Gesellschaftliche Teilhabe ist in Deutschland maßgeblich von der Bildung einer*s jeden abhängig. Diese allerdings ist in Deutschland stark beeinflusst vom sozioökonomischen Hintergrund (vgl. Baumert et al. 2006a, S. 78; Becker 2011, S. 87; Stanat et al. 2019, S. 319). Das ist eine Schieflage, die sich besonders evident in den Ergebnissen verschiedener, groß angelegter Schulleistungsstudien der vergangenen Jahre zeigt. In der Mathematik, den Naturwissenschaften und im Lesen schneiden Schüler*innen mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund signifikant schlechter ab (vgl. Müller/Ehmke 2016, S. 311; Reiss et al. 2019, S. 13; Stubbe et al. 2020, S. 272; Weis et al. 2019, S. 158). Es besteht ausgehend von diesen Studien darüber hinaus Grund zur Annahme, dass auch weitere Fähigkeiten mit dem sozioökonomischen Status korrelieren, aber bisher noch nicht empirisch erfasst wurden. Insbesondere der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz, der in Deutschland im OECD-Ländervergleich überdurchschnittlich hoch ist (vgl. Reiss et al. 2019, S. 9), ist alarmierend. Denn Lesekompetenz gilt als einer der zentralen Prädiktoren für Bildungserfolg (vgl. Bos et al. 2017, S. 23).

Sprachliche Kompetenzen gelten als Schlüsselqualifikation für eine erfolgreiche Integration in das Bildungssystem und bilden nicht nur schulische Leistungen in einem bestimmten Kompetenzbereich ab, sondern sind zentrale Voraussetzungen für den Erwerb weiterer Kompetenzen – auch in anderen Leistungsbereichen. (Olczyk et al. 2016, S. 53)

Olczyk et al. (2016) fassen den Zusammenhang zwischen Sprachkompetenz und Bildungserfolg im deutschen Schul- und Bildungskontext zusammen. Bereits vor Eintritt in die Schule zeigt sich bei etwa einem Fünftel der fünfjährigen Kinder Sprachförderbedarf. Kinder aus Familien, die von mindestens einer RisikolageFootnote 1 betroffen sind, weisen überdurchschnittlich häufig Sprachförderbedarf auf; Stand 2018 sind 29 % der Kinder in Deutschland von mindestens einer Risikolagen betroffen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (AB) 2020, S. 42).

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind überproportional häufig von Risikolagen betroffen (47 %) (vgl. AB 2020, S. 42). Sie zeigen außerdem über alle Bildungsetappen hinweg ein geringeres sprachliches Niveau im Deutschen als die Referenzgruppe ohne Migrationshintergrund (vgl. Olczyk et al. 2016, S. 33). Auf die schulische Laufbahn schlägt sich dies von Anfang an insofern nieder, als die Rückstellungen von der Einschulung maßgeblich vom sprachlichen Kompetenzniveau in der Unterrichtssprache Deutsch abhängen (vgl. Kempert et al. 2016, S. 157). Die sprachlichen Unterschiede setzen sich dann weiter fort. So differieren die Leseleistungen zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund am Ende der Grundschulzeit mit etwa einem Lernjahr Unterschied erheblich (vgl. Hußmann/Stubbe/Kasper 2017, S. 201; Wendt/Schwippert 2017, S. 231). Kinder mit Migrationshintergrund besuchen außerdem vergleichsweise häufiger die weniger prestigeträchtigen Bildungszweige der Sekundarstufe I, erlangen demgemäß seltener eine Hochschulzugangsberechtigung und einen beruflichen Bildungsabschluss (vgl. Dumont et al. 2014, S. 142; Olczyk et al. 2016, S. 33). Auch außerschulische Bildungsangebote werden von Kindern mit Migrationshintergrund deutlich seltener in Anspruch genommen (vgl. AB 2016, S. 171–172). Dies ist insbesondere deshalb prekär, da für fast ein Fünftel aller Kinder im Kindergartenalter die Bildungseinrichtungen der einzige Ort sind, an dem sie Deutsch sprechen und diese daher als weichenstellende Orte der Sprachförderung betrachtet werden können (vgl. AB 2020, S. 103). Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Kinder mit Migrationshintergrund deutlich häufiger von Risikolagen betroffen sind und dass bei ihnen häufiger ein Sprachförderbedarf diagnostiziert wird als bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund (vgl. Wenzel 2010, S. 65). Dies ist insofern wenig überraschend, als der Zeitpunkt des Deutscherwerbs meist zeitlich versetzt ist.

Doch auch 22 % der Kinder, die zu Hause überwiegend Deutsch sprechen, gelten als sprachförderbedürftig; erneut lässt sich ein Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status herstellen, der weiter oben bereits erläutert ist (vgl. AB 2020, S. 99). Dass Lebensverläufe endogen derart vorstrukturiert zu sein scheinen, zeigt auch die Tatsache, dass sich Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern seltener für ein Studium entscheiden, selbst wenn sie eine Hochschulzugangsberechtigung haben (vgl. AB 2020, S. 185–186; Hillmert 2014, S. 89). Losgelöst von der schulischen Bildung wird der Bedarf an Sprachförderung auch mit Blick auf den Grad der Literalität in Deutschland offensichtlich (vgl. Nickel 2011, S. 53). So verfügen 12,1 % der Deutschen, also etwa sechs Millionen Menschen, über eine geringe Literalität; das heißt, sie können bestenfalls einfache Sätze lesen und schreiben (vgl. Grotlüschen et al. 2019, S. 4–5).

Die dargestellten gruppenbezogen unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen stellen ein zentrales Problem in einem demokratischen System dar. Demokratie baut auf die Prämisse, dass alle alles erreichen können und niemand vorschnell aus bestimmten Bereichen ausgeschlossen wird (vgl. Becker 2011, S. 90; Ditton 2010, 67). Dabei ist es nicht die Schule, die diese Ungleichheiten schafft; sie ist es aber, die diese reproduziert und mit der Maßgabe, alle gleich zu behandeln, die massiven Unterschiede nicht zu schließen vermag (vgl. Mafaalani 2020, S. 14). Die dargestellten Zahlen deuten darauf hin, dass deutsche Bildungsinstitutionen in ihren Strukturen Benachteiligungen für bestimmte Schüler*innengruppen reproduzieren, indem sie ungleiche Eingangsvoraussetzungen nicht ausreichend berücksichtigen. Auch mit Blick auf Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist das problematisch.

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner RasseFootnote 2, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Art. 3, Grundgesetz der Bundesamt für Justiz 23.05.1949)

Es ist eine gesellschaftliche und eine bildungs-, sozial- und migrationspolitische Aufgabe, die Kopplung von Herkunft und Bildungserfolg zu lösen und wirksame Ansätze dagegen zu entwickeln (vgl. Ehmke/Jude 2010, S. 241). Dass wenige Stunden zusätzlichen Deutschunterrichts in der Woche diese strukturellen Ungleichheiten in Bezug auf Sprache nicht auflösen können, ist ebenso offensichtlich wie problematisch. Das Problem muss viel grundsätzlicher und multiperspektivisch adressiert werden (vgl. Herwartz-Emden 2007, S. 18). Eine Konsequenz kann es sein, dass schulische Bildung stärker als bislang auch sprachliche Bildung als durchgängiges Moment fächerübergreifend in ihr Zentrum rückt. Ein weiteres Argument für sprachsensiblen Fachunterricht ist, dass jedes Fach für sich eigene sprachliche Anforderungen hat, denen nicht allein im Deutschunterricht begegnet werden kann (vgl. Nückles/Wittwer 2014, S. 234–235). Sprachsensibler Fachunterricht bedeutet durchgängige Sprachbildung, die als Querschnittsaufgabe aller Fächern betrachtet wird (vgl. FörMig Berlin 2009, S. 4). Dass Sprachbildung Aufgabe jedes Faches sein sollte, lässt sich auch an den bisherigen Befunden zum Zusammenhang zwischen Fach- und Sprachkompetenz ablesen. Insbesondere in der Mathematik, aber auch für die Fächer Physik, Biologie und Geschichte gilt der Zusammenhang von Sprach- und Fachkompetenz inzwischen als vielfach belegt (vgl. u. a. Bos et al. 2012a; Deppner 1989; Handro 2018; Höttecke et al. 2017; Paetsch et al. 2015; Schmiemann 2011). Auf Basis dessen ist anzunehmen, dass der Zusammenhang zwischen FachkompetenzFootnote 3 und Fachsprache auch für andere Fächer, so auch den Geographieunterricht, besteht. Für den Geographieunterricht liegen bisher verschiedene konzeptionelle Ansätze in Form konkreter Unterrichtsmaterialien für eine sprachsensible Unterrichtsausrichtung vor (vgl. u. a. Budke/Kuckuck 2017b; Schwarze 2019). Außerdem gibt es Forschung zu bilingualem Geographieunterricht sowie dem Argumentieren (vgl. u. a. Budke/Morawski 2019; Morawski/Budke 2017; Uhlenwinkel 2015). Übertragbare Design-Kriterien, also Kriterien, nach denen sprachsensibler Geographieunterricht geplant und durchgeführt werden kann, sprachsensible Unterrichtsinterventionen oder empirische Wirksamkeitsstudien liegen bisher allerdings nicht vor. Dabei könnte sprachsensibler Geographieunterricht einen Beitrag dazu leisten, den unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen verschiedener Schüler*innengruppen zu begegnen.

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit für das Fach Geographie, als Brückenfach zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften, an (vgl. DGfG 2017, 5, 8). Sprachsensibler Geographieunterricht (SGU) begreift Fachsprache im Geographieunterricht als Lerngegenstand und Schlüssel zum fachlichen Verständnis. Es ergeben sich zwei Fragestellungen, die empirisch zu prüfen sind.

  1. (1)

    Welche Design-Kriterien hat sprachsensibler Geographieunterricht?

  2. (2)

    Wie wirksam ist sprachsensibler Geographieunterricht im Vergleich zu Geographieunterricht ohne sprachsensible Ausrichtung hinsichtlich

  3. des ErwerbsFootnote 4 von Fachwissen und

  4. des Erwerbs von Fachsprache?

Auf übergeordneter Ebene gliedert sich die Arbeit in drei Teile (vgl. Abb. 1.1).

Abb. 1.1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Gliederung der Arbeit.

Teil I stellt die theoretische und empirische Grundlegung sowie die Entwicklungsarbeit dar. Kapitel 2 erklärt in einer Einführung unter den Schlagworten Sprache und Fachunterricht, was grundsätzlich unter sprachsensiblem Geographieunterricht zu verstehen ist und warum er notwendig erscheint. Ausgehend von einer definitorischen Abgrenzung von Alltags-, Bildungs- und Fachsprache (vgl. Abschn. 2.1) thematisiere ich die Rollen von Sprache im Geographieunterricht sowie Studien dieses Forschungsstrangs (vgl. Abschn. 2.2). Da es bisher keine Studien in der Geographiedidaktik gibt, die den Zusammenhang von Sprach- und Fachkompetenz oder die Wirksamkeit sprachsensibler Interventionen empirisch untersuchen, wird der Blick an dieser Stelle interdisziplinär geweitet. Daher werden entsprechende Studien aus anderen Fächern berücksichtigt (vgl. Abschn. 2.3).

Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Frage, wie sprachsensibler Geographieunterricht aussehen sollte. Auch an dieser Stelle werden unterschiedliche Disziplinen betrachtet: Zunächst werden Erkenntnisse aus der Pädagogik, der Schulpädagogik sowie der pädagogischen Psychologie dargestellt, um sich dem Begriff von gutem Unterricht zu nähern. Dieser wird anschließend mit Perspektiven der Geographiedidaktik konkretisiert (vgl. Abschn. 3.1). Für sprachsensiblen Geographieunterricht sind außerdem Erkenntnisse aus der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung von Relevanz (vgl. Abschn. 3.2). Abschließend werden Sprachfördermaßnahmen aus der Sprachdidaktik dargelegt, wobei schwerpunktmäßig und übergeordnet das sprachliche Scaffolding im Zentrum der Ausführungen liegt (vgl. Abschn. 3.3).

Kapitel 4 synthetisiert die beiden vorangegangenen Kapitel, indem die aus den bisherigen Ausführungen abgeleiteten Design-Kriterien für sprachensensiblen Geographieunterricht erläutert werden. Jedes Kriterium wird in einem Unterkapitel knapp vorgestellt und mit Beispielen aus der entwickelten Unterrichtsreihe veranschaulicht (vgl. Abschn. 4.14.4).

Teil II umfasst die empirische Wirksamkeitsforschung. Kapitel 5 ist das Scharnier zwischen dem Theorieteil auf der einen Seite und dem empirischen Teil auf der anderen. Zunächst wird die Forschungsfrage basierend auf den Ausführungen in Teil I dargelegt (vgl. Abschn. 5.1) und mithilfe von Forschungshypothesen ausdifferenziert (vgl. Abschn. 5.2). Kapitel 6 stellt das Forschungsdesign und die Methodik im Einzelnen vor. Dabei werden zunächst die grundlegenden Charakteristika von Design-Based Research erläutert (vgl. Abschn. 6.1). Anschließend beleuchte ich zentrale Aspekte der Datenerhebung, wobei die eingesetzten Erhebungsinstrumente im Zentrum der Ausführungen stehen (vgl. Abschn. 6.2). Die Datenaufbereitung als weiterer Schritt findet ebenfalls Berücksichtigung (vgl. Abschn. 6.3). Die Methodik der Datenauswertung bildet ein weiteres Unterkapitel, in dem insbesondere die angewendeten statistischen Verfahren erörtert werden (vgl. Abschn. 6.4); darauf folgt das Sampling der Studie inklusive Stichprobengröße und Stichprobenziehung (vgl. Abschn. 6.5). Die methodischen Ausführungen münden abschließend in eine Zusammenfassung (vgl. Abschn. 6.6). In Kapitel 7 werden die Beobachtungen und Ergebnisse der Studie formuliert. Ausgehend von Unterrichtsbeobachtungen und relevanten Rückmeldungen von Lehrkräften und Schüler*innen (vgl. Abschn. 7.1) wird die Güte der Studie, insbesondere verschiedene Dimensionen der Validität, geprüft (vgl. Abschn. 7.2). Die Kapitel 7.3 bis 7.6 betreffen die eigentliche Ergebnisdarstellung, wobei der Blick zunächst auf bezugsgruppenspezifische Eingangsvoraussetzungen fällt (vgl. Abschn. 7.3). Es folgen die Treatmenteffekte (vgl. Abschn. 7.4) sowie spezieller die bezugsgruppenspezifischen Treatmenteffekte (vgl. Abschn. 7.5). Ein Blick auf die Beständigkeit der Treatmenteffekte über alle Messzeitpunkte hinweg schließt die Ergebnisdarstellung ab (vgl. Abschn. 7.6).

Teil III ist als Synthese der ersten beiden Teile zu verstehen, in dem die Ergebnisse der empirischen Forschungsarbeit vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes theoretisch (vgl. Abschn. 8.1) und für die Praxis (vgl. Abschn. 8.2) eingeordnet werden. Darüber hinaus werden die Grenzen der Forschungsarbeit aufgezeigt (vgl. Abschn. 8.3) sowie weitere Forschungsfragen und Ansätze für Folgeforschung diskutiert (vgl. Abschn. 8.4). Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung (vgl. Kap. 9).