„Es gibt natürlich die Tabuisierung von Familien, aber es gibt auch die Tabuisierung bei Beratern und Beraterinnen […], sprichst du das nicht an […], weil du das selber nicht willst oder geht es um [die Gewaltbetroffene] oder um ihre Eltern?“ (Soziologe, spezialisierte Fachberatung, Focus Group Interviews).

FormalPara Zusammenfassung

In Fällen mediatisierter sexualisierter Gewalt entsteht Helfenden gelegentlich der Eindruck, dass Gewaltbetroffenen und deren Angehörigen nicht bewusst ist, dass digitale Gewaltzeugnisse (z. B. Foto- oder Videoaufnahmen, die die sexualisierte Gewalt dokumentieren) in bzw. über digitale Medien veröffentlicht oder verbreitet werden können. Infolge stellen sie sich die Frage, ob es aus fachlichen Gesichtspunkten notwendig und sinnvoll ist, die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren Erziehungsberechtigte hierüber aufzuklären. Am Beispiel einer Fallvignette werden diesbezügliche fachliche Abwägungsprozesse reflektiert. Auf dieser Grundlage werden Empfehlungen zum Zeitpunkt und zur Gestaltung entsprechender Interventionen ausgesprochen.

FormalPara Fallvignette Amira

In der Teamsitzung einer Beratungsstelle, die zu sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend arbeitet, sagt eine Beraterin:

„Ich wollte heute noch einmal kurz mit euch über Amira sprechen. Ihr wisst, das 12-jährige Mädchen, das während des sexuellen Missbrauchs durch das Kindermädchen gefilmt wurde. Die Familie und das Mädchen sind soweit stabilisiert. Amira fühlt sich geschützt und sicher. In den Sitzungen mit Amira ist mir aber aufgefallen, dass das Mädchen die Möglichkeit, dass die Videos im Internet veröffentlicht und verbreitet werden können, überhaupt nicht auf dem Schirm hat. Dasselbe hat mir die Kollegin aus der Beratung mit den Eltern berichtet. Wie sollen wir damit umgehen?“

Reflexionsfragen

  • Was löst das Anliegen der Beraterin in uns aus?

  • Wie erklären wir uns, dass Amira und ihre Eltern das Risiko einer Verbreitung „nicht auf dem Schirm“ zu haben scheinen?

  • Was spräche dafür, Amira und ihre Eltern über ein Verbreitungsrisiko aufzuklären?

  • Was spräche dagegen, Amira und ihre Eltern über ein Verbreitungsrisiko aufzuklären?

  • Was haben unsere Gedanken und Assoziationen mit uns zu tun?

1 Reflexionen zur fachlichen Einordnung des Fallbeispiels

Nach Angaben der Beraterin wurde Amira im Kindesalter von ihrem Kindermädchen sexuell missbraucht. Die Beraterin schließt eine Veröffentlichung und Verbreitung der Videoaufnahmen nicht aus, da die Gewalthandlungen gefilmt wurden. Das Risikobewusstsein der Beraterin ist insoweit bedacht und weitsichtig, als bei existierenden digitalen Gewaltzeugnissen (z. B. sexualisierte Foto- oder Videoaufnahmen, kinder- oder jugendpornografische Inhalte, Screenshots sexualisierter Chatverläufe) deren Veröffentlichung und Verbreitung zu keiner Zeit zweifelsfrei ausgeschlossen werden können (s. Kap. 8 und 9). Selbst im Falle eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens können die Anzahl, Speicherorte und Besitzende eventueller Kopien nur selten mit absoluter Sicherheit bestimmt werden; insbesondere, wenn die Aufnahmen bereits in sozialen Medien kursier(t)en.

Grundsätzlich ist das Risiko einer Veröffentlichung und Verbreitung von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der (mutmaßlichen) Zweckmäßigkeit der Foto- und Videoaufnahmen zu bewerten. Der Fallvignette sind mit Blick hierauf keine Hinweise zu entnehmen. Im Fall der 12-jährigen Amira führt das Wissen um die Möglichkeit einer Verbreitung die Beraterin jedenfalls zu der Frage, ob Amira und ihre Eltern über ein Verbreitungsrisiko aufzuklären sind. In der Regel stellt sich Helfenden diese Frage nicht. Meist sind betroffene Kinder und Jugendliche sowie deren Angehörige hinreichend sensibilisiert. In den Focus Group Interviews verweisen die Expert*innen wiederholt darauf, dass bereits junge Kinder um derlei Risiken wissen.

„Also nach meiner Erfahrung […] ist es wirklich so, dass mit dieser Erstellung von Missbrauchsabbildungen einfach auch sehr schnell dieser Gedanke, was ist mit der Verbreitung, auch schon bei Kindern zu einem relativ frühen Alter kommt.“

Psychologe, spezialisierte Fachberatung, FGI

Doch in einigen Fällen führt ein fehlendes Vorstellungsvermögen dazu, dass die Möglichkeit einer Veröffentlichung und Verbreitung nicht bedacht wird. Auch Verdrängung kann eine Ursache für ein unzureichendes Risikobewusstsein sein.

„Je länger die Aufdeckung zurückliegt, desto stärker versuchen sie [Anm.: die drei gewaltbetroffenen Jungen] in der Beratung den Eindruck zu vermitteln, als könnten sie sich nicht mehr erinnern oder als hätte gar nichts stattgefunden. Es fällt insbesondere auf, dass sie sich von der nicht zu leugnenden Evidenz der Fotos [Anm: Nacktaufnahmen, erstellt durch die gewaltausübende Person] im Bemühen um das ‚Ungeschehenmachen‘ des sexuellen Missbrauchs nicht irritieren zu lassen scheinen.“

Falldokumentation 7.1

Die Trag- und Reichweite der sexualisierten Gewalt wird folglich unterschätzt. Eine Verbreitung der Videoaufnahmen kann weitreichende Konsequenzen haben. Wenn Amira mit den Videoaufnahmen konfrontiert würde oder aber die Videoaufnahmen beispielsweise in ihrer Peergruppe kursierten, bestünde das Risiko, dass Amira gedemütigt oder Belastungen reaktiviert würden. Hierin deutet sich bereits an, dass die Entscheidung für oder gegen das Aufklären von Amira und ihren Eltern folgenreich ist.

Letztlich bewegt sich die Beraterin in einem Spannungsfeld zwischen Stabilisierung und Destabilisierung. In der Beratung von Kindern und Jugendlichen umfasst die psychosoziale Stabilisierung nach dem Erleben (mediatisierter) sexualisierter Gewalt die Möglichkeit, über das Geschehene zu sprechen und das Gewalterleben in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen (Hefen, 2016). Ziel ist es, die Adressat*innen dabei zu unterstützen, sich in ihrem Alltag zu orientieren und diesen so zu gestalten, dass Belastungen minimiert werden (Imm-Bazlen & Schmieg, 2016; Sosic-Vasic et al., 2015). Nach Angaben der Beraterin fühle sich Amira nunmehr „geschützt“ und „sicher“. Das Mädchen und ihre Eltern seien „soweit stabilisiert“. Zwar verbleibt in der Fallvignette unklar, über welchen Zeitraum hinweg Amira und ihre Eltern stabilisiert wurden und an welchem Punkt der Stabilisierung sie bereits angekommen sind. Dennoch muss angenommen werden, dass die Familie durch das Aufklären über ein Verbreitungsrisiko erschüttert und verstört würde. Das Maß und die Dauer einer solchen Destabilisierung können dabei variieren. Das Wissen um die prinzipielle Möglichkeit sowie das damit verbundene Erleben von Unsicherheit und Ohnmacht kann weitere Belastungen auslösen. Beispielsweise ist hinreichend bekannt, dass Gewaltbetroffene, die eine Verbreitung von digitalen Gewaltzeugnissen fürchten (müssen), teils jahrelang und alltäglich von Ängsten begleitet werden (Kärgel & Vobbe, 2020, s. Kap. 9). Ebenso kann es zu einer Reaktivierung von Belastungen oder aber einer Retraumatisierung kommen. Das Aufklären von Amira und ihren Eltern könnte Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch wecken und vorübergehend Belastungen verstärken (reaktivieren). Womöglich würde Amira über einen längeren Zeitraum den sexuellen Missbrauch wiedererinnern und wiederdurchleben und dadurch retraumatisiert werden (Rosner & Maercker, 2006; Schock et al., 2010).

Amira und ihre Eltern nicht über ein Verbreitungsrisiko aufzuklären ist allerdings ebenso folgen- und belastungsreich. Wenngleich Amira und ihre Eltern die „Möglichkeit, dass die Videos im Internet veröffentlicht oder verbreitet werden könnten, überhaupt nicht auf dem Schirm [haben]“, kann sich das jederzeit ändern. Schließlich muss bedacht werden, dass die Familie von den Gewaltwiderfahrnissen wiedereingeholt werden kann, etwa indem das Kindermädchen eine Verbreitung der Videoaufnahmen androht oder indem Personen des sozialen Umfelds der Familie in Besitz der Videoaufnahmen gelangen bzw. Kenntnis über deren Verbreitung erlangen. Zumal nicht auszuschließen ist, dass Amira und/oder ihre Eltern zu einem späteren Zeitpunkt selbst ein Bewusstsein für das Risiko einer Verbreitung entwickeln. Sowohl die Falldokumentationen des HUMAN-Projekts als auch die Erfahrungsberichte der Focus-Group-Interviews-Expert*innen umfassen Schilderungen über Kinder und Jugendliche, die entweder einige Jahre nach der erlebten sexualisierten Gewalt angstvoll feststellen, dass Foto- und Videoaufnahmen aus der damaligen Zeit im Internet veröffentlicht worden sein könnten oder die durch unglückliche Umstände mit kursierenden Aufnahmen oder dem Wissen darum konfrontiert wurden. In einer beispielhaften Falldokumentation wird das Gewalterleben eines zum Beratungszeitpunkt 13-jährigen Jungen festgehalten, der zwischen seinem zehnten und zwölften Lebensjahr von seinem Nachhilfelehrer mehrfach sexuell missbraucht wurde.

„Circa acht Monate vor dem Erstgespräch in der Fachberatungsstelle sei er das letzte Mal beim Täter zu Hause gewesen. […] Er habe ihn aber abgewehrt und ihm zu verstehen gegeben, dass er den Kontakt nicht mehr will. Er sei daraufhin gegangen und habe den Täter seitdem auch nicht mehr gesehen. […] Ungefähr acht Monate später seien dann im Rahmen einer Hausdurchsuchung in einer 800 Kilometer entfernten Stadt Fotos sichergestellt worden, als deren Ursprung der Computer des Täters ermittelt werden konnte. Dieser hatte über soziale Medien Fotos weiterverbreitet, auf denen [der Junge] und der Täter zusammen und [der Junge] alleine, jeweils nackt oder wenig bekleidet abgebildet waren. […] [Der Junge] beschreibt dies als ‚Schock‘, weil er damit nie gerechnet hätte. Er sei davon ausgegangen, dass der Missbrauch nicht öffentlich werden würde, solange er selbst nichts davon erzählt.“

Falldokumentation 7.2

Wenn Amira und/oder ihre Eltern also früher oder später ein Bewusstsein für ein Verbreitungsrisiko erlangen, würden mit hoher Wahrscheinlichkeit abermals Belastungen ausgelöst. Ähnlich wie bei einer unmittelbaren Aufklärung über das Verbreitungsrisiko kann es zu Gefühlen von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit und einer Reaktivierung oder Retraumatisierung kommen. Unter Umständen wissen sie erschwerend nicht mit der Situation umzugehen oder wohin sie sich wenden können. In den Focus Group Interviews wird die Entscheidung gegen eine unmittelbare Aufklärung mit dem Schaffen einer weiteren Betroffenheitserfahrung gleichgesetzt.

„Aber an dieser Stelle finde ich, ist das eine Schwierigkeit, weil das potenziell eine neue Betroffenheitserfahrung generiert, wenn ich so ein Thema außen vorlasse, also irgendwie an Stabilisierung arbeite und zulasse, dass diese Personen, Eltern, Kind, sich geschützt und sicher fühlen, wo sie nicht geschützt und sicher sind.“

Psychologin, Täter*innentherapie, FGI

Die Langzeit- bzw. Spätfolgen werden im Vergleich zu einer unmittelbaren Information Amiras und ihrer Eltern von den an den Focus Group Interviews teilnehmenden Psycholog*innen als besonders belastend eingeschätzt. Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Traumatherapie stützen diese These. Die langfristige Wirksamkeit traumatherapeutischer Interventionen ist in zahlreichen Untersuchungen geringer, wenn Adressat*innen nach einer erfolgreichen Stabilisierung mit hochbelastenden Ereignissen und Einsichten konfrontiert wurden (Bebermeier, 2014; Klappstein & Kortewille, 2020). Allerdings fehlt es unseres Wissens bislang an Studien, die mit von mediatisierter sexualisierter Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen arbeiteten. Ungeachtet dessen könnten Amira und ihre Eltern das der Beraterin entgegengebrachte Vertrauen infrage stellen. Es ist nicht auszuschließen, dass Amira und/oder ihre Eltern sich rückblickend nicht optimal unterstützt fühl(t)en und einen Vertrauensverlust erleben. Das könnte die Familie davon abhalten, sich zu gegebener Zeit professionelle Hilfe zu suchen. Denn Verlässlichkeit gilt als wesentlicher Erfolgsfaktor helfender Beziehungen (Schäfter, 2010).

2 Handlungsempfehlungen

Eine gegenwartsorientierte Perspektive spräche dafür, das Risiko einer Veröffentlichung und Verbreitung nicht anzusprechen. Zumal Amira und ihre Eltern auch in Zukunft womöglich weder selbst ein Bewusstsein dafür entwickeln noch Kenntnis über ein Kursieren der Aufnahmen erlangen würden. Eine zukunftsorientierte Betrachtung spräche demgegenüber dafür, das Verbreitungsrisiko anzusprechen. Schließlich könnten sie auf diese Weise in einem geschützten Rahmen auf eine Wiedereinholung vorbereitet werden. Die Entscheidungssituation erscheint dilemmatisch. Wenn das Verbreitungsrisiko besprochen wird, muss eine Destabilisierung Amiras und ihrer Eltern angenommen werden. Entgegengesetztenfalls besteht das Risiko einer zukünftigen Destabilisierung, deren Folgewirkungen in Art und Ausmaß heute nicht bestimmbar sind.

2.1 Arbeit mit Gewaltbetroffenen

Zwar ist die Sorge, dass im Zuge des Aufklärens Belastungen des Mädchens reaktiviert werden, durchaus begründet. Doch ist sie zugleich zu relativieren. Denn die Gefahr einer Reaktivierung und Retraumatisierung besteht in allen Bereichen des täglichen Lebens. Es kann nie komplett ausgeschlossen werden, dass von mediatisierter sexualisierter Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche mit Triggern konfrontiert werden, die eine Reaktivierung oder Retraumatisierung zur Folge haben. Als Denkanstoß möchten wir eine Frage aufgreifen, die Klapptstein und Kortewille (2020) im Zusammenhang mit der Unterstützung traumatisierter Kinder und Jugendlicher aufgeworfen haben: „Wie berechtigt ist die Angst, Kinder zu schädigen durch das Ansprechen negativer Erfahrungen oder schwieriger Themen?“ (ebd., S. 54). Die beiden Therapeut*innen vertreten die Ansicht, dass es ein gutes Ziel sei, belastende Erfahrungen und die zugehörigen Empfindungen als „schmerzliche Realitäten ins Lebensumfeld der Betroffenen zu integrieren.“ (ebd., S. 55). Bedeutsam sei dabei eine fachgerechte Begleitung. Wir schließen uns dieser Perspektive an und sprechen uns dafür aus, Amira für ein Risiko der Veröffentlichung und Verbreitung zu sensibilisieren. Es gibt unseres Erachtens keinen Grund zu der Annahme, dass eine damit verbundene Destabilisierung bei adäquater beraterischer respektive therapeutischer Begleitung den Bewältigungsprozess Amiras nachhaltig beeinträchtigt oder gar verunmöglicht. Hinter den Sorgen aufseiten von Helfenden und Beratenden steht allenfalls der Impuls, Gewaltbetroffene vor weiteren Belastungen und gewaltassoziierten Gefühlen zu schützen. Daher wiegen die Chancen des Thematisierens schwerer als die Risiken.

Ergänzend möchten wir die beiden Entscheidungsoptionen Aufklären vs. nicht Aufklären unter Berücksichtigung sozialarbeiterischer Grundsätze reflektieren. Partizipation stößt als übergreifendes Ziel und Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit auf positive Resonanz und breite Anerkennung. Sie zielt nach Thiersch et al. (2012) auf die Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Adressat*innen der Sozialen Arbeit. In der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet Mitbestimmung dabei auch „die Beteiligung an den Entscheidungen über das eigene Leben und die Beteiligung daran, Verfügungsgewalt über die eigene Lebensgestaltung zu erhalten oder wiederzuerlangen.“ (Pluto, 2018, S. 948). Die Adressat*innen der Sozialen Arbeit seien demnach auch im Kontext der Beratung als Mitwirkende und Mitgestaltende zu verstehen, die über Art, Umfang und Zielsetzungen von Interventionen und die Gestaltung von Beziehungen und Interaktionen mitentscheiden. Wesentliche Begründungen für dieses Verständnis finden sich in der Konzeption der lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und der theoretischen Bestimmung von Sozialer Arbeit als personenbezogene soziale Dienstleistung (Schnurr, 2018). Das Handlungsprinzip der Partizipation ist eng verwoben mit dem sozialarbeiterischen Grundsatz, Adressat*innen zu Autonomie und Selbstbestimmung zu befähigen. Verschiedene Richtungen der Berufs- und Professionsethik der Sozialen Arbeit erachten Aufklärung und Information als hierfür notwendige Bedingung (Bögner, 2019; Schleider & Huse, 2011; Wright, 2010). Wesentlich sei dabei „die Freiheit von steuernden Außeneinflüssen“ (Bobbert & Werner, 2014, S. 110) sowie die Gleichheit zwischen denen, „die auf Hilfe angewiesen sind und denen, die sie gewähren“ (Thiersch et al., 2012, S. 189). Wenn Amira die Information über die Möglichkeit einer Veröffentlichung und Verbreitung der Videoaufnahmen vorenthalten würde, widerspräche dies streng genommen den Prinzipien der Partizipation, Selbstbestimmung und Autonomie. Sie würde der Möglichkeit beraubt, sich selbst zu dem potenziellen Verbreitungsrisiko zu positionieren. Auch würde ihr die Entscheidung darüber abgenommen, ob sie zu etwaigen damit verbundenen Belastungen arbeiten möchte. Das Vorenthalten von Informationen kann weiters als Ausdruck destruktiver MachtausübungFootnote 1 verstanden werden: „Dem Mächtigen mag es möglich sein, den ‚Ohnmächtigen‘ an bestimmten Überlegungen oder Handlungen zu hindern, indem er ihm das hierzu notwendige Wissen vorenthält, aber auch so kann er keinesfalls bestimmte Handlungen oder gar Denkweisen determinieren. Dennoch kann er die Chance zur Reduktion von Möglichkeiten haben und somit auch auf kognitiver Ebene die Chance zu destruktiver Macht.“ (Kraus, 2003, S. 10).

2.1.1 Den fallabhängig frühestmöglichen Zeitpunkt zur Aufklärung wählen

Das Verbreitungsrisiko muss nicht zwangsläufig Gegenstand des nächsten Beratungsgesprächs sein, auch wenn wir uns dafür aussprechen, Amira aufzuklären. Letztlich ist die Frage nach dem Zeitpunkt fallabhängig zu beantworten. Die Informationsgrundlage der Fallvignette reicht nicht aus, um eindeutige Empfehlungen auszusprechen. Grundsätzlich ist es ratsam, das aufklärende Gespräch mit Amira nicht aufzuschieben. Metaanalysen von Studien zur Wirksamkeit konfrontativer und traumafokussierter Therapien sowie psychodynamischer Therapien zeigen, dass eine unmittelbare Konfrontation mit belastendenden Ereignissen bzw. Informationen wirksamer ist als eine Konfrontation nach einer erfolgreichen Stabilisierungsphase (Bebermeier, 2014; Equit et al., 2018). In aktuellen Fachdiskursen der Psychotraumatologie wird hervorgehoben, dass eine gelingende stabilisierende Intervention konfrontative Momente umfassen müsse. Andernfalls bestärke man die Adressat*innen in vermeidenden Verhaltensweisen, „zum Beispiel, in dem allen potenziellen Auslösereizen aus dem Weg gegangen wird.“ (Gahleitner, 2016, S. 115). Der Einsatz ressourcenaktivierender Methoden ermögliche es, auch noch nicht stabilisierte Adressat*innen „schonend“ zu konfrontieren und z. B. „sich aufdrängende Erinnerungen oder spezifische Ängste“ effektiv zu bearbeiten (ebd.). Damit besteht kein Grund zu der Annahme, dass Amira bei einer unverzüglichen Sensibilisierung kurz- wie langfristig einem höheren Maß an psychosozialen Belastungen ausgesetzt ist oder ihre Gewaltwiderfahrnisse weniger gut bewältigen kann. Reddemann (2011) verweist allerdings darauf, dass die Achtung der Würde des Menschen es gebietet, auch Angebote zu machen, die Zeit lassen und in kleinen Schritten voranschreiten. So gehe es vielmehr um die Behandlung des Menschen als Ganzes und weniger um die bloße Bewältigung belastender Ereignisse. „Dies beinhaltet, dass TherapeutInnen ertragen, dass manche Menschen ihre Verzweiflung aus welchen Gründen auch immer behalten wollen, und wir allenfalls lindernd helfen können.“ (ebd., S. 260). Das ist aus einer traumatherapeutischen Betrachtungsweise bei schwerwiegenden und komplexen Belastungssymptomen der Fall (z. B. Courtois et al., 2020).

Da sich Amira nach Angaben der Beraterin aktuell „geschützt“ und „sicher“ fühlt, ist der Gesprächszeitpunkt unseres Erachtens abhängig von a) einer Gefährdungseinschätzung sowie b) Amiras Befinden zu bestimmen. Abb. 7.1 stellt den Abwägungsprozess schematisch dar. Je höher die Wahrscheinlichkeit einer Verbreitung, je positiver Amiras psychosoziales Befinden und je größer ihre Ressourcen, desto früher ist Amira zu sensibilisieren.

Abb. 7.1
figure 1

Abwägungsprozess der Entscheidung über den Zeitpunkt der Sensibilisierung für ein Verbreitungsrisiko

2.1.1.1 Gefährdungseinschätzung

Die Einschätzung der Gefährdung sei als fachliche Einordnung der Fallfakten hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Veröffentlichung und Verbreitung digitaler Gewaltzeugnisse im Allgemeinen und der Videoaufnahmen im Speziellen verstanden. Mit der nachfolgenden Übersicht möchten wir auf der Grundlage der Verläufe der Gewaltgeschichten in den Falldokumentationen des HUMAN-Projekts dahingehend eine Orientierungshilfe anbieten. Da die Wahrscheinlichkeit einer Verbreitung von vielfältigen Faktoren abhängt, versteht sie sich als Schablone, die dabei unterstützten soll, eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen und dabei gleichzeitig eigene Vorannahmen kritisch zu reflektieren.

Leitfragen zur Gefährdungseinschätzung

Wie kommen wir zu der Annahme, dass eine große Gefahr besteht?

  • Wurden die digitalen Gewaltzeugnisse zu kommerziellen Zwecken angefertigt?

  • Ist/sind der*die Gewaltausübende/n Teil eines Täter*innen-Netzwerks?

  • Sind die digitalen Gewaltzeugnisse im Kontext organisierter und/oder ritueller Gewalt entstanden?

  • Gehört die gewaltausübende Person zur Peergruppe oder dem sozialen Bezugssystem Gewaltbetroffener?

  • Erfüllen die digitalen Gewaltzeugnisse den Zweck, die Abgebildeten zu demütigen?

  • Gibt es Hinweise darauf, dass die gewaltausübende Person die digitalen Gewaltzeugnisse bereits über soziale Medien (an eine begrenzte Anzahl an Personen) weiterleitete?

  • Ist bekannt, dass die gewaltausübende Person bereits in der Vergangenheit Sexualstraftaten beging?

  • Gibt es Hinweise darauf, dass die gewaltausübende Person im Besitz weiterer Missbrauchsabbildungen ist?

  • Gibt es Hinweise darauf, dass die gewaltausübende Person sexualisierte Kontakte zu weiteren Kindern und Jugendlichen pflegt?

  • Artikulieren die Eltern und/oder eventuelle Zeug*innen Ängste vor einer Veröffentlichung und/oder Verbreitung?

  • Droht die gewaltausübende Person die Veröffentlichung und/oder Verbreitung digitaler Gewaltzeugnisse auch nach der Aufdeckung an?

  • Gibt es Hinweise darauf, dass die gewaltausübende Person den Kontakt zur gewaltbetroffenen Person sucht? Naht ein Strafverfahren, womit das Risiko bestünde, dass Betroffene spätestens dort von einer Verbreitung erfahren könnten?

Wie kommen wir zu der Annahme, dass eine mäßige Gefahr besteht?

  • Wurden die digitalen Gewaltzeugnisse zur Implementierung von Schweigegeboten angefertigt?

  • Wurden die digitalen Gewaltzeugnisse angefertigt, um eine Drohkulisse aufzubauen und das Ausüben von Druck respektive Zwang wirksam zu unterfüttern?

  • Sind die Eltern und/oder eventuelle Zeug*innen mit Blick auf eine Veröffentlichung und/oder Verbreitung eher unbesorgt?

Wie kommen wir zu der Annahme, dass eine geringe Gefahr besteht?

  • Handelt es nachweislich um eine gewaltausübende Person, die alleine handelte?

  • Wurden die digitalen Gewaltzeugnisse im Rahmen eines Ermittlungs- und/oder Strafverfahrens einschließlich etwaiger Kopien sichergestellt?

  • Gibt es keine Hinweise auf eine Weiterleitung?

  • Wurde Strafanzeige erstattet? Wurde hierbei der gewaltausübenden Personen eine Vervielfältigung untersagt?

Fragen, die stets zur Reflexion der Gefährdungseinschätzung gestellt werden sollten

  • Was leite ich daraus ab? Wie komme ich zu diesen Ableitungen?

  • Welche Schlussfolgerungen ziehe ich daraus?

  • Wie stehe ich dazu?

  • Welche Relevanz messe ich dem bei?

  • Auf welcher Grundlage bewerte ich? Wie komme ich zu dieser Einschätzung?

  • Welche Hinweise gibt es? Woher stammen diese Hinweise?

  • Was bedeutete dies für meine Arbeit?

2.1.1.2 Belastungseinschätzung

Um Amiras gegenwärtiges Belastungsempfinden einzuschätzen, bietet sich das psychodiagnostische Verfahren „Brief Symptom Inventary“ (BSI) (Franke, 2000) an. Es handelt sich um einen Fragenkatalog, der die in den vergangenen sieben Tagen subjektiv empfundene Beeinträchtigung durch körperliche und psychosoziale Symptome erfasst. Die Fragen eignen sich aufgrund ihrer Kürze und Mehrdimensionalität für psychosoziale Beratungssettings (Spitzer et al., 2011). In der folgenden Übersicht haben wir einen entsprechenden Vorschlag erarbeitet. Die Formulierungen verstehen sich dabei als Orientierung und sind nicht zuletzt abhängig vom Alter der Adressat*innen anzupassen.

Leitfragen Belastungseinschätzung

Mich interessiert, wie du dich in der vergangenen Woche gefühlt hast. Deshalb möchte ich dir gerne ein paar Fragen stellen.

  • Warst du in der vergangenen Woche manchmal traurig?

  • Kam es mal vor, dass du dich für nichts interessierst? Dass du auf nichts Lust hast?

  • Hast du dich manchmal alleine gefühlt?

  • Hast du dich manchmal hoffnungslos gefühlt? Hat dich der Mut verlassen?

  • Hast du manchmal Angst? Kam es vor, dass du ganz plötzlich mal erschrocken bist?

  • Kam es vor, dass du dich nicht oder nur schwer konzentrieren konntest?

  • Hattest du manchmal das Gefühl, dass dein Kopf wie leergefegt ist?

  • Hast du dich manchmal nervös oder unruhig gefühlt?

  • Wärst du manchmal froh gewesen, ganz allein zu sein?

  • Hast du dir gewünscht, irgendetwas kaputt zu machen, zum Beispiel einfach mal ein Glas fallen zu lassen?

  • Hast du manchmal das Gefühl, schuld an etwas zu sein?

  • Hast du dich manchmal ärgerlich oder wütend gefühlt?

  • Bist du manchmal schlecht eingeschlafen oder hattest weniger Appetit als sonst?

  • Hast du dich manchmal ohnmächtig gefühlt oder war dir schwindelig?

  • Hattest du Probleme mit dem Magen? Oder war dir vielleicht übel?

  • Hattest du manchmal Schwierigkeiten beim Atmen?

  • Hast du dich manchmal schwach gefühlt?

Um die Intensität oder Häufigkeit zu erfragen, kann ergänzend jeweils eine Skalierungsfrage gestellt werden. Eine Beispielformulierung könnte etwa lauten: „Wenn du auf einer Skala von 1 bis 10 angeben müsstest, wie traurig du warst, welche Zahl würdest du angeben?“ Je mehr Fragen Amira bejaht und je höher die von ihr benannten Zahlen im Durchschnitt sind, desto höher ist ihr derzeitiges Belastungserleben.

2.1.2 Supportive Gesprächstechniken ermöglichen eine Sensibilisierung bei gleichzeitiger Befähigung und Ressourcenaktivierung

Um Amira bedürfnisorientiert und geschützt zu begleiten, empfehlen wir für das aufklärende Gespräch ein Beratungskonzept, das in seinen Grundzügen an den Beratungsstandards für Kinder somatisch kranker Eltern (Children of Somatically Ill Parents, COSIP) orientiert ist (Romer et al., 2007). Die Gesprächsführung folgt den Prinzipien der supportiven Psychotherapie.Footnote 2 Diese ist darauf ausgerichtet, Adressat*innen in akuten Krisensituationen und/oder bei drohender Destabilisierung psychoedukativ über ihr Belastungserleben aufzuklären und dabei gleichzeitig Ressourcen zur Bewältigung zu aktivieren (Kernberg, 1999; Kirchner, 2019). Eine einfühlsame und problemorientierte Gesprächsführung unterstützt Interventionen zur Klärung von und Konfrontation mit belastenden Themen und Ereignissen in Momenten der Krise. Das Konzept bedarf keiner therapeutischen Ausbildung und ist auch von Beratenden mit Kompetenzen in nicht-direktiver und klient*innenzentrierter und bedürfnisorientierter Gesprächsführung anwendbar. Im Folgenden skizzieren wir, wie das Beratungskonzept auf das sensibilisierende Gespräch mit Amira übertragen werden kann.

2.1.2.1 Das kognitive Verständnis für das potenzielle Verbreitungsrisiko stärken

Zunächst einmal sollte Amira altersgerecht erklärt werden, welche Möglichkeiten Gewaltausübende haben, um die Videoaufnahmen zu verbreiten und welche Folgen dies nach sich ziehen kann. Dabei ist es wichtig, Amira regelmäßig danach zu fragen, was sie bisher verstanden hat.

2.1.2.2 Ängste, Sorgen, Belastungen besprechen und bewältigen

Anschließend stehen Ängste, Sorgen und Belastungen im Fokus der Beratung:

  • Wie geht es dir mit dieser Information? Was macht das mit dir? Wenn du an den Beginn unserer Sitzung zurückdenkst, haben sich deine Gefühle, deine Gedanken, deine Stimmung verändert?

  • Wie fühlst du dich, wenn du daran denkst, dass die Videos verbreitet wurden/werden können?

  • Wenn du deine augenblickliche Belastung/Traurigkeit/Schuld/Angst/… auf einer Skala von 1 bis 10 einstufen müsstest, welche Zahl würdest du angeben?

  • Was macht dich an der Vorstellung, dass die Videos verbreitet wurden/werden können traurig/ängstlich/wütend/…?

Wenn wir den Austausch über Amiras Gefühle als das Schaffen eines (sicheren) Gesprächsraums verstehen, können wir ihr vermitteln, dass alle Gefühle und Bedürfnisse, die sie gegenüber der unsicheren Situation entwickelt, nachvollziehbar und bedeutsam sind. So befähigen wir sie zugleich zu einer aktiven Bewältigungsstrategie.

2.1.2.3 Individuelle Ressourcen zur Bewältigung stärken

Denn die Suche nach einer emotionalen Unterstützung durch vertraute Personen fördert beispielsweise ein funktionales Stressmanagement. Sie erlebt von Beginn an, dass sie mit ihren Gefühlen nicht alleine sein muss. Das steuert einem Ohnmachtserleben insoweit entgegen, als sie um die Unterstützungspotenziale durch vertraute Personen weiß. Hierbei kann es ratsam sein, Amira aufzuzeigen, dass sie sich auch im Falle einer Verbreitung nicht hilflos, ohnmächtig und alleine fühlen muss, indem ihr mögliche Handlungsschritte altersgerecht erklärt werden. Welche Handlungsmöglichkeiten es bei einer Verbreitung digitaler Gewaltzeugnisse gibt, wird in Kap. 8 ausführlich dargelegt. Wie mit Amira von diesem Punkt an weitergearbeitet wird, hängt maßgeblich davon ab, wie es ihr mit dem Wissen um ein potenzielles Verbreitungsrisiko geht. Wenn sie Ängste plagen, empfehlen wir mit Blick auf die Frage zur Weiterarbeit die Lektüre von Kap. 9. Wenn sie nachhaltig destabilisiert und mehrfachbelastet ist, empfehlen wir die Lektüre von Kap. 8. In jedem Fall ist die Entscheidung über weitere Interventionen bedürfnisorientiert zu treffen. Womöglich nimmt Amira (für den Moment) die Information nüchtern auf. Auch das ist in Ordnung und bedarf lediglich des Angebots, dass sie sich auch zukünftig jederzeit melden kann, wenn ihr diesbezüglich doch mal etwas durch den Kopf gehen sollte. Je nach Belastungserleben kann auch das Vermitteln eines therapeutischen Begleitangebots sinnvoll sein.

2.2 Digitale Gewaltzeugnisse als obligatorischer Gesprächsgegenstand

Das Entscheidungsdilemma der Beraterin von Amira ist vornehmlich dem Umstand geschuldet, dass sie sich die Frage nach dem Umgang mit dem fehlenden Risikobewusstsein zu einem Zeitpunkt stellt, zu dem sich Amira „geschützt“ und „sicher“ fühlt und als stabilisiert wahrgenommen wird. Deshalb plädieren wir dafür, stets in einem Erstgespräch Gewaltbetroffene und gegebenenfalls weitere Involvierte danach zu fragen, ob a) miteinander gechattet oder in anderer Form digital kommuniziert wurde, b) ob Fotos oder Videos gemacht ausgetauscht oder geteilt wurden, c) ob all das definitiv ausgeschlossen werden kann oder die Möglichkeit besteht, dass beispielsweise heimlich eine Kamera lief, und d) ob es – vorausgesetzt die Frage nach digitalen Gewaltzeugnissen wurde bejaht – sein könnte, dass diese in sozialen Netzwerken geteilt wurden oder über Messenger-Dienste versendet wurden. Die Integration in das Erstgespräch ist in vielerlei Hinsicht vorteilhaft. Erstens sind Gewaltbetroffene damit zweifelsohne für ein potenzielles Verbreitungsrisiko sensibilisiert. Zweitens ist das Risiko einer Destabilisierung insoweit geringer, als mit einer Beiläufigkeit und Routinemäßigkeit der dahingehenden Rückfragen einer besonderen Aufladung des Verbreitungsrisikos entgegengesteuert wird. Damit sind die Gewaltbetroffenen drittens frei darüber zu entscheiden, ob und wann sie in der Beratung darüber sprechen möchten, was die Möglichkeit einer Verbreitung in ihnen auslöst. Zumal ein selbstverständliches An- und Besprechen einer Mediatisierung der sexualisierten Gewalt dem Umstand gerecht wird, dass digitale Medien nunmehr in nahezu allen Fällen sexualisierter Gewalt bedeutsam sind (s. Kap. 2).

„Meine Erfahrung ist, dass auf dem Schirm haben, heißt oft, dass die Beraterin weiß, worüber schon mal gesprochen wurde, was aber auf diesem anderen Schirm ist, von Amira und den Eltern, das wissen die Beraterinnen so automatisch auch nicht. Da würde ich auch nochmal so ein Fragezeichen machen. Es gibt natürlich die Tabuisierung von Familien, aber es gibt auch die Tabuisierung bei Beratern und Beraterinnen, das muss sich die Beraterin natürlich fragen, also meine Kollegin in dem Fall, ‚sprichst du das nicht an, obwohl es schon so Angebote gibt, vielleicht im Verlauf der Beratung, weil du das selber nicht willst, oder geht es um Amira oder um ihre Eltern?‘“

Soziologe, spezialisierte Fachberatung, FGI

2.3 Arbeit mit den Kindeseltern

Die Antwort auf die Frage, wie damit umzugehen sei, dass Amiras Eltern nach Angaben der Beraterin das Risiko einer Veröffentlichung und Verbreitung „nicht auf dem Schirm“ zu haben scheinen, ist mit dem elterlichen Schutzauftrag beantwortet. Die Rechte und Pflichten der elterlichen Sorge sind im Bürgerlichen Gesetzbuch in den § 1626 BGB bis § 1698b BGB geregelt sowie im Bundeskinderschutzgesetz verankert. Demgemäß sind Amiras Eltern unbedingt für das Risiko zu sensibilisieren. Doch selbstverständlich sind auch Amiras Eltern in der Phase der Bewusstwerdung und Bewältigung psychosozial zu begleiten. Des Weiteren sind sie über die technischen und juristischen Möglichkeiten zur Vorbeugung und Eindämmung einer Verbreitung aufzuklären. Näheres hierzu folgt in Kap. 8. Das Erstatten einer Strafanzeige – sofern noch nicht geschehen – ist den Eltern im Sinne des Schutzes vom Amira anzuraten. Eine psychosoziale Prozessbegleitung kann währenddessen eine Stabilisierung der Eltern fördern. Amiras Eltern zu sensibilisieren bedeutet allerdings nicht notwendigerweise, dass Amira ebenfalls (zeitgleich) zu sensibilisieren ist. Umso wichtiger ist der regelmäßige Austausch zwischen den Beratenden. Denn dieser ist Voraussetzung dafür, dass sichergestellt werden kann, dass Amira nicht unbeabsichtigt und entgegen fachlicher Angemessenheit vom potenziellen Verbreitungsrisiko erfährt. Ob es zu gegebener Zeit ratsam sein kann, Amira durch oder gemeinsam mit ihren Eltern über das potenzielle Verbreitungsrisiko zu informieren, obliegt den Verantwortlichen zu entscheiden. Mit Blick in die Zukunft empfiehlt es sich, Amiras Eltern auf die Angebote von Erziehungsberatungsstellen hinzuweisen. Eltern von Kindern und Jugendlichen, die mediatisierte sexualisierte Gewalt erleben, stehen dem Mediennutzungsverhalten ihrer Kinder nämlich oftmals skeptisch gegenüber. Mediennutzungsverbote und/oder altersunangemessene Kontrollmechanismen der kindlichen und jugendlichen Mediennutzung bis hin zu Verletzungen der (digitalen) Privat- und Intimsphäre finden sich in den Falldokumentationen des HUMAN-Projekts nicht selten. Näheres dazu in Kap. 11.