Aktuelle Untersuchungen zum politischen Interesse und zur Bereitschaft für politisches Engagement von Kindern und Jugendlichen (siehe Abschnitt 2.1.3.1 „Jugendstudien“) zeigen, dass längst nicht mehr die Rede sein kann von einer politikverdrossenen Generation. Das politische Interesse steigt. Und besonders bemerkenswert ist, dass das politische Interesse von jungen Menschen heute vor allem auch gesellschaftspolitische Schlüsselprobleme in den Blick nimmt. Während sich Schüler*innen und Studierende in den Anfängen der 2000er-Jahre vor allem organisierten, um gegen die Bologna-Reformen oder die Einführung von Studiengebühren zu protestieren und damit Themen berücksichtigten, die ihre unmittelbare Lebensphase betroffen haben, so zeugen gegenwärtige internationale Jugendprotestbewegungen wie „Fridays for Future“ und ihre Forderungen von einem Blick auf ganzheitliche gesellschaftspolitische Problemlagen. Wenngleich in den vergangenen zwei Jahren dabei der Fokus auf der Bewegung „Fridays for Future“ und dem damit verbundenen Klimaprotest lag, so sei auch zu erwähnen, dass sich mit dem Erstarken der Migrationsbewegungen nach Europa ab 2015 eine Vielzahl von lokalen Jugendgruppen, rassismuskritischen Arbeitsgemeinschaften an Schulen und mit dem „Refugee Schul- und Unistreik“ auch eine bundesweit organisierte rassismuskritische Jugendinitiative gründete. Darüber hinaus organisierten anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg globalisierungskritische Jugendgruppen, die vor allem ausbeuterische Mechanismen des globalen Kapitalismus sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse kritisierten. Die Palette der politischen Themen, für die sich junge Menschen interessieren, ist vielfältig. Und sie sind bereit, sich für die Veränderungen bestehender Verhältnisse einzusetzen. Sie wählen dafür immer häufiger unkonventionelle Formen der politischen Partizipation. Sie organisieren sich selbstbestimmt in lokalen Bezugsgruppen und wählen Formen des politischen Protests, wie beispielsweise Demonstrationen und Kundgebungen bis hin zum zivilen Ungehorsam in Form von Blockaden sowie nicht genehmigten Demonstrationen, Platzbesetzungen und Streiks. Letzteres zeigte sich zuletzt besonders deutlich in Form der Bestreikung ihrer Bildungseinrichtungen, aber ihr Protest artikuliert sich auch in Form der Besetzung von Gebäuden und Wäldern oder Blockaden von Kohlekraftwerken. Junge Menschen bauen Baumhäuser, um – wie zuletzt im Hambacher Forst – die Rodung von Mischwäldern zu verhindern. Sie besetzen öffentliche Plätze und erkämpfen sich Freiräume, um ihre politischen Forderungen in die Öffentlichkeit zu transportieren. Teile der gegenwärtigen Jugend erobern sich den öffentlichen Raum.

Die politische Bildung steht heute mehr denn je vor einer Frage, die diese Disziplin seit ihrer Gründung beschäftigt: Wie halten wir es mit der politischen Aktion, mit dem Wunsch von Schüler*innen, sich aktiv in den politischen Diskurs einzubringen? Wenngleich diese Frage und die damit verbundenen Kontroversen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder diskutiert wurden (siehe Abschnitt 2.3.2), erfordern die neuesten Erkenntnisse über die Politisierung der jungen Generation, aber auch die Erkenntnisse aus explorativen Studien zu Engagement und Partizipation von Schüler*innen als Bildungsgelegenheit (u. a. Wohnig 2017, 2020a, 2020b), wie die vorliegende Studie zu den vielfältigen Bildungserfahrungen in der selbstbestimmten politischen Aktion die Bereitschaft unserer Disziplin, den Diskurs noch einmal zu intensivieren.

Die vorliegende Arbeit hat einen explorativen Charakter. Ihr Ziel war und ist es nicht, Antworten auf die Frage zu liefern, ob Schüler*innen grundsätzlich in der politischen Aktion politische Bildungserfahrungen sammeln. Die vorliegende Arbeit ist nicht angetrieben von dem Wunsch, der eng verbunden ist mit der outputorientierten Kompetenzdebatte, alles messen zu können und messbar zu machen, was nicht messbar zu sein scheint. Die Idee einer Systematisierung politischer Bildungsprozesse in politischen Aktionen durch Kompetenzmodelle diente für die vorliegende Studie als Gerüst, um die Selbstbildungserfahrungen der politisch aktiven Schüler*innen zu strukturieren. Im Vordergrund stand die Frage, mit welchen Bildungsgelegenheiten das Erleben von politischer Selbstorganisation und die Erfahrung in der politischen Aktion verbunden sein können und welche Rolle die schulische politische Bildung im Kontext dieser politischen Selbstbildungserfahrungen einnehmen könnte. Aus den Ergebnissen der explorativen Untersuchung lässt sich die These ableiten, dass selbstbestimmtes politisches Handeln von Kindern und Jugendlichen vielfältige und reflexive Bildungserfahrungen ermöglicht, die zugleich als wertvolle Lernanlässe für die formale politische Bildung dienen können.

Mit der vorliegenden Studie konnte exemplarisch aufgezeigt werden, wie vielfältig politische Selbstbildungsprozesse im Kontext politischer Aktionen von Schüler*innen sein können und wie lohnenswert eine Berücksichtigung dieser Erfahrungen für die formale politische Bildung wäre. Die interviewten politisch aktiven Jugendlichen bilden sich politisch, indem sie ihre Fähigkeiten in der Informationsrecherche und -aufbereitung kontinuierlich verbessern, sie lernen Kritik an bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu üben, sie lernen am Beispiel realer Problemfelder sich selbst zu positionieren und sich für ihre eigenen Interessen, aber auch für die Interessen anderer einzusetzen. Außerdem setzen sie sich mit Frustrations- und Ohnmachtserfahrungen auseinander. Diese Fähigkeiten in Bezug auf reale politische Handlungsfähigkeit können ein wertvoller Schatz auch für die schulische politische Bildung sein. Die Analyse der Interviews, die Rekonstruktion der Bildungserfahrungen in der politischen Aktion, zeigt auch, dass die Schüler*innen ihren Politisierungsprozess, aber auch ihren Selbstbildungsprozess immer wieder reflektieren. Vor allem dieser Reflexionsprozess würde von einer professionellen fachdidaktischen und pädagogischen Begleitung profitieren.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie begründen die Forderung danach, dass sich die politische Bildung öffnet für die Erfahrungen und Bildungsgelegenheiten, die mit politischer Selbstorganisation verbunden sind. Dafür muss die Schule, aber insbesondere die politische Bildung den Mut aufbringen, Freiräume zu schaffen und neben simulierten politischen Handlungserfahrungen in (fächerverbindenden) Unterrichtskonzeptionen oder Projekten, auch reale Handlungserfahrungen zuzulassen. Die Schule als zentraler Sozialisationsort und Lernort der Demokratie (Kenner/Lange 2019; Ballhausen/Lange 2020) muss demokratischer und politischer werden. Mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie lässt sich das von Reinholdt Hedtke (2020b) in seinem gleichnamigen Aufsatz formulierte Ziel „Politik machen statt Politik spielen. Plädoyer für eine politische politische Bildung in der Schule“ empirisch begründen. Es braucht eine partizipatorische, emanzipatorische Praxis in der demokratischen Schule, die die Schüler*innen als „eine Dimension des selbstverständlichen Schulalltags erleben und erfahren können, dessen Teil sie sind und den sie durch ihr Tun und Denken reproduzieren und weiterentwickeln“ (Hedtke 2020b, 144) können. Eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung (Eis u. a. 2015) versteht Bildungsgelegenheiten auch als politische Erfahrungsräume und hält mit einem politisch-partizipativen Charakter den Entpolitisierungstendenzen im Bildungssystem (Eis 2019) etwas entgegen.

Formale politische Bildung wird mit der Ermöglichung von realen politischen Handlungserfahrungen nicht überflüssig. Im Gegenteil: Sie kann dadurch neue Lernfelder erschließen und authentische Bildungserfahrungen der Schüler*innen in didaktische Konzeptionen einbeziehen. Politische Bildung und die Schule insgesamt müssen sich dafür aber öffnen, um jenen Schüler*innen Erfahrungsräume politischer Selbstwirksamkeit zu schaffen, die aufgrund von sozioökonomischer Benachteiligung und dem gesellschaftlichen Machtgefälle außerhalb der Schule an politischer Partizipation eher gehindert werden, und um den Zugang zu den politisch interessierten und aktiven Schüler*innen insgesamt nicht zu verlieren. Wenn sich die Schule diesem Prozess aber verweigert, wird eine einzigartige Chance verpasst, die Bildungserfahrungen einer sich politisierenden jungen Generation mit den Erkenntnissen aus über 60 Jahren Forschung der politischen Bildung zu verknüpfen.