsbildung sprechend) ‹wir decken doch mit dem Berufsbildungssystem alles ab, was nicht gymnasiale Ausbildung ist, […] spätestens seit wir jetzt auch noch eine FaGe- und eine FaBe-LehreFootnote 4 anbieten›» (Vertretung_1 EDK). Die Wunschvorstellung der Berufsbildungsakteurinnen und -akteure einer ausschließlich auf zwei Säulen basierenden Sekundarstufe II ohne die FMS als «Dazwischen» (Vertretung_1 EDK) wird hier deutlich (Kiener 2008). Eines der Hauptargumente, weshalb die FMS aus Sicht der Berufsbildung nicht weiter bestehen bleiben sollte, brachte eine Vertretung der Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen folgendermaßen auf den Punkt:

[E]s [die FMS, R. E.] ist ja nur schulisch und schulisch, das ist viel weniger wert als im Leben draußen mit Kunden, mit den Reklamationen umgehen müssen. Das ist eigentlich dann die Lebensschule. Und das andere in der Schule ist Elfenbeinturm, in dem man nur aus einem Lehrbuch heraus so ein bisschen, im besten Fall, ein Rollenspiel macht, aber die Lernwirksamkeit eigentlich relativ gering ist. (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen)

Die zitierten Ausdrücke «Lebensschule» und «im Leben draußen mit Kunden» stehen stellvertretend dafür, dass sich Vertreter/-innen der Berufsbildung auf die häusliche Konvention berufen haben, um die Existenzberechtigung der schulischen FMS als paralleles Ausbildungsangebot zur BGB FaGe im Bereich Gesundheit auf der Sekundarstufe II zu delegitimieren. Die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure haben demnach insbesondere die Konfrontation mit der Lebensrealität und der Berufspraxis als bedeutsamer Kontext des Lernens valorisiert. Es sind diese betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention, die mit der Schaffung der BGB FaGe als dominante Ausbildungslogiken der Gesundheitsausbildungen auf der Sekundarstufe II verankert wurden. Gleichzeitig haben die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure das staatsbürgerliche Ausbildungsspezifikum der schulischen FMS, die Distanzierung von der Wirklichkeit bzw. der Berufspraxis, i. S. eines «Elfenbeinturm[s], in dem […] nur aus einem Lehrbuch heraus» (Vertretung Task Force Berufsbildung im Gesundheitswesen) gelernt wird, als nicht bedeutsame Ausbildungsqualität zurückgewiesen. Hier ist eine Parallele zu der von Leemann und Imdorf (2019b) für die 1970er Jahre herausgearbeiteten Konfliktlinie zu erkennen, der zufolge die Diplommittelschule seitens der Berufsbildungsvertreter/-innen ebenso insbesondere für ihr schulisches Lehr- und Lerndispositiv i. S. einer «Abschirmung des schulischen Lernens von der Wirklichkeit» (Leemann und Imdorf 2019b, S. 452) kritisiert wurde.

Mit den bisherigen Schilderungen wurde auf überkantonaler Ebene ausgeführt, dass das Weiterbestehen und damit die bildungssystemische Positionierung der FMS durch die Einführung der BGB FaGe von Vertreterinnen und Vertretern der dualen Berufsbildung im Bereich Gesundheit existenziell in Frage gestellt und kritisiert wurde. Die folgenden Ausführungen verdeutlichen nun am Beispiel des berufsbildungsstarken Kantons Zürich sowie des allgemeinbildungsstarken Kantons Tessin, wie sich die Einführung der BGB FaGe auf die Legitimation und die Positionierung der FMS Gesundheit auf der Sekundarstufe II ausgewirkt hat. Vorwegnehmen lässt sich, dass die Einführung der BGB FaGe in beiden Fällen in einer grundlegenden Bewährungsprobe für die FMS im Bereich Gesundheit mündete.

5.1.2.1 Kanton Zürich: Subsidiarität der FMS Gesundheit im Verhältnis zur BGB FaGe auf der Sekundarstufe II

Die Institutionalisierung der BGB FaGe im Jahr 2004 fundierte im Kanton Zürich (Fall A) einen «kleine[n] Konflikt» (FMS-Leitung_1_A), denn es war absehbar, dass damit eine Konkurrenzsituation und ein Spannungsfeld zwischen der BGB FaGe und der FMS Gesundheit geschaffen würde, in dem es um einen Wettbewerb um die leistungsstarken Schüler/-innen gehen würde (ehemalige FMS-Lehrperson_A). Aus diesem Grund sollte die FMS zu Beginn der 2000er Jahre aus Sicht kantonaler bildungspolitischer Kreise «pulverisier[t]» (FMS-Leitung_1_A) werden. Nach einem «politischen Tauziehen um die Schule» (FMS-Leitung_2_A) gelang es, u. a. bedingt durch einen Wechsel an der Spitze der kantonalen Bildungsdirektion, die geplante Schließung «im letzten Moment» (Bosshard 2007, S. 19) abzuwenden und die FMS zu retten (FMS-Leitung_2_A). Medial wurde dies als «couragierter Entscheid» (Bosshard 2007, S. 19) des kantonalen Regierungsrates gehandelt.

Basierend auf dem damaligen kantonalen Paradigma, dem zufolge «es nur FMS-Profile geben [kann] in einem Bereich, wo es keine entsprechende Berufsbildung gibt» (FMS-Leitung_1_A), beschloss der kantonale Regierungsrat 2006 – trotz erheblichen Widerstandes seitens des FMS-Lehrkörpers – eine neue FMS-Konzeption: Das FMS Berufsfeld Gesundheit sollte in eine schulgestützte BGB umgewandelt und damit institutionell in die Berufsbildung integriert werden. In dieser Form sollten die Jugendlichen nach vier Jahren ein berufsbefähigendes EFZ FaGe sowie eine Berufsmaturität Gesundheit erlangen (Regierungsrat Kanton Zürich 2006, S. 42).Footnote 5 Der kantonale Regierungsrat legitimierte diesen 2006 getroffenen Beschluss damit, dass die neue FMS-Konzeption als zusätzlicher berufsqualifizierender Rekrutierungsweg zur Sicherung des erforderlichen Nachwuchses im Bereich tertiärer Gesundheitsausbildungen beitrage. Außerdem ermögliche der in der neuen FMS-Konzeption vorgesehene berufsqualifizierende Abschluss einen unmittelbaren Eintritt in den Arbeitsmarkt, ohne die Problematik des knappen Lehrstellenangebotes weiter zu verschärfen. Beide Argumente beruhen auf der industriellen Logik einer Effizienzsteigerung hinsichtlich der Generierung von Ausbildungsabschlüssen im Bereich Gesundheit.

Ein weiterer Aspekt, der diese Transformationsidee entscheidend mitgeprägt hat, war die seitens der Berufsbildungsvertreter/-innen befürchtete Entstehung von Konkurrenz zwischen der neu eingeführten dualen BGB FaGe und dem Angebot der FMS Gesundheit (FMS-Leitung_2_A). Folglich wurde festgelegt,

dass das FMS-Ausbildungsangebot im Kanton so auszugestalten sei, dass daraus keine schulische Konkurrenz für die Berufsbildung entsteht. Mit anderen Worten, das FMS-Ausbildungsangebot versteht sich als ergänzendes und nicht als ein die Berufsbildung konkurrierendes Bildungsangebot. (Lehrpersonenkonferenz der Mittelschulen des Kantons Zürich 2006, S. 2)

Die damit festgelegte subsidiäre Positionierung der FMS im Vergleich zur Berufsbildung sollte also eine mögliche Konkurrenz verhindern. Diese Subsidiarität der FMS Gesundheit im Verhältnis zur neu eingeführten dualen BGB FaGe wurde im Regierungsratsbeschluss sogar als Grundsatz der intendierten neuen FMS-Konzeption verankert.Footnote 6

Das Fachmittelschulkonzept des Kantons […] beruht auf dem Grundsatz, dass in jenen Fachbereichen, in denen auf der Sekundarstufe II Angebote für eine berufliche Grundbildung und der Erwerb einer Berufsmaturität bestehen, auf die Einführung eines Fachmittelschulausweises und einer Fachmaturität verzichtet wird. (Regierungsrat Kanton Zürich 2006, S. 42)

Nachdem dieses neue Modell für die FMS Gesundheit in den Schulen bereits weitgehend vorbereitet und geplant war (FMS-Leitung_2_A), wurde der definitive Bewilligungsentscheid schließlich von der obersten Verwaltungsebene der Berufsbildung, das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT), nicht gut geheißen. Der Grund war, dass die Ausbildungsstruktur der angedachten FMS-Konzeption im Bereich Gesundheit nicht den gängigen Vorstellungen des BBT in Bezug auf die Verteilung der praktischen Ausbildungsbestandteile entsprach (Kiener 2004b). Diese sollten nicht erst nach drei Jahren Ausbildung einsetzen, sondern integriert über die gesamte Ausbildungsdauer erfolgen (FMS-Leitung_1_A), d. h. nach dem Standardmodell der BGB gemäß neuem Berufsbildungsgesetz von 2002. Aus Sicht einer EDK-Vertretung ist das Scheitern der neuen FMS-Konzeption auch Ausdruck davon,

dass es auf der Berufsbildungsseite eigentlich relativ wenig Neigungen gegeben hat, das auszuprobieren, was die Berufsbildung eigentlich ermöglichen sollte im Jahr 2004: nämlich einen flexiblen Anteil zwischen betrieblicher und schulischer Ausbildung. Das ist heute immer noch relativ eindeutig und relativ starr in der ganzen Umsetzung. Also, entweder machst du eine Lehre und dann bist du höchstens anderthalb Tage in der Schule, oder du machst eine Schule, mit der du dann am Schluss ein EFZ bekommst und dann hast du einfach so und so viel Praktikum – tertium non datur. Dass es aber Berufsbildungen gibt oder geben könnte unter dem Berufsbildungsgesetz, bei denen die Anteile variabel sind, und dann folglich ja auch in den schulischen Institutionen Möglichkeiten erweitert werden […], die dann durchaus am Schluss Berufsbildungen sind, das ist ein bisschen verloren gegangen. […] Also da irgendwie ein bisschen über die Grenze hinweg auch Fantasie zu haben und sich auch vorstellen zu können, dass auch einmal eine FMS einen Beitrag leistet zu etwas, das am Schluss ein EFZ oder so etwas wird. Da fehlt es glaube ich […] an den nötigen Cross-over-Fähigkeiten in einem solchen System. Es ist wirklich so, und man neigt, glaube ich, einfach dazu, die Eindeutigkeit zu suchen – also entweder oder. (Vertretung_1 EDK)Footnote 7

Auf das Schuljahr 2007/2008 hin, relativ spät im Vergleich zu anderen Kantonen, wurde die FMS Gesundheit schließlich in Fall A als schulisch-allgemeinbildendes Angebot auf der Sekundarstufe II eingeführt. Dies jedoch unter Auflagen: Die FMS sollte vorerst «still starten» (FMS-Leitung_2_A), ohne mediale Aufmerksamkeit, denn sie sollte die dualen BGB FaGe nach wie vor nicht konkurrieren. Eine leitende FMS-Vertretung betont zudem, dass die Schülerzahlen nicht «explodieren» (FMS-Leitung_2_A) durften, sondern sich die FMS vielmehr «organisch entwickeln» (FMS-Leitung_2_A) sollte. Im Gegensatz dazu wurde das Wachstum der BGB FaGe von Beginn an bildungspolitisch stark gefördert, wie die entsprechenden kantonalen Entwicklungszahlen belegen (Bayard 2018). Erst als der Fachkräftebedarf im Gesundheitsbereich weiter anstieg und das Potenzial der FMS in diesem Zusammenhang erkannt wurde, wurde in rufförmige Formate wie Hochglanzbroschüren oder die Berufsberatung investiert, um die FMS bekannter zu machen und entsprechend auch als attraktiven Zugangsweg in die tertiären Gesundheitsausbildungen an FH zu profilieren.

Abschließend wird für den Kanton Zürich (Fall A) mit Blick auf die Positionierung der FMS Gesundheit auf der Sekundarstufe II festgehalten, dass die Einführung der BGB FaGe als eine existenzielle Bewährungsprobe in der Geschichte der FMS Gesundheit zu betrachten ist, in der sie sich gegenüber ihrer intendierten Abschaffung und Umwandlung in eine berufsqualifizierende Ausbildung behaupten musste. Ausgehend von diesen geschilderten Dynamiken in Fall A stellen sich u. a. folgende Fragen: Hängen diese Konkurrenzdynamiken und Infragestellungen mit der Tatsache zusammen, dass der Kanton ZH einen berufsbildungsstarken Deutschschweizer Kanton repräsentiert? Welche Veränderungen sind entsprechend für die FMS Gesundheit nach der Einführung der BGB FaGe im Kanton Tessin (Fall D), einem allgemeinbildungsstarken Kanton der lateinischen Schweiz, zu erwarten? Diese Fragen werden im Folgenden beantwortet.

5.1.2.2 Kanton Tessin: Kampf der FMS Gesundheit um ihren Platz auf der Sekundarstufe II

Im Kanton Tessin (Fall D) erreichte die FMS im Jahr 2000 mit 15 FMS-Klassen im ersten Jahrgang und insgesamt rund 600 Schüler/-innen ihren Höhepunkt (FMS-Leitung_1_D). Zu dieser Zeit diente die FMS als Notlösung resp. als Zeitüberbrückung und füllte damit insbesondere «quel buco, quel vuoto»Footnote 8 (FMS-Leitung_2_D) bis zum Erreichen des erforderlichen 18. Altersjahres für die Zulassung an der kantonalen Krankenschwesternschule. Zudem diente die FMS in dieser Zeit als «eine Art Parkplatz oder Parkhaus für Junge, die nicht wussten, was sie wollten» (FMS-Leitung_1_D). Diese Funktion wurde zusätzlich durch das Image befördert, die FMS sei eine einfache Schule und ein «refugium peccatorum»Footnote 9 (FMS-Leitung_2_D).

Mit der Schaffung der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II im Bereich Gesundheit wurde in Fall D immer wieder das Argument angebracht, die BGB FaGe sei (aufgrund der Teilsubventionierung durch den Bund) ein im Vergleich zur schulischen FMS Gesundheit deutlich kostengünstigeres Angebot, um junge Menschen in die höheren Gesundheitsausbildungen zu bringen. Mit diesem marktlichen Argument legitimierten die kantonalen Berufsbildungsvertreter/-innen Anfang der 2000er Jahre die geforderte Schließung der FMS (FMS-Leitung_1_D). Zu beobachten ist hier eine auf der marktlichen Konvention fußende Prüfungssituation. Die FMS-Vertreter/-innen kritisierten hingegen diese marktliche Konvention als die Prüfung fundierendes Prinzip mit Bezug auf einen Kompromiss zwischen staatsbürgerlicher und industrieller Konvention radikal: Die FMS leiste einen wesentlichen Beitrag zur Partizipation an Bildung (staatsbürgerliche Konvention) und bringe i. S. der langfristigen, vorausschauend planenden industriellen Logik zusätzliche junge Leute in das von erhöhtem Fachkräftebedarf gekennzeichnete Gesundheitswesen. Diesen staatsbürgerlich-industriellen Kompromiss zur Legitimation des Weiterbestehens der FMS stabilisierten die FMS-Vertreter/-innen durch die Mobilisation der Bürger/-innen, indem sie ihr kollektives Anliegen zum Erhalt der FMS in einer PetitionFootnote 10 formatierten und damit bei der Regierung das Weiterbestehen der FMS einforderten (FMS-Leitung_2_D). Dieser «momento difficile»Footnote 11 (FMS-Leitung_2_D) für die FMS konnte schließlich insbesondere dank des Engagements der lokalen Bevölkerung abgewendet werden, sodass «da qualche parte è stato ancorato che noi [la scuola specializzata, R. E.] esistiamo»Footnote 12 (FMS-Leitung_2_D). Die Befürworter der FMS wiesen damit also den Wertigkeitsmaßstab der marktlichen Konvention als fundierendes Prinzip der Prüfung zurück und arrangierten stattdessen eine staatsbürgerliche Prüfung, die mit diversen Forminvestitionen, wie der Petition sowie der Mobilisation der Bürger/-innen (immaterielle Forminvestition), stabilisiert wurde. Dies führte dazu, dass die staatsbürgerliche Rationalität in der Aushandlungssituation um das Weiterbestehen der FMS Mächtigkeit erlangen konnte.

Die Parallelität zwischen BGB FaGe und FMS Gesundheit, die in der Folge entstand, führte dazu, dass allmählich die Anzahl der FaGe-Klassen zu- und diejenige der FMS abnahm (FMS-Leitung_2_D). Die FMS fungierte demnach nach Einführung der BGB FaGe als ‹Ausgleichsgefäß› auf der Sekundarstufe II: Bei gegebenen Rahmenbedingungen (u. a. fixes Einzugsgebiet der Schülerschaft, begrenzte Anzahl an Praktikumsplätzen) wurde die FMS gezwungen, die Anzahl der Klassen zu reduzieren, um der neu eingeführten BGB FaGe Platz zu machen und deren Ausbreitung und Etablierung auf der Sekundarstufe II zu ermöglichen. Den Platz, den die FMS schließlich noch für sich verteidigen konnte, beschreibt eine FMS-Vertretung als «piccolo spazio, piccolo territorio»Footnote 13 (FMS-Leitung_2_D). Im Kanton Tessin (Fall D) bedeutete die Einführung der dualen BGB FaGe auf der Sekundarstufe II also auch, dass «in molti cantoni non si vedeva più il senso delle scuole di cultura generale»Footnote 14 (FMS-Leitung_2_D).

Zusammenfassend wird festgehalten, dass die Einführung der BGB FaGe und damit die geplante Einführung einer Parallelität zwischen den beiden Ausbildungsprogrammen – sowohl im berufsbildungsstarken Deutschschweizer Kanton Zürich (Fall A) als auch im allgemeinbildungsstarken italienischsprachigen Kanton Tessin (Fall D) – in einer vonseiten der Berufsbildung beförderten grundlegenden Infragestellung der Existenzberechtigung der FMS Gesundheit auf der Sekundarstufe II mündete. Mit der Einführung der dualen BGB FaGe wurden betriebliche Ausbildungseigenschaften der häuslichen Konvention als für Gesundheitsausbildungen bedeutend formatiert und konnten Mächtigkeit erlangen, während die schulische Ausbildungstradition zurückgedrängt wurde. Diese Ausgangslage ermöglichte es Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung, das Weiterbestehen der FMS Gesundheit als paralleles Ausbildungsprogramm zur neu geschaffenen BGB FaGe grundlegend zu delegitimieren. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, fundierte diese betriebliche Artikulation der häuslichen Konvention auch die zentrale Kritik der Berufsbildungsvertreter/-innen, als es für die FMS um die «Überlebensfrage» (NZZ 1998) ging, ob sie im Bereich Gesundheit als dritter formaler Zugangsweg zu den FH anerkannt würde. Ausgehend davon wird im folgenden Kapitel erörtert, wie es der FMS gelungen ist, sich auf der Sekundarstufe II als formaler Zubringer zu den FH im Bereich Gesundheit zu positionieren und als solcher zu etablieren.

5.2 Disput über die Positionierung der FMS Gesundheit als schulischer Zubringer zu den Fachhochschulen

Dieses Kapitel befasst sich mit dem Aushandlungsprozess rund um die Einführung der Fachmaturität Gesundheit und damit mit der Anerkennung der FMS als formaler Zubringer zu den FH.Footnote 15 Im Folgenden steht die Frage im Fokus, wie es der FMS gelungen ist, sich als schulischer Zugangsweg zu den Schweizer FH im Bereich Gesundheit zu etablieren. Mit Blick auf die Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II zwischen 1990 und 2004 ist dies zentral, denn die «Fachmaturität ist aussagekräftig, bedeutet für die FMS eine klare Positionierung und stärkt ihre Identität» (Michelus 2004, S. 13). Von Interesse sind zum einen die Rechtfertigungen von Akteurinnen und Akteuren, die sich für einen entsprechenden Zulassungsausweis an der FMS aussprechen. Zum anderen werden Argumente analysiert, die sich diesem Vorhaben entgegensetzten. Folgende Fragen werden beantwortet: Welches Wissen erachten unterschiedliche Akteurinnen und Akteure als legitim im Hinblick auf eine Zubringerausbildung zu FH? Welche Konventionen treffen bei diesem Disput aufeinander und welche Kompromisse wurden gefunden? In welche Formen wurde investiert, um die Legitimation der FMS Gesundheit zu stabilisieren?

5.2.1 Disput über legitime Zugangswege zu den Fachhochschulen

5.2.1.1 FMS als legitimer Zugangsweg zu den Fachhochschulen: Gleichstellung und Fachkräftemangel

Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) betonte die Bedeutung des Fachhochschulzugangs für die FMS bereits 1992 (EDK 1992). Einige Jahre später wurde der Fachhochschulzugang für die Zukunft und Weiterexistenz der FMS gar als «unabdingbar» (EDK 1996, S. 4) bezeichnet. Daher schlug die EDK vor, neben der traditionsreichen gymnasialen Maturität sowie der 1994 eingeführten Berufsmaturität, die Fachmaturität als einen dritten Maturitätstyp mit Zugangsberechtigung zu den FH einzuführen (EDK 1996).

Die FMS-Akteurinnen und -Akteure rechtfertigen den Anspruch auf Fachhochschulzugang mit dem Argument der Gleichbehandlung eidgenössisch anerkannter Bildungswege, insbesondere im Vergleich zum berufsbildenden Weg über die Berufsmaturität. Außerdem könne damit auch die «Eurokompatibilität» (EDK 1996, S. 9) der FMS-Abschlüsse gewährleistet werden und die FMS könne – i. S. der gleichberechtigten Partizipation von Frauen und Männern an Bildung – jungen Frauen eine fundierte schulische Ausbildung ermöglichen und damit eine Chance auf Höherqualifizierung bieten (KDMS 2001). Aus diesen Gründen sei der FMS der Fachhochschulzugang zu gewähren. Die hier angesprochenen, in der staatsbürgerlichen Konvention zu verortenden Gerechtigkeitsprinzipien von Gleichheit, Fairness und Partizipation stärken die FMS-Akteurinnen und -Akteure mit dem in der industriellen Konvention verankerten Argument, die FMS leiste insbesondere in Berufsfeldern, in denen es «nicht so leicht war und ist, genügend Ausbildungswillige zu finden» (KDMS 2001, S. 11) (was primär Gesundheit und Soziales betraf), einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses.

Diese bildungspolitischen Bemühungen, die FMS auf der Sekundarstufe II als Zubringer zu den FH zu positionieren, stoßen insbesondere auf Seiten der Berufsbildung auf Kritik. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Konventionen von den Kritikern mobilisiert werden, um die FMS als FH-Zubringer im Bereich Gesundheit zu delegitimieren.

5.2.1.2 Zurückweisung der Legitimität der FMS: Unzureichende Praxiserfahrung und Bewahrung der Attraktivität der Berufsbildung

Die Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung weisen die staatsbürgerlichen Rechtfertigungen der FMS-Akteurinnen und -Akteure zurück: Die FMS solle nicht länger auf die Ausbildung junger Frauen fokussieren und damit weitgehend geschlechtsspezifisch ausgerichtet sein, sondern künftig «klar im Dienste der Wirtschaft stehen und sich als Grundlage für weiterführende Berufsausbildungen eignen» (DBK 1997, S. 2). Aufgrund ihres nicht berufsqualifizierenden Abschlusses wird der FMS jedoch diese Eignung abgesprochen, da sie die Voraussetzungen zur Vermittlung der «für das Studium an einer Fachhochschule notwendigen praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten» (EBMK 1997, S. 2) nicht erfülle (SDK 1997). Hier kann die Situation einer radikalen Kritik beobachtet werden. Für die Prüfung (welcher Ausbildungstyp auf der Sekundarstufe II legitimer Zubringer zur FH ist) wird der Äquivalenzmaßstab der staatsbürgerlichen Konvention zurückgewiesen. Dazu stützen sich die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure auf die häusliche Konvention und betonen dabei die Bedeutung betrieblicher Aspekte wie wirtschaftsnahes betriebliches Lernen und berufspraktische Erfahrungen in der Arbeitswelt für den Zugang zur FH sowie die dort angebotenen Ausbildungen.

Referenz für diese Setzung war zum einen der Umstand, dass im Entwurf zum neuen Berufsbildungsgesetz die duale Berufsbildung als Standard festgeschrieben wurde und die vollschulische Organisationsform in der Berufsbildung eine untergeordnete Rolle erhielt (EVD 1999). Dies ermöglichte den Berufsbildungsakteurinnen und -akteuren, sich in dieser spezifischen Aushandlungssituation auf den gesetzlichen Entwurf, i. S. eines ihnen zur Verfügung stehenden Instruments der Valorisierung, zu berufen (Diaz-Bone 2017a) und die Reichweite der häuslichen Konvention mit der Artikulation betrieblicher Aspekte abzusichern (SGV 1997). Zum anderen galt in Berufsbildungskreisen die organisationale Verbindung von dualer Berufsbildung mit einer anschließenden erweiterten Allgemeinbildung in Form der Berufsmaturität als «Königsweg zu den Fachhochschulen» (EBMK 1997, S. 1). Dieser Weg sollte aus Sicht der Berufsbildungsakteurinnen und -akteure unter keinen Umständen durch die FMS als schulischer Weg ohne betriebliches Lernen bedrängt werden. Denn wenn der berufsgestützte Zugangsweg nun

durch eine Billiglösung über eine dreijährige Fachmittelschulausbildung konkurrenziert wird, dann ist die Attraktivitätssteigerung [der Berufsbildung, R. E.], die man eigentlich [mit der Einführung der Berufsmaturität, R. E.] intendiert hat, wieder dahin. (EBMK 1997, S. 2)

Die mit der Kritik einer unzureichenden erfahrungsbasierten und praktischen Ausbildung betonten betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention, stabilisieren und stützen die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure demnach zusätzlich durch das Mobilisieren der rufförmigen Konvention: Hervorgehoben werden die Reputation sowie die Wahrung der «Attraktivität der Berufslehre» (SGV 1997, S. 1) in Kombination mit einer Berufsmaturität als Zugangsweg zur FH.

Im Disput über den Anspruch der FMS auf den Fachhochschulzugang treffen somit unterschiedliche Konventionen aufeinander: Akteurinnen und Akteure, die sich für eine Fachmaturität einsetzen bringen vor allem einen Kompromiss zwischen staatsbürgerlicher und industrieller Konvention ins Spiel, indem sie Argumente der Gleichbehandlung der Bildungswege, aber auch der Gleichstellung von Mädchen und Jungen sowie das Potenzial in Bezug auf die Ausbildung zukünftiger Fachkräfte im Bereich Gesundheit (und Soziales) betonen. Akteurinnen und Akteure, die die Berufsbildung verteidigen, weisen hingegen diese Forderungen zurück und stellen die Legitimität der FMS als Zugangsweg grundsätzlich in Frage, indem sie das erfahrungsbasierte Lernen in der betrieblichen Praxis – betriebliche Eigenschaften der häuslichen Konvention – zur grundlegenden Voraussetzung für den Zugang zu den FH erklären. Zusätzlich mobilisieren die Berufsbildungsvertreter/-innen mit den Argumenten der Attraktivität des berufsbildenden Zugangswegs die rufförmige Konvention als Stütze. Hier zeichnet sich bereits ab, dass sich die Position der Berufsbildungsakteurinnen und -akteuren weniger an den Anforderungen eines akademisch ausgerichteten Studiums orientiert als vielmehr an berufsspezifischen Kompetenzen und erfahrungsbasiertem Wissen, das in der Arbeitswelt verlangt wird.

5.2.2 Disput über erforderliche Ausbildungsqualitäten für den Fachhochschulzugang

Im Folgenden werden die von den Akteurinnen und Akteuren hervorgehobenen Ausbildungsqualitäten der beiden zur Diskussion stehenden Zugangswege zu FH einander gegenübergestellt. Dazu werden folgende Fragen beantwortet: Welche Ausbildungsqualitäten werden von Akteurinnen und Akteuren als Kriterien für die Studierfähigkeit betont und welche werden kritisiert bzw. als ungeeignet und ungenügend bewertet?

5.2.2.1 Vertiefte Allgemeinbildung und eine «gefestigte Persönlichkeit»

Vor dem Hintergrund des steigenden Drucks zur Höherqualifizierung und der zu dieser Zeit generell zunehmenden Bedeutung der Allgemeinbildung für weiterführende Berufsausbildungen erachten die FMS-Akteurinnen und -Akteure einerseits die in der FMS vermittelte, vertiefte Allgemeinbildung als bedeutende Voraussetzung für den Zugang zu den FH (EDK 1992). Andererseits sei zusätzlich zu dieser staatsbürgerlichen Qualität insbesondere für die weiterführenden Berufsausbildungen in den Bereichen Gesundheit und Soziales aber auch eine «gefestigte Persönlichkeit» (EDK 1992, S. 1) erforderlich. Diese häusliche Qualität wird der FMS aufgrund ihrer starken Ausrichtung an der «Entwicklung der Schülerpersönlichkeit» (EDK 1992, S. 2) zugeschrieben. Außerdem biete die FMS den Jugendlichen den nötigen Schonraum für die persönliche Entwicklung. Damit werden schulische Aspekte der häuslichen Konvention betont: Valorisiert wird gerade nicht eine Persönlichkeitsentwicklung aufgrund der Konfrontation mit der Berufswelt, wie es in einer dualen BGB der Fall ist. Diese schulische Artikulation der häuslichen Konvention stärken die FMS-Vertreter/-innen zusätzlich durch Zuhilfenahme zweier weiterer Konventionen: Erstens sei die Ausrichtung an der Persönlichkeitsbildung mit Blick auf die Zubringerfunktion zu FH auch deshalb bedeutsam, weil damit für ein Studium relevante Fähigkeiten, z. B. «für den eigenen Lernprozess Verantwortung […] übernehmen» (EDK 1996, S. 19) oder «selbständig arbeiten» (KDMS 1993, S. 6), vermittelt werden. Zweitens bilde die FMS dank ihres Fokus auf die Persönlichkeitsbildung «die sinnvoll vorbereiteten und von der Persönlichkeitsstruktur her geeigneten Bewerber/-innen» (KDMS 1997, S. 3) aus und sei eine «speziell geeignete Vorbildung» (KDMS 1997, S. 3) bzw. die «sinnvollste Vorbereitung» (KDMS 1997, S. 3) für Fachhochschulstudiengänge im Bereich Gesundheit. Im Vergleich zum Zeitraum um 1970, als die FMS in ihrem Bildungsziel auf das Kompromisssubjekt einer «reifen Persönlichkeit» (Leemann, Imdorf 2019b) baute, das Qualitäten der staatsbürgerlichen und häuslichen Konvention vereinte (Leemann, Imdorf 2019b), sind hier zusätzliche Eigenschaften zu erkennen: Zum einen werden die im Diskurs neuerdings angeführten Schlüsselkompetenzen wie Selbstverantwortung und Selbständigkeit erkennbar, die eine Voraussetzung zur Bewältigung der projektförmigen Anforderungen eines Studiums sind. Zum anderen profiliert sich die FMS, i. S. der industriellen Konvention, über den Fokus auf die Förderung der Persönlichkeitsbildung als gezielte und funktionale Vorbereitung auf weiterführende Gesundheitsausbildungen an FH.

5.2.2.2 Ein berufsqualifizierender Abschluss für die FMS: ein fehlgeschlagener Kompromiss

Im Gegensatz zu den FMS-Akteurinnen und -Akteuren unterstreichen diejenigen der Berufsbildung als Voraussetzungen für ein Studium an der FH immer wieder die Relevanz einer «echten qualifizierenden Berufsausbildung» (SDK 1997, S. 3) sowie ausgiebiger praktischer Berufserfahrung. Vor dem Hintergrund wachsender Anforderungen im Bereich Allgemeinbildung für weiterführende Berufsausbildungen kommt in Berufsbildungskreisen jedoch die Idee auf, die jahrelangen Erfahrungen der FMS (bzw. Diplommittelschule) in der Vermittlung einer vertieften Allgemeinbildung und der Berufsvorbereitung im Gesundheitsbereich für die Berufsbildung zu nutzen. Die FMS solle daher künftig «den allgemeinbildenden Teil spezifischer Berufsbildungen, insbesondere im Bereich Gesundheits- und Sozialberufe» (SDK 1997, S. 2) abdecken. Das heisst, dass die FMS im Bereich Gesundheit transformiert werden und als «allgemeinbildendes Modul für einen späteren beruflichen Abschluss mit oder ohne Berufsmatura dienen» (DBK 1997, S. 2) soll. In der Absicht, einen Kompromiss zu finden sowie einen «bildungspolitisch zukunftsweisenden Entwicklungsschritt» (DBK, EBMK 2001, S. 2) zu gehen, schlug das damals zuständige Berufsbildungsamt (das BBT) vor, die FMS in den Bereichen Gesundheit und Soziales (unter der Voraussetzung von strukturellen und curricularen Anpassungen) in sogenannte Berufsfachschulen umzuwandeln (Kiener 2004b, 2008).Footnote 16 Damit hätte es die FMS in den genannten Bereichen als eigenständigen Ausbildungstyp auf der Sekundarstufe II nicht mehr gegeben, da sie in eine verstärkt schulische Ausbildungsform der Berufsbildung transformiert bzw. in diese integriert worden wäre und in dieser Funktion Zugang zu den FH ermöglicht hätte (BBT 2001). Abb. 5.1 zeigt, wie das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) – mithilfe der Valorisierungsstrategie der Visualisierung (Kornberger 2017) – die künftige Wertigkeit der FMS als Teil der Berufsbildung visualisiert und damit grafisch formatiert hat.

Abb. 5.1
figure 1

(Quelle: BBT 2001, Farben i. O.)

Positionierung der allgemeinbildenden Diplommittelschule (DMS) und künftigen FMS vor (linke Seite) und nach (rechte Seite) ihrer intendierten Transformation in berufsqualifizierende Berufsfachschulen.

Berufsfachschulen waren im Entwurf zum neuen Berufsbildungsgesetz als neuer Ausbildungstyp vorgesehen und als berufliche Vollzeitschulen auf der Sekundarstufe II mit einem höheren schulischen Anteil als in der traditionellen dualen BGB sowie einem Praktikum im letzten Ausbildungsjahr gedacht (Wettstein 2001). Neben einem stärkeren Fokus auf der Vermittlung theoretischen Wissens sollten diese Schulen aber dem Kern der dualen Berufsbildung – enger Bezug zum Arbeitsmarkt und zur Praxis – Rechnung tragen und einen berufsqualifizierenden Abschluss verleihen (Bundesrat 2000).

Die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure argumentierten dahingehend, dass die Lösung mit der Transformation der DMS bzw. FMS in Berufsfachschulen anders als das bisherige FMS-Modell zwei zentrale Vorteile hinsichtlich des Zugangs zu den FH aufweise: einen umfangreichen praktischen Ausbildungsanteil sowie einen berufsqualifizierenden Abschluss. Für die Vertreter/-innen der Berufsbildung war die Berufsfachschule somit eine organisatorische Lösung i. S. einer Forminvestition in die rufförmige sowie häuslichen Konvention mit Betonung betrieblicher Aspekte. Dieser Kompromiss sollte die befürchtete Konkurrenzsituation insbesondere zwischen FMS und BGB FaGe verhindern und den berufsbildenden dualen Königsweg an die FH schützen (EVD 1999).

Obwohl die EDK im Jahr 2001 festhielt, die FMS sei «offen» (EDK 2001, S. 2) dafür, sich in diesen Bereichen in Berufsfachschulen umzuwandeln und hinsichtlich des praktischen Ausbildungsanteils Kompromisse einzugehen (EDK 2001), haben die FMS-Akteurinnen und -Akteure «an ihrem eigenen Profil stark festgehalten, das nicht kompatibel gewesen ist mit der Berufsbildung» (ehemalige Vertretung BBT). Der i. S. eines «tertium non datur»Footnote 17 (Vertretung_1 EDK) von Berufsbildungsseite geforderte mindestens einjährige Praxisanteil war für Vertreter/-innen der FMS nicht mit ihrem Selbstverständnis einer allgemeinbildenden Mittelschule vereinbar (Wettstein, Amos 2010), ohne «sich selber zu verlieren» (ehemalige Vertretung BBT). Ein Experte für Berufsbildung und Sekundarstufe II fasst dies wie folgt zusammen:

Ja, das [die Umwandlung der FMS in Berufsfachschulen, R. E.] ist gar nicht auf Gegenliebe gestoßen. […] Die Leute [die FMS-Akteurinnen und -Akteure, R. E.] haben eigentlich an dem [traditionellen Selbstverständnis der FMS, R. E.] festgehalten. Berufsbildung hat sie nie interessiert, sondern sie wollten Vorbereitung auf die Tertiärstufe sein. (Experte für Berufsbildung und Sekundarstufe II)

Für die Akteurinnen und Akteure der Berufsbildung war allerdings klar, dass sie innerhalb der Berufsbildung keine «Zwitter» (ehemalige Vertretung BBT) haben wollten. Berufsbildung sollte einen großen berufspraktischen Ausbildungsanteil in einem Betrieb aufweisen, wie die nachfolgende Aussage einer ehemaligen Vertretung des BBT betont:

Und da hat es einfach wie die Linienziehung gebraucht und die Vertretungen vom Bund sind schon klar gewesen: Wir wollen nicht Zwitter in der Berufsbildung drinnen, sondern wir wollen uns klar bekennen zu der dualen Lehre. Und das heisst ganz viel Praxis, ganz starke Anbindung an die Betriebe mit Lehrverträgen und dann einfach keine anderen Modelle. […] Bekennt euch zu dem. Und das haben sie [die FMS, R. E.] natürlich nicht gewollt. (Ehemalige Vertretung BBT)

Hier wird eine große Ambivalenz der FMS-Vertreter/-innen erkennbar: Einerseits waren sie bereit, Opfer in Kauf zu nehmen und die FMS in den Bereichen Gesundheit und Soziales in Berufsfachschulen zu transformieren. Denn eine Weigerung hätte unter Umständen bedeutet, dass das Weiterbestehen der FMS als Ausbildungsweg generell gefährdet gewesen wäre, wie eine ehemalige Vertretung des BBT anmerkt. Andererseits hätte die institutionelle Umwandlung in eine Ausbildungsform der Berufsbildung zum Verlust des traditionellen Kerns, eine allgemeinbildende Schule zu sein, geführt.

Anfang 2000 endeten die Umwandlungsintentionen jedoch abrupt. Einflussreiche Vertretungen der dualen Berufsbildung befürchteten, das Modell Berufsfachschulen «bedroh[e] die duale Ausbildung», nicht zuletzt, weil durch diesen neuen Ausbildungstyp «die ‹besten› Lehrlinge […] von der dualen Lehre weggezogen würden» (Kiener 2004b, S. 14). Das heisst, es wurde eine Konkurrenz zum dualen Berufsbildungsmodells befürchtet, denn «[o]ffenbar herrschte in der Bildungspolitik die Meinung vor, die Berufslehre genieße in der Bevölkerung weniger Ansehen als berufsbildende Schulen» (Wettstein 2002, S. 1). Um diese entstehende berufsbildungsinterne Konkurrenzsituation resp. «Hierarchisierung der beruflichen Grundbildung» (Kiener 2004b, S. 12) zwischen der dualen und einer verstärkt schulischen Berufsausbildung zu verhindern, wurde das Konzept der Berufsfachschulen schließlich in der letzten parlamentarischen Beratung des Nationalrats abgelehnt, aus dem Entwurf zum neuen Berufsbildungsgesetz gestrichen und für die FMS obsolet (Nationalrat 2001).Footnote 18

5.2.3 Institutionelle Lösungen des Disputs durch Kompromisse

In ihren Empfehlungen von 1999 zur Weiterentwicklung der FMS formulierte die EDK die «verstärkte Integration in die Berufsbildung» (EDK 1999, S. 1) als zentrales Bildungsziel der FMS. Dieser Anspruch wurde 2003 in Form der Einführung von Berufsfeldern im Reglement über die Anerkennung der FMS-Abschlüsse institutionalisiert (EDK 2003b). In diesem Zusammenhang sicherte die EDK im genannten Reglement auch ihre «[z]ukunftsgerichtete Funktion als Schule für die Berufsfindung» (EDK 2001, S. 4) ab. Die FMS-Schüler/-innen treffen seither meist zu Beginn des zweiten Ausbildungsjahres die Wahl für ein bestimmtes Berufsfeld und absolvieren zusätzlich zu allgemeinbildenden auch berufsfeldspezifische Fächer. Damit konnte die FMS ihr Selbstverständnis eines funktionalen, berufsfeldspezifischen Zubringers zu den FH formalisieren und ihre industrielle Ausbildungsqualität als «geplante Zulieferung» (Diaz-Bone 2018a, S. 166) stärken. Der Forderung nach Arbeitswelterfahrung, die den Disput über den Fachhochschulzugang der FMS geprägt und die Kritik seitens der Berufsbildung fundiert hatte, begegneten die FMS-Akteurinnen und -Akteure insbesondere mit der Einführung eines außerschulischen Kurzpraktikums (des Orientierungspraktikums) und der Ausgestaltung der Fachmaturität, die zwei Bereiche umfasst (EDK 2018c): zum einen ein außerschulisches Praktikum im gewählten Berufsfeld, zum anderen eine schriftliche Fachmaturitätsarbeit. Das Praktikum in einer Institution des Gesundheitswesen dauert mindestens zwölf und höchstens vierzig Wochen, womit die Arbeitswelterfahrung als ein wesentlicher Bestandteil der FMS-Ausbildung eingeführt wurde.Footnote 19 Mit der selbstständig verfassten, (meist) praktikumsbezogenen schriftlichen Fachmaturitätsarbeit, sollen wesentliche Kompetenzen wie wissenschaftliches Schreiben und Arbeiten mit Blick auf ein Fachhochschulstudium unter Beweis gestellt werden. Die Ausgestaltung der Fachmaturität wird entsprechend als Forminvestitionen in die Reichweite der industriellen sowie die betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention betonenden Ausbildungseigenschaften interpretiert. Die Fachmaturität ist damit ein Kompromissobjekt, das u. a. die von Berufsbildungsseite stets bemängelten und kritisierten praxisbezogenen Ausbildungseigenschaften integriert (Kiener 2004b). Diese neuen Ausbildungselemente trugen wesentlich dazu bei, die Existenzberechtigung der FMS in einer von großer Unsicherheit geprägten Aushandlungssituation zu stabilisieren und als Zugangsweg zu den FH zu etablieren. Gleichzeitig hat die FMS die traditionell zentrale staatsbürgerliche Qualität einer erweiterten Allgemeinbildung in dieser Aushandlungssituation stets stark betont.

Die Ausgestaltung der Fachmaturität – i. S. eines «fachspezifischen Praxisanteils oder allgemeine[r] Berufserfahrung» (EDK 1996, S. 19) – war für die Kritiker/-innen des Fachhochschulzugangs über die FMS Gesundheit jedoch nie eine zufriedenstellende Lösung, wie die Aussage einer ehemaligen Vertretung des BBT betont: «Darum ist dort [auf Berufsbildungsseite, R. E.] eine ganz klare Haltung gewesen, und die haben wir [als Vertreter/-innen des BBT, R. E.] auch vertreten müssen […]: Die FMS braucht es nicht» (ehemalige Vertretung BBT). Auch schriftliche Stellungnahmen einer im Jahr 2002 durchgeführten Vernehmlassung bestätigen, dass das betrieblich-praktische Ausbildungselement in Form des Fachmaturitätspraktikums in einer Institution des Gesundheitswesens aus Sicht der Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung keine ausreichende Voraussetzung für den Zugang zur FH darstellte. So schrieb der Schweizerische Gewerbeverband in seiner Stellungnahme:

Im neuen Berufsbildungsgesetz wird das duale System als Königsweg bezeichnet. […] Die Seite der Praxis kommt derart viel zu kurz, dass die Fachmittelschule zwar eine gute Allgemeinbildung zu vermitteln vermag, aber mit einer beruflichen Bildung nichts zu tun hat. […] Was den Zugang zu den Fachhochschulen über eine Fachmittelschule betrifft, lehnen wir diesen entschieden ab, sofern nicht vorgängig mindestens ein Jahr eine qualifizierte Tätigkeit in der Arbeitswelt ausgeübt wurde! (SGV 2002, S. 2 ff.)

Um die vonseiten der Vertreter/-innen der dualen Berufsbildung geforderten betrieblichen Aspekte der häuslichen Konvention zu erfüllen, reicht das im Rahmen der Fachmaturität vorgesehene Praktikum also nicht aus. Dieses gelte zwar als «Horizonterweiterung» (DBK 1997, S. 3), diene jedoch nur als «Alibifunktion» (DBK 1997, S. 3), und sei nicht «als Nachweis einer beruflichen Ausbildung ein[zu]stufen» (SDK 1997, S. 3). Trotz dieser Kritik wurde die Fachmaturität schließlich 2004 institutionalisiert und damit die FMS auch im Bereich Gesundheit als Zubringer zu den FH anerkannt.

Durch den Disput über den Zugang der FMS Gesundheit zu den FH und den daraus resultierenden Forminvestitionen wurde die Reichweite der betrieblichen Artikulation der häuslichen Konvention in der Ausbildungssituation der FMS vergrößert. Dies wird u. a. anhand der Formatierung im FMS-Curriculum und der Integration berufspraktisch ausgerichteter Ausbildungselemente in dieses sichtbar. Während die FMS traditionell ihre Qualität bezugnehmend auf die häusliche Konvention mit dem schulischen Maßstab der Gemeinschaftsfähigkeit über die Schülerpersönlichkeit begründet hatte, ist heute die Ermöglichung erster berufspraktischer Erfahrungen in der Arbeitswelt ein zusätzlicher Bestandteil des FMS-Curriculums. Es wird davon ausgegangen, dass die FMS-Akteurinnen und -Akteure diese Verschiebung des relevanten Äquivalenzmaßstabes – i. S. eines Kompromisses innerhalb der häuslichen Konvention – in Kauf genommen haben, um damit u. a. die seitens der Berufsbildung geäußerte Kritik abzuschwächen und die FMS als dritten formal anerkannten FH-Zubringer auf der Sekundarstufe II verankern und positionieren zu können. Gleichzeitig hat die FMS jedoch stets auch an der schulischen Tradition der häuslichen Konvention festgehalten.

Mit der Institutionalisierung der Fachmaturität Anfang der 2000er Jahre hat sich die FMS u. a. im Bereich Gesundheit zwar als dritter eidgenössisch anerkannter Zugangsweg zu den Fachhochschulen etabliert, die Kritik und Infragestellung seitens Vertreterinnen und Vertretern der dualen Berufsbildung blieb jedoch bestehen.

5.3 Weiterentwicklung des konventionensoziologischen Rahmens für Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildungsforschung: feldspezifische Artikulation der häuslichen Konvention (Teil 1)

Der in Kap. 5 eingenommene historische Blick auf die Positionierung der FMS Gesundheit neben der BGB FaGe auf der Sekundarstufe II hat folgenden Aspekt deutlich zum Vorschein gebracht: Die Berufsbildungsakteurinnen und -akteure haben sowohl im Kontext der Einführung der BGB FaGe als auch im Disput über den Fachhochschulzugang immer wieder die häusliche Konvention mobilisiert, um die schulische FMS Gesundheit im Vergleich zur dualen Berufsbildung mit dem Argument der fehlenden berufspraktischen Arbeitswelterfahrung abzuwerten bzw. zu delegitimieren. Die FMS-Akteurinnen und -Akteure haben sich ihrerseits mit dem Argument der Persönlichkeitsbildung auf dieselbe Konvention berufen, um ihr Weiterbestehen auf der Sekundarstufe II sowie ihre Legitimität als schulischen Zugangsweg an die FH zu begründen. Es liegt hier also eine Aushandlungs- und Konfliktsituation vor, in der die Kritik an der FMS Gesundheit und deren Legitimation auf derselben Konvention beruhen. Die Konfliktsituation zwischen der FMS Gesundheit und der dualen Berufsbildung bzw. der BGB FaGe lässt sich demnach als Disput über die Frage, welche Ausprägung des Äquivalenzmaßstabes innerhalb der häuslichen Konvention Geltung beansprucht, erklären.

In Koordinationssituationen kommen Konventionen nicht in einer transzendenten Form vor, d. h. sie zeigen bzw. artikulieren sich je nach Konstellation und Dispositiv einer Situation unterschiedlich. Während im Feld der Schule (Allgemeinbildung) eine im Schonraum geförderte individualisierte Bildung der Persönlichkeit unterstützt wird, stehen im betrieblichen Feld (duale Berufsbildung) die in Konfrontation mit der Berufspraxis und die dadurch beförderte Reifung der Berufspersönlichkeit (Zouggari 2016) bzw. des Erwachsenwerdens im Zentrum. Für die in den folgenden Kapiteln zu leistende konventionensoziologisch geleitete vergleichende Analyse der Profilierung der Ausbildungsprogramme FMS Gesundheit und BGB FaGe (Hauptfrage 2) wird von der Annahme ausgegangen, dass sich die häusliche Konvention je Ausbildungssituation – Betrieb und Schule – unterschiedlich artikuliert. Um die von Baethge (2006) vorgeschlagenen unterschiedlichen institutionellen Ordnungen zwischen Allgemein- und Berufsbildung sowie die damit einhergehenden unterschiedlichen Ausbildungseigenschaften im Rahmen der vergleichenden Qualitätsanalyse theoretisch-systematisch besser erfassbar zu machen, werden an dieser Stelle die Begriffe häuslich-schulische und häuslich-betriebliche Konvention eingeführt. Damit ist explizit keine Subdivision der häuslichen Konvention gemeint, sondern eine unterschiedliche Betonung bzw. Artikulation der Eigenschaften der häuslichen Konvention im Feld der Schule bzw. des Betriebs.Footnote 20 Diese hier eingeführte unterschiedliche Artikulation der häuslichen Konvention ist zu diesem Zeitpunkt noch weitestgehend konzeptioneller Natur und auf ihre Grundzüge beschränkt. Basierend auf den in Abschn. 7.1 und 7.2 dargestellten vergleichenden Analysen zur Profilierung der beiden Ausbildungsprogramme wird die an dieser Stelle eingeführte feldspezifische Artikulation der häuslichen Konvention in Abschn. 7.4 empiriebasiert ausdifferenziert und abgestützt. Die vorliegende Studie leistet damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der EC im Hinblick auf die Bedürfnisse konventionensoziologisch angeleiteter Analysen im Bereich der (Berufs-) Bildungsforschung.