2.1 Politische Aktion – der Versuch einer Begriffsklärung

2.1.1 Zur Vielfalt des Partizipationskonzepts – Handeln oder Verhalten?

Partizipation, Handeln, Beteiligung oder Teilhabe, Engagement und Aktion – diese Auswahl zeigt die Vielfalt an Begrifflichkeiten, die das Feld der Partizipationsforschung prägt. Noch unberücksichtigt sind dabei die antithetischen Paare wie „verfasst / nicht verfasst“, „legal / illegal“ oder „sozial / politisch“. Allein die Begriffsvielfalt und die Dialektik sozialen und politischen Handelns offenbart die Herausforderung dieses Forschungsgegenstandes. Hartmut Rosa beschreibt diese Problematik wie folgt:

Wer sich mit Ort, Stellenwert und Chancen von Kreativität im politischen Handeln – gleichgültig ob im Allgemeinen oder unter den spezifischen Bedingungen spätmoderner Gesellschaften – beschäftigen will, steht von Anfang an vor einem schwierigen, grundlagentheoretischen Doppelproblem. Er oder sie muss nämlich zum einen klären, was überhaupt unter Handeln verstanden werden soll und wie es sich etwa von einem reinen Verhalten absetzt; was für ein Handlungsbegriff also zugrunde gelegt werden soll. (Rosa 2012, 133)

Dieser Frage widmen sich seit Jahrzehnten in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen unzählige Arbeiten auf theoretischer sowie quantitativ und qualitativ empirischer Ebene. Das folgende Kapitel erhebt daher nicht den Anspruch, einen vollumfänglichen Blick auf alle erdenklichen fachwissenschaftlichen Kontroversen zu werfen. Vielmehr soll dieser Abschnitt der Arbeit dazu dienen, den systematischen Zugang der Analyse von Erfahrungsberichten junger Menschen im Feld des politischen Handelns zu begründen. Die hier eingangs aufgeführten Begriffe werden für die vorliegende Arbeit nicht als widersprüchlich, sondern untrennbar miteinander verbundene Konzepte verstanden. Daher werden Begriffe wie politische Partizipation, politisches Handeln und politische Aktion teilweise durchaus synonym verwendet. Unterschieden wird allerdings, wie von Hartmut Rosa angeregt, zwischen den Begriffen Handeln und Verhalten.

Konstitutiv für das menschliche Handeln sei nach Rosa, die Befähigung des Menschen, „seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse moralisch, ethisch und/oder ästhetisch zu beurteilen und zu ihnen als gewünscht oder unerwünscht Stellung zu beziehen“ (Rosa 2012, 135). Das Handeln unterscheidet sich vom Verhalten insofern, als dass es mit einer „spezifischen Selbst- und Weltinterpretation“ (Rosa 2012, S. 134) verbunden und von Wertungen geprägt ist. In ihrer in den 1950er-Jahren entstandenen Arbeit „Vita activa“ beschreibt Hannah Arendt Handeln als eine Tätigkeit, die nicht reduziert sei auf ein (instinktives) Verhalten oder auf die Verfolgung von individuellen Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Zuneigung oder Furcht, sondern auf eine bewusste Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst und der es umgebenden Umwelt (Arendt 2016, 214). Die Unterscheidung von Verhalten und Handeln geht in der Soziologie auf Max Weber zurück, der bereits zwischen einem reaktiven „Sichverhalten“ und dem sinnhaften Handeln unterschieden hat. Dabei sei das „Sichverhalten“ nicht mit einem „subjektiv gemeinte[n] Sinn“ (Weber 1922, 503) verbunden. Sowohl Max Weber als auch Hartmut Rosa verweisen aber auch darauf, dass die Grenzen zwischen Verhalten und Handeln durchaus fließend seien (Rosa 2012, 134–139; Weber 1922, 503).

Am Ende dieses Kapitels soll dennoch deutlich sein, welches Grundverständnis und welcher Fokus auf dieses Forschungsfeld maßgeblich für die vorliegende Studie sind. Dafür wird zunächst der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Dimensionen des Partizipationsbegriffes aufzuschlüsseln. Im Abschnitt 2.1.2 „Dialektik der Partizipation“ wird, soweit eine trennscharfe Abgrenzung möglich ist, zunächst die Unterscheidung von sozialem und politischem Handeln begründet. Daran anschließend werden nationale und internationale Diskursstränge nachgezeichnet, die den Partizipationsbegriff in Politikwissenschaft und Soziologie bis heute nachhaltig prägen. Dabei werden unter anderem die Gegensatzpaare „konventionell / unkonventionell“, „legal / illegal“ und „individuell / kollektiv“ als maßgeblich für das Verständnis von Partizipation beschrieben. In Abschnitt 2.1.3 „Kinder- und Jugendpartizipation“ wird abschließend der Fokus auf das Verhältnis von Kindern und Jugendlichen zu politischen Prozessen und politischer Teilhabe gelegt. Dabei wird dieses Verhältnis reflektiert, auf Phänomene wie Alibi-Beteiligung rekurriert sowie die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbestimmung vorgenommen. Außerdem werden empirische Ergebnisse verschiedener Jugendstudien vorgestellt.

2.1.2 Dialektik der Partizipation

2.1.2.1 Sozial oder politisch?

Um das vielschichtige Partizipationskonzept zu verstehen, bedarf es zunächst einer Beschreibung des Spannungsfeldes, welches sich aus den eng miteinander verbundenen Konzepten des sozialen Engagements und der politischen Partizipation in Forschung und Praxis ergibt.

Subsumiert werden verschiedene Formen des sozialen und politischen Engagements unter dem Dachbegriff des Bürgerschaftlichen Engagements. Anlässlich des „Internationalen Jahres der Freiwilligen“ (IJF) setzte der 14. Deutsche Bundestag 1999 die „Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ ein. In ihrem Abschlussbericht, der 2002 vorgelegt wurde, formulierte die Kommission ein „Leitbild der Bürgergesellschaft“ (Enquete-Kommission 2002, 15) und definierte damit einen weiten Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements, das sowohl partei- und verbandspolitisches Engagement als auch zivilgesellschaftliches und soziales Engagement einschließt. Im Abschlussbericht heißt es:

Für die Kommission ist die Kennzeichnung „bürgerschaftlich“ verknüpft mit der Betonung von bestimmten Motiven und Wirkungen wie etwa der Verantwortung für andere, dem Lernen von Gemeinschaftsfähigkeit oder dem Aktivwerden als Mitbürger. Bürgerschaftliches Engagement bleibt nicht allein der Mitwirkung in politischen Parteien und Verbänden und der Beteiligung in Organisationen mit sozialen und politischen Zielen vorbehalten. Es kann sich ebenso im Zusammenhang von Freizeit, Sport und Geselligkeit entwickeln. Die nach wie vor große Bedeutung des Ehrenamtes und die positiven Wirkungen einer reichen Vereins- und Initiativkultur für die Bürgerschaft insgesamt sind heute unbestritten. (Enquete-Kommission 2002, 15)

Trotz des weiten Verständnisses des Bürgerschaftsbegriffs durch die Enquete-Kommission verweist der Politikwissenschaftler Norbert Kersting darauf, dass „unter dem Sammelbegriff ‚Bürgerschaftliches Engagement‘ weniger die Beteiligung an der Entscheidungsfindung, sondern eher gemeinwohlorientierte Selbsthilfe“ (Kersting 2008, 21) verstanden wird. Daher lohnt sich eine genauere Betrachtung und Einordnung der Begriffe „soziales Engagement“ und „politische Partizipation“.

Soziales Engagement ist gekennzeichnet durch ein breites Verständnis bezüglich der Ziele der jeweiligen Aktivität und ihren Ausprägungen. Dabei sind im Feld des sozialen Engagements mit der Mitgliedschaft im Sportverein, der ehrenamtlichen Tätigkeit in „Freiwilligenorganisationen und Netzwerken“ (Eikel 2007, 11), im Kulturförderverein, dem Einsatz bei der Freiwilligen Feuerwehr, dem Ehrenamt in der Geflüchtetenhilfe, dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) vielfältige Beteiligungsformen etabliert. Der Begriff der sozialen Partizipation umfasst in erster Linie bürgerschaftliches Engagement. Diese Aktivitäten können zwar einen politischen Charakter annehmen, richten sich aber vor allem auf die soziale Integration und sind meist im ehrenamtlichen Bereich zu verorten. Soziales Engagement arbeitet dabei in der Regel auf eine kurzfristige und unmittelbare Verbesserung der bestehenden Verhältnisse hin. Handlungsformen sozialen Engagements drücken sich vor allem praktisch durch das Handeln vor Ort aus – wie zum Beispiel die Fürsorge und Hilfe für Mitmenschen oder das Engagement in Kultur, Sport und Umwelt. Hier wird häufig von Freiwilligenarbeit gesprochen. Im Fokus steht dabei die Verantwortung des Individuums, sich für die Mitmenschen einzusetzen. Sie zielt nicht zwangsläufig auf die Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung.

Zivilgesellschaftliche Partizipation enthält, wenngleich es sich zumeist um soziales Engagement handelt, auch eine politische Ebene. Vor allem der Wunsch das gesellschaftliche Leben mitzugestalten, sei es auch nur lokal und temporär, zeugt von einem politischen Charakter. Bürgerschaftliches Engagement, Politikinteresse und demokratische Werte stehen dabei in einer eng verknüpften Wechselwirkung. Roland Roth bezeichnet die verschiedenen Formen bürgerschaftlichen Engagements als Wahrnehmung eines demokratischen Mandats und schließt daraus, dass die Einstufung des bürgerschaftlichen Engagements als „vorpolitische Aktivität“ (Roth 2018, 232) ignoriere, dass dem sozialen Engagement durchaus politische Ansprüche innewohnen würden. Dies belegt auch die Studie von Miranda Yates und James Youniss (1997), die Jugendliche in einem Engagement-Projekt mit Obdachlosen untersucht haben. Sie lässt darauf schließen, dass sich soziales Engagement auch durch einen politischen Kern auszeichnet (u. a. Yates/Youniss 1997; Youniss 2007; Reinders/Youniss 2006; Youniss 2006). Auch das Engagement mit und für die Menschen, die in den vergangenen Jahren in Deutschland Zuflucht vor Krieg und Verfolgung suchten, zeigt die Transformationskraft, die von sozialem Engagement ausgeht und zu politischer Partizipation führen kann. Viele Bürgerinitiativen, die sich in jener Zeit gründeten, leisteten zunächst aktive Soforthilfe, entwickelten sich aber schnell zu politischen Akteur*innen, die maßgeblich den politischen Diskurs beeinflussten. Die Grenzen sozialen Engagements und politischer Beteiligung gehen dabei fließend ineinander über. Dieser Übergang ist aber kein Selbstverständnis. Darauf verweisen unter anderem Sibylle Reinhardt und Alexander Wohnig auch mit Bezugnahme auf die Untersuchungen von Yates und Youniss. Reinhardt stellt fest, dass die Untersuchungen durchaus offenbaren, dass „aus Partizipation im Nahraum unter Umständen […] politisches Handeln resultieren“ (Reinhardt 2010b, 137) könne. Die Politikdidaktikerin betont aber auch, dass das Handeln nur politische Relevanz durch politisches Handeln erfährt und dafür müssten „die politischen Dimensionen“ (Reinhardt 2010b, 137) im sozialen Engagement herausgearbeitet werden. Diesen Aspekt der Untersuchungen von Yates und Youniss hebt auch Alexander Wohnig hervor, wenn er darauf verweist, dass der politische Effekt im sozialen Engagement „nicht im luftleeren Raum, sondern auf der Basis einer gewissen Tradition“ (Wohnig 2017, 161) geschieht.

Dies würde empirisch das demokratietheoretische Konzept des republikanischen Verständnisses von Bürgerschaft bekräftigen, das auf die direkte und kollektive Gestaltung der Gesellschaft durch ihre Mitglieder abzielt – unabhängig von ihrem rechtlichen Status als Bürger*innen. Soziales Engagement und die verschiedenen Ausdrucksformen in einem Übergangsbereich von sozialer Verantwortung des Individuums und politischer Teilhabe in der Zivilgesellschaft kommen in dem Wunsch zum Ausdruck, soziale Verantwortung nicht dem Staat zu überlassen, sondern auf sich selbst, das Individuum zu übertragen. Mit dem republikanischen Demokratiekonzept ist auch die Idee verbunden, staatliche Aufgaben an die Allgemeinheit zu übertragen. Für Torsten Junge bedeutet dies für Partizipation, dass sie nicht mehr reduziert wird auf die etablierte Ausdrucksform der repräsentativen Demokratie. Es handele sich um eine „Erweiterung des konventionellen politischen Handlungsrahmen der Mitglieder der Gesellschaft“ (Junge 2016, 202). Junge betont, dass diese Entwicklung allerdings nicht zwangsläufig zu mehr individuellen Handlungsspielräumen führe:

Diese ehemals konzipierte Verantwortlichkeit des Staates wird zugunsten der Selbstverantwortlichkeit des Citoyen aufgegeben. Das bedeutet nicht selbstverständlich einen Zugewinn an persönlicher Freiheit und die Erweiterung individueller Handlungsfähigkeit, denn diese Möglichkeiten sind nur denjenigen gegeben, die über eine ausreichende ökonomische Potenz verfügen. (Junge 2016, 201)

Dieses republikanische Konzept von Bürgerschaft betont die Bedeutung des Individuums für das Gemeinwohl (Hoskins 2013, 28 f.). Dies kann zu mehr politische Partizipation führen, in unserer parlamentarischen Demokratie erleben wir aber eher, dass sich die republikanische Idee vor allem auf die Verantwortungsübernahme im Sinne des sozialen Engagements beschränkt. Dem Individuum wird nahegelegt und es wird darin bestärkt, sich sozial zu engagieren, ohne dabei die politischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen. Dies kann zu einer Aushöhlung des Sozialstaates führen und eine Verlagerung der Verantwortung für die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Menschen vom Staat auf das Individuum zur Folge haben.

Das republikanische Verständnis legt die Schwierigkeit offen, soziale und politische Partizipation trennscharf zu unterscheiden. Besonders deutlich wird diese Problematik in einer Zwischenform des Handelns, die sich nicht eindeutig in das binäre Kategoriensystem von sozialer und politischer Partizipation eingruppieren lässt: die Empowermentarbeit.

Empowerment kommt aus dem Englischen und heißt ‚Selbstermächtigung/ Selbstbefähigung‘. ‚Empowered sein‘ bedeutet hier die eigene Selbstfindung jenseits von rassistischen Vorurteilen zu erreichen. Sich gegenüber Erfahrungen von Stereotypisierung abzugrenzen ist der erste Schritt. Dies beginnt über Akzeptanzerfahrungen in geschützten Räumen und identitätsstiftenden Gesprächen. […] Empowerment in der Erziehung ist eine Form der identitätsstiftenden Unterstützung, die auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann. (Madubuko 2017, 805)

Empowermentarbeit bedeutet demnach vor allem Freiräume zu schaffen. Damit soll (Selbst)Bestärkung für Menschen möglich werden, die von Praxen der Exklusion betroffen sind. Sie wirkt unmittelbar, ist aber zugleich immer auch verbunden mit einem analytischen Verständnis von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in der Gesellschaft (Kleinschmidt u. a. 2019). Mit der Empowermentarbeit geht auch eine Kritik an bestehenden Verhältnissen einher (Mende 2009, 130). Empowerte Menschen können Multiplikationskraft erzeugen und weitere Menschen erreichen und damit gesellschaftliches Leben transformieren.

[O]hne Empowerment Benachteiligter keine legitime Normsetzung durch Deliberation! Zugleich ist zu erwarten, dass dies langfristig zu einer insgesamt breiteren Befähigung zur Teilnahme an Beteiligungsprozessen führt. Es ist also zwischen einer spezifischen (gruppenbezogenen) und einer allgemeinen (auf die Gesellschaft bezogenen) Dimension von Empowerment zu unterscheiden. (Alcántara u. a. 2016, 127)

Der Argumentation von Sophia Alcántara, Nicolas Bach, Rainer Kuhn und Peter Ullrich folgend, zeichnet sich Empowerment auch durch einen politischen Kern aus. Die Autor*innen schlagen daher eine Dreiteilung des Empowerment-Konzepts vor. Empowerment sei demnach:

  1. 1.

    spezifische Ermächtigung benachteiligter Gruppen;

  2. 2.

    generelle Befähigung zur Beteiligung;

  3. 3.

    aus beidem resultierend, in die Gesamtbevölkerung diffundierende Demokratisierung der Demokratie durch Etablierung von Beteiligungserfahrungen, -kompetenzen und -erfolgen. (Alcántara u. a. 2016, 129)

Das Ziel von Empowermentarbeit ist demnach nicht nur unmittelbar, kurzfristig und auf Individuen bezogen. Sie verliert die politischen Verhältnisse nicht aus dem Blick (aktueller Debattenbeitrag dazu: Jagusch/Chehata 2020). Im englischsprachigen Diskurs wird diese Zwischenform des politischen Handelns auch als civic action bezeichnet.

Civic action can be defined as a form of citizenship practice consisting in mainly collective initiatives aimed at implementing rights, taking care of common goods or empowering citizens. It can be addressed both to governmental or private interlocutors as well as to the general public. It implies the exercise of powers and the use of specific tools on the citizens’ side. (Moro 2010, 145)

Wenngleich demnach eine Abgrenzung schwerfällt, ist eine Betonung des Politischen in Bezug auf politische Partizipation notwendig, um eine Entpolitisierung des Partizipationsbegriffs zu verhindern (Haus 2011). Frank Nonnenmacher macht dies an einem Beispiel deutlich: Wenn sich Menschen im Altersheim engagieren, Zeit mit den Menschen vor Ort verbringen, mit ihnen lesen oder sie gar empowern, indem sie ihnen den Umgang mit dem Computer lehren, fehlt diesem Engagement dennoch die politische Dimension. Diese würde erst deutlich, wenn beispielsweise „nach den strukturellen Verhältnissen in Altenheimen gefragt wird, wenn z. B. nach den Minutenzetteln der Pflegekräfte, nach ihrer Bezahlungen [sic!], nach der Relation Pflegekräfte/Bewohner, nach den Umsätzen der Pflegekonzerne und nach der innerbetrieblichen Demokratie gefragt würde“ (Nonnenmacher 2011, 93).

Für die vorliegende Arbeit, unter anderem bezüglich der Auswahl der Interviewpartner*innen, liegt der Fokus auf Partizipationserfahrungen, die sich durch einen politischen Kern auszeichnen. Den weiteren Ausführungen liegt demnach ein explizit politischer Partizipationsbegriff zugrunde, der sich an Kategorien des politischen Handelns, auf Grundlage politischer Wertungen orientiert. Hartmut Rosa verbindet dies mit der Frage nach der Art des Gemeinwesens, das es zu bilden gilt, bzw. danach, „in was für einer Gemeinschaft wir leben wollen und wie deren Strukturen beschaffen sein sollen“ (Rosa 2012, 137).

Um dieses Konzept einordnen zu können, werden in einem nächsten Schritt zunächst Grundzüge politischer Partizipation unter Berücksichtigung politikwissenschaftlicher und soziologischer Theorien zusammengefasst. Hier wird auf zentrale Arbeiten im Feld der Partizipationsforschung rekurriert (u. a. Theocharis/van Deth 2018; Niedermayer 2005; Isin/Nielsen 2008a; Verba u. a. 1980; Barnes/Kaase 1979), ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen zu wollen. Dieser Versuch würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit zweifelsfrei überschreiten. Um den Begriff dennoch möglichst zielgerichtet als Grundlage für die systematische Auswertung des empirischen Materials zu beschreiben, wird politisches Engagement als dialektisches Phänomen skizziert. Dafür wird politische Partizipation entsprechend den verschiedenen charakteristischen Gegensatzpaaren vorgestellt, die sich unter anderem in konventionellen und unkonventionellen, legalen und illegalen sowie kollektiven und individuellen Ausdrucksformen widerspiegeln (Kersting 2008, 21–28; Niedermayer 2005, 192–196; Kaase 1992, 146 ff.). Darüber hinaus wird die Bedeutung aktiver politischer Teilhabe im Kontext inklusiver und exklusiver Praxen eingeordnet (Isin/Nielsen 2008a). Für die politische Bildung ist der Wert und die Wertschätzung realer politischer Teilhabe im Spannungsfeld von Fremd- bis Selbstbestimmung von großer Bedeutung. All diese Zugänge aus fachwissenschaftlicher Perspektive werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels genauer betrachtet.

Der Fokus der Analyse des Partizipationsbegriffs liegt wie bereits erwähnt auf politischer Partizipation von Jugendlichen. Allerdings ist eine Begriffsklärung unabhängig vom Alter herausfordernd, weil dieses Konzept normativ aufgeladen ist und dabei zugleich inhaltlich unterschiedlichen Deutungen unterliegt (u. a. Rieker u. a. 2016, 6f.; Betz u. a. 2010, 11; van Deth 2009, 144f.). Mit Bezugnahme auf die vielfältigen Erwartungen, die mit diesem Begriff verbunden werden, sprechen Fritz Oser und Horst Biedermann daher in ihrem gleichnamigen Aufsatz von einem „Begriff, der ein Meister der Verwirrung“ (Oser/Biedermann 2006) sei. Um dieser Verwirrung entgegenzuwirken, wird im Folgenden der Versuch unternommen, politische Partizipation und insbesondere die politische Aktion als eine besondere Form des politischen Handelns einzugrenzen.

Als Grundlage einer Begriffsklärung gilt es zunächst, den normativen und instrumentellen Charakter politischer Partizipation zu unterscheiden. Während das normative Partizipationsverständnis davon geprägt ist, dass Partizipation als „eigenständiger Wert im Sinne direktdemokratischer Verfasstheit“ (Brunold 2017, 142) insgesamt verstanden wird, ist mit dem instrumentellen Begriffsverständnis eher ein zweckrationales politisches Handeln verbunden, zur Erreichung konkreter politischer Ziele (Kaase 1992, 146; Burdewick 2003, 31).

Die US-amerikanischen Sozialwissenschaftler Sidney Verba und Norman H. Nie haben in ihrer Arbeit „Participation in America: Political Democracy and Social Equality“ folgende Definition für den Partizipationsbegriff vorgeschlagen:

Political participation refers to those activities by private citizens that are more or less directly aimed at influencing the selection of governmental personnel and/or the actions they take. (Verba/Nie 1972, 2)

Es ist kein Zufall, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren vor allem in den USA intensiv zu den Fragen politischer Partizipation geforscht wurde. Die sogenannte 68er-Bewegung und vor allem die Proteste gegen den Vietnamkrieg hatten Einfluss auf das Selbstverständnis partizipativer Demokratien. Auch deswegen waren die Definitionen jener Zeit verhältnismäßig offen formuliert. Neben Verba und Nie (1972; Verba u. a. 1980) haben vor allem Samuel H. Barnes und Max Kaase (1979) international die Forschung zu Partizipation nachhaltig geprägt. Grundlage für viele Forschungsarbeiten zu politischer Partizipation war die Studie „Political Action: Mass Participation in Five Western Democracies“ (Barnes/Kaase 1979). In einem Beitrag zu dieser internationalen Vergleichsstudie definieren Max Kaase und Alan Marsh politische Partizipation aber weniger eng verknüpft mit dem Wahlvorgang oder den Repräsentant*innen und ihren Entscheidungen. Für Kaase und Marsh sind politische Handlungen all jene „voluntary activities by individual citizens intended to influence either directly or indirectly political choices at various levels of the political system“ (Kaase/Marsh 1979, 42). Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel (2012, 40 f.) spricht, bezugnehmend auf die Arbeiten u.a. von Samuel H. Barnes (1979) und Jan van Deth (2009), bei politischer Partizipation von einem zielgerichteten Verhalten, das auf die Beeinflussung des politischen Prozesses angelegt sei. Voraussetzung für tatsächliches politisches Handeln sei Pickel zufolge aber eine vorgelagerte politische Teilhabe, „der jedoch keine Handlung folgen muss“ (Pickel 2012, 40). Trotz der Ausdehnung des Partizipationsbegriffes grenzen auch Pickel, Kaase und Marsh den Begriff klar ein. Sie beschränken politische Partizipation auf den Kern des Politischen, das Ziel, Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen und damit nachhaltig zu wirken. Sie betonen den Wert der Freiwilligkeit als Wesensmerkmal politischer Beteiligung in einer Demokratie. Auch der niederländische Politikwissenschaftler Jan van Deth verweist auf den Aspekt der Freiwilligkeit. Politische Partizipation kann in einem demokratischen Verständnis demnach weder von politischen Autoritäten noch durch Gesetze angeordnet werden (van Deth 2009, 143). Mit dieser Einschränkung erklärt sich die Notwendigkeit, politisches Handeln im Kontext der politischen Kultur und des Demokratieverständnisses eines politischen Systems zu begreifen.

Die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba haben dafür den Begriff der „politischen Kultur“ geprägt. Sie beschreiben in der internationalen Vergleichsstudie The Civic Culture (Almond/Verba 1963) drei Formen politischer Kultur. In ihrer Einführung zu politischer Kultur- und Demokratieforschung fassen Susanne Pickel und Gert Pickel (2006) die drei idealtypischen politischen Kulturen zusammen. Als Parochial Culture wird ein politisches System verstanden, das von wechselseitiger Nichteinmischung von Staat und Bürger*innen gekennzeichnet ist. Bürger*innen in Staaten parochialer politischer Kultur sind nicht interessiert an politischer Mitwirkung und haben auch keine Erwartungen an den Staat. Es fehlt die Bindung der Bürger*innen an politische Entscheidungsprozesse. Die Subject Culture beschreibt eine politische Kultur, in der die Bürger*innen Entwicklungen und Entscheidungen im politischen System durchaus wahrnehmen und bewerten. Die Rolle der Bürger*innen zeichnet sich aber durch eine „passive Beziehung zu Politik und eine eingeschränkte (politische) Bindung“ (Pickel/Pickel 2006, 63) aus. Die Participant Culture beschreibt eine politische Kultur, in der die Wahrnehmungen und Bewertungen politischer Entscheidungen auf einem grundlegenden politischen Wissen der Bürger*innen basiert. Dies führe dazu, dass sie aktiv am politischen Leben teilhaben. Da sich die drei theoretischen Konzeptionen politischer Kultur in der Realität kaum wiederfinden, haben Almond und Verba diese idealtypischen Konzepte politischer Kulturen um drei Typen „of systematically mixed political cultures“ (Almond/Verba 1963, 23) ergänzt. Pickel und Pickel kommen zu folgendem Schluss:

In ihrem Zusammenspiel münden die aufgezeigten Überlegungen in die Untersuchung einer „Civic Culture“, welche starke partizipative Orientierungen mit einem positiven Einstellungsgefüge hinsichtlich der Strukturen des politischen Systems und der politischen Prozesse verbindet. Es handelt sich um eine rational-aktivistische Kultur, die sich vor allem auf die Aktivitäten auf der Seite des Input in das politische System bezieht und diese in ihrer Bedeutung hervorhebt. Deutlich wird dies in der deutschen Übersetzung als Staatsbürgerkultur. (Pickel/Pickel 2006, 64 f.)

Ergänzt werden können die Überlegungen zur politischen Kultur durch das in der politischen Bildung diskutierte Konzept der Bürgerleitbilder. Joachim Detjen skizziert mit den politisch Desinteressierten, den reflektierten Zuschauer*innen, den interventionsfähigen Bürger*innen und den Aktivbürger*innen vier Bürgerleitbilder (Detjen 2002, 2017; siehe auch: Breit/Massing 2002), die ähnlich wie die Konzepte der politischen Kultur in ihrer Ausprägung und dem Selbstverständnis als politische Bürger*innen divergieren. Letztlich ist eine Gesellschaft immer geprägt von einer Mischform der politischen Kultur, die durch unterschiedliche politische Selbstkonzepte der Bürger*innen gekennzeichnet ist. Bedeutsam ist allerdings, dass in diesem Zusammenhang noch einmal definiert wird, was mit dem Konzept der Citizenship / Bürgerschaft verbunden wird.

Dem Partizipationsbegriff und auch dem Konzept der politischen Kultur, maßgeblich für den Diskurs zum Staatsbürgerschaftsverständnis, liegt zumeist eine Idee von Bürgerschaft zugrunde, welche auf den rechtlichen Status der Staatsbürger*innen rekurriert. Während das republikanische Verständnis von citizenship vor allem auf die Partizipation an der Gemeinschaft zielt, beschreibt das liberale Verständnis die Rechte des Individuums gegenüber der Gemeinschaft. Beide Konzepte sind von Statuszuschreibungen der Individuen geprägt (Kleinschmidt u. a. 2019, 408). Die Sozialwissenschaftlerin Bryony Hoskins (2013) identifiziert diese Statusorientierung vor allem im liberalen Demokratieverständnis, welches Bürgerschaft in erster Linie als eine Rechtsbeziehung zwischen Bürger*innen und Staat beschreibt. Die Staatsbürger*innen verfügen dabei über spezifische Rechte (bspw. das Wahlrecht), die sie von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Als geeignete Partizipationsform dieses liberalen Verständnisses erscheine demnach die Repräsentation, sei es über Verbände, Vereine oder ein repräsentatives Wahlsystem (Hoskins 2013, 26–28). Dabei offenbart sich ein sozial-exklusiver Charakter dieses Bürgerschafts- und Partizipationskonzeptes.

Dem gegenüber stehen radikaldemokratietheoretische Überlegungen, die Partizipation im demokratischen System loslösen vom rechtlichen Status des Individuums. In dem Beitrag „Theorizing Acts of Citizenship“ beschreibt Engin Isin (2008), welches Verständnis von citizenship seiner Theorie zugrunde liegt.

[W]hat is important is not only that citizenship is a legal status but that it also involves practice of making citizens – social, political, cultural and symbolic. (Isin 2008, 17)

Für ihn zeichnet sich das Konzept citizenship demnach nicht nur durch den formalen Status aus, er impliziert auch bürgerschaftliche Praxen der Teilhabe, die sich von diesem engen Bürgerschaftsverständnis lösen (Kenner/Lange 2020a, 183).

An das Verständnis von Isin anschließend sind Kritik und Emanzipation jene Haltung, die den Grundstein für politische Aktionen in Form acts of citizenship (Isin 2008) legt, denn sie zielen auf nachhaltige Gesellschaftsveränderungen, auch durch das Hinterfragen von Macht- und Herrschaftsstrukturen (Hoskins 2013, 29 f.). „Citizenship in dieser Perspektive stellt letztlich auch immer eine Positionierung in hinterfragbaren gesellschaftlichen Strukturen dar.“ (Kenner/Lange 2020a, 180) Die Gefahr, politische Partizipation in einem liberalen oder republikanischen Demokratieverständnis hauptsächlich mit dem rechtlichen Status der Staatsbürgerschaft zu verknüpfen, besteht nicht nur darin, dass dabei Menschen exkludiert werden, deren Nationalität und Staatsbürgerschaft ihnen eine Teilhabe verwehren würden, sondern sie verliert auch jene aus dem Blick, denen beispielsweise noch kein Wahlrecht zugesprochen wird. Doch auch Kinder und Jugendliche, ohne entsprechende staatsbürgerschaftliche Privilegien wie dem Wahlrecht, finden Ausdrucksformen politischer Beteiligung. Engin Isin und Greg Nielsen definieren deshalb acts of citizenship weitergehend wie folgt:

They disrupt habitus, create new possibilities, claim rights and impose obligations in emotionally charged tones; pose their claims in enduring and creative expressions; and, most of all, are the actual moments that shift established practices, status and order. Acts of citizenship should be understood in themselves as unique and distinct from citizenship practices in the sense they are also actively answerable events, whereas the latter are institutionally accumulated processes. (Isin/Nielsen 2008b, 10)

Für Isin sind diese sogenannte acts of citizenship zwar moralisch begründete und gewaltfreie bürgerschaftliche Praxen (Isin 2008), inwiefern die politischen Akte aber inklusiv oder ausschließend, positiv oder negativ sind, könne nicht grundsätzlich bestimmt werden, sondern hänge von dem jeweiligen politischen Akt und der Perspektive derjenigen ab, die diesen Akt einordnen (siehe hierzu auch: Kleinschmidt 2017).

These qualities arise after, or, more appropriately, through the act. In fact, we as interpreters ascribe these qualities to those acts. This means that acts produce such qualities only as their effects not as their causes. Moreover, those acts that are explicitly intended for certain effects (inclusion, diversity, tolerance) may well produce their counter effects (exclusion, homogeneity, intolerance). (Isin 2009, 380)

Die Wirkung politischer Partizipationserfahrung, ob in konventionellen Ausdrucksformen oder über die acts of citizenship, wie Isin und Nielsen die eher unkonventionellen Praxen der citizenship beschreiben, auf die politische Kultur, vor allem das politische Selbst und letztlich auch auf politische (Selbst)Bildungsprozesse scheint hoch. Der Partizipationsforscher Jan van Deth ist überzeugt das politische Partizipation zur Ausbildung demokratischer Werte und damit zu politischer Orientierung beitrüge, stärker als dies umgekehrt gelinge (van Deth 2017). Ellen Quintelier und Jan van Deth konnten diesen Effekt in einer empirischen Studie mit mehr als 3.000 Jugendlichen nachweisen. „More specifically, we now know that the effects of being engaged politically on political interest, efficacy, confidence and norms of citizenship are clearly stronger than the effects of these attitudes on participation.“ (Quintelier/van Deth 2014, 167)

Auf Grundlage der allgemeinen Überlegungen zu Rahmenbedingungen und Charakteristika politischer Partizipation im politischen System und der Wirkung von politischer Partizipationserfahrungen auf die vorherrschende politische Kultur, sollen im Folgenden unterschiedliche Ausprägungen, Formen und Gegensatzpaare politischen Handelns zur weiteren Ausdifferenzierung dargestellt werden.

An den vom Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer (2005) vorgeschlagenen sechs Formen politischer Partizipation lassen sich wesentliche Merkmale der Dialektik der Partizipation aufzeigen. Als einfachste konventionelle Partizipationsform führt Niedermayer zunächst die Beteiligung an Wahlen an. Diese Partizipationsform sei Kern der Rolle von Staatsbürger*innen. Eine über das Wählen hinausgehende politische Partizipationsform stellt die parteibezogene Aktivität dar. Hierunter fallen zum Beispiel die Mitgliedschaft und die Mitarbeit in Parteien. Eine zeitlich begrenzte Form der politischen Partizipation stellt die Unterstützung einer Wahlkampagne von Parteien und Politiker*innen dar. Die bis hier genannten Formen politischen Engagements sind eng gebunden an konventionelle und staatsbürgerliche Rollenverständnisse und daher weniger als politische Aktionen einzuordnen. Als vierte Form der politischen Partizipation nennt Niedermayer den legalen Protest. Die Mitwirkung an einer Bürger*inneninitiative stellt eine nicht verfasste Beteiligungsart dar. Ziviler Ungehorsam als Protest und fünfte Partizipationsform zeichnet sich für Niedermayer dadurch aus, dass dabei gegen geltendes Recht verstoßen wird. Schließlich benennt der Politikwissenschaftler die politische Gewalt – gegen Personen oder Sachen – als eine illegale Form der politischen Partizipation (Niedermayer 2005, 194 f.). Die Dialektik der politischen Partizipation lässt sich demnach an den drei Gegensatzpaaren konventioneller und unkonventioneller, legaler und illegaler sowie individueller und kollektiver politischer Partizipation nachzeichnen (Kaase 1992, 146 ff.).

2.1.2.2 Konventionell oder unkonventionell?

Kaase und Marsh (1979) entwickelten eine Kategorisierung politischer Partizipation und unterschieden dabei konventionelle von unkonventioneller politischer Partizipation. Die konventionellen Partizipationsformen seien demnach eng verknüpft mit den Wahlen in repräsentativen Demokratien. Das bezieht aber nicht nur den Urnengang bei regionalen, überregionalen oder internationalen (bspw. EU) Wahlen mit ein, sondern berücksichtigt gleichermaßen „wahlkampfbezogene Aktivitäten, die Organisierung in überregionalen intermediären Gruppen wie Gewerkschaften, Parteien, Verbänden etc. und persönliche Kontakte zu Politikern“ (Kersting 2008, 24). Konventionelle politische Partizipation sind nach Marsh und Kaase (1979, 84) all jene politischen Handlungen, die direkt oder indirekt mit dem Wahlprozess bzw. mit administrativen Kontexten in Verbindung stehen. Als unkonventionelle Formen der Partizipation werden vor allem Formen des politischen Protestes wie beispielsweise Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen verstanden (van Deth 2009, 146).

[U]nconventional political behavior, […] can be defined as behavior that does not correspond to the norms of law and customs that regulate participation under a particular regime. (Kaase/Marsh 1979, 41)

Auch Wolfgang Gaiser und Johann Rijke subsumieren unter konventioneller Partizipation alle freiwilligen politischen Aktivitäten im unmittelbaren Kontext von Regierungs-, Politik- oder staatlichen Handlungsfeldern. Unkonventionelle politische Partizipation sei politische Handlung, die „nicht im definierten Bereich der Politik stattfindet, aber auf diesen Bereich der Politik zielt“ (Gaiser/Rijke 2016, 51). Die Autoren betonen aber, dass diese Partizipationsformen nicht losgelöst voneinander betrachtet werden sollten, weil sie keine „voneinander unabhängige Formen“ (Gaiser/Rijke 2016, 56) seien. In Bezug auf konventionelle Beteiligungsformate betonen Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Henry E. Brady (1995) in ihrem Buch „Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics“ den Stellenwert politischer Partizipation für moderne Demokratien, mit einer bis heute vielfach zitierten Metapher:

Citizen Participation is at the heart of democracy. Indeed, democracy is unthinkable without the ability of citizens to participate freely in the governing process. (Verba u. a. 1995, 1)

Ob sich Partizipation als Wert des demokratischen Systems vormals am Grad der Beteiligung der Bürger*innen durch konventionelle Partizipation messen ließe, diskutiert Dieter Fuchs (2000) mit offenem Ergebnis in seinem Aufsatz „Demokratie und Beteiligung in der modernen Gesellschaft: einige demokratietheoretische Überlegungen“. Fuchs beschreibt schon zur Jahrtausendwende den Wandel der Öffentlichkeit durch neue, digitale Kommunikationsmedien und geht dabei auf die steigende Bedeutung unkonventioneller Partizipationsformen ein. Heute, 20 Jahre später, bieten diese Medien, auch mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke im Internet, mannigfaltige und innovative Formen unkonventioneller Partizipation, die in den klassischen Arbeiten zur Partizipationsforschung noch weitgehend unberücksichtigt blieben (hierzu auch: Kenner/Lange 2020a). Neben den Transformationsprozessen in den Kommunikationsmedien wird auch der Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte eine bedeutende Rolle bei der Zunahme unkonventioneller Partizipationsformen zugeschrieben. So gehen Andreas Hadjar und Rolf Becker davon aus, dass ein „höheres Bildungsniveau […] mit einer höheren Wahrscheinlichkeit [mit] unkonventioneller politischer Partizipation verbunden“ (Hadjar/Becker 2007, 435) sei.

Im Fokus der vorliegenden Studie stehen die Partizipationserfahrungen von Kindern und Jugendlichen, die selbstbestimmt und selbstorganisiert politisch aktiv sind. In der Regel haben sie dafür ausschließlich unkonventionelle Partizipationsformen gewählt. Sie haben politische Versammlungen und Demonstrationen organisiert, Kanäle in den digitalen sozialen Netzwerken als Kommunikationsstruktur aufgebaut, aber auch Erfahrungen im Feld des zivilen Ungehorsams gesammelt, beispielsweise durch den Aufruf zu und die Organisation von Schulstreiks. Allen beforschten Gruppen und Einzelpersonen ist gemein, dass sie öffentlich und nicht konspirativ handeln. Dennoch: Die Grenze von Legalität und Gesetzesbruch kann vor allem bei unkonventionellen Partizipationsformen schnell überschritten sein. Im Folgenden wird dieses Gegensatzpaar als Grundlage für die empirische Analyse genauer herausgearbeitet.

2.1.2.3 Legal, illegal, ungehorsam?

Im unkonventionellen Bereich ist die Unterscheidung zwischen legal und illegal anzusiedeln. So können sich unkonventionelle, legale Partizipationsformen in Petitionen und genehmigten Demonstrationen äußern. Als illegal werden politische Handlungen bezeichnet, wenn es sich beispielsweise um nicht genehmigte Demonstrationen, Blockaden oder Besetzungen handelt, die gewaltfrei, aber auch gewaltsam ablaufen können.

In engem Zusammenhang mit der Frage der Verfasstheit steht die Frage der Legalität. Während sich Verfasstheit auf Bundes- und Landesverfassungen aber auch auf kommunale Satzungen bezieht, ist die Frage der Legalität mit Gesetzesüberschreitungen und Straftatbeständen verknüpft. Sie birgt ein höheres Konfliktpotential in sich. Die Unterscheidung in legitime Beteiligungsakte und illegitime Beteiligung stellt die Frage nach der Konformität in Bezug auf soziale Normen. (Kersting 2008, 25)

Die grundsätzliche Unterscheidung von legal und illegal ließe sich schnell beantworten. Legale politische Partizipationsformen verstoßen nicht gegen das geltende Recht, illegale Formen politischer Aktionen zeichnet aus, dass sie diesen Rechtsverstoß in Kauf nehmen oder gar einkalkulieren (Kaase 1992, 147). Den Ausführungen von Kersting folgend, bedarf es aber mehr als nur einer Unterscheidung von legal und illegal. Bedeutsam ist auch die Auseinandersetzung mit der Frage der Legitimität, daher ist diese Frage auch eine maßgebliche Kategorie für die Analyse der Erfahrungsberichte in der vorliegenden empirischen Untersuchung.

Der Politikwissenschaftler unterscheidet bei illegaler politischer Partizipation zwischen zivilem Ungehorsam und politischer Gewalt. Niedermayer subsumiert unter dem zivilen Ungehorsam alle „nicht gewaltsamen partizipativen Aktivitäten, die gegen geltendes Recht verstoßen und von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung nicht als legitime Art der Beteiligung am politischen Prozess verstanden werden“ (Niedermayer 2005, 194).

Der Begriff des zivilen Ungehorsams wurde maßgeblich durch die von John Rawls 1971 erstmals veröffentlichte „Theorie der Gerechtigkeit“ geprägt. Für Rawls kann ein Rechtsbruch nur als Ausdrucksform des zivilen Ungehorsams verstanden werden, wenn er öffentlich, gewaltlos und gewissensbestimmt sei (Rawls 2017, 109). Jürgen Habermas erweiterte diese Beschreibung, auch mit Bezugnahme auf die Arbeiten von Rawls, in seinem 1983 erstmals erschienenen Aufsatz „Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik“. Habermas erklärt hier, dass politische Akte des zivilen Ungehorsams moralisch begründet sein müssen und nicht nur motiviert durch private Glaubensüberzeugungen oder gar getrieben von Eigeninteressen sein dürfen. Außerdem zeichne sich ziviler Ungehorsam dadurch aus, dass er öffentlich stattfindet und einen Rechtsbruch darstellt, ohne dabei die grundsätzliche Rechtsordnung infrage zu stellen.

Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests. (Habermas 2017, 215 f.- Hervorhebungen im Original)

Schon im Jahr 1969 verwies Hannah Arendt darauf, es gäbe einen „ungeheuren Unterschied zwischen dem Kriminellen, der das Licht der Öffentlichkeit scheut, und dem zivilen Gehorsamsverweigerer, der in offener Herausforderung das Gesetz in seine eigenen Hände nimmt“ (Arendt 2017, 146). Besonders betont wird in der fachwissenschaftlichen Literatur die Tatsache, dass ziviler Ungehorsam gewaltlos stattfindet. Vor allem die Gewalt gegenüber Menschen ist vollständig unverträglich mit dem Konzept des zivilen Ungehorsams.

In den vergangenen Jahren haben sich in Deutschland verschiedene politische Jugendbewegungen immer wieder des Instruments des zivilen Ungehorsams bedient, unter anderem in den Jahren 2009 und 2010 im Kontext großer Bildungsproteste gegen Schulreformen sowie die Bologna-Reform an den Hochschulen. Der Protest richtete sich auch gegen die Einführung von Studiengebühren. Es kam zu dezentralen Bildungsstreiks und Besetzungen von Hörsälen an den Universitäten. Mit der steigenden Migrationsbewegung nach Europa gründeten sich ebenfalls dezentral verschiedene Antirassismus-Gruppen, die unter anderem den Refugee Schul- und Unistreik organisierten. Die Umweltprotestbewegung, die in den 1980-Jahren noch maßgeblich vom Protest gegen die Atomenergie geprägt war, hat in den letzten Jahren drei neue Gruppierungen hervorgebracht. Die bekannteste Bewegung ist die Jugendinitiative „Fridays for Future“. Daneben verfolgen aber auch die Aktivist*innen von „Extinction Rebellion“ und „Ende Gelände“ umweltpolitische Ziele. Alle drei wählen Formen des zivilen Ungehorsams. Während „Ende Gelände“ und „Extinction Rebellion“ mit Blockaden von Kohlekraftwerken, Wald- und Platzbesetzungen sowie unangemeldeten Demonstrationen hauptsächlich auf zivilen Ungehorsam als Protestform setzen, organisieren die Schüler*innen, Auszubildenden und Studierenden von „Fridays for Future“ vielfältige Formate der unkonventionellen Partizipation. Der Schwerpunkt liegt aber auch hier mit dem Schulstreik auf einer rechtlich nicht legitimierten Protestform. Erfahrungen von Schüler*innen mit dieser Form der selbstbestimmten und selbstorganisierten politischen Aktion stehen auch im Fokus der hier vorgestellten Untersuchung.

Diejenigen, die zivilen Ungehorsam ausüben, achten die Regeln des demokratischen Rechtsstaats, weshalb sie auch bereit sind, die Konsequenzen zu tragen. Dieses Konzept zivilen Ungehorsams verpflichtet beide Seiten zur Mäßigung, also auch den Staat. Weder dürfen staatliche Instanzen mit Zwang überreagieren, noch dürfen die Protestler Gewalt ausüben oder mit einer Moralkeule diffamieren. Denn ein kollektiver Lernprozess soll angestoßen und vorangetrieben werden, der nach dem Wollen der Protestler geänderte Mehrheits-Entscheidungen auf legalem Wege und mit legitimen Gründen hervorbringen soll. (Reinhardt 2019b, 76)

Die Politikdidaktikerin Sibylle Reinhardt unterstellt damit den Wunsch der Aktivist*innen, einen kollektiven Lernprozess innerhalb der Gesellschaft anregen zu wollen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, ist einer der Untersuchungsgegenstände der vorliegenden Studie.

Anders als das weitgehend anerkannte Konzept des zivilen Ungehorsam begründet Claire Moulin-Doos in ihrer gleichnamigen Arbeit die Notwendigkeit von „Civic Disobedience“ (Moulin-Doos 2015) bzw. vom „politischen Ungehorsam“ (Moulin-Doos/Eis 2016) und unterscheidet zivilen und politischen Ungehorsam vor allem in der Grundsätzlichkeit ihrer Kritik.

Im Gegensatz zu Rawls Verständnis von zivilem Ungehorsam, richtet sich der hier gemeinte politische Ungehorsam […] nicht nur gegen einzelne Gesetze und Maßnahmen, sondern gegen eine breitere, hegemoniale politische Strategie. Es geht um die Beurteilung einer vermeintlich funktionierenden Demokratie. Diese Beurteilung schließt auch Formen der Widerständigkeit gegen die Bedrohung, die Untergrabung und den Abbau von Demokratie ein. (Moulin-Doos/Eis 2016, 137)

Für die vorliegende Untersuchung ist die Unterscheidung von legaler und illegaler Partizipation sowie die Frage nach Legitimität von großer Bedeutung, denn das Sample dieser Studie zeichnet sich dadurch aus, dass es junge Menschen in den Blick nimmt, die Erfahrungen mit nicht-institutionalisierten, unkonventionellen, selbstorganisierten, politischen Aktionen sammeln, die in der Regel kollektiv durchgeführt werden und dabei immer wieder auch zu Rechtsbrüchen führen. Beispielhaft dafür sind Blockaden von Demonstrationsrouten oder der Schulstreik mit der damit verbundenen Verletzung der Schulpflicht. Die verschiedenen Formen politischer Aktionen, von denen in den Interviews berichtet wird, bewegen sich im Spannungsfeld legaler und illegaler Akte, sind dabei aber nie konspirativ oder geprägt von gezielter und aktiver Gewalt.

Das dritte Gegensatzpaar, das für die vorliegende Studie im Kontext politischer Partizipation einer genaueren Betrachtung bedarf, ist die Unterscheidung in individuelle und kollektive politische Aktion. Dies wird im Folgenden genauer untersucht.

2.1.2.4 Individuell oder kollektiv?

Als weiteres relevantes Merkmal zur Beschreibung von Partizipation schlägt der Politikwissenschaftler Norbert Kersting das Gegensatzpaar Individualität und Kollektivität vor. Er rekurriert dabei vor allem auf die motivationalen Aspekte politischer Beteiligung und verweist darauf, dass potenziell mit politischen Aktionen „individuelle, partikulare oder kollektive Interessen“ (Kersting 2008, 25) verfolgt werden.

Für die vorliegende Arbeit sind bezüglich der Kategorien Individualität und Kollektivität aber nicht nur die Interessen und Motivationen der interviewten Kinder und Jugendlichen von Bedeutung. Viel wichtiger erscheint die Bedeutung sozialer und politischer Interaktionen in der politischen Selbstorganisation. Hartmut Rosa (2019, 165) ist überzeugt, dass das politische Einbringen den Bürger*innen ermögliche, „die durch nichts zu ersetzende Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit [zu sammeln,] durch ihre Stimme […] mit den anderen und dem Gemeinwesen verbunden [zu sein] und Anteil an der kollektiven Gestaltung der Welt“ zu haben. Trotz des kollektiven Charakters dieser Gestaltung der Welt ist dieser Akt auch unmittelbar verbunden mit einer subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit. Dies sei allerdings „keine beliebige Spielerei, sondern wir verantworten sie durch unser Handeln und hinterlassen sie anderen, die uns zur Rede und Verantwortung stellen können und sollten“ (Reich 1996, 88), konstatiert Kersten Reich.

Ohne Interaktion und Austausch ist politisches Handeln kaum vorstellbar. Vielmehr ist es immer gekennzeichnet durch ein wirkungsvolles Wechselspiel von Subjekt und Gemeinschaft, von Individuum und Kollektiv. Daher muss das Ziel politischer Bildungsprozesse im Kontext von Partizipationserfahrungen immer auch sein, dass die Kinder und Jugendlichen sich selbst im Verhältnis zu ihrer Umgebung sehen. Der Politikdidaktiker Andreas Eis betont diesbezüglich:

Kollektive politische Lernprozesse vollziehen sich gleichwohl in realen Handlungssituationen, in denen nicht in einem top-down-Verfahren Scheinprobleme und pseudopartizipatorische Entscheidungs- und Lernanlässe vorgegeben werden, sondern die Subjekte auf eigene Handlungsproblematiken des gesellschaftlichen Zusammenlebens stoßen und ihre politische Selbst- und Weltverfügung lernend erweitern. (Eis 2014, 266)

Für die vorliegende Arbeit werden die politischen (Selbst)Bildungserfahrungen von den Jugendlichen in der Regel kollektiv gesammelt. Sie engagieren sich überwiegend in politischen Jugendbewegungen/-initiativen. Im fachwissenschaftlichen Diskurs hat sich für diese Form der politischen Selbstorganisation der Begriff der (Neuen) Sozialen Bewegung etabliert. Damit sind Zusammenschlüsse von Personen gemeint, „welche i) sich selbst als Gruppe begreifen, ii) das Ziel verfolgen, grundlegenden sozialen Wandel zu bewirken, zu verhindern oder umzukehren und iii) deren Kollektiv eine geringe interne Rollenspezifikation aufweist.“ (Herkenrath 2011, 25). Sie unterscheiden sich, betont Mark Herkenrath, von konventionellen Partizipationsstrukturen wie Parteien und Einzelorganisationen wie beispielsweise Gewerkschaften durch einen „geringeren Grad an formaler Institutionalisierung“ (Herkenrath 2011, 25). Formale Organisationsstrukturen wie Versammlungen mit gewählten Sprecher*innen, Versammlungsleitungen, Redelisten und formale Regeln des Meinungsaustausches und der Kompromiss-/Konsensfindung können dennoch Bestandteil sozialer Bewegungen sein. Hervorzuheben ist allerdings der zumeist lose Zusammenschluss (ohne feste Mitgliedschaft) und die basisdemokratische Grundausrichtung. Der Soziologe Jürgen Habermas beschreibt soziale Bewegungen wie folgt:

Offensiv versuchen diese, Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz aufzubringen, Problemstellungen zu definieren, Beiträge zu Problemlösungen zu liefern, neue Informationen beizusteuern, Werte anders zu interpretieren, gute Gründe zu mobilisieren, schlechte zu denunzieren. (Habermas 1997, 447)

Habermas gibt allerdings zu bedenken, dass ihre Wirkungskraft „im allgemeinen zu schwach [ist], um im politischen System kurzfristig Lernprozesse anzustoßen oder Entscheidungsprozesse umzusteuern“ (Habermas 1997, 451). Allerdings schließt er eine „überraschend aktive und folgenreiche Rolle“ (Habermas 1997, 460) im Falle einer Krisensituation nicht aus.

Nicht alle interviewten Jugendlichen organisieren sich in sozialen Jugendbewegungen. Teilweise sind sie in selbstorganisierten Protestgruppen, Arbeitsgemeinschaften oder losen Initiativen aktiv. Für all diese Gruppierungen gilt allerdings gleichsam, dass öffentlich sichtbar nur ein kleiner Ausschnitt ihrer Bildungsarbeit wird. Bezugnehmend auf soziale Bewegungen beschreibt der Protestforscher Sebastian Haunss dieses Phänomen mit einem Bild: soziale Bewegungen seien wie Eisberge. Der Großteil der Prozesse bleibe der Öffentlichkeit verborgen (Haunss 2016, 35) Er bezieht sich dabei auf die Überlegungen des italienischen Forschers Alberto Melucci, der in sozialen Bewegungen sogenannte „submerged networks“ (Melucci 1989, 60 nach Haunss 2016, 33) identifiziert. Haunss schließt daraus:

As one specific form of collective action, a social movement is therefore more of less similar to other forms of collective action that differ along one or more to the three dimensions – conflict versus consensus, solidarity versus aggregation, breching versus maintining the system limits. (Haunss 2016, 33)

Für die vorliegende Studie gilt es bezüglich dieser Dimensionen vor allem die Frage einer vermeintlichen Homogenisierung politischer Positionierungen im Kontext kollektiver Selbstorganisation zu thematisieren, weil dieses Phänomen mit einem Grundprinzip der politischen Bildung, der Multiperspektivität, brechen würde. Außerdem gilt es der Frage nachzugehen, welche Prozesse die Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und systemischen Grenzen auslöst und wie dies auch politische Bildungserfahrungen beeinflusst. Diese Fragen werden in der vorliegenden explorativen Studie nicht abschließend beantwortet werden können, die Erfahrungsberichte der politisch aktiven Jugendlichen bieten aber wertvolle Anregungen.

Vor allem in Bezug auf die im Zentrum der vorliegenden empirischen Untersuchung stehenden Jugendbewegungen und Initiativen sei bereits an dieser Stelle auf das Phänomen des Adultismus hingewiesen. Es beschreibt das „Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen“ (Ritz 2013, 165). Vor allem aber beschreibt es den Umgang der Erwachsenen mit den Anliegen von Kindern. „Der Begriff verweist auf die Einstellung und das Verhalten Erwachsener, die davon ausgehen, dass sie allein aufgrund ihres Alters intelligenter, kompetenter, schlicht besser sind als Kinder und Jugendliche und sich daher über deren Meinungen und Ansichten hinwegsetzen.“ (Ritz 2013, 165) Dem Adultismus steht der Ansatz des Protagonismo Infantil entgegen, der seinen Ursprung in der in Lateinamerika Ende der 1970er-Jahre entstandenen Debatte um den Schutz der Kinder hat. Der Soziologe Manfred Liebel widmete sich in einer vergleichenden Studie zu Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika und den Industriestaaten ausführlich diesem Phänomen und veröffentlichte seine Ergebnisse in dem Aufsatz „Protagonismus, Kinderrechte und die Umrisse einer anderen Kindheit“. Er verweist darauf, dass in Lateinamerika Kindern und Jugendlichen die „Kraft und Kompetenz [zugetraut wird], in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle zu spielen“ (Liebel 1999, 309). Arne Schäfer, Matthias Witte und Uwe Sander gehen in ihren einleitenden Worten zum Band „Kulturen jugendlichen Aufbegehrens“ auf dieses Phänomen ein. Die Position des Protagonismo Infantil rückt Kinder ins Zentrum der Gesellschaft und sieht sie – entgegen der noch immer weit verbreiteten Vorstellung des „schwachen Kindes“ – als widerständige und kompetente Subjekte (Schäfer u. a. 2011, 13 f.). Dieser Forschungsansatz ist auch Ausgangspunkt der hier vorgestellten Studie.

Ob individuell oder im Kollektiv aktiv, wenn Menschen sich politisch engagieren, kann dies nur im Austausch mit anderen gelingen. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass politische Partizipation – wie im Übrigen viele andere Formen gruppenbezogener Interaktion – zu Konstruktionen der Abgrenzung, aber auch des Zusammenhalts führen kann – beispielsweise in der Beziehung zu Erwachsenen, Andersdenkenden oder aber auch der eigenen Peer-Group. Es ist davon auszugehen, dass derartige Konstruktionen von „wir und ihr“ oder „ich und die anderen“ den Prozess politischer Selbstbildung in der politischen Aktion nachhaltig prägen. Diese These wird später im Verlauf der Arbeit erneut aufgegriffen (siehe Abschnitt 4.3.5).

Da Schüler*innen und somit Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus der vorliegenden Studie stehen und ihre (Selbst)Bildungserfahrungen im Kontext von politischen Aktionen rekonstruiert werden sollen, ist es wichtig vorliegende Erkenntnisse aus empirischer Forschung zu Kinder- und Jugendpartizipation einzubeziehen. Einen Überblick über grundständige Erkenntnisse in diesem Feld soll das folgende Unterkapitel bieten.

2.1.3 Kinder- und Jugendpartizipation

2.1.3.1 Jugendstudien

Immer wieder werden in Kinder- und Jugendstudien auch das gesellschaftliche Engagement und die politische Partizipation von Jugendlichen untersucht. Die Darstellung der Ergebnisse aller Studien in diesem Feld würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Exemplarisch werden daher an dieser Stelle zentrale Arbeiten vorgestellt. Die wesentlichen Erkenntnisse aus einschlägigen empirischen Untersuchungen mit quantitativen und qualitativen Schwerpunkten werden als Rahmung des hier vorgestellten Forschungsprojektes dienen.

Die Studie „Jugend in der Zivilgesellschaft“, von Sibylle Picot (2012) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erarbeitet, ist eine Untersuchung der Ergebnisse einer Freiwilligenumfrage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die in den Jahren 1999, 2004 und 2009 durchgeführt wurde. Insgesamt basiert diese vertiefende Studie auf einer Stichprobe von 2.815 Jugendlichen im Alter von 14 bis 24 Jahren, die zu ihrer aktiven Beteiligung und ihrem Engagement befragt wurden. In einer ersten Untersuchung wurde abgefragt, ob die Jugendlichen sich im Sport, im Theater, in der Schüler*innenvertretung oder Ähnlichem aktiv beteiligen. „Aktive“, die diese Frage bejahten, wurden näher befragt. Dabei ging es um die Frage, ob sie sich über das reine Mitmachen hinaus, z. B. als Übungsleiter oder Sportwart, freiwillig engagieren. So unterscheidet die Studie zwischen Aktiven und Engagierten. Die Studie zeigt, dass sich knapp ein Drittel der Befragten freiwillig engagiert. Verglichen mit den zwei Vorgängerstudien 1999 und 2004 hat die Zahl der engagierten Jugendlichen über die Jahre kontinuierlich leicht abgenommen. 1999 konnte der Gruppe der Jugendlichen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch ein überdurchschnittliches Engagement bescheinigt werden. In der neueren Studie hat sich dies relativiert, da das Engagement der anderen Altersgruppen ebenso zugenommen hat. Bei den aktiven, aber nicht engagierten Jugendlichen zeigt sich hingegen ein leichter Anstieg seit 1999. Und trotz des leichten Rückgangs des freiwilligen Engagements hat die Bereitschaft, sich zu engagieren, unter den Jugendlichen in den vergangenen Jahren stark zugenommen. 49 % der Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren wären bereit sich zu engagieren. Allerdings gaben 33 % davon an, sich nur eventuell engagieren zu wollen. Lediglich 16 % antworteten mit einem eindeutigen „Ja“ zum Engagement. (Picot 2012, 17 ff.) Offenbar gibt es Gründe, die Jugendliche davon abhalten, sich tatsächlich zu engagieren. Das könnte mit einem zunehmenden Zeitmangel der Jugendlichen zusammenhängen. Denn die Studie weist auch darauf hin, dass ein leichter Rückgang bei der Zeit zu erkennen ist, die Jugendliche auf ihr freiwilliges Engagement verwenden (Picot 2012, 25 ff.).

Während die Studie „Jugend in der Zivilgesellschaft“ vor allem ehrenamtliches, soziales Engagement in den Blick genommen hat, untersucht die Shell Jugendstudie, die seit 1953 von dem Mineralölkonzern Shell herausgegeben wird, die Einstellungen, Werte, Gewohnheiten und das Sozialverhalten von Jugendlichen in Deutschland. Für die 18. Shell Jugendstudie (Albert u. a. 2019) wurden insgesamt 2.572 Jugendliche im Alter von zwölf bis 25 Jahren befragt. Mit 20 Jugendlichen fanden zudem vertiefende Interviews statt. Die Studie verweist auf ein nach wie vor wachsendes Interesse an Politik und politischen Themen. Nachdem 2002 mit 30 % ein Tiefpunkt erreicht war, ist das Interesse in den letzten Jahren deutlich gestiegen. 41 % der Jugendlichen interessieren sich für Politik. Kontinuierlich steigt auch die Bedeutung, die politische Beteiligung für Jugendliche einnimmt. So hat 2002 weniger als ein Viertel der Befragten angegeben, dass es ihnen wichtig sei, sich politisch zu engagieren. Im Jahr 2019 gaben 34 % der Jugendlichen an, dass ihnen politisches Engagement wichtig sei. Während bei der Bereitschaft zum Engagement explizit nach politischem Engagement (Schneekloth/Albert 2019, 50) gefragt wurde, wird die Frage nach realem Handeln kaum spezifiziert. Die Frage lautet: „Bist du in deiner Freizeit für soziale oder politische Ziele oder ganz einfach für andere Menschen aktiv?“ (Schneekloth/Albert 2019, 98) Zwischen sozialem Engagement und politischer Partizipation wird dabei kaum unterschieden, auch nicht in den Items zum tatsächlichen Engagement (bspw.: hilfsbedürftige ältere Menschen unterstützen, sinnvolle Freizeitgestaltung, Umweltschutz etc.), die den Jugendlichen zur Auswahl standen. Es bleibt – auch nach der Analyse der weiteren Items (Schneekloth/Albert 2019, 98–101) – unklar, ob die etwa 36 % der Jugendlichen, die angeben sich oft zu engagieren, politisch aktiv sind.

Die Auseinandersetzung mit der politischen Ebene ist – vor allem im Feld der politischen Bildung – besonders hervorzuheben. So bestätigen Studien wie die Arbeit von Yates und Youniss (Youniss/Yates 1997; Youniss 2007; Reinders/Youniss 2006; Youniss 2006) zum Engagement in der Obdachlosenhilfe sowie die Studie des Bildungswissenschaftlers Heinz Reinders zum Engagement bei den Pfadfindern (Reinders 2006) die Wirkung von Engagement auf Prosozialität der Aktiven sowie auf ihre Partizipationsbereitschaft. Reinders befragte für seine Untersuchung knapp 500 Jugendliche im Alter von zwölf bis 20 Jahren. Die Hälfte der Untersuchungsgruppe war bei den Pfadfindern aktiv, die andere Gruppe engagierte sich nicht. Die Ergebnisse der Studie legen unter anderem nahe, dass „Jugendliche, die sich regelmäßig gemeinnützig betätigen, ein höheres Ausmaß an Handlungswirksamkeit berichten als Jugendliche ohne eine solche regelmäßige Betätigung“ (Reinders 2014, 66). Auch die Studie des Erziehungswissenschaftlers Horst Biedermann (2006) zeigte die Beziehung zwischen partizipativem Lernen und individuellen Selbst- und Sozialkompetenzen auf. Allerdings verweist er darauf, dass keine Signifikanz in der Beziehung zwischen allgemeinen partizipativen Erfahrungen und politischen Lernen  feststellbar sei. Diese Erkenntnis bestätigt einmal mehr die Notwendigkeit, politisches und soziales Handeln im Kontext von politischen Lernprozessen zu unterscheiden. Der Frage nach dem Verhältnis von sozialem und politischem Lernen widmet sich Alexander Wohnig (2017) eindrücklich in seiner gleichnamigen Studie. In der qualitativen empirischen Untersuchung erarbeitet Wohnig, basierend auf einer theoretischen Kontextualisierung sowie einer umfangreichen qualitativen Untersuchung, Gelingensbedingungen für politisch-soziales Lernen. Grundlage seiner Studie ist die Begleitforschung des Modellprojektes „Soziale Praxis & Politische Bildung – Compassion & Service Learning politisch denken“, welches an der Akademie für politische und soziale Bildung – Haus am Maiberg durchgeführt wurde. Schüler*innen wurden dabei in einem mehrstufigen Prozess bei der Nachbereitung eines schulischen Sozialpraktikums begleitet. Neben Protokollen der teilnehmenden Beobachtung von ca. 150 Stunden wurden 21 leitfadengestützte Interviews mit Schüler*innen und neun Interviews mit begleitenden Lehrkräften geführt. Wohnig analysierte unter anderem die „Bedeutung der Sozialerfahrungen für die Problemwahrnehmung der SchülerInnen“ (Wohnig 2017, 253). Eine wesentliche Erkenntnis der Analysen Wohnigs ist, dass die Zugänge zum Politischen im Sozialpraktikum kein Selbstverständnis seien. Ein sogenannter „Spillover-Effekt“ (Wohnig 2017, 285) als Folgewirkung des Sozialpraktikums konnte nicht nachgewiesen werden. Vielmehr geschieht eine „Verbindung von sozialer Erfahrung und politischem Inhalt nicht automatisch“ (Wohnig 2017, 287). Die Studie Wohnigs bestätigt die Annahme, dass politisches Lernen keine selbstverständliche Folge sozialen Handelns ist, dieses aber durchaus einen wertvollen Lernanlass schaffen kann.

Einen genaueren Einblick bezüglich des politischen Kerns des Engagements von Jugendlichen schafft die Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Gaiser u. a. 2016). Im Jahr 2015 wurden insgesamt 2.075 Jugendliche im Alter von 14 bis 29 Jahren per Online-Verfahren zu ihrem politisch-gesellschaftlichen Engagement befragt. Zudem wurden 20 leitfadengestützte, narrative Interviews mit Jugendlichen geführt. Die Studie hat zwischen politisch-gesellschaftlicher Beteiligung im weitesten und im engeren Sinne unterschieden. Unter politisch-gesellschaftlich engagierten Jugendlichen im engeren Sinne verstehen die Autor*innen jene, die sich in besonderem Maße für Politik interessieren, die Politik als für sie wichtigen Lebensbereich erachten, sich bereits mehrfach politisch aktiv eingebracht haben und ihr Engagement unter ein explizit politisches Vorzeichen stellen. Als politisch-gesellschaftliches Engagement im weitesten Sinne wird es hingegen betrachtet, wenn sich engagierte Jugendliche nicht unbedingt selbst als politisch interessiert bezeichnen. Im weitesten Sinne engagieren sich laut der Studie 42 % der 14- bis 29-Jährigen politisch-gesellschaftlich (Steinwede u. a. 2016, 27). Im Gegensatz dazu sind es nur 16 % der Jugendlichen, die sich im engeren Sinne engagieren (Steinwede u. a. 2016, 30). Besonders häufig wird dabei der Wahlgang als klassischer, konventioneller politischer Akt angegeben. Aber auch unkonventionelle Partizipationsformen werden – von den wenigen Jugendlichen, die sich im engeren Sinne politisch engagieren – häufig genutzt. Hervorzuheben sind hier Demonstrationen und Online-Protestaktionen (Gaiser/Rijke 2016, 53 f.).

Erfahrungen im politischen Handeln von Elf- bis 18-Jährigen hat auch Ingrid Burdewick (Burdewick 2003) Ende der 1990er-Jahre untersucht. Für die qualitative empirische Studie „Jugend – Politik – Anerkennung“ hat Burdewick insgesamt 16 Kinder und Jugendliche interviewt, die sich in einem niedersächsischen Jugendparlament engagierten. Mit dieser strukturierten, eher konventionellen Partizipationsform unterscheidet sich das Sample dieser Studie deutlich von dem Sample der vorliegenden Untersuchung und dennoch sind die Erkenntnisse von Bedeutung. Denn Burdewick konnte exemplarisch am Beispiel der von ihr interviewten Kinder und Jugendlichen verschiedene Anerkennungs- und Frustrationserfahrungen herausarbeiten, die auch für die selbstbestimmte politische Aktion relevant sind. Dazu zählen Erfahrungen der Ohnmacht sowie das subjektive Empfinden von Wirksamkeitssteigerung (Burdewick 2003, 207–232).

Vor allem in Bezug auf das politische Lernen in unkonventionellen Formen der politischen Partizipation sei an dieser Stelle auch auf die Untersuchung „Lernen in Bewegung(en)“ von Jana Trumann (2013) verwiesen. In dieser qualitativen Studie hat Trumann politische Lernerfahrungen im Zuge der Beteiligung an Bürgerinitiativen rekonstruiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass politische Bildung in der politischen Aktion keiner Stufenlogik folgt (Trumann 2013, 254 f.), vielmehr zeige sich, dass sich politisches Lernen – in Anlehnung an Klaus Holzkamp (1995, 227) – eher in „qualitativen Lernsprüngen“ vollziehe und diese Lernsprünge durch kooperative Lernprozesse begünstigt würden (Trumann 2013, 259). Der organisierte Protest, das Aufbegehren, ist, so konstatiert Trumann in ihrer Analyse der Lernerfahrungen in Bürgerinitiativen, „ein wichtiger Initiator für die individuellen politischen Lern-Handlungspraxen, die eben nicht auf der Ebene des vielfach zugeschriebenen reinen ‚Verhinderns‘ verbleiben, sondern wichtige gesellschaftliche Transformationspotenziale in sich bergen“ (Trumann 2012, 26).

Neben der Arbeit von Trumann, die zu den wenigen Untersuchungen gehört, die mithilfe qualitativer Forschungsmethoden Lern- und Partizipationserfahrungen in unkonventionellen Aktionsformen in den Blick nehmen, schließt die vorliegende Untersuchung vor allem auch an die Ergebnisse der Studie „Politisches Engagement und Selbstverständnis linksaffiner Jugendlicher“ an. In dieser Untersuchung haben Katrin Hillebrand, Kristina Zenner, Tobias Schmidt, Wolfgang Kühnel und Helmut Willems 35 problemzentrierte Interviews mit Jugendlichen geführt, die sich in linksaffinen Gruppen engagieren und überwiegend Erfahrung mit unkonventionellen Partizipationsformen gesammelt haben. Im Zentrum der Untersuchung stand nicht die Rekonstruktion von Lernerfahrungen, sondern das politische Engagement unter Berücksichtigung biographischer Entwicklungen. Darüber hinaus interessierte sich die Forschungsgruppe für das Selbst- und Gesellschaftsverständnis der Jugendlichen und ihre politischen Ziele. Die Ergebnisse versprechen ein großes Potential für politische Lernerfahrungen in selbstbestimmter politischer Aktion.

Es gibt keine homogene kollektive Identität engagierter linksaffiner Jugendlicher, die sich durch feste ideologische Überzeugungen oder einen konkreten Handlungsrahmen charakterisieren ließe. Vielmehr kann festgehalten werden, dass sich die Jugendlichen untereinander sehr stark in ihren Ansichten und Aktionsformen unterscheiden und dass im biografischen Verlauf auch intraindividuell große Veränderungen auftreten können. Somit haben sich die politischen Orientierungen keinesfalls als festgelegt, starr oder dogmatisch herausgestellt, sie unterliegen stattdessen einem permanenten Reflexions- und Wandlungsprozess, der sowohl von den praktischen Erfahrungen im Engagement, als auch durch theoretische Beschäftigung und Diskussionen beeinflusst wird. (Hillebrand u. a. 2015, 196)

Entgegen einer durchaus verbreiteten Annahme, dass Jugendliche in politischen Gruppierungen eher dazu tendieren würden, homogene Strukturen zu suchen bzw. aufzubauen, woraus sich ideologische Dogmen entwickeln könnten, stellt die Forschungsgruppe in ihrer Untersuchung fest, dass sich linksaffine politische Jugendgruppen eher durch aktive Reflexionsprozesse der Beteiligten kennzeichnen. Es ist daher davon auszugehen, dass Wesensmerkmale politischer Bildung, wie beispielsweise Perspektivenwahrnehmung und Konfliktfähigkeit, in diesen kollektiven Lernerfahrungen wirkmächtig werden. Dies zu überprüfen, ist auch Ziel der vorliegenden Arbeit.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das grundsätzliche politische Interesse bei Jugendlichen ansteigt. Vor allem die Entwicklungen der vergangenen Jahre im Zuge der Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa und der damit verbundenen Solidarisierung vieler Jugendlicher mit den von Krieg und Vertreibung betroffenen Menschen sowie der anhaltenden Klimaprotestbewegung mit internationalen Gruppierungen wie „Fridays for Future“ oder bundesweiten Aktionsgruppen wie „Ende Gelände“ bestätigen dies. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann und der Journalist Erik Albrecht sprechen in ihrem gleichnamigen Buch gar von der „Generation Greta“ (Hurrelmann/Albrecht 2020), benannt nach Greta Thunberg, der Initiatorin der globalen Klimabewegung „Fridays for Future“. Dennoch zeigen Studien auch, dass das Interesse an politischen Themen und eine erhöhte Bereitschaft zum politischen Engagement nicht zwangsläufig zu einer erhöhten tatsächlichen politischen Partizipation führen. Hervorzuheben ist, dass die Schule als prägende Sozialisationsinstanz im Leben junger Menschen dabei bisher offenbar eher eine hinderliche als eine fördernde Rolle spielt.

So spielt die Schule zwar eine wichtige Rolle in der Vermittlung politischen Wissens, wird jedoch nicht als fördernde Umgebung für aktive Partizipation wahrgenommen. Die institutionellen Strukturen werden vielmehr als einschränkend empfunden. (Hillebrand u. a. 2015, 201 f.)

Dieser Aspekt hängt unmittelbar mit der Frage zusammen, inwiefern Partizipationserfahrungen in formalen und non-formalen Bildungssettings von Fremd- und Selbstbestimmung gekennzeichnet sind. Mit diesen Charakteristika von Partizipationserfahrungen befasst sich das folgende Kapitel.

2.1.3.2 Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung

Im Folgenden werden verschiedene Ebenen von Partizipation im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung vorgestellt. Orientierung bieten sogenannte Leiter- oder Stufenmodelle, wie sie aus der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Forschung bekannt sind. Die wohl einschlägigsten Modelle der Partizipationsstufen gehen auf die Arbeiten von Roger Hart (1992), Wolfgang Gernert (1993) und Richard Schröder (1995) zurück und beruhen ursprünglich auf dem Leitermodell von Sherry R. Arnstein, mit dem erstmals ein Raster zur Analyse der Beteiligungsintensität in Partizipationsprozessen erreicht werden sollte. Während Arnstein in „Ladder of Citizen Participation“ (1969) den Fokus auf Partizipation von Erwachsenen legte, adaptierte Roger Hart dieses Modell für die Kategorisierung von Beteiligungs- und Partizipationsprozessen von Kindern und Jugendlichen. Im Modell von Hart wird dabei vor allem unterschieden zwischen Nicht-Partizipation und dem Grad von tatsächlicher Partizipation. Hart (1992) arbeitet in seinem Aufsatz „Children’s participation: from tokenism to citizenship“ vor allem heraus, dass Partizipation von Kindern und Jugendlichen häufig von Erwachsenen zum Zwecke der Dekoration, Manipulation oder Instrumentalisierung etabliert wird.

Children are undoubtedly the most photographed and the least listened to members of society. There is a strong tendency on the part of adults to underestimate the competence of children while at the same time using them in events to influence some cause; the effect is patronizing. There are, however, many projects entirely designed and run by adults, with children merely acting out predetermined roles, that are very positive experiences for both adults and children. (Hart 1992, 9)

Basierend auf den Arbeiten von Roger Hart (1992) und Wolfgang Gernert (1993) hat Richard Schröder (1995, 15–18) dann ein Leitermodell vorgestellt, dass Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen durch eine Dreiteilung beschreibt. Die Ebene der Fremdbestimmung, die auch Hart betonte, wird ergänzt durch die Ebenen Mitbestimmung und Selbstbestimmung. Mitbestimmung ist dabei gekennzeichnet durch Teilhabe, Informiertheit und Mitwirkung, während sich Selbstbestimmung durch Selbstverwaltung und Selbstorganisation der Kinder und Jugendlichen auszeichnet. Die Stufen und ihre Zwischenebenen sind dabei nicht klar voneinander getrennt und könnten in einem Prozess der Einbindung von Kindern und Jugendlichen durchaus übersprungen werden.

Die erste Ebene kann demnach als Anweisung, fremdbestimmte Beteiligung oder gar Manipulation bezeichnet werden (Schröder 1995, 16). Entscheidungsträger*innen nehmen die Lage von Kindern und Jugendlichen zwar wahr, aber die Problembearbeitung erfolgt ausschließlich auf Grundlage der Position der Entscheidungsträger*innen. Diese Stufe weist den geringsten Partizipationsgrad auf. Wenngleich scheinbare Beteiligung der Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird, so stehen doch die Ziele der Erwachsenen im Mittelpunkt. Es handelt sich um Manipulation oder Instrumentalisierung. In der Schule ist ein klassisches Beispiel dafür die Rolle der Klassensprecher*innen, zumindest dann, wenn diese Ordnungsaufgaben übernehmen müssen oder gar für die Disziplinierung ihrer Mitschüler*innen instrumentalisiert werden. Bis heute sind solche Formen der Instrumentalisierung sogar rechtlich in Schulgesetzen verankert. Im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen ist in Artikel 62, der unter anderem die Aufgaben der Schüler*innenvertretung regelt, Folgendes festgehalten:

Zu den Aufgaben der Schülermitverantwortung gehören insbesondere die Durchführung gemeinsamer Veranstaltungen, die Übernahme von Ordnungsaufgaben, die Wahrnehmung schulischer Interessen der Schülerinnen und Schüler und die Mithilfe bei der Lösung von Konfliktfällen. (BayEUG, Art. 62, Absatz 1, Satz 3 – Hervorhebung durch den Autor)

Von Partizipation kann dabei keine Rede sein. An diese Ebene schließt sich die Ebene der Dekoration an. Kinder und Jugendliche können vermeintlich mitwirken, sind darauf aber unzureichend vorbereitet. Und auch die Entscheidung darüber zu partizipieren, wird ihnen von Erwachsenen abgenommen. Dies kann zu Überwältigungserfahrungen führen. Daran schließt sich eine weitere Vorstufe der Partizipation an. Es handelt sich dabei um eine zunehmend stärker werdende Einbindung der Zielgruppe in Entscheidungsprozesse, jedoch ist auch noch kein direkter Einfluss der Kinder und Jugendlichen auf die Prozesse vorgesehen. Allerdings erwartet diese Vorstufe der Partizipation die Informiertheit der Kinder und Jugendlichen sowie ihre Anhörung im Entscheidungsprozess. Wenngleich Kinder und Jugendliche auf dieser Stufe erstmals selbst über ihre Bereitschaft zur Teilnahme bestimmen können, muss diese Stufe aufgrund des geringen Mitwirkungsgrades und des fehlenden Einflusses auf das Ergebnis des Entscheidungsprozesses als Alibi-Teilnahme bezeichnet werden (Schröder 1995, 16).

Durch tatsächliche Mitbestimmung, Entscheidungskompetenz und Entscheidungsmacht kann reale Beteiligung ermöglicht werden. Diese wird durch ein Umfeld begünstigt, in dem Kindern und Jugendlichen mit Anerkennung und Wertschätzung begegnet wird. Partizipation in diesem Sinne liegt vor, wenn Kinder und Jugendliche in bestimmte Entscheidungen direkt einbezogen werden und ihre Stimme damit einen tatsächlichen Wert erhält. Das Handeln kann demnach erst dann als Mitbestimmung klassifiziert werden, wenn Entscheidungen gemeinsam von Erwachsenen und Jugendlichen getroffen und umgesetzt werden (Schröder 1995, 17).

Eine besonders anspruchsvolle Form der Partizipation ist die selbstbestimmte Organisation des Handelns. Diese ist gegeben, wenn Teilhabeformate von Kindern und Jugendlichen selbst initiiert und durchgeführt werden. Entscheidungen werden dann von der Zielgruppe eigenständig und eigenverantwortlich getroffen. Es handelt sich um eine selbstständige und selbstbestimmte Form der Partizipation. Selbstbestimmung und Selbstverwaltung (Schröder 1995, 17) stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung.

Der Pädagoge und Kinder- und Jugendpartizipationsforscher Waldemar Stange verweist zurecht darauf, dass vor allem das gemeinsame Aushandeln von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen anspruchsvoll sei, denn es erwarte vor allem von den Erwachsenen, zu teilen und Macht abzugeben. Darüber hinaus weist Stange darauf hin, dass „‚lupenrein‘ selbstverwaltete Zonen ohne Erwachsenenbeteiligung schon aus entwicklungspsychologischen Gründen zumindest auf Kinderebene weniger infrage“ (Stange 2002, 13) kämen.

Partizipation bedeutet nicht, ‚Kinder an die Macht‘ zu lassen oder ‚Kindern das Kommando zu geben‘. Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Kinder sind dabei nicht kreativer, demokratischer oder offener als Erwachsene, sie sind nur anders und bringen aus diesem Grunde andere, neue Aspekte und Perspektiven in die Entscheidungsprozesse hinein. (Schröder 1995, 14)

Wenngleich die Schlussfolgerung von Schröder wenig überraschend sein mag, zeigt die repräsentative Untersuchung „Kinder ohne Einfluss?“, die im Jahr 2009 im Auftrag des ZDF durchgeführt wurde, dass die Schule nach wie vor kein Ort ist, der Kindern und Jugendlichen ermöglicht, sich einzubringen. Das Ergebnis der Studie ist ernüchternd: Schüler*innen fühlen sich auf allen Ebenen unzureichend beteiligt (Schneider u. a. 2009, 15–18).

In der Schule können Kinder nach eigenem Empfinden nur „wenig“ (60,4 Prozent) oder sogar „überhaupt nicht“ (24,6 Prozent) mitbestimmen. Selbst die Klassenzimmergestaltung als mitbestimmungsintensivstes Thema erreicht nur das Niveau „gering“. (Stange 2010, 18)

Die vorliegende Studie soll an diese Erkenntnisse anknüpfen und mit dem Fokus auf selbstbestimmte und selbstorganisierte Partizipationsformen ein Forschungsdesiderat bearbeiten.

2.1.4 Politische Aktion als Forschungsgegenstand

Bezugnehmend auf die bis hierhin beschriebene Dialektik politischer Partizipation soll in gebotener Kürzer der Versuch unternommen werden, den Begriff der politischen Aktion einzugrenzen. Dafür schließt diese Begriffsklärung an der Definition des Politikdidaktikers Frank Nonnenmacher an:

Unter „politische Aktion“ in diesem konkreten Sinne verstehe ich das demonstrative öffentliche Verhalten einer Personengruppe durch Wort, Schrift, Bild oder symbolische Handlungen, wobei das Ziel dieser Aktivität ein Hinweis auf einen nach Auffassung der Akteure kritikwürdigen Zustand oder ein begangenes Unrecht darstellt, sowie von dem Interesse geleitet ist, die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit der Kritik und einer Veränderung in eine von den Akteuren gewünschten Richtung zu überzeugen. Das Recht zu solchen Aktivitäten steht jedermann – auch Kindern und Jugendlichen – laut Art 5, Abs. 1 GG zu. (Nonnenmacher 2011, 85)

Angelehnt an diese Beschreibung der politischen Aktion durch Nonnenmacher, wird das Konzept für die vorliegende Studie noch weiter eingegrenzt. Politische Aktion wird als eine Praxis bürgerschaftlichen Handelns definiert, die sich loslöst von Staatsbürgerschaft als Status (Nationalität, Wahlrecht, usw.) und damit verbundenen konventionellen und institutionalisierten Handlungsfeldern. Politische Aktion wird hier eher, angelehnt an das Konzept der acts of citizenship (Isin 2008, 2009; Isin/Nielsen 2008b), als selbstbestimmte und selbstorganisierte Form der politische Partizipation verstanden. Die von Engin Isin und Greg Nielsen entwickelten theoretischen Überlegungen beziehen sich maßgeblich auf die Kämpfe und Aushandlungsprozesse von Citizen und Non-Citizens, dennoch lassen sich die Überlegungen auch grundsätzlich auf selbstbestimmte und neue Formen der politischen Aktion durch Jugendliche übertragen, denen konventionelle Zugänge, wie beispielsweise die Ausübung des Wahlrechts, verwehrt bleiben. Malte Kleinschmidt (2017) folgend sind damit immer auch der Kampf um die „Ausweitung von Teilhabe“ und das „Infragestellung von Normierungen“ verbunden.

Losgelöst vom Konzept der Staatsbürgerschaft als rechtlichen Status und den damit verbundenen Privilegien sind politische Aktionen als unkonventionelle politische Praxen zu verstehen, die sich in einem Raum zwischen Legalität und zivilem bzw. politischem Ungehorsam (Moulin-Doos 2015) verorten. Sie sind dabei mittelbar oder unmittelbar immer auch mit dem Ziel verknüpft, soziale, politische und ökonomische Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen und gegen politische Missstände anzugehen. Die politische Aktion in diesem Verständnis zeichnet sich dabei vor allem durch einen kritisch-emanzipatorischen Charakter, durch Selbstbestimmung und Selbstorganisation aus.

Im Fokus der vorliegenden Studie stehen daher Schüler*innen, wobei diese nicht nur in ihrer Rolle als Lernende in der Institution Schule wahrgenommen werden. Die Untersuchungsgruppe (siehe Abschnitt 3.2) setzt sich aus Jugendlichen zusammen, die selbstbestimmt und selbstorganisiert politisch aktiv sind und in Selbstverständnis, Form und Wirkung als politisch einzuordnen sind. Sie erkämpfen sich Freiräume für politische Partizipation und ihr politisches Handeln ist getrieben von dem Wunsch Widerstand zu leisten gegen sich manifestierende gesellschaftspolitische Schlüsselprobleme wie beispielsweise der anthropogene Klimawandel, Rassismus oder sozial-ökonomische Ausbeutung.

Ziel der Untersuchung ist es, politische (Selbst)Bildungsprozesse im Kontext politischer Aktion von Jugendlichen systematisch zu rekonstruieren, die sich aus ihren Erfahrungsberichten ergeben. Dafür ist es zunächst notwendig, aktuelle Zugänge, Kompetenzfelder, Erfahrungsräume und eine kritische Betrachtung im Feld der politischen Bildungsforschung aufzuarbeiten. Dies steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels.

2.2 Politische Bildung – Bewusstsein, Erfahrung & Emanzipation

In dieser Arbeit werden die Begriffe Bildung und Lernen verwendet. Sie stehen dabei nicht in einem sich ausschließenden Verhältnis zueinander. Bildung wird als ein ganzheitlicher Prozess der reflektierten Selbst- und Weltaneignung verstanden und führt damit zu Sinnbildungsprozessen des Subjekts, die unter anderem geprägt sind von Erziehungs-, Sozialisations- und Lernerfahrungen. Der Begriff der Bildung nimmt, anlehnend an Ingrid Miethe und Silke Roth den Menschen „ganzheitlich (und nicht nur als rationale AkteurIn) in den Blick und legt sein Augenmerk vor allem auf den Prozess der eigenen (inneren) Weiterentwicklung und Selbstdeutung anstatt lediglich auf die (kognitive) Sammlung von Wissen und Kompetenzen“ (Miethe/Roth 2016, 21).

Lernen wird als ein spezifischer Aneignungsprozess verstanden, der als intentionaler und/oder impliziter Vorgang in verschiedenen Settings (formal, informell, non-formal) konkrete Bildungserfahrungen beschreibt. Für die vorliegende Untersuchung stehen dabei vor allem informelle und selbstgesteuerte Lernprozesse im Fokus (Trumann 2012, 96–102).

Das Bildungsverständnis, das dieser Arbeit zu Grunde liegt, soll vor allem aus der Perspektive politischer Bildung konkretisiert werden. Diese Einordnung wird im Folgenden durch die systematische Aufarbeitung von Bewusstsein, Erfahrung und Emanzipation im Feld der politischen Bildung vorgenommen. Dabei wird auch auf die Diskurse zur Kompetenzentwicklung in der politischen Bildung rekurriert. Dies scheint im Widerspruch zur eingangs formulierten Begriffsdefinition zu stehen, ist aber der Tatsache geschuldet, dass das Ziel der vorliegenden Studie auch damit verbundenen ist, das Potential politischer Selbstorganisation von Jugendlichen für die formale politische Bildung zu eruieren. Dies ist ohne die Berücksichtigung der Diskurse über Bildungs- und Lernerfahrungen in der formalen politischen Bildung nicht möglich.

2.2.1 Vom Subjekt ausgehend – das Bildungsverständnis

Grundlage für die Analyse politischer Bildungsprozesse und etwaiger Kompetenzentwicklungen junger Menschen sind die individuellen Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen Bildungserfahrungen gemacht werden. Politik ist immer ein Zusammenspiel von Subjekten, denn „politische Entscheidungen betreffen immer viele Subjekte und Strukturen“ (Reinhardt 2018, 22). Bevor demnach in den folgenden Unterkapiteln verschiedene Dimensionen der politischen Bildung diskutiert werden, gilt es zunächst, die Bedeutung der Subjektorientierung und des politischen Selbstkonzeptes herauszustellen.

Christoph Bauer hat in seinem Aufsatz „Das mündige Subjekt“ (Bauer 2013) herausgearbeitet, dass die Perspektive auf das Subjekt im politikdidaktischen Diskurs von verschiedenen Denkrichtungen geprägt zu sein scheint. Zum einen gibt es einen defizitorientierten Ansatz, der vor allem die potenziellen Fehlkonzepte (ausführlich in Abschnitt 2.2.2.2 „Richtiges Politikwissen?“) in den Blick nimmt. Neben dieser Form der Subjektorientierung, die Pädagog*innen und Lehrkräfte eher in der Rolle eines Korrektivs zu den vermeintlich falschen Vorstellungen der Lernenden sieht, beschreibt Bauer weitere Zugänge zu einer subjektorientierten politischen Bildung. Neben „emphatisch-euphorischen Subjektbezügen“ nennt Bauer auch „postmodern[e], (radikal-)konstruktivistisch[e] Ansätz[e], bei denen Autonomie und Selbststeuerungen im Vordergrund stehen“ (Bauer 2013, 28).

Torsten Junge sieht aber nicht nur vielfältige Diskurslinien. Für Junge ist das Konzept des Subjekts in den sozialphilosophischen Diskursen in die Krise geraten.

Seit längerem changiert die Debatte um das Subjekt zwischen einem essentiellen Anthropologismus, gestärkt durch das Konzept des genetischen Determinismus bis zur völligen Auflösung des Menschen in Textbausteine und Diskursprodukte. Dieser theorielastigen Diskussion stehen Diskurse gegenüber, die auf spezifische Subjektvorstellungen rekurrieren, bzw. wenn das Subjekt als ein Produkt verschiedener historisch-gesellschaftlicher Konstellationen zu begreifen ist, in diesem Sinne prägend sind. (Junge 2016, 202)

Auch für die vorliegende Arbeit wird auf die Forschung zur Entwicklung subjektiver Vorstellungen von Lernenden Bezug genommen. Für die politische Bildung sind dabei die lerntheoretischen Überlegungen zum Bürgerbewusstsein (Lange 2005, 2008a, 2008b, 2012; Kenner/Lange 2020a) und der politikdidaktischen Rekonstruktion von besonderer Bedeutung (u. a. Vajen u. a. 2021; Fischer u. a. 2016; Fischer/Lange 2014; Heidemeyer/Lange 2010; Haarmann/Lange 2009). Dirk Lange betont, dass Politische Bildung danach fragen müsse, wie Lernende Politik als theoretisches Konstrukt, aber auch als Prozess für sich sinnhaft machen. „Es interessieren die Sinnbilder und Sinnbildungen, durch die sich Lernende die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit erklären.“ (Lange 2008a, 432)

Der Gegenstand der Didaktik der Politischen Bildung ist das „Bürgerbewusstsein“, in dem der Einzelne den Sinn bildet, der es ihm ermöglicht, die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und handelnd zu beeinflussen. (Lange 2008a, 432)

Diese Sinnbildungen bringt Dirk Lange mit dem Kulturverständnis des Soziologen Max Weber zusammen, der darauf verwies, dass dies dem Menschen ermögliche, „bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen“ (Weber 1922, 180). Im Bürgerbewusstsein mache sich der Mensch, so beschreibt es Lange, einen Ausschnitt aus der politischen Welt sinnhaft. Die Folge dieses Sinnbildungsprozesses sei es, mit Verweis auf Webers Kulturverständnis, dass „wir bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung“ (Weber 1922, 180 f.) nehmen.

Diese Sinnbildungen gilt es zu verstehen und als subjektorientierten Ausgangspunkt für politische Bildung zu begreifen. In ihnen bildet sich das demokratische Bürgerbewusstsein, das Menschen dazu befähigt, gesellschaftspolitische Herausforderungen zu analysieren und darauf aufbauend Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu erkennen, zu reflektieren und zu hinterfragen. Die individuellen Vorstellungen der Menschen von Politik, Demokratie, von Macht und Herrschaft sowie das gesellschaftliche Zusammenleben sind maßgeblich für die Bereitschaft zur Teilhabe und die tatsächliche politische Partizipation. Politische Bildung muss diese subjektiven Vorstellungen mit anderen individuellen Denkmustern und fachwissenschaftlichen Konzepten abgleichen. Das Aufgreifen des demokratischen Bürgerbewusstseins der Lernenden offenbart das Selbstverständnis von Pluralität in offenen Gesellschaften. Differenz und Konflikt werden dann weniger als Makel, denn eher als wertvoller Bestandteil des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses verstanden. Dieser Ansatz schließt an den Überlegungen des brasilianischen Befreiungspädagogen Paulo Freire zur kritischen Bewusstseinsbildung (conscientização) an, die er als ein Lernvorgang beschreibt, der notwendig sei, „um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen“ (Freire 1991 [1971], 25). Wenn man sich dieser These anschließt, gilt für die politische Bildung, dass Lernprozesse auf konstruktivistischen Lernannahmen aufbauen müssen. Denn diese betonen die hier beschriebenen Ebenen des Subjekts als individuelle Konstruktion von Wirklichkeit, sowie die soziale Ebene als kontinuierlicher Abgleich der eigenen Vorstellungen mit den Vorstellungen anderer Individuen.

In der Betonung dieser individuellen Ebene liegt das zentrale innovative Moment des Konstruktivismus in der Politikdidaktik, denn sie fordert die Abkehr von instruktionsorientierten politikdidaktischen Positionen […]. (Langner 2017, 176)

Ebenso bedeutsam wie die Abkehr von der instruktionsorientierten Didaktik ist die Aufwertung der Rolle des individuellen Bürgerbewusstseins für politische Lernprozesse. Mit diesem Verständnis werden subjektive Vorstellungen anerkannt und sind zugleich der Ausgangspunkt für weitergehende Lernerfahrungen. Die Subjekte rücken in den Mittelpunkt des Lernprozesses und leisten mit ihren Erkenntnissen aus permanenter Selbst- und Weltaneignung einen Beitrag für einen Bildungsprozess in einem sozialen Gefüge. Für die Schule ist dieses soziale Gefüge der Klassenraum, die Schulgemeinschaft. Es lässt sich aber auch auf den gesellschaftlichen Diskurs außerhalb der Schule übertragen. Bildung ist in diesem Verständnis vor allem ein aktiver Prozess des Subjekts (Henkenborg/Krieger 2005, 35). Diese subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeit, das Bürgerbewusstsein des Individuums, gilt es, in geeignete Bildungssettings zu bringen, in denen innere Repräsentationen (um)konstruiert werden können, um damit einen Lernprozess zu initiieren (Langner 2017, 176).

Ausgehend von diesen Überlegungen stellen die Sinnbildungen des Bürgerbewusstseins (Lange 2005, 2008a, 2008b) die kognitive Grundlage dar, um politisch zu urteilen und zu handeln. Zugleich beeinflusst die Austragung politischer Konflikte, also reales politisches Handeln, das Bürgerbewusstsein des Individuums. Vorstellungen des Subjekts von der Welt sind demnach Ausgangspunkt und immerwährender Bestandteil politischer Bildungsprozesse (Kenner/Lange 2020a).

Dirk Lange schlägt unter Verarbeitung von lernpsychologischen und erziehungsphilosophischen Ansätzen (u. a.: Piaget 1992; Dewey 1964) ein Lernmodell vor, das Lernenden als Motiv unterstellt, eine Kongruenz zwischen ihrem Bürgerbewusstsein und ihrem Erleben der politischen Wirklichkeit herstellen zu wollen. Dieses Kongruenzstreben ist nicht als ein Zustand, sondern als ein Prozess zu denken. Es beschreibt die Richtung, in die sich die andauernd mobilen Vorstellungswelten orientieren. Das Bürgerbewusstsein befindet sich in einem unabgeschlossenen und fortwährenden Prozess des politischen Lernens. Der Ausgangspunkt ist ein Erleben von politischer Wirklichkeit, das mit den vorhandenen Bewusstseinsstrukturen nur unbefriedigend erklärt werden kann. Lange geht davon aus, dass, sobald sich die Aufmerksamkeit des Menschen auf das diskrepante politische Phänomen richtet, seine politischen Vorstellungswelten in Unruhe geraten. Erst dann würde ein Prozess des politischen Lernens einsetzen. Aufmerksamkeit für die Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen und dem Umwelterleben zu schaffen, ist Wesenskern dieser subjektorientierten Lerntheorie. Denn der Mensch hat täglich eine Vielzahl bewusstseinsdiskrepanter Erlebnisse (Lange 2005, 263) und lässt dennoch viele der politischen Lerngelegenheiten aus (Kenner/Lange 2020a, 183). Es sind die mentalen Strukturen des Bürgerbewusstseins, die den politischen Sinn erkennen lassen und damit „dem Einzelnen Orientierung und Handeln in der Gesellschaft“ (Lange 2017, 214) eröffnen und ermöglichen. Ob tatsächlich politisch gelernt wird, hängt aber eben auch davon ab, ob diese Diskrepanz bewusst wird. Das Erleben wird erst lernwirksam, wenn es subjektiv reflektiert wird und somit eine Erfahrung darstellt. Der Erfahrungsbegriff betont die Diskrepanz, die Lernende zwischen ihrem Bürgerbewusstsein und ihrem Umwelterleben subjektiv wahrnehmen. Damit beginnt ein Prozess, der auf potenzielle Wiederherstellung der Kongruenz von politischen Vorstellungswelten und dem Umwelterleben abzielt.

Einem inputorientierten Didaktikverständnis mochte es genügen, die Lerninhalte fachwissenschaftlich zu begründen, auszuwählen und zu methodisieren. Eine outputorientierte Didaktik muss Fragen nach der Tatsachlichkeit politischen Lernens stärker integrieren. Sie interessiert sich nicht nur für die erwünschten, sondern zugleich für die beobachtbaren Wege, Gegenstände und Strukturen des politischen Lernens. Hierfür reicht die kategoriale Erfassung der Sachstruktur Politischer Bildung nicht mehr aus. Die Entstehung und der Wandel von Kenntnissen und von Vorstellungen über Politik lässt sich nicht allein durch fachwissenschaftliche Bezüge erklären. Die Politikdidaktik benötigt einen kategorialen Zugang zu den domänenbezogenen Vorstellungen von Lernenden und eine Theorie politischen Lernens. (Lange 2005, 259)

Ziel politischer Bildung muss demnach eine Bewusstwerdung des eigenen Bürgerbewusstseins sein und damit die unmittelbare Orientierung am Subjekt. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, Selbstkompetenz als zentrales Element politischer Bildung zu stärken. Unter Bezugnahme auf den Pädagogen Heinrich Roth betont Peter Henkenborg (2005) die Bedeutung von Selbstkompetenz als einen Prozess des sich selbst Erkennens und Erfahrens und der Selbstbestimmung. Dieser Ansatz bedeutet aber nicht, dass Subjektorientierung mit Egozentrismus gleichzusetzen sei. Im Gegenteil: Unter Bezugnahme auf Heinrich Roth und Rolf Schmiederer erklärt der Politikdidaktiker Peter Henkenborg, dass Selbstkompetenz die Fähigkeit „zu einer freien und ungezwungenen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“ darstelle und ergänzt: „Zur Selbstwahrnehmung gehört aber immer auch die Fähigkeit der Fremdwahrnehmung“ (Henkenborg 2005, 304).

Eine besondere Berücksichtigung muss in Bezug auf das politische Selbstkonzept auch die Frage von Selbstwirksamkeitserfahrungen spielen. Geprägt hat diesen Begriff Albert Bandura, der ihre Bedeutung wie folgt skizziert:

Among the mechanisms of agency, none is more central or pervasive than people's beliefs of personal efficacy. Perceived self-efficacy refers to beliefs in one's capabilities to organize and execute the courses of action required to manage prospective situations. Efficacy beliefs influence how people think, feel, motivate themselves, and act. (Bandura 1999, 2)

Bis heute ist der Begriff agency dabei vage und es fehlt an einer klaren Bestimmung des Konzepts (Helfferich 2012, 9 f.). Cornelia Helfferich umschreibt den Begriff daher sehr umfassend:

„Agency“ ist ein Grundbestandteil aller Konzepte, die erforschen oder erklären, wer oder was über welche Art von Handlungsmächtigkeit verfügt oder diese zugeschrieben bekommt bzw. als welchen und wessen Einwirkungen geschuldet etwas zu erklären ist. (Helfferich 2012, 10)

Für die vorliegende Studie stellt die Rekonstruktion von politischen Selbstwirksamkeitserfahrung in jedem Fall einen wesentlichen Bestandteil dar, denn politisches Handeln setzt intrinsisch-motivationale Elemente voraus. „Da ist in erster Linie das Vertrauen in sich selbst und die Einschätzung, das eigene Handeln könne Wirksamkeit entfalten.“ (Klatt 2012, 6) Momente der Selbstwirksamkeitserfahrung können zugleich wertvolle intrinsische Motivation für weitergehende Bildungsprozesse sein. Bezugnehmend auf die Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Edward L. Deci und Richard M. Ryan können selbstbestimmte politische Handlungserfahrungen von Schüler*innen als intrinsisch motivationaler Zugang für formale Bildungssettings nutzbar gemacht, wenn Regulationsprozesse „als Basis selbstbestimmten Handelns“ (Deci/Ryan 1993, 229) erlebt werden.

Für die vorliegende Studie sind daher Elemente wie Selbstwirksamkeit, Erfahrungen mit Anerkennung und Frustration, die Reflexion über Effizienz, Legitimität und Wirkungskraft des eigenen politischen Handelns, aber auch der Konstruktion von Vorstellungen über „Ich und die anderen“ von besonderer Relevanz.

Die Hervorhebung der Subjektorientierung als Wesensmerkmal emanzipatorischer politischer Bildung ist diesem Kapitel vorangestellt, um die eigene Position in der durchaus kontroversen Diskussion zum Kompetenzbegriff einzuordnen. Darüber hinaus stehen für die vorliegende Studie Selbstbestimmung und Selbstkompetenz der Kinder und Jugendlichen im Fokus. Um politische (Selbst)Bildung der Kinder und Jugendlichen am Beispiel selbstbestimmter und selbstorganisierter politischer Aktionen und emanzipatorischer Handlungserfahrungen rekonstruieren zu können, bedarf es aber nicht nur einer subjektorientierten Perspektive. Wenngleich im Sinne der Rekonstruktiven Sozialforschung größtmögliche Offenheit für die individuellen Erfahrungsberichte im Erhebungsverfahren vorliegt (Bohnsack 2014, 22–26), so gilt für die hier vorgestellte Untersuchung auch, dass der umfängliche fachdidaktische Forschungsstand nicht aus den Augen verloren gehen darf. Daher werden im folgenden Abschnitt dieser Arbeit die Kontroversen aus dem Feld der politischen Bildung zu Dimensionen und Kompetenzen bezüglich des politischen Lernens nachgezeichnet und eingeordnet.

2.2.2 Handwerkszeug für politische Mündigkeit

2.2.2.1 Politik- und Demokratiekompetenzen – Hinführung

Um Erfahrungsberichte von Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel zu analysieren, politische (Selbst)Bildung systematisch zu rekonstruieren, bedarf es zunächst einer Einordnung verschiedener Konzepte und Begriffe im Feld der politischen Bildung. Wenngleich politische Bildung als eigenständige fachdidaktische Forschungsdisziplin noch relativ jung ist und erst in den 1960er-Jahren erste Professuren für Didaktik der politischen Bildung eingerichtet wurden (Sander 2014a, 19–20), wurden in Bezug auf das Grundverständnis bis heute bereits wesentliche Prinzipien formuliert. Zugleich werden Kompetenzmodelle bis heute kontrovers diskutiert. Das folgende Kapitel verfolgt nicht das Ziel, diese Diskurse vollständig abzubilden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, die für den Untersuchungsgegenstand besonders relevanten Elemente herauszuarbeiten und eigene Schwerpunkte zu setzen. Im Vordergrund steht eine analytische Auseinandersetzung mit selbstbestimmter und selbstorganisierter politischer Aktion als (Selbst)Bildungserfahrung. Damit rücken Perspektiven empirischer Unterrichtsbeobachtung, aber auch die Auseinandersetzung mit einer fachdidaktischen Konzeptionalisierung von Wissensvermittlung in den Hintergrund. Von größerer Bedeutung sind Themen wie Subjektorientierung, Analyse- und Orientierungsfähigkeiten, Perspektivenwahrnehmung, Konfliktfähigkeit, Kritik, Emanzipation und Handlungskompetenz. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt der empirischen Analyse auf Selbstwirksamkeitserfahrung im Zuge des informellen und selbstgesteuerten Lernens. Nachdem in Abschnitt 2.1 „Politische Aktion – der Versuch einer Begriffsklärung“ eine fachwissenschaftliche Einordnung des Forschungsthemas vorgenommen wurde, folgt in diesem Kapitel eine Einordnung des Forschungsgegenstands mit den hier beschriebenen Schwerpunktsetzungen im Feld der politischen Bildung als eigenständiger Disziplin.

Die letzten 20 Jahre waren geprägt von verschiedenen Vorschlägen zur Entwicklung eines politikdidaktischen Kompetenzmodells. Kompetenzorientierung hat sich im Zuge dessen als ein Forschungs- und Konfliktfeld herausgestellt (Sander 2014b). Ausgangspunkt aller Überlegungen dazu ist das Ziel politischer Bildung: mündige Bürger*innen. Politische Bildung fördert, auch über die Vermittlung fachwissenschaftlichen Wissens, beispielsweise in Form von Basis- und Fachkonzepten (Kontroverse zwischen Weißeno u. a. 2010 & Autorengruppe Fachdidaktik 2011), die Orientierungsfähigkeit und die Urteilskraft des Subjekts. Politische Bildung befähigt zu einer kritischen Haltung gegenüber gesellschaftspolitischen Phänomenen. Lernende werden zu Kritik, Widerspruch und Widerstand (Reheis u. a. 2016) befähigt, um gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht nur analysieren zu können, sondern einen eigenen Standpunkt zu entwickeln und diesen auch vertreten zu können (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 21). Demokratie ist dabei nicht nur als politisches System zu verstehen, sondern wird auch als Gesellschaftsform, beispielsweise über die Zivilgesellschaft, vor allem aber als Lebensform im Alltag der Menschen erfahrbar gemacht (u. a. Himmelmann 2018, 2017, 2016, 2013). Die Entwicklung dieser beschriebenen Kompetenzen ist allerdings kein selbstverständlicher Prozess, betont der Politikdidaktiker Peter Henkenborg.

In der modernen und komplexen Gesellschaft entstehen Demokratiekompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern nicht einfach von selbst, gleichsam alleine durch Prozesse „wilden Lernens“, sondern eher im Gegenteil – Demokratiekompetenzen können ohne Prozesse institutionalisierter Bildung und Erziehung nicht nachhaltig entwickelt werden. Politische Bildung ist deshalb eine Bedingung der Demokratie; damit Demokratiekompetenzen sich entwickeln können, bedarf es der politischen Bildung als einer institutionalisierten Form demokratischer Bildung und Erziehung. (Henkenborg 2005, 300)

Ausgehend von diesen normativ grundsätzlich positiv besetzten Intentionen politischer Bildung fragt die Autorengruppe Fachdidaktik (2016), ob „politische Bildung dadurch nicht schon im Grundsatz ‚gut‘ – im Sinne einer Gemeinwohlorientierung und Demokratisierung“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 7) sei. Doch wie dieses Ziel erreicht werden kann, darüber wird in der Disziplin gestritten. Eine Übersicht über die verschiedenen Ansätze zur Entwicklung eines Kompetenzmodells für die politische Bildung, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird, geben unter anderem die Arbeiten von Gerhard Himmelmann (2005) und Tonio Oeftering (2013, 60 ff.).

Wolfgang Sander betonte im Jahr 2011, dass es zu dem Verständnis von Kompetenzorientierung in der politischen Bildung weiterhin Klärungsbedarf gäbe. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Sander gibt zu bedenken, dass sich hinter einem vermeintlichen „Konsens“ noch „zahlreiche ungeklärte Fragen und differierende Vorstellungen“ (Sander 2011, 9) verbürgen würden.

Unabhängig von der Frage, mit welchen Kompetenzmodellen das Ziel erreicht werde, gilt, dass politische Bildung nicht nur Demokratie als politisches System vermitteln darf. Der Bezugspunkt ist demnach „nicht vordergründig das bestehende demokratische System, sondern die Fähigkeit der Bürger*innen, die gegebene Ordnung zu verstehen, zu reflektieren, zu verändern, zu kritisieren und so zu gestalten, wie sie es selbst für adäquat halten“ (Kenner/Lange 2020b, 49).

Politische Bildung zielt nicht einfach auf den Erhalt des demokratischen Status quo, sondern auf die Bildung urteils- und handlungskompetenter Bürgerinnen und Bürger, die sich ein politisches System so schaffen, so verändern und so erhalten können, dass es ihnen politische Selbstbestimmung ermöglicht. Politische Bildung legitimiert demokratische Herrschaft, indem sie die Urteils-, die Kritik- und die Handlungsfähigkeit des demokratischen Souveräns bildet. (Lange 2008a, 432)

Politische Bildung darf demnach in keinem Fall als Instrument verstanden werden, das sich zum Ziel setzt, das bestehende politische System in den Köpfen der Menschen zu verankern (Kenner/Lange 2019, 121). Es braucht Erziehung und Bildung, um Menschen dazu zu befähigen, Selbst- und Weltaneignungserfahrungen zu sammeln und reflektieren zu können. Fragwürdig sei es, wenn politische Bildung dabei stehen bliebe und „nichts anderes als ‚well adjusted people‘“ produziere, so Theodor W. Adorno (1971, 109).

In der Einführung für den von Moritz Peter Haarmann, Dirk Lange und mir herausgegebenen Sammelband „Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische. Zugänge im Feld der Politischen Bildung“ (Haarmann u. a. 2020) schlagen wir daher eine Differenzierung des Demokratiebegriffs für die politische Bildung vor, der hervorhebt, dass es bei politischer Bildung in der Demokratie um mehr gehen muss, als das Verständnis für das bestehende politische System. Ziel gelingender politischer Bildung ist die Befähigung zu einem selbstbestimmten, kritisch reflektierten sowie grund- und menschenrechtsorientierten Denken, Urteilen und Handeln – denn darin liegen die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Demokratie.

Das Demokratische beschreibt für uns dabei den unhintergehbaren Kern politischer Bildung und basiert auf zentralen Werten wie Pluralismus, Menschenrechten, Gerechtigkeit und Minderheitenschutz. Diese Grundprinzipien legitimieren und orientieren die Lehr- und Lernarrangements der politischen Bildung. Die Orientierung des politischen Denkens, Urteilens und Handelns an den Grundrechten ist nicht verhandelbar und erfordert Haltung. Die normative Dimension des Demokratischen legt damit das Fundament und ist zugleich Antriebskraft, um Demokratie zu verwirklichen.

Demokratie bietet, als grundlegende Idee von Gesellschaft sowie als Normen- und Institutionensystem, einen Rahmen für das politisch organisierte Zusammenleben der Menschen. Sie eröffnet Teilhabemöglichkeiten, orientiert gesellschaftliches Handeln und regelt den Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten. Gerade weil die Grund- und Menschenrechte als Seele der Demokratie unantastbar sind, unterliegt die Demokratie auch als Herrschafts- und Regierungsform einem fortwährenden Gestaltungsauftrag. Dies ist mit dem Anliegen verbunden, breite Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen und für eine umfassende Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte Sorge zu tragen.

Demokratisierung ist demnach ein kontinuierlicher gesellschaftlicher Prozess, mittels dem die Demokratie auf der Grundlage nicht verhandelbarer gesellschaftlicher Grundwerte immer wieder neu ausgehandelt wird. Dies drückt sich unter anderem in basisdemokratischen Interventionen der Zivilgesellschaft aus (siehe auch: Haarmann u.a. 2020, 1f.).

Die vorliegende Studie soll vor allem die letzte Ebene der Demokratisierung in den Blick nehmen. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich Prozesse der politischen (Selbst)Bildung, der Ausbildung politischer Kompetenzen in selbstbestimmter emanzipatorischer politischer Aktion entfalten und welche Rolle die professionelle pädagogische Begleitung dabei spielen kann.

Im Folgenden werden die einzelnen Kompetenzfelder politischer Bildung unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die empirische Untersuchung vorgestellt. Zunächst wird dabei der Frage nachgegangen, ob es das „richtige Politikwissen“ gibt, dass es zu vermitteln und von den Lernenden zu reproduzieren gilt.

2.2.2.2 Richtiges Politikwissen?

Im Feld der ohnehin umstrittenen Konzentration auf vermeintlich messbare Kompetenzentwicklung wird im Unterrichtsfach Politische Bildung vor allem das Fachwissen als grundlegendes Element der Politikkompetenz kontrovers betrachtet. Der Streit um die Frage, was gelernt werden soll, und um die Bedeutung des Fachwissens für politische Lernprozesse ist fast so alt wie die Disziplin selbst (Henkenborg 2011). Vor allem mit der „didaktischen Wende“ (Massing 2013) begann eine Diskussion über die Schwerpunktsetzungen in didaktischen Konzeptionen der politischen Bildung. Prägend war hier unter anderem die 1965 in der Erstauflage erschienene „Didaktik der politischen Bildung“ von Hermann Giesecke (1979), die vor allem das Lernen am politischen Konflikt ins Zentrum rückte, sowie die Arbeit von Rolf Schmiederer (1971), der Emanzipation und Kritik als zentrale Elemente der politischen Bildung betonte.

Wolfgang Sander beschreibt die Tatsache, dass im Zuge politischer Bildung auch Wissen erworben werden kann, als „triviale Selbstverständlichkeit“ und betont dessen Bedeutung vor allem für die Erfolgsaussichten politischen Handelns:

[B]is zu welchem Grad dies erforderlich ist, ist eine Frage, die nicht in einer verbindlichen und – etwa durch eine Liste von „Grundwissen“ – kanonisierbaren Weise für alle Bürgerinnen und Bürger zu beantworten ist. Zu sehr hängt dies von Situationen ab, die weder für alle Lernenden gleich sind noch sich von der politischen Bildung antizipieren lassen: von den Lernbiographien der Adressaten und von deren Vorwissen und Einstellungen; von den möglichen Verwendungssituationen im politischen Handeln; von der wechselnden politischen Agenda. (Sander 2008, 95)

Nichtsdestotrotz prägt die Debatte über den Wert von fachwissenschaftlich begründeten Konzepten als Wissenskanon für die politische Bildung bis heute die fachdidaktische Forschung. Den ersten Versuch einer Beschreibung von Fachwissen als Kern eines potenziellen Kompetenzmodells für die politische Bildung formulierte die Gesellschaft für Politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE 2004) in den „Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen“. Konzeptuelles Deutungswissen wird hier als eine vom Subjekt ausgehende Erschließung der Welt durch den Abgleich von individuellen Deutungen, fachlichen Konzepten und Umwelterfahrungen sehr offen formuliert:

Es handelt sich um Wissen, das sich auf grundlegende Konzepte für das Verstehen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Recht bezieht. […] Politische Bildung will somit in erster Linie jenes Wissen verbessern, von dem aus Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen und Wahrnehmungen von Politik im weiteren Sinne strukturieren. Entsprechend stehen im Zentrum des Wissens, das das Fach vermitteln will, nicht in erster Linie Kenntnisse über Einzelaspekte des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Zentral für die Politische Bildung ist vielmehr solches Deutungswissen, das Schülerinnen und Schülern den Sinngehalt und die innere Logik von Institutionen, Ordnungsmodellen und Denkweisen der Sozialwissenschaften – einschließlich der wesentlichen damit verbundenen Kontroversen – erschließt. (GPJE 2004, 14)

Sechs Jahre später veröffentlichte eine Gruppe, mit großen Überschneidungen zu den verantwortlichen Autor*innen des GPJE-Entwurfs, ein Kompetenzmodell, das einen Streit um Wissenskompetenz als vermeintlich prägendes Element der Politikkompetenz entfachte. Georg Weißeno, Joachim Detjen, Ingo Juchler, Peter Massing und Dagmar Richter stellten mit ihrem Kompetenzmodell „Konzepte der Politik“ (Weißeno u. a. 2010) ein Modell zur Strukturierung des Fachwissens vor. Für die Gruppe ist Politikkompetenz zwingend an Fachinhalte gebunden, für die es Konzepte bedürfe, die als richtig und fachwissenschaftlich fundiert legitimiert gelten. Die Autor*innen sind überzeugt, mit dem vorgelegten Modell den Wissenskanon für die politische Bildung aufgestellt zu haben, der für alle Schüler*innen von der Grundschule bis zum Abitur Geltung finden solle.

Der Begriff Kompetenzmodell ist hier allerdings irreführend, denn das Modell fokussiert politikwissenschaftlich begründete Basis- und Fachkonzepte und damit Wissen als Kompetenzdimension. Die Autor*innen definierten in ihrer Arbeit (Mindest-)Standards für das schulisch zu vermittelnde politische Wissen, das Schüler*innen in allen Altersstufen vermeintlich brauchen, um befähigt zu sein, sich ein politisches Urteil zu bilden und mündig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Bewusst wird dieses politische Wissen als konzeptuelles Wissen beschrieben, das unter anderem von Faktenwissen und Fachbegriffen gespeist und losgelöst von den individuellen Vorstellungen und Erfahrungswelten der Lernenden erworben wird. Dieses Wissen solle so leichter übertragbar sein auf Situationen, zu denen die Lernenden zuvor noch nie einen alltagsweltlichen Bezug herstellen konnten (Weißeno u. a. 2010, 20). Die Überlegungen Oskar Negts zu Orientierungswissen in der politischen Bildung stehen diesem Ansatz diametral gegenüber. So betont der Soziologe:

Für Lernprozesse, die den Anspruch vertreten, Orientierungswissen zu vermitteln, stellt der Rückbezug auf die individuelle Lebenswelt der Lernenden eine unhintergehbare Notwendigkeit dar. (Negt 2018, 25)

Vollkommen unabhängig von den subjektiven Vorstellungen der Lernenden unterteilt die Autor*innengruppe um den Politikdidaktiker Georg Weißeno (2010) das konzeptuelle Wissen in die Basiskonzepte Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl, sowie in Fachkonzepte wie Demokratie, Markt, Macht, Legitimation, Opposition und Gerechtigkeit. Ihre Beschreibungen haben einen enzyklopädischen Charakter und suggerieren, dass es ein richtiges Verständnis dieser Konzepte gäbe, das zu lernen geboten sei. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Ausformulierung sogenannter Fehlkonzepte.

Es ist kein Zufall, dass die Autor*innen diesen, in ihren Augen grundständigen, Wissenskanon für das Unterrichtsfach Politische Bildung formulieren, ohne zugleich auf andere wesentliche Kompetenzfelder der politischen Bildung einzugehen. Für Georg Weißeno (2017, 512) ist der Wissenserwerb die Hauptaufgabe des politischen Lernens. „Mehr oder weniger gelerntes Fachwissen bedeutet mehr oder weniger Fachleistung, die als Kompetenz bezeichnet wird“, erklärt Weißeno (2017, 512) in einem Handbuchbeitrag zum politischen Lernen. Der Politikdidaktiker verweist dabei auch explizit auf das Modell der „Konzepte der Politik“ (Weißeno u. a. 2010) und beschreibt diese als ein Modell der Wissensstruktur, über das „die Schüler/-innen in Unterrichtssituationen verfügen müssen“ (Weißeno 2017, 514 – hervorgehoben durch den Autor). Bezug nimmt Weißeno hier auf die 30 beschriebenen Fachkonzepte und die 200 daraus resultierenden politischen Begriffen, die „den Korpus des von der Grundschule bis zum Abitur zu erwerbenden Fachvokabulars darstellen“ (Weißeno 2017, 514). Wenngleich weniger deutlich, betont auch Peter Massing den Wert der politikwissenschaftlich begründeten Basis- und Fachkonzepte als Ziel der Entwicklung von Wissenskompetenz durch politische Bildung. Massing verweist zwar auf die Notwendigkeit, an dem vorhandenen Vorwissen der Lernenden anzuschließen, Ziel sei es aber, diese „kontinuierlich an das fachliche Wissen heranzuführen“ (Massing 2012, 25). Die Position der Forschungsgruppe um Georg Weißeno offenbart das hier verankerte Verständnis von Wissenskompetenz. Gute politische Bildung zeichne sich demnach nicht dadurch aus, dass Schüler*innen sich mit bestehenden fachwissenschaftlich begründeten und gesellschaftlich tradierten Konzepten befassen, sie verstehen, diskutieren und hinterfragen, sondern vielmehr durch die Verinnerlichung dieser Konzepte – stellen sie doch den vermeintlichen „Korpus“ des zu erlernenden Wissens dar. Mit einem solchen Verständnis von Politikkompetenz laufen wir allerdings Gefahr, ein „traditionelles Begriffslernen“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 149) zu befördern, das wir überwunden glaubten.

Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung der „Konzepte der Politik“ (Weißeno u. a. 2010) antwortete die Autorengruppe Fachdidaktik auf dieses Modell. In der Streitschrift „Konzepte der politischen Bildung“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2011) formulierten Anja Besand, Tilman Grammes, Reinhold Hedtke, Peter Henkenborg, Dirk Lange, Andreas Petrik, Sibylle Reinhardt und Wolfgang Sander ihre Sicht auf die drängenden Fragen der Entwicklung eines Kompetenzmodells für die politische Bildung. In einem abschließenden gemeinschaftlich verfassten Text begründen die Autor*innen ihre Kritik an dem Modell der Autor*innengruppe um Georg Weißeno wie folgt:

Wir kritisieren an diesem Modell erstens die Einseitigkeit und Geschlossenheit der verwendeten Konzepte, die keinen multiperspektivischen sozialwissenschaftlichen Zugriff auf das Phänomen des Politischen erlauben, sondern unser Fachgebiet politikwissenschaftlich einseitig auf staatliches Handeln einengen. Wir kritisieren zweitens einen Rückfall in ein Lernverständnis, das die Subjektivität und Prozesshaftigkeit des Lernens aus dem Blick verliert. Mit der Folge eines instruktionsorientierten Unterrichtsverständnisses, das sich auf den Input „richtiger“ Basiskonzepte und den Output der Verwendung „richtiger Begriffe“ fokussiert, ohne sich um innere- und intersubjektive hermeneutische Prozesse zu kümmern. (Autorengruppe Fachdidaktik 2011, 163)

In einer eigenen Konzeption für den sozialwissenschaftlichen Unterricht hat die Autorengruppe Fachdidaktik die Notwendigkeit beschrieben, dass Lernende eine kritische Haltung gegenüber dem Wissen entwickeln sollten und immer wieder „auch das Gegenteil des scheinbar Selbstverständlichen“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 100) denken dürfen.

Es ist wenig überraschend, dass es auch schon Untersuchungen zu der Frage des Einflusses von politischer Partizipation auf die Entwicklung des politischen Wissens von Schüler*innen gibt. So haben Georg Weißeno und Barbara Landwehr im Jahr 2013 in einer quantitativen Untersuchung 669 Schüler*innen befragt. Sie wurden dabei mit Wissensfragen konfrontiert, die der Studie „Politisches Wissen von Schüler/-innen mit und ohne Migrationshintergrund (POWIS)“ (Goll u. a. 2010) entnommen wurden und sich hauptsächlich auf die Basis- und Fachkonzepte (Weißeno u. a. 2010) beziehen. Die vermeintlich eindeutigen Frageitems sind mindestens strittig. So lautet eines der Items beispielsweise wie folgt:

„In vielen Fragen muss neben dem Bundestag auch der Bundesrat neuen Gesetzen zustimmen. Was ist die Folge?

  • Es ist schwieriger, eine politische Lösung zu finden.

  • Der Bundestag hat nichts mehr zu sagen.

  • Die Macht des Bundespräsidenten steigt.

  • Es ist einfacher, eine politische Lösung zu finden.“

(Weißeno/Landwehr 2018, 182)

Da die Items der POWIS-Studie entnommen sind, ist davon auszugehen, dass auch hier nur eine Antwort als „richtig“ gilt (Goll u. a. 2010, 27). Hier könnte aber gleichermaßen berechtigt die erste und letzte Antwort als richtig gekennzeichnet werden, lassen sich doch für beide Antwortalternativen gute Argumente finden. Offenkundig erscheint die Findung einer politischen Lösung schwieriger, weil mehr Akteur*innen beteiligt sind. Zugleich könnte man die These aufstellen, dass eine langfristig tragfähige politische Lösung leichter zu finden ist, weil alle wichtigen Akteur*innen in einem dezentral organisierten Staat von Anfang an involviert sind. Allein dieses Item zeigt die Schwierigkeit einer solchen Studie und auch der Unantastbarkeit vermeintlich richtiger Definitionen fachlicher Konzepte im Feld der politischen Bildung.

In der Studie mit insgesamt 23 Wissensfragen wird außerdem abgefragt, ob die Schüler*innen Partizipationserfahrungen haben. Ein politischer Kern scheint dabei für die Studie nicht vorausgesetzt zu sein. Die Schüler*innen können beispielsweise angeben, als Klassensprecher*in gewirkt oder sich bei einem Projekt in ihrem Stadtteil beteiligt zu haben. Die Rolle der Klassenvertretung ist explizit unpolitisch, verbieten die Schulgesetze der Länder in der Regel doch ein allgemeinpolitisches Mandat für diese Statusgruppen. Die Mitwirkung an Projekten in der Gemeinde könnte ebenso eher sozialer Art sein.

Aus der Korrelation von richtigen bzw. falschen Antworten und etwaigen sozialen oder politischen Partizipationserfahrungen schlussfolgern Weißeno und Landwehr bezüglich des Einflusses von Partizipation auf die Entwicklung von politischer Wissenskompetenz, dass sich kein Effekt der Partizipationserfahrung auf das politische Wissen nachweisen ließe (Weißeno/Landwehr 2018, 186). Wenngleich aufgrund der gewählten Items sowohl bei der Ermittlung des politischen Wissens der Schüler*innen als auch bei der Ermittlung ihrer individuellen Partizipationserfahrung die Ergebnisse der Studie zumindest diskussionswürdig sind, kommen Weißeno und Landwehr doch zu einem weitreichenden Urteil:

Die normativen Erwartungen der Politikdidaktik an die Partizipation sind wahrscheinlich zu hoch, als dass der Unterricht das erfolgte Engagement für Wissenserwerbsprozesse nutzen kann. Es gilt vielmehr, dem Erfolg der unterrichtlichen Wissensvermittlung mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das normative politikdidaktische Postulat der Partizipationsförderung ist im Lichte systematisch gewonnener Ergebnisse zu hinterfragen. (Weißeno/Landwehr 2018, 187 f.)

Die Studienergebnisse mögen stimmen und auch die daraus gezogenen Schlüsse – aber nur, wenn man die Überzeugung teilt, dass der Wert politischer Bildung in erster Linie im Erwerb und der unreflektierten Wiedergabe politikwissenschaftlich definierter Fachbegriffe und Konzepte bestünde. Der Politikdidaktiker Moritz Peter Haarmann kommt bezugnehmend auf diese Studie daher eher zu dem Schluss, dass die Fähigkeit zur Partizipation „nur bedingt auf ein entsprechendes ‚Fachwissen‘ angewiesen“ (Haarmann 2020, 161) sei. In jedem Fall zeigt die Studie nicht den Einfluss politischer Partizipation auf den politischen Wissenserwerb, weil dafür die Auswahlitems bezüglich der Partizipationserfahrungen zu unspezifisch sind.

Politische Bildung baut nicht auf der Übernahme von vermeintlich richtigem Fachwissen auf. „Eine der Zukunft zugewandte politische Bildung kann auch deshalb auf lexikalisches Wissen verzichten, weil gerade in der Demokratie Spielregeln immer wichtiger werden.“ (Schiele 2002, 303) Politische Bildung darf nicht verstanden werden als eine „bloße Wissensübermittlung, deren Totes Dinghaftes oft genug dargetan ward“, wie Theodor W. Adorno (1971, 107) es für den Erziehungsbegriff beschreibt. Vielmehr sind daher politische (Selbst)Bildungsprozesse geprägt von den Dynamiken des permanenten Austausches zwischen bestehenden fachlichen Vorstellungswelten der Lernenden, den fachlichen Konzepten der vielfältigen Bezugswissenschaften, wie der Soziologie und der Politikwissenschaft, und dem Umwelterleben der Lernenden.

Politische Bildung muss die Emanzipation der Lernenden zum Ziel haben. Wenn aber „Emanzipation die Aufhebung der Vormundschaft […] bedeutet, dann kann das nicht gelingen, wenn Bildungsprozesse nur auf die Erweiterung des Wissens gerichtet sind“ (Negt 2013, 36). Vielmehr wird dieser Prozess maßgeblich geprägt von analytischen Momenten, der politischen Orientierung des Individuums, von Perspektivenwahrnehmung sowie der Aushandlung von Konflikten. Politische Bildung ist ein ganzheitlicher und komplexer Prozess und lässt sich nicht auf den Erwerb und die Reproduktion vorgegebener Wissenskonzepte reduzieren.

Für die vorliegende Studie liegt demnach die Konzentration nicht darauf, inwiefern sich die Kinder und Jugendlichen richtiges konzeptuelles politisches Wissen durch ihre selbstbestimmte und selbstorganisierte politische Partizipation angeeignet haben. Der Schwerpunkt liegt eher auf jenen politischen Kompetenzen, die im Folgenden genauer beschrieben werden. Allen voran steht die Analysefähigkeit und die Fähigkeit zur politischen Orientierung.

2.2.2.3 Analysefähigkeit und politische Orientierung

Die Analysefähigkeit ist eine grundlegende Kompetenz, die notwendig ist, um komplexe politische Prozesse zu verstehen und sie darauf aufbauend zu reflektieren, sich ein Urteil zu bilden und etwaige Schlüsse für individuelles oder kollektives politisches Handeln zu ziehen. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis von Analyse- und Orientierungsfähigkeit basiert auf verschiedenen Überlegungen, die im Zuge der Kompetenzentwicklung in der politischen Bildung formuliert wurden.

So betonen die Autor*innen des Entwurfs der Fachgesellschaft GPJE (2004) die Notwendigkeit methodischer Fähigkeiten. Dabei weisen sie darauf hin, dass eine Vielzahl von methodischen Fähigkeiten nicht domänspezifisch für die politische Bildung seien. Dazu zählen „die Lesekompetenz, Zeitplanung und Selbstorganisation, die Fähigkeit unterschiedliche Sozialformen (wie Gruppen- und Partnerarbeit) und Arbeitstechniken (z. B. Schaubilder und Karikaturen interpretieren, Präsentationstechniken, (Netz-) Recherche) zu nutzen sowie die Fähigkeit zur Planung und Realisierung komplexer, projektartiger Arbeitsvorhaben in Gruppen oder die generelle Fähigkeit zur gezielten Nutzung von Medien“ (GPJE 2004, 17 f.).

Die Autor*innen des GPJE-Modells, Joachim Detjen, Hans-Werner Kuhn, Peter Massing, Dagmar Richter, Wolfgang Sander und Georg Weißeno, weisen aber auch auf fachspezifische methodische Fähigkeiten hin. Sie führen dabei unter anderem die „fachbezogene Interpretation von Texten und anderen Medienprodukten aus der politischen Publizistik sowie gezielte kriteriengeleitete Beobachtungen, Interviews und kleine Erhebungen mit Fragebögen“ (GPJE 2004, 18) an.

Auch Peter Henkenborg verwendet den Begriff der Methodenkompetenz. Für ihn impliziert dies aber mehr als methodische Fertigkeiten, wie beispielsweise das Verwalten und Verarbeiten von Informationen durch dessen Beschaffung, Bewertung und Bearbeitung. Der Politikdidaktiker verweist darauf, dass diese methodischen Fähigkeiten auf methodischen Denkweisen, wie problemorientiertes und vernetztes Denken, basieren und es zugleich „metakognitive[r] Fähigkeiten (Selbstkontrolle des Lernens)“ (Henkenborg 2005, 303) bedarf.

Auch die Autor*innen der Fachgruppe Sozialwissenschaften (Behrmann u. a. 2004), Teil einer Expert*innengruppe der Kultusministerkonferenz (KMK), formulierten in ihrer Stellungnahme zum Kerncurriculum Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe das Kompetenzfeld des sozialwissenschaftlichen Analysierens. Es geht dabei über den methodischen Kern der Analyse hinaus und beschreibt den Prozess der politischen Orientierung. Neben dem richtigen Gebrauch sozialwissenschaftlicher Methoden und Begriffe sei demnach sozialwissenschaftliches Analysieren gekennzeichnet durch eine Auseinandersetzung mit den „strukturelle[n] Bedingungen und institutionelle[n] Ordnungen“ (Behrmann u. a. 2004, 337), insbesondere in Bezug auf soziales und ökonomisches Handeln. Die Autor*innen der Fachgruppe Sozialwissenschaften, Günter C. Behrmann, Tilman Grammes, Sibylle Reinhardt und Peter Hampe, erweitern das Verständnis von methodischer Kompetenz um Fähigkeiten einer kritisch-reflexiven Analyse politischer Verhältnisse unter Verwendung sozialwissenschaftlicher Werkzeuge. Wie die Autor*innen des GPJE-Modells plädiert auch die Fachgruppe Sozialwissenschaften dafür, die Kompetenzfelder nicht getrennt bzw. losgelöst voneinander zu betrachten. Dieser Grundsatz ist vor allem dann bedeutsam, wenn Analyse und Orientierung als komplexer Lernprozess verstanden werden und nicht nur als das Einüben von Methoden. Der Politikdidaktiker Michael May sieht in den Überlegungen der Expertise der Fachgruppe Sozialwissenschaften zum sozialwissenschaftlichen Analysieren schon einen Übergang zur Urteilskompetenz. Es ginge hierbei bereits um die Frage „Was ist?“ (May 2007, 210) und damit um ein sachlich-analytisches Urteil.

Sibylle Reinhardt, Teil des Expert*innengremiums der KMK, verfolgte diesen Ansatz weiter und erweiterte das Konzept der sozialwissenschaftlichen Analyse. In ihren Konzeptionen entwickelte sich der Begriff vom „sozialwissenschaftlichen Analysieren“ (Reinhardt 2004, 6) bis hin zum „sozialwissenschaftlichen Denken“. (Reinhardt 2018, 23)

Die Kompetenz des sozialwissenschaftlichen Denkens bezieht Fachwissenschaften direkt in die Bürgerrolle ein. In der gymnasialen Oberstufe ist der Umgang mit Wissenschaft ein propädeutischer: Wissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse werden auch als Prozess des Entstehens, als Vorgang ihres Werdens, zum Gegenstand des Lernens und nicht nur als Tatsachen und Resultate. (Reinhardt 2018, 23)

Anders als Sibylle Reinhardt, die analytisches Denken als herausragendes Element politischen Lernens hervorhebt, stellt die Analysefähigkeit für Joachim Detjen, Peter Massing, Dagmar Richter und Georg Weißeno (2012, 26 f.) keine eigenständige Kompetenzdimension dar. In ihrem Vorschlag für ein Kompetenzmodell begründen die Autor*innen dies damit, dass die Wahl der Analyseinstrumente vom Gegenstand der Analyse abhänge. Es mache daher wenig Sinn, so die Autor*innengruppe um Joachim Detjen, „abstrakt eine eigene Kompetenzdimension ‚Analysieren‘ zu definieren“ (Detjen u. a. 2012, 26).

Für die vorliegende Arbeit wird sich daher eher am Konzept der Fachgruppe Sozialwissenschaften (Behrmann u. a. 2004) orientiert, unter Berücksichtigung der Weiterentwicklung durch Sibylle Reinhardt. Die Bedeutung von Analyse und Orientierung (Negt 2018) ist in der politischen Bildung in besonderer Weise hervorzuheben. Die Entscheidung, analytische Kompetenzen nicht als eigenständiges Kompetenzfeld auszuweisen, weil sie vermeintlich anderen Kompetenzdimensionen immanent seien, erscheint wenig überzeugend.

An den hier zitierten Überlegungen anschließend, ist das Verständnis von sozialwissenschaftlichem Analysieren und politischer Orientierung, welches der vorliegenden Studie zugrunde liegt, geprägt von einem ganzheitlichen Ansatz. Analyse und Orientierung im Feld der politischen Bildung bedeutet demnach, fachunspezifische methodische Fertigkeiten wie die Lesekompetenz und den kritischen Umgang mit Informationen genauso zu stärken, wie sozialwissenschaftliche Methoden und Begriffe zu erlernen. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der Quellenarbeit. Eine kritisch reflektierte Auseinandersetzung mit Informationen sowie eine individuelle und kollektive Quellenkritik sind Grundlage für politische Urteilsbildung. Damit verbunden ist die Wahrnehmung des politischen Konflikts und dessen Anerkennung als wertvoller Teil demokratischer Aushandlungsprozesse. Analyse und Orientierung bedeuten demnach nicht nur die Praxis sozialwissenschaftlicher Methoden, sondern verknüpfen diese mit einer Konflikt- und Gesellschaftsanalyse. Nur dadurch gelingt die Verortung des Subjekts in der Welt als Vorphase der politischen Urteilsbildung. Dieser Ansatz schließt damit an der subjektorientierten Lerntheorie des Bürgerbewusstseins von Dirk Lange (2005, 2008a) an. Für ein politisches Urteil bedarf es darüber hinaus aber auch der Fähigkeit der Perspektivenwahrnehmung. Dieses Kompetenzfeld lässt sich kaum von der Ebene des sozialwissenschaftlichen Denkens trennen und ist darüber hinaus eng verbunden mit der politischen Urteilsbildung.

Die Autorengruppe Fachdidaktik, der auch Sibylle Reinhardt und Dirk Lange angehören, sind gar überzeugt, dass das sachliche politische Urteil Bestandteil sozialwissenschaftlicher Analyse sei. Es wird deutlich, dass Michael May mit seiner Vermutung Recht behielt. Unter Analysekompetenz versteht die Autorengruppe Fachdidaktik nicht nur die „Fähigkeit, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Probleme, Fälle und Konflikte mithilfe sozialwissenschaftlicher Instrumente […] zu untersuchen“, sondern darüber hinaus auch ein „sachlich begründetes Urteil zu fällen“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 145).

An dieser Stelle unterscheidet sich das für die vorliegende Arbeit zugrunde gelegte Kompetenzverständnis von den Überlegungen der Fachgruppe Sozialwissenschaften (Behrmann u. a. 2004) und der Autorengruppe Fachdidaktik (2016), denn politische Urteilsbildung wird hier als komplexer Prozess des Zusammenspiels von sachlich-rationaler und politisch-moralischer Perspektive verstanden und daher gemeinsam unter Urteilskompetenz subsumiert. Beide Dimensionen der politischen Urteilsbildung bedürfen der Fähigkeit zur Perspektivenwahrnehmung. Da die Bedeutung der Wahrnehmung vielfältiger Perspektiven vor allem für die politische Bildung und politische Lernprozesse besonders hoch ist, wird sie als Teil politischer Bildungserfahrungen im Folgenden genauer beschrieben.

2.2.2.4 Perspektivenwahrnehmung und Perspektivenübernahme

Perspektivenwahrnehmung im Kontext der Kompetenzentwicklung im Feld der politischen Bildung wird in den verschiedenen Modellen unterschiedlich stark betont. Im Entwurf des Kompetenzmodells der Fachgesellschaft GPJE (2004) und auch im Kompetenzmodell der Autor*innengruppe um Joachim Detjen (2012) wird die Perspektivenübernahme nur als Teil der Urteils- und Handlungsfähigkeit formuliert. Günter Behrmann, Tilman Grammes und Sibylle Reinhardt (2004) dagegen greifen in ihrer für die KMK angefertigten Expertise die Perspektivenübernahme als eigenständige und relevante Kompetenz für die politische Bildung auf. Die Autor*innen betonen insbesondere die Wirkung der Perspektivenwahrnehmung auf das soziale Lernen. Gotthard Breit verwies bereits Ende der 1990er-Jahre auf deren Bedeutung für das politische Lernen.

Die Schüler werden dazu gebracht, sich nicht nur mit sich selbst und ihren eigenen Interessen zu beschäftigen, sondern auch die Lage ihrer Mitmenschen wahrzunehmen. Zusätzlich fördert sie das politische Lernen, denn die Lernenden bleiben zumeist nicht bei den Einzelpersonen aus dem Fall stehen, sondern schließen von deren Einzelschicksal auf eine problemhaltige Situation für eine Personengruppe, und damit – möglicherweise – auf ein politisches Problem. (Breit 1999, 387 f.)

Dabei sind die Begriffe Perspektivenwechsel oder Perspektivenübernahme irreführend, weil das damit verbundene Konzept nicht die Übernahme der Perspektive anderer oder gar deren zu Eigen machen beinhaltet, sondern deren Wahrnehmung und Berücksichtigung. Diese Wahrnehmung anderer Rollen wird, so Sibylle Reinhardt (2018, 22), in der Soziologie als Voraussetzung für gesellschaftliche Interaktionen und in der sozialpsychologischen Tradition als grundlegend für die Entwicklung von gemeinsamen Positionen verstanden. Reinhardt beschreibt auch die Rolle der Perspektivenwahrnehmung für das politische Urteilen und Handeln:

Für politisches Urteilen und Handeln ist Perspektiven-/Rollenübernahme unerlässlich, weil die unterschiedlichen Perspektiven aus unterschiedlichen sozialen Lagen und Erfahrungen resultieren. Politische Entscheidungen betreffen immer viele Subjekte und Strukturen und setzen deshalb ihre kognitive Repräsentanz für den Fall (annähernd) integrierender Beschlüsse voraus. (Reinhardt 2004, 4)

Ob die Perspektivenwahrnehmung als eigenständige Fähigkeit hervorgehoben oder ihre Bedeutung als elementarer Bestandteil aller Kompetenzfelder betont wird, ist nicht entscheidend. In jedem Fall besteht in der politikdidaktischen Forschung Einigkeit darüber, dass die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Berücksichtigung der Perspektiven anderer zentral für die Entwicklung der Mündigkeit des Individuums ist. Dabei geht es aber nicht nur darum kontroverse aber gesellschaftlich sichtbare Perspektiven aufzugreifen, sondern vor allem auch marginalisierte Positionen und die Perspektiven der Ausgeschlossenen zu thematisieren (de Moll u. a. 2013; Kleinschmidt u. a. 2019; Lösch 2019; Eis 2019).

Für die vorliegende Untersuchung wird die Perspektivenwahrnehmung gesondert berücksichtigt, um in Erfahrung zu bringen, inwiefern diese Fähigkeit auch im Kontext von politischer Partizipation entwickelt werden kann. Geprüft werden soll damit auch die These, dass politische Bildung im Kontext politischer Aktion erschwert wird, weil hierbei eher der politische Konsens der jeweiligen Gruppe als gesellschaftspolitische Kontroversen fokussiert wird (Reinhardt 2014, 278).

2.2.2.5 Politische Urteilsbildung

Während über die Frage, ob die Perspektivenwahrnehmung als eigenständiges Feld der politischen Kompetenzentwicklung verstanden werden sollte, keine Einigkeit besteht, ist politische Urteilsbildung als „konsensuelle Zielbeschreibung zumindest für die schulische politische Bildung“ (Sander 2004, 38) unbestritten. Wenngleich bei der grundsätzlichen Zielbeschreibung Einigkeit besteht, unterscheiden sich die Beschreibungen dessen, was unter Urteilsbildung zu verstehen sei. Wolfgang Sander erklärt, dass durch das politische Urteilen „Menschen ihr Verhältnis zur Politik im engeren wie im weiteren Sinne, also ihre Situation und ihre Deutungen zu gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft“ (Sander 2008, 75) definieren würden. Weiter führt er aus, dass sich das politische Urteil in Sach- und Werturteile unterscheiden ließe.

Sachurteile können Aussagen mit dem Anspruch einer Tatsachenbeschreibung treffen oder Schlussfolgerungen bzw. Interpretation von Zusammenhängen vornehmen, sie können also konstatierenden oder analytischen Charakter haben. Werturteile beurteilen politische Entscheidungen, Situationen oder Positionen nach moralischen Maßstäben. Schon diese beiden Dimensionen bei einem kontroversen politischen Thema sorgfältig voneinander unterscheiden zu können, ist eine Fähigkeit, die in der politischen Bildung erworben und trainiert werden kann. (Sander 2008, 76 f.)

Peter Massing nennt weitere Kategorien politischer Urteilsbildung, die aber weniger trennscharf sind: Feststellungsurteile, Erweiterungsurteile, Werturteile, Entscheidungsurteile und Gestaltungsurteile (Massing 2012, 26). Deutlicher wird Massings Verständnis von Urteilsbildung in der Beschreibung der Kategorien, an denen orientiert sich das politische Urteil zu vollziehen hat. Für Massing sei ein politisches Urteil „die wertende Stellungnahme eines Individuums über einen politischen Akteur oder einen politischen Sachverhalt unter Berücksichtigung der Kategorien Effizienz und Legitimität mit der Bereitschaft, sich dafür öffentlich zu rechtfertigen“ (Massing 2003, 94). Die Kategorie Effizienz präge das Sachurteil, Legitimität das Werturteil. Der Politikdidaktiker Michael May gibt vor allem bezüglich der normativen Rahmensetzung, wie Grund- und Menschenrechte für das Werturteil bzw. die Kategorie Legitimität, zu bedenken, dass keinesfalls vorausgesetzt werden könne, dass die Wertschätzung der demokratischen Werte oder die Achtung anderer Menschen zum Selbstverständnis aller Lernenden gehöre. May bezeichnet dies als „normative Fragilität der Wertmaßstäbe“ (May 2019, 48) im Urteilsmodell.

Wie alle Fähigkeiten, die im Zuge politischer Bildungsprozesse erworben werden, können auch Sach- und Werturteilsbildung nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Da Sach- und Wertaspekte „häufig miteinander verknüpft“ (GPJE 2004, 15) seien, werden sie im GPJE-Kompetenzmodell zusammen beschrieben. Michael May sieht in der Urteilsbildung zwei unterschiedliche zentrale Fragen: Was ist und was soll sein? Die erste Frage nach dem „Was ist?“ entspricht eher dem Sachurteil. So haben, nach den Ausführungen der Autor*innengruppe um Joachim Detjen, Analysen „die Gestalt von Sachurteilen“ (Detjen u. a. 2012, 49). Während also Sachurteile eher dem Prozess des sozialwissenschaftlichen Analysierens und Orientierens entsprächen (May 2007, 210; Behrmann u. a. 2004), ist das Werturteil gekennzeichnet von einer normativ geprägten Positionierung. Die Bewusstmachung der Unterscheidung von dem, was ist und dem, was sein soll, beschreibt den Übergang von bloßer Urteilsbildung zur Kritik (siehe nachfolgendes Abschnitt 2.2.2.6).

Kritik setzt eine Differenz von Sein und Sollen (im moralischen und epistemischen Sinn) voraus und ein Bewusstsein dieser Differenz. Wo eine solche Differenz nicht wahrgenommen wird, gibt es keine Kritik, ja sie kommt nicht einmal als Kategorie zu Bewusstsein. (Steffens 2013, 256)

Aber auch in Bezug auf das politisch-moralische Urteil verweist Sibylle Reinhardt auf die Notwendigkeit vielfältiger Fähigkeiten und betont die Bedeutung der Perspektiven-/ Rollenübernahme, des sozialwissenschaftlichen Analysierens und der Konfliktfähigkeit für die Urteilsbildung (Reinhardt 2010a, 520).

Politische Urteilsbildung ist aber auch eng verknüpft mit politischer Handlungsfähigkeit, „da erfolgreiches Handeln ohne treffende Beurteilung der politischen Situation nicht möglich ist“ (Sander 2008, 91). Beide Fähigkeiten hätten eine Vielzahl von Überschneidungspunkten, allerdings weist Wolfgang Sander darauf hin, dass „politisches Urteilen auch ohne politisches Handeln möglich ist und andererseits das praktische politische Handeln auch Fähigkeiten verlangt, die sich nicht unmittelbar aus dem politischen Urteil ergeben“ (Sander 2008, 91).

Der Politikdidaktiker Reinhold Hedtke (2020a) hat in seinem Aufsatz „Interessen- statt Urteilsbildung? Ungleichheit, Partizipation und politische Bildung“ einen weiteren Diskursstrang eröffnet. Er sieht als eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung nicht die gemeinwohlorientierte Urteilsbildung, sondern vielmehr eine subjektorientierte Interessensbildung. Schüler*innen sollten in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Interessen zu identifizieren und sich für ihre Verwirklichung einzusetzen. Er begründet das damit, dass Gesellschaft und Politik von sozioökonomischen Ungleichheiten geprägt seien. Schule sollte sich daher als ein Ort erweisen, der dem entgegenwirkt, indem alle, aber insbesondere sozioökonomisch benachteiligte Gruppen, befähigt werden ihre teils marginalisierten sozioökonomischen und politischen Bedürfnisse zu erkennen und zu artikulieren (Hedtke 2020a, 76).

Zugespitzt formuliert braucht es – insbesondere in der politischen Bildung – mehr von der Motivstruktur und den Verhaltensmustern des aufgeklärten homo sociooeconomicus. Er verfolgt seine Interessen konsequent, ist sich dabei der sozialen Bedingtheit seiner sozioökonomischen und politischen Lage sowie der kollektiven Voraussetzungen und institutionellen Rahmenbedingungen für ihre Verbesserung bewusst. Er erkennt auch für seine eigene Lage und seine Situation, dass strukturelle sozioökonomische und politische Ungleichheit eng miteinander verknüpft sind. (Hedtke 2020a, 78 – Hervorhebungen im Original)

Die Fokussierung auf Interessenorientierung scheint auf den ersten Blick dem kritischem Verständnis politischer Bildung entgegenzustehen, das auf Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen setzt. Allerdings argumentiert Hedtke genau aus einer kritischen Gesellschaftsanalyse heraus, die unter anderem sozioökonomische Ungleichheiten und Ungleichheit in der politischen Repräsentation identifiziert (Hedtke 2020a, 71). Politische Interessenbildung heißt für Hedtke daher vor allem jene zu stärken, die außerhalb der Schule in besonderer Weise von Praxen der Exklusion betroffen sind. Interessenbildung in diesem Sinne ist damit immer auch Machtkritik. Mit einer kritischen Urteilsbildung sei dieser Prozess eng verbunden, betont Bettina Lösch (2019). Es gilt daher Machtgefälle und den ungleichen Zugang zu Ressourcen zu thematisieren. Aufgabe einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildungsarbeit sei es „ausgeschlossene und benachteiligte Positionen sichtbar zu machen sowie Unterschiede zwischen Partikular- und Gemeininteressen aufzuzeigen“ (Lösch 2019, 25).

Die Ansätze von Hedtke und Lösch aufgreifend wird deutlich, dass politische Urteilsbildung kaum losgelöst von Emanzipation und Kritik gelingen kann. Diese Dimensionen politischer Bildung werden im Folgenden genauer eingeordnet.

2.2.2.6 Emanzipation und Kritik

Die bis hier beschriebenen Fähigkeiten im Feld der politischen Bildung sind, unterschiedlich akzentuiert und durchaus kontrovers diskutiert, in alle Kompetenzmodelle der Politikdidaktik implementiert. Weniger Einigkeit besteht in Bezug auf Emanzipation und Kritik als grundlegende Elemente gelingender politischer Bildung. Die Diskussion um den Kritikbegriff in der politischen Bildung ist nicht neu. Basierend auf der Kritischen Theorie formuliert Rolf Schmiederer (1971) in seinem Werk „Zur Kritik der Politischen Bildung“ mit Demokratisierung, Emanzipation und politischer Praxis wesentliche Zielmarken politischer Bildung. Schmiederer steht bis heute für die Fokussierung auf die Interessen der Lernenden im Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozess. Er betont, dass politische Bildung einer Orientierung an den Lebensbedingungen und Wirklichkeiten der Kinder und Jugendlichen sowie einer gesellschaftskritischen Analyse der bestehenden Verhältnisse bedürfe. Dies führe zur Emanzipation der Lernenden. Dabei stehe die Entwicklung mündiger Bürger*innen mit kritisch reflektiertem Bewusstsein durch emanzipatorische Bildung im Fokus (Schmiederer 1971, 32 ff.).

Auch Hermann Giesecke betonte schon in den 1970er-Jahren in seiner Didaktik der politischen Bildung (1979), dass sich politische Bildung in einem historischen Kontext von Emanzipation verstehen muss. Er verweist darauf, dass politische Bildung die „Interessen und Bedürfnisse des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten“ (Giesecke 1979, 127) in den Blick zu nehmen hat.

Wenn es politisch darum gehen muß, den historischen Prozeß der Demokratisierung in die Zukunft zu verlängern, so müssen unter pädagogischem Aspekt solche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten gelernt werden, die dazu befähigen; und das sind vor allem solche, die vergleichsweise unterprivilegierte Gruppen zur Erkenntnis und Durchsetzung ihrer Interessen benötigen. (Giesecke 1979, 128)

Emanzipation ist dabei nach dem Soziologen Oskar Negt, vor allem die „Herstellung von freier Entscheidungsfähigkeit, die Aufhebung einer Vormundschaft“ (Negt 2013, 35). Das Verständnis von Emanzipation schließt an dem Kantschen Ideal des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit an und damit an der Fähigkeit sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (Kant 1784). „Emanzipation bedeutet nicht zuletzt, sich selbst zu emanzipieren.“ (Mende 2009, 120) Gelingen kann dies nur, wenn kritisch reflektiertes Denken selbstverständlicher Teil der Selbst- und Weltaneignung der Lernenden ist. Emanzipation und Kritik sind dabei allerdings durchaus zu unterscheiden, denn Emanzipation meint in erster Linie Aufklärung, Befreiung und Selbstbestimmung.

Wer sich anmaßt, andere Menschen „emanzipieren“ zu wollen, hat nicht begriffen, dass Emanzipation auf der einen und Manipulation, Agitation oder Indoktrination auf der anderen Seite sich wechselseitig ausschließende Gegensätze sind. (Hufer 2017, 14–15)

Klaus-Peter Hufer weist zurecht darauf hin, dass Emanzipation nicht verordnet werden kann. Die Emanzipation der Lernenden ist daher eher das Ziel als Kompetenz oder Fähigkeit. Fritz Reheis verweist darauf, dass „Erfahrungen ein dialogisches Verhältnis des werdenden Subjekts zu seiner sozialen Umwelt benötigen, damit sie bildungswirksam im Sinne der Subjektwerdung bzw. Emanzipation“ (Reheis 2017, 37) werden. Auf dieser Annahme aufbauend, kann politische Bildung auch in der Schule dabei unterstützen dieses dialogische Verhältnis im Kontext realer politischer Handlungserfahrungen herzustellen. Emanzipation der Kinder und Jugendlichen muss immer Ziel allen Handelns politischer Bildner*innen sein, wenngleich es in der formalen Bildung aufgrund von strukturellen Zwängen deutlich schwieriger zu erreichen ist. Ausführlich haben die aktuellen Debatten dazu Sarah Greco und Dirk Lange (2017) sowie Janne Mende und Stefan Müller (2009) in zwei Sammelbänden zusammengeführt.

Emanzipation ist dabei eng mit dem Kritikbegriff verbunden. Emanzipation kann zweifelsfrei nicht gelehrt werden. Lernende können aber dazu befähigt werden, sich die Welt mit einem kritischen Blick anzueignen. Kritik versteht Schmiederer explizit als Kritik an bestehenden Verhältnissen mit dem Ziel, diese nach Möglichkeit zu verändern.

Politische Bildung mit dem Ziel der Emanzipation des Menschen [...] ist vor allem kritische Aufklärung, ist Herrschaftskritik und Ideologiekritik, die auf eine Kritik der politischen Ökonomie verweist; denn die Aufklärung des Menschen über die Gesellschaft, in der er lebt, ist die erste Voraussetzung für seine Emanzipation. (Schmiederer 1971, 56)

Nach diesem Verständnis muss politisches Lernen vor allem einen kritischen Blick auf bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedeuten. Schüler*innen lernen dabei, gesellschaftliches Ideal und gesellschaftliche Realität ins Verhältnis zu setzen. Dabei werden die Grundlagen für kritisch reflektierte Analysefähigkeiten aufgebaut. Peter Henkenborg greift diese Idee auf, wenn er darauf verweist, dass „politische Bildung immer wieder den Unterschied zwischen den demokratischen Idealen und der realen Demokratie in den Mittelpunkt stellen“ und den „Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit und […] zwischen der gegenwärtigen Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten“ offenlegen müsse (Henkenborg 2005, 310). Die Fähigkeit zu Kritik bei Kindern und Jugendlichen zu entwickeln, bedeutet auch, sie zu befähigen, danach zu fragen, welche „materiellen Interessen die Handlungen und Verhaltensweisen antreiben“ (Steffens 2013, 262).

Kritik im allgemeinen Sinn beginnt mit der Distanzierung von dem Selbstverständlichen, dem, was uns als selbstverständlich – als „Doxa“ (Bourdieu) – erscheint. (Bremer/Trumann 2013, 44)

Vor allem aber schärft Kritik das „Denken in Alternativen“ (Steffens 2013, 261). Nach Schmiederer bedeutet politisches Lernen somit die „Stärkung des Widerstands gegen Ausbeutung und Herrschaft“ (Schmiederer 1971, 38) mit der Zielvorstellung eines „mündigen, autonomen Menschen“ (Schmiederer 1971, 41). Kritik meint die „‚Kunst der Beurteilung‘, die nicht leichtfertig aufzuspalten ist in entweder/oder, positiv/negativ, gut/schlecht, optimistisch/pessimistisch, sondern auch die Zwischentöne und Uneindeutigkeiten sieht, einschließt und abwägt“ (Lösch 2012, 18). Entgegen der vielfach betonten Sorge ist kritische politische Bildung nicht ideologisch oder stellt gar eine politische Positionierung (Sander 2013) dar. Dies wird auch deutlich, wenn man einen Blick in das Handbuch kritische politische Bildung (Lösch/Thimmel 2010) wirft und sich mit den vielfältigen Zugängen befasst, die hier dokumentiert sind. Bettina Lösch erklärt den Rekurs auf die kritische Theorie wie folgt:

Der Kritikbegriff der kritischen Theorie – und damit ist nicht allein die Kritische Theorie der Frankfurter Schule gemeint – ist ein qualitativer Kritikbegriff, der die Veränderbarkeit sozialer Verhältnisse im Blick hat. Kritische Gesellschaftstheorie analysiert Herrschafts- und Machtverhältnisse (wie Rassismus, Geschlechter- oder Klassenverhältnisse). Sie versucht dabei, die Eingebundenheit von Wissenschaft und Theorie(-bildung) in diese Verhältnisse zu reflektieren. Sie zielt auf Demokratisierung und Emanzipation, wobei sie beide Prozesse der Selbstbestimmung (des Gemeinwesens und der Individuen) als widersprüchliche und stets umkämpfte begreift. (Lösch 2013, 173 f.)

Um den damit verbundenen komplexen Lernprozess initialisieren und begleiten zu können, verweist Schmiederer darauf, dass das politische Bildung nicht auf die Ebene der Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen reduziert werden dürfe. Politische Bildung müsse vielmehr die „Voraussetzungen schaffen, daß unter bestimmten Umständen aus der Reflexion politische Handlungsbereitschaft wird“ (Schmiederer 1971, 51).

Bis heute werden daher immer wieder auch radikaldemokratischere Kompetenzmodelle diskutiert. Frederick de Moll, Christian Kirschner, Markus Riefling und Margit Rodrian-Pfennig (2013) stellen beispielsweise Handlungskompetenz ins Zentrum ihrer Überlegungen zu einem didaktischen Modell der politischen Bildung. Gerahmt wird die Handlungskompetenz vom Bildungssetting, dem Bildungssubjekt und dem Bildungsinhalt, die in einem Wechselspiel miteinander eng verwoben sind. Das Subjekt brauche Fachkompetenz, aber auch Selbst- und Sozialkompetenz damit unterscheidet sich das Modell kaum von anderen Kompetenzmodellen. Hervorzuheben ist allerdings die Ausgeschlossenenorientierung als Grundstein der zu verhandelnden Bildungsinhalte. „Die Thematisierung von Bildungsinhalten erfolgt in radikaldemokratischer Perspektive entlang gegenwärtiger Ein- und Ausschlüsse.“ (de Moll u. a. 2013, 306) Für die vorliegende Arbeit sind aber vor allem die Überlegungen zu den Bildungssettings von Bedeutung. Die Autor*innengruppe betont dabei das Aktivitätsprinzip und Machtkritik als bestimmende Faktoren. Politische Bildung müsse demnach nicht nur das Ziel verfolgen Weltdeutungen zu erörtern, sondern auch „denkbare Aktivitäten, wenn die gegenwärtige Situation im Anschluss daran nicht als (länger) hinnehmbar erscheint“ (Moll u. a. 2013, 308) Auch der Politikdidaktiker Tonio Oeftering verweist darauf, dass eine politische Bildung, die die Stärkung von Kritik- und Widerstandsfähigkeit zum Ziel hat, den Lernenden ermöglichen müsse „‚dagegen zu sein‘ und [ihnen] Wege [aufzeigen], diesem Standpunkt gemäß zu handeln“ (Oeftering 2016, 126).

Nur eine selbstbestimmte reflektierte Haltung mündiger Bürger*innen führe zu Engagement und politischer Praxis, die nachhaltig bestehende Verhältnisse, aber auch das eigene Engagement kritisch hinterfrage.

Für die vorliegende Studie soll demnach der Frage nachgegangen werden, welche Rolle (Selbst)Kritik und Reflexion über gesellschaftliche Verhältnisse für die Jugendlichen spielen und inwiefern die eigene Rolle darin, das eigene Handeln und damit der politische Bildungsprozess davon beeinflusst werden. Um dabei auch die politikdidaktischen Diskurse zur Kompetenz der Handlungsfähigkeit ausreichend zu würdigen, werden die kontroversen Positionen in diesem Feld im Folgenden skizziert.

2.2.2.7 Handlungs- und Konfliktfähigkeit

Mit politischer Handlungsfähigkeit ist in der politischen Bildung die wohl komplexeste Fähigkeit mündiger Bürger*innen überschrieben. „Die Wahrnehmung und Ausübung von (politischen) Teilhaberechten beinhaltet Wissen, Urteilen, Können und Wollen auf Seiten des Subjekts“, konstatiert Sibylle Reinhardt (2004, 5). Politische Handlungsfähigkeit scheint das Königsziel politischer Bildung zu sein (Wohnig 2020b, 152). Alle anderen Kompetenzentwicklungen zielen darauf ab, politische Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Wenngleich damit nicht verbunden ist, dass alle Bürger*innen sich gleichermaßen für eine aktive Einmischung in politische Prozesse entscheiden müssen, so sollen sie doch zumindest dazu befähigt werden. Doch was wird in der Disziplin der politischen Bildung unter Handlungsfähigkeit verstanden? Es handelt sich zweifelsfrei um den facettenreichsten Begriff im Diskurs über Kompetenzmodelle der politischen Bildung. Im GPJE-Entwurf aus dem Jahr 2004 wird politische Handlungsfähigkeit wie folgt beschrieben: „Meinungen, Überzeugungen und Interessen formulieren, vor anderen angemessen vertreten, Aushandlungsprozesse führen und Kompromisse schließen können.“ (GPJE 2004, S. 13) Konkretisiert wird diese Definition mit einer Aufzählung möglicher Fähigkeiten, die mit Handlungskompetenz in Verbindung gebracht werden:

  • eigene politische Meinungen und Urteile – auch aus einer Minderheitenposition heraus – sachlich und überzeugend vertreten;

  • in politischen Kontroversen konfliktfähig sein, aber auch Kompromisse schließen können;

  • Beiträge zu politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen für Medien realisieren, vom Leserbrief über die Website bis zu komplexeren Medienprodukten;

  • sich als Konsument im Hinblick auf eigene ökonomische Entscheidungen reflektiert verhalten;

  • sich im Sinne von Perspektivenwechseln in die Situation, Interessen und Denkweisen anderer Menschen versetzen;

  • mit kulturellen, sozialen und geschlechtsspezifischen Differenzen reflektiert umgehen, was Toleranz und Offenheit, aber auch kritische Auseinandersetzung einschließen kann;

  • eigene berufliche Perspektiven auch vor dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen planen;

  • Möglichkeiten der Interessenwahrnehmung in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen kennen und seine Interessen vor allem in schulischen Zusammenhängen wahrnehmen;

  • sich in unterschiedlichen sozialen Situationen und in der Öffentlichkeit angemessen und wirkungsvoll verhalten

(GPJE 2004, 17)

Diese Zusammenstellung erscheint willkürlich und unspezifisch. Vor allem die Bezüge zum Konsumverhalten, zu ökonomischen Entscheidungen sowie zur Planung von beruflichen Perspektiven sind ohne weiterführende Ausdifferenzierung und Begründung kaum nachvollziehbar. Auch die Betonung, sich in sozialen Situationen angemessen und wirkungsvoll zu verhalten, erscheint in Bezug auf politische Handlungsfähigkeit zumindest erklärungsbedürftig, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die Befähigung zu tatsächlich politischer Partizipation, ob durch konventionelle oder unkonventionelle Formen, hier kaum Berücksichtigung findet. Dirk Lange verweist auf die Notwendigkeit, politisches Handeln von sozialem Handeln zu unterscheiden:

Demnach lässt sich politisches Handeln als das jenige soziale Handeln begreifen, welches an der Hervorbringung allgemein bindender Regelungen in sozialen Gruppen beteiligt ist. Politik transformiert Interessensdiversität in allgemeine Verbindlichkeit. Durch diese Bestimmung ist gewährleistet, dass sich das Politische vom Sozialen abhebt. Das Vorhandensein 'menschlicher Kooperation' ist demnach noch kein hinreichendes Merkmal für Politik. Soziales Handeln ist nur dann politisches Handeln, wenn es auf den Prozess der Herstellung von allgemein bindenden Regelungen bezogen ist. (Lange 2005, 260)

Handlungskompetenz trainiere nach Wolfgang Sander die „Fähigkeit zur praktischen politischen Partizipation“ (Sander 2008, 91), wobei Sander einschränkend ergänzt: „Sie kann dies selbstverständlich im Regelfall nicht tun, indem sie Lerngruppen, etwa Schulklassen, zum kollektiven Engagement für oder gegen bestimmte politische Ziele anhält.“ (Sander 2008, 91)

Anschließend an die im GPJE-Entwurf skizzierten Ideen zur Handlungskompetenz löst sich die Autor*innengruppe um Joachim Detjen (Detjen u. a. 2012) in ihrem Modell zur Politikkompetenz deutlich von realen Erfahrungswelten als Teil schulisch zu begleitender Handlungskompetenz. Die Kompetenzdimension des Handelns ist für Joachim Detjen, Peter Massing, Dagmar Richter und Georg Weißeno auf das Artikulieren und das Argumentieren als Akte des kommunikativen Handelns in simulierten beziehungsweise didaktisierten Lernsettings beschränkt (Detjen u. a. 2012, 83–88). Partizipationskompetenz, die in Verbindung steht zu realen politischen Handlungserfahrungen, könne durch den Unterricht nicht gefördert werden. Begründet wird diese These vor allem damit, dass sich die Entwicklung der Handlungskompetenz dann nicht diagnostizieren ließe (Detjen u. a. 2012, 79). Es scheint als sei diese Argumentation von dem Antrieb geprägt, Bildung standardisierbar und messbar zu machen (Overwien 2020, 89 f.). Der Wunsch nach Quantifizierbarkeit der Bildung bestimmt die Kompetenzdebatte fächerübergreifend, birgt aber vor allem für die politische Bildung die Gefahr relevante Bildungsgelegenheiten außen vor zu lassen.

Es lohnt sich daher der Blick in die Expertise der Fachgruppe Sozialwissenschaften (Behrmann u. a. 2004). Hier wird Handlungskompetenz mit Konfliktfähigkeit einerseits und tatsächlicher politischer Partizipation andererseits verknüpft. Auch die Autorengruppe Fachdidaktik versteht unter Handlungskompetenz nicht nur eine kommunikative Kompetenz. Politische Handlungskompetenz sei die Fähigkeit, „zusammen mit Gleichgesinnten, sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen oder Parteien an der Durchsetzung eigener Interessen sowie der Beseitigung sozialer Missstände zu arbeiten“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 147). Die Autor*innen verweisen zwar auch darauf, dass Politikunterricht politisches Handeln nicht vorschreiben oder verbindlich machen, aber sehr wohl „unverbindliche Erprobung zentraler Instrumente der Partizipation“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 147) ermöglichen könne. Der Politikdidaktiker Peter Henkenborg (2008) bringt in seinen Überlegungen zu Demokratiekompetenzen die politische Handlungsfähigkeit ebenfalls unmittelbar mit Erfahrungen tatsächlicher Partizipation zusammen. Handlungskompetenz sei demnach auch die Fähigkeit „selbstbestimmt Bürgerrollen zu wählen und auszufüllen“ (Henkenborg 2008, 215).

Wenn Schüler*innen durch politische Bildung nicht nur zum kommunikativen Handeln im Sinne des Artikulierens und Argumentierens befähigt werden sollen, sondern darüber hinaus zum Eintreten für die eigene politische Position, sowie die Suche nach einem Kompromiss, auch in politisch konfliktreichen Kontroversen, lässt sich politische Handlungskompetenz wohl kaum ausschließlich simulativ im Unterricht einüben. Die Berücksichtigung realer politischer Partizipationserfahrungen kann eine wertvolle Ergänzung zu didaktisierten und simulativen Lernsettings wie Talkshow-Formaten oder Planspielen sein.

Joachim Detjen sieht darin aber eine mögliche Gefahr der Indoktrination. Bezugnehmend auf den sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ (Wehling 1977), gelte es, diese zu verhindern. Daher könne Schule kein „Ort der direkten politischen Aktion und damit des Trainings realen politischen Handelns“ (Detjen 2012, 235) sein. Die Entwicklung handlungsbezogener Fähigkeiten im Kontext des aktiven Vertretens politischer Interessen sei ein Handlungsfeld, das der außerschulischen politischen Bildung vorbehalten bliebe. Die Schule könne dies nicht leisten, so argumentiert auch Wolfgang Sander, weil „schulische Lerngruppen im Normalfall nicht in einer solchen Situation“ (Sander 2008, 93) seien. Unklar bleibt, worauf sich Sander hier mit der Formulierung „schulischer Lerngruppen“ bezieht. Dass sich reales politisches Handeln auch mit Schulklassen erproben lässt, zeigte Sibylle Reinhardt eindrücklich bereits Mitte der 1990er-Jahre mit dem Projekt „Wir wollen ein Gesetz“ (Reinhardt 1998). Auch ein aktuelles Modellprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung, das im Haus am Maiberg umgesetzt wird, zeigt, wie Schule – hier in Kooperation mit Trägern der außerschulischen Bildung – einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, dass reales politisches Handeln erfahrbar gemacht und dabei pädagogisch begleitet werden kann (Wohnig 2018a). Neben dem Klassenverband gibt es in der Schule aber auch noch weitere institutionalisierte (beispielsweise Klassenrat oder Schüler*innenvertretung) und selbstbestimmte/selbstorganisierte Schüler*innen-Gruppen, wie die unzähligen Klima- und Antirassismus-AGs an Bildungseinrichtungen aller Schultypen in Deutschland.

Der Politikdidaktiker Frank Nonnenmacher sieht in der von Joachim Detjen beschriebenen Argumentation in Bezug auf das Überwältigungsverbot den Versuch, eine bis heute notwendige Diskussion über die Förderung politischer Teilhabe durch den Politikunterricht zu beenden (Nonnenmacher 2010, 466 f.). Nonnenmacher hält dem entgegen, dass Indoktrination verhindert werden könne, wenn drei grundlegende Kriterien für das politische Lernen in politischen Aktionen eingehalten würden: die vorangestellte Sachanalyse, die Freiwilligkeit als grundlegendes Element politischen Handelns in der Schule sowie die möglichst große demokratische Öffentlichkeit (Nonnenmacher 2010, 466 f.). Wenn diese Kriterien eingehalten werden, sieht Nonnenmacher besonderes Potential in der realen politischen Aktion als Teil der schulischen Bildung, denn dadurch würden „weitere Lernanlässe begründet“ (Nonnenmacher 2010, 467). Auch Benedikt Widmaier (2011, 107) fordert, dass reales politisches Handeln und damit verbundene Lernprozesse erfahrbar gemacht werden sollten. Die von Nonnenmacher und Widmaier dargelegten Positionen zur politischen Aktion gehen auch einher mit einer weitreichenden Kritik an den Interpretationen zum „Beutelsbacher Konsens“, der wie ein „Damoklesschwert über politischen Bildnerinnen und Bildnern zu schweben scheint“ (Kenner 2016, 17). Wohl auch deshalb hat eine Gruppe von politischen Bildner*innen aus Forschung und Praxis im Juni 2015 die Frankfurter Erklärung veröffentlicht, in der sie die Prinzipien des „Beutelsbacher Konsens“ erweitern. Unter anderem fordern sie, dass politische Bildung Wege eröffnet, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd verändern zu können. Weiter heißt es:

Individuen sind den gesellschaftlichen Verhältnissen unterworfen, zugleich aber auch in der Lage, diese zu gestalten. Politische Bildung eröffnet Zugänge, Fremdbestimmung und Selbstentmündigung wahrzunehmen und zeigt Wege zur Selbst- und Mitbestimmung auf. Praktizierte Mündigkeit vermag die eigenen und kollektiven Denkweisen und Handlungsräume in konkreten Kontexten zu erweitern. Dies geschieht durch Kritik, Widerspruch und Protest gegenüber den bestehenden sozialen Herrschaftsverhältnissen. Politische Bildung eröffnet allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Räume und Erfahrungen, durch die sie sich Politik als gesellschaftliches Handlungsfeld aneignen können. Sie ermöglicht Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen, um Wege zu finden, das Bestehende nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern. Im Handeln entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu begründen. (Eis u. a. 2015)

Ausführlich wird auf die Kontroverse zur politischen Partizipation als Ziel politischer Bildung und die Bedeutung von politischer Aktion als Lernanlass im Abschnitt 2.3. „Zum Verhältnis von politischer Aktion und politischer Bildung“ eingegangen.

Reale politische Handlungserfahrungen sind eng verknüpft mit konfliktreichen Situationen und zeichnen sich damit als Kern des Politischen in der Demokratie aus. Das Politische drückt sich als Konsenskritik aus (Flügel-Martinsen 2016). Konsens sei notwendig, müsse aber, so konstatiert es Chantal Mouffe (2020, 43) in ihrem erstmals 2007 veröffentlichten Buch „Über das Politische“ vom Dissens begleitet werden. Für Chantal Mouffe ist dieser konflikthafte Kern der Demokratie konstitutiv für Gesellschaften. Politik stellt für Mouffe die „Gesamtheit der Verfahrensweisen und Institutionen [dar], durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigkeit organisiert“ (Mouffe 2020, 16). Nicht zuletzt aus diesem Grund wird Konfliktfähigkeit im politikdidaktischen Diskurs zuweilen als eigenständige Kompetenz hervorgehoben (u. a. Behrmann u. a. 2004, Reinhardt 2018). Für diese Arbeit wird sie unmittelbar der Handlungsfähigkeit zugeordnet, weil das tatsächliche Austragen und zivilisierte Lösen politischer Konflikte unmittelbar mit politischen Handlungserfahrungen verbunden sind. Konfliktsituationen, so Hermann Giesecke, seien die „eigentlichen politischen Handlungssituationen“ (Giesecke 1979, 143). Der Umgang mit politischen Konflikten ist dabei ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften, denn der „politische Prozess in einer Demokratie besteht in der Austragung und Regelung von Macht- und Interessenkonflikten“ (Breit 1999, 386). Vor der Befähigung zur zivilisierten Aushandlung politischer Konflikte als zentrale Fähigkeit, die durch politische Bildung gefördert werden soll, steht demnach die Anerkennung des Konflikts als wertvoller Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Politische Entscheidungsprozesse, aber auch gesellschaftliche Regeln des Zusammenlebens werden in einer „Dialektik von Konflikt und Konsens“ (Reinhardt 2018, 23) entwickelt. Konfliktfähigkeit stellt somit ein zentrales Element politischer Bildung dar. Sie kann an fiktiven Fallbeispielen und simulativen Konzeptionen wie dem Planspiel (Petrik/Rappenglück 2017) entwickelt werden. Für die vorliegende Studie ist darüber hinaus maßgeblich, inwiefern auch reale politische Partizipationserfahrungen Räume für die Entwicklung von Konfliktfähigkeit bieten. Um sich dieser Frage anzunähern, wird Konfliktfähigkeit ein wesentlicher Bestandteil der Rekonstruktion von (Selbst)Bildungserfahrungen aller befragten Jugendlichen sein.

Für die vorliegende Studie orientiert sich die Definition von Konfliktfähigkeit an den politikdidaktischen Überlegungen von Sibylle Reinhardt, die unter anderem auf der Arbeit von Axel Honneth (1994) zur Bedeutung von Anerkennung in sozialen Konflikten basiert. Für die Politikdidaktikerin Reinhardt ist Konfliktfähigkeit die „spezifischste Kompetenz für die Domäne der Demokratie“ (Reinhardt 2010b, 139). Sie definiert Konfliktfähigkeit wie folgt:

Eine Erweiterung der Perspektiven – über die eigene Person und die Nahgruppe hinaus — bedeutet, Andersartiges anzuerkennen und Konflikte zu akzeptieren. […] Die Austragung der Konflikte gilt es durch Institutionen zu kanalisieren und im Umgang der Konfliktgegner oder -parteien zu zivilisieren. Eine pluralistische Gesellschaft erringt ihre notwendige Integration und Homogenität nicht nur durch bloße Überlieferung bestimmter Werte und Institutionen, sondern sie kommt häufig nur über den Streit zum Konsens. Streitkultur meint auf der Seite der Subjekte den zivilen Umgang mit Kontroversen und also den Verzicht auf Gewalt. Dieser Verzicht setzt auf der Seite der Institutionen ein funktionierendes Regel- und Sanktionssystem (staatliches Gewaltmonopol) voraus, damit der zivil Streitende nicht zum Opfer von Übergriffen wird. (Reinhardt 2018, 22 f.)

Ziel politischer Bildung ist demnach die Befähigung zur zivilen Austragung von politischen Konflikten. Peter Herdegen weist daraufhin, dass dabei nicht nur „institutionalisiert[e], in ihrem Ablauf geregelt[e]“ Konflikte in den Blick genommen werden müssen, sondern auch „nicht institutionalisiert[e], unstrukturiert[e] Konflikt[e]“ (Herdegen 2017, 132).

Für die vorliegende Studie steht demnach zur Disposition, ob sich Handlungsfähigkeit durch tatsächliches politisches Handeln in unkonventionellen politischen Aktionsformen entwickeln kann und ob dabei der politische Konflikt als wertvoll wahrgenommen wird. Außerdem ist bedeutsam, ob in selbstbestimmten und selbstorganisierten politischen Aktionen tatsächlich Konfliktlösungsstrategien erlernt werden oder Konfrontation vor Konfliktlösung steht.

Da die für die vorliegende Studie interviewten Schüler*innen nicht didaktisch begleitet politisch aktiv sind, ist für die Rekonstruktion ihrer Bildungserfahrungen bedeutsam, inwiefern politische Partizipation ein Erfahrungsraum des informellen Lernens sein kann.

2.2.3 Politische Partizipation als Erfahrungsraum informellen Lernens

In den Bildungswissenschaften werden unterschiedliche Lernmodelle berücksichtigt. Für die vorliegende Arbeit wird vor allem Bezug genommen auf den konstruktivistischen Ansatz. In der konstruktivistischen Lerntheorie stehen die Verstehensprozesse der Lernenden im Mittelpunkt. Wissen, Wirklichkeit und Vorstellungen lassen sich dabei nicht mehr uneingeschränkt in objektiv richtig oder falsch kategorisieren. Vielmehr entstehen diese Konzepte in einem individuellen Lernprozess. Dieser Ansatz wird einem kritischen Verständnis von politischer Bildung eher gerecht, weil dabei die subjektiven Vorstellungen der Lernenden die Aufmerksamkeit erhalten, die notwendig ist, um einen Zugang zu den komplexen und durchaus kontroversen Lerngegenständen im Feld der politischen Bildung zu erhalten. Sinnbildungsprozesse des Individuums schaffen Vorstellungswelten und eine politische Wirklichkeit. Diese gilt es, als Lernanlass aufzugreifen und Lernprozesse daran zu entwickeln (Lange 2008a). Dieser Vorsatz für formale politische Lernprozesse schließt aber auch an dem Verständnis informellen Lernens an und kann als Brücke zwischen formalen und informellen Bildungssettings verstanden werden. Das informelle Lernen ist nicht didaktisiert oder strukturiert. Wenngleich die informell stattfindenden Lernprozesse durchaus zielgerichtet sein können, so sind sie zumeist nicht intentional (Europäische Kommission 2001, 33). Informelles Lernen ist dabei von informal education zu unterscheiden. „Im Unterschied zum informellen Lernen wird von informeller Bildung („informal education“) dann gesprochen, wenn Lehrende oder Mentoren Verantwortung für die Gestaltung des informellen Lernens übernehmen.“ (Overwien 2005, 345) Auf Grundlage dieser Unterscheidung wird für die vorliegende Studie demnach eher von Lernprozessen im Sinne des informellen Lernens ausgegangen. Wenngleich bei den politisch aktiven Arbeitsgemeinschaften der Schüler*innen auch Lehrkräfte unterstützend tätig sind, steht der unmittelbare Lernerfolg nicht im Fokus der pädagogischen Arbeit und die Lehrenden verstehen sich eher als Begleiter*innen, als dass sie Verantwortung für die Lernprozesse im Zuge der politischen Aktionen übernehmen würden. Auch die Tatsache, dass die Arbeitsgemeinschaften und Schüler*inneninitiativen sich nicht selten in den Räumlichkeiten der formalen Bildungseinrichtung Schule organisieren, steht nicht mehr grundsätzlich im Widerspruch zum allgemeinen Verständnis des informellen Lernens (Overwien 2013a, 163).

Lebenslanges und selbstgesteuertes Lernen gewinnt in bildungswissenschaftlichen Diskursen an Bedeutung. Jana Trumann stellt allerdings fest, dass die Aufwertung selbstgesteuerten Lernens weniger aufgrund des Potentials für politische Bildung und Mündigkeit, als eher im Kontext beruflicher Verwertbarkeit hervorgehoben wird. So sollen sich Menschen allen Alters möglichst umfangreich weiterbilden und dabei Selbstlernkompetenzen entwickeln. Sobald dieser Lernprozess aber unmittelbar Einfluss auf gesellschaftspolitische Gestaltungsprozesse nehme, sei dies eher unerwünscht, konstatiert Trumann (2016). „Untermauert wird diese negative Perspektive auf Selbstgelerntes dann häufig mit dem Hinweis darauf, dass die Gefahr bestehe ‚Falsches‘ zu lernen[.]“ (Trumann 2016, 200)

Dieser Defizitorientierung mit Blick auf informelle Lernanlässe im Feld der politischen Bildung gilt es entgegenzuwirken. Das informelle Lernen sollte allerdings – auch in Bezug auf politische Aktionen von Kindern und Jugendlichen – keinesfalls idealisiert werden. Bernd Overwien verweist darauf, dass es auch „innerhalb sozialer Bewegungen immer wieder zu Dynamiken [kommt], die ein Bedürfnis nach konzentrierterer Bildungsarbeit generieren. Informelles Lernen führt hier sozusagen zum Bedürfnis nach organisierterem Lernen“ (Overwien 2013b, 251). Das muss aber nicht bedeuten, dass formale Bildungsangebote als Korrektiv einwirken müssen, sondern vielmehr, dass formale Bildungsangebote pädagogisch begleitend Bildungsgelegenheiten mitgestalten können, die beispielsweise im Zuge politischer Aktionen entstehen. Denn politisches Handeln, auch in Form des politischen Protests, ist ohne Prozesse des informellen Lernens nicht denkbar, sagen die Politikdidaktikerin Sabine Achour und Thomas Gill, Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung. Beide ergänzen: „Informelles Lernen ist eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens.“ (Achour/Gill 2020, 30)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass informelles Lernen weitgehend unabhängig von formalen Bildungsstrukturen und eher nicht intentional abläuft. Allerdings erscheinen „vereinfachte Gegenüberstellungen (gut/schlecht, richtig/falsch, verfasst/nicht-verfasst, formell/informell usw.) […] zu einseitig. Stattdessen gilt es, individuelle Lernhandlungen aus Subjektperspektive überhaupt erst einmal in den Blick zu nehmen und in ihrer Eigenheit zu betrachten“ (Trumann 2016, 200). Dieser Ansatz, der Jana Trumanns Arbeit zu „Lernen in Bewegungen“ (Trumann 2013) prägte, ist auch Ausgangspunkt für die Überlegungen der vorliegenden empirischen Untersuchung.

Während die Felder informeller Bildung in den letzten Jahren viel häufiger in den Blick geraten und Bildungsprozesse in Vereinen, am Arbeitsplatz, in sozialen oder politischen Bewegungen mehr Beachtung finden (Overwien 2009), wird damit auch selbstbestimmte politische Aktion als Bildungserfahrung wahrgenommen. Die Schule bietet dafür allerdings bis heute kaum Platz. „Trotz der Aufgabe der Urteils- und Handlungskompetenz bleiben die Möglichkeiten der politischen Partizipation sowie ihre Kritikfähigkeit begrenzt.“ (Lösch 2010, 121) Wie verhält sich die Schule und die schulische politische Bildung, wenn Schüler*innen zu der Einschätzung gelangen, man müsse „doch ‚etwas‘ tun, weil man nicht bei einer folgenlosen Analyse, einer passiv-intellektuellen Kritikfähigkeit oder einer zynischen Negativhaltung stehen bleiben wolle“ (Nonnenmacher 2010, 466)? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen finden die Schüler*innen im Kontext schulischer Bildung vor? Diese Fragen werden im folgenden Kapitel aufgegriffen.

2.3 Zum Verhältnis von politischer Aktion und politischer Bildung

Nachdem in den beiden vorangestellten Kapiteln zunächst die fachwissenschaftlichtheoretisch begründete Einordnung des Forschungsfeldes (Abschnitt 2.1. Politische Aktion – der Versuch einer Begriffsklärung) sowie die fachdidaktischen Diskurse zur politischen Bildung (Abschnitt 2.2 Politische Bildung – Bewusstsein, Erfahrung und Emanzipation) im Fokus standen, werden im Folgenden Prinzipien aus Bildungspolitik und Politikdidaktik diskutiert, die politische Partizipation als Erfahrungsraum ermöglichen, einfordern oder verhindern. Die damit verbundenen Widersprüche sollen zunächst durch die Darstellung bildungspolitischer Rahmenbedingungen für politische Bildung dargestellt werden. Dabei wird unter anderem folgenden Fragen nachgegangen:

Sind politische Aktion und politische Bildung aufgrund eines vermeintlichen Neutralitätsgebots unvereinbar?

Hat politische Bildung Verfassungsrang und inwiefern verhindern oder ermöglichen Schulgesetze reale politische Partizipationserfahrungen in der Schule?

Daran anschließend werden Erkenntnisse zu den Potenzialen non-formaler und informeller Bildungssettings im Kontext von politischer Partizipation als (Selbst)Bildungserfahrung zusammengefasst.

Abschließend wird die fachdidaktische Kontroverse bezüglich der Frage, ob politische Partizipation Ziel politischer Bildung sei, nachgezeichnet.

2.3.1 Politische Bildung als allgemeines Bildungsziel

2.3.1.1 Politische Aktion und das vermeintliche „Neutralitätsgebot“?

Inwieweit Institutionen der politischen Bildung wie Schulen Neutralität wahren sollten, ist in Forschung und Praxis umstritten. Eine besondere Relevanz hat diese Frage in den vergangenen Jahren im Zuge des Erstarkens rechtspopulistischer Strömungen in Deutschland erhalten. Die Frage nach politischer Neutralität ist allerdings nicht neu. So plädierte Hermann Giesecke schon früh für eine politische Parteilichkeit in der politischen Bildung:

Wird [...] die demokratische Inhaltlichkeit des historischen Emanzipationsprozesses ernstgenommen, so ist politische Bildung nicht neutral, sondern selbst ein Stück eigentümlicher politischer Tätigkeit: sie ist für die Interessen des Lehrlings, des Arbeiters, des ,Sozialfalles‘, des Jugendlichen und somit folgerichtig gegen die Interessen des Meisters, des Unternehmers, der Fürsorgebehörde, der Schulbehörde usw., allgemeiner: sie ist für die Interessen des jeweils Schwächeren, Ärmeren, Unterprivilegierten. (Giesecke 1979, 126 f.)

Zuletzt schien es so, als würde das Selbstverständnis der freiheitlichen Demokratie, das sich an Grundsätzen der Gleichwertigkeit sowie dem Schutz von Minderheiten orientiert, wandeln. Ein Beispiel war in den vergangenen Jahren das Erstarken nationalistischer Bewegungen. Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei die rechtspopulistische „Pegida-Bewegung“. Dabei handelt es sich um eine Gruppierung, die sich mit Demonstrationen gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlandes“ richtet und im Jahr 2015 regelmäßig mehrere Tausend Menschen mobilisieren konnte. Auffällig sind gehäufte nationalistische und menschenverachtende Äußerungen aus Reihen der Bewegung.

Wie hat die Schule und wie haben die Lehrkräfte auf eine solche Entwicklung zu reagieren? In jedem Fall müssen im Unterricht aktuelle gesellschaftspolitische Kontroversen aufgegriffen werden. Dabei sollten diese Themen möglichst multiperspektivisch behandelt werden. Allerdings hat diese Offenheit für vielfältige Positionen auch Grenzen. Diese formuliert der Jurist Hendrik Cremer in einer Expertise für das Deutsche Institut für Menschrechte wie folgt:

Geht es um die Thematisierung rassistischer und rechtsextremer Positionen, haben Lehrpersonen nicht nur das Recht, sondern gemäß den in den menschenrechtlichen Verträgen und im Schulrecht verankerten verbindlichen Bildungszielen auch die Pflicht, solche Positionen entsprechend einzuordnen und diesen zu widersprechen. (Cremer 2019, 21)

In der Schule gelten für alle Akteur*innen die Grundrechte und damit auch das Recht auf Meinungsfreiheit, aber eben auch die Grundprinzipien der freiheitlich demokratischen Gesellschaft, basierend auf der Anerkennung der Menschenwürde. Wird eine bestimmte Gruppe von Menschen beispielsweise aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Sexualität diskriminiert, muss eingeschritten werden. Der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland (2019) hat verschiedene Praxisbeispiele zusammengetragen, juristisch eingeordnet und damit den Mythos Neutralität in der Schule entkräftet.

Die Debatte um ein vermeintliches Neutralitätsgebot an Schulen hat in den letzten Jahren mit dem Erstarken der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) noch mehr an Bedeutung gewonnen. Die AfD, mittlerweile in allen deutschen Landtagen vertreten und im Bundestag die größte Oppositionskraft, ging mit Meldeportalen über unliebsame Lehrkräfte online. Einige Landesverbände, u. a. Hamburg, veröffentlichten eine Internetseite mit dem Titel „Neutrale Schule“, auf dem Schüler*innen und Eltern Lehrkräfte anonym melden sollten, die sich vermeintlich einseitig und kritisch gegenüber der AfD positionierten. Die vermeintliche Notwendigkeit des Meldeportals begründete die AfD unter anderem mit dem „Beutelsbacher Konsens“ (Hufer 2013a; Schiele 2010; Wehling 1977; Widmaier/Zorn 2016a) und verwies auf das Überwältigungsverbot und das Multiperspektivitätsgebot. Diese Meldeportale lösten eine Debatte über die Grenzen der staatlichen Neutralität aus. Gewerkschaften, Interessenverbände von Schüler*innen, Eltern und Lehrkräfte, aber auch die Politik stellten sich hinter die Lehrkräfte und gegen die Meldeplattformen der AfD. So formulierten drei zentrale Verbände der politischen Bildung in Deutschland, die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB), die Gesellschaft für politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) und die Sektion Politische Bildung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW), eine gemeinsame Erklärung, in der es bezugnehmend auf den „Beutelsbacher Konsens“ heißt:

Dessen Grundsätze fordern die sachliche Auseinandersetzung mit den in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit vertretenen Positionen. Weder das dort verankerte Kontroversitätsgebot noch das gleichrangig zu behandelnde Überwältigungsverbot begründen eine „Neutralität“ oder gar Toleranz gegenüber demokratieverachtenden Parolen oder menschenfeindlichen Äußerungen. (DVPB u. a. 2018)

Trotz der breiten Unterstützung für die Lehrkräfte wird in Medien – auch vonseiten bildungspolitischer Verantwortungsträger*innen immer wieder von einem Neutralitätsgebot gesprochen, das für die Schule gelten würde. Die AfD-Meldeplattformen lösten eine wichtige Debatte in der Fachwissenschaft, der Fachdidaktik und in der Gesellschaft aus. Wie neutral muss Schule, muss Unterricht, müssen Lehrkräfte sein?

Die Autorengruppe Fachdidaktik beleuchtet diese Problematik ebenfalls ausgehend vom „Beutelsbacher Konsens“. Dabei wird betont, dass Kontroversität im Unterricht durch Methoden und Verfahren des Unterrichts sicherzustellen seien (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, 26 f.). Allerdings sei darauf verwiesen, dass sich Multiperspektivität im Unterricht nicht darauf beschränken darf, etablierte Positionen aufzugreifen. Vielmehr muss Kontroversität bedeuten, den „ausgeschlossenen, benachteiligten und öffentlich nicht sichtbaren Positionen und Gruppen überhaupt erst eine Chance zu eröffnen, wahrgenommen zu werden und sich am kollektiven Streithandel beteiligen zu können“ (Eis 2019, 9). Der Soziologe Stefan Breuer positioniert sich sogar noch stärker aufseiten politisierter Lehrkräfte, die als Rollenmodelle demokratischen Handels fungieren sollen. Infolgedessen hält er völlige Neutralität weder für vereinbar mit demokratischen Werten oder den Schulgesetzen noch für zielführend im Sinne politischen Lernens. Schließlich sei eine vollkommen neutrale Lehrkraft auch „blind für das Politische in vermeintlich unpolitischen Situationen“ (Breuer 2018). Die Politikdidaktikerin Sibylle Reinhardt verweist in einem Aufsatz, der sich explizit mit den AfD-Meldeportalen befasst, darauf, dass diese den Rechtsstaat untergrüben. Reinhardt stellt klar, dass Lehrkräfte durchaus politisch Position beziehen dürfen, diese aber nicht zum Status quo erheben sollten und schließt an: „Neutralität des Bürgers als Bildungsziel taugt für autoritäre Staaten, nicht für die Demokratie.“ (Reinhardt 2019a, 15)

Neutralität ist kein Bildungsziel der schulischen politischen Bildung. Von Lehrkräften oder der Schule als Lernort der Demokratie (Kenner/Lange 2019) eine politische Neutralität zu erwarten, wie es rechtspopulistische Strömungen in Deutschland derzeit propagieren, widerspricht dem Grundverständnis von politischer Bildung in einer freiheitlichen Demokratie. Lehrkräfte müssen für gelingende Bildungsarbeit einen angstfreien Raum schaffen. Sie müssen multiperspektivisch komplexe Themen gemeinsam mit den Schüler*innen erschließen und dürfen dabei nicht überwältigend agieren. Aber diese Grundprinzipien versagen es ihnen nicht, sich selbst zu positionieren oder auch Schüler*innen Freiräume für eigene politische Positionierungen zu schaffen. Im Gegenteil: Ein offener, angstfreier Lernraum lässt dies explizit zu (Kenner 2018). Außerdem ist auch von schulischer politischer Bildung zu erwarten, dass politische Bildner*innen undemokratische, menschenverachtende Äußerungen nicht unwidersprochen lassen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund haben die Bildungsminister der 16 Bundesländer in ihrem Beschluss „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ betont, dass das von der Schule zu vermittelnde Wertesystem den freiheitlichen und demokratischen Grund- und Menschenrechten entsprechen muss und somit kein wertneutraler Ort sein darf (Kultusministerkonferenz 2018, 3).

Dennoch: Das Problem einer Neutralitätserwartung an Schule ist systemimmanent und eng damit verbunden, dass eine kritische Auseinandersetzung mit epochaltypischen Schlüsselproblemen zunehmend aus den Lehrplänen verschwindet.

Etwas mehr Mut, Entschlusskraft und wirkmächtige Kontroversität innerhalb der Bildungswissenschaften und der Fachdidaktiken wären hier wünschenswert, um die (vermeintliche) Entpolitisierung des Streites um Bildungsziele und -inhalte aus guten fachlichen Gründen zurückzuweisen. Neutral war Bildung nie und kann sie auch nicht sein: Bildungsziele, Prinzipien und Inhalte von Curricula, Bildungsstandards etc. können nicht wertfrei „aus der Empirie“ irgendeiner ‚Output-Messung‘ begründet und in institutionell bindender Weise formuliert werden. (Eis 2016, 133 f.)

Zudem verweist Andreas Eis darauf, dass nicht nur Kinder- und Menschenrechtskonventionen das Handeln von Lehrenden leite, es sind vor allem auch die in den meisten Landesverfassungen explizit formulierten Bildungsziele. Doch hat politische Bildung als Querschnittsaufgabe, als Bildungsziel in allen 16 Bundesländern Verfassungsrang und wie ist das Recht auf Teilhabe und politische Partizipation schulrechtlich verankert? Diesen Fragen wird im folgenden Kapitel nachgegangen.

2.3.1.2 Politische Bildung und Partizipation rechtlich verankert?

Um das Verhältnis formaler Bildung und politischer Aktion einschätzen zu können, ist neben fachwissenschaftlichen und didaktischen Erkenntnissen auch die rechtliche Stellung von Bedeutung. Dabei gilt es der Frage nachzugehen, inwiefern Kinder und Jugendliche überhaupt Grundrechtsträger*innen sind und sich daraus ein Recht auf politische Beteiligung ergibt. Außerdem ist zu klären, ob politische Bildung und damit auch die Entwicklung von politischer Handlungskompetenz Verfassungsrang hat. Und ist das Recht auf Beteiligung und politische Partizipation in den Schulgesetzen verankert? Wenngleich diese Fragen im Zuge der vorliegenden Arbeit nicht abschließend beantwortet werden können, sollen zentrale Aspekte im Folgenden skizziert werden.

Der Rechtswissenschaftler und ehemalige Leiter des Deutschen Jugendinstituts, Ingo Richter, hat sich Zeit seines Lebens diesen Fragen gewidmet. Er kommt zu dem Schluss, dass es unstrittig sei, „dass die Grundrechte des Grundgesetzes allen zukommen, auch den jungen Menschen“ (Richter 2016, 137). Richter verweist aber auch darauf, dass Faktoren wie Erziehung, Bildung und Ausbildung eine systematische Einschränkung der politischen Grundrechte junger Menschen begründen könnten:

Wenn junge Menschen politisch aktiv werden, wenn sie einzeln oder gemeinsam politisch handeln, wenn sie also ihre politischen Grundrechte ausüben, so berührt dies u. U. die Rechte ihrer Eltern, denen von Verfassungswegen (Art. 6 Abs. 2) das elterliche Sorgerecht zusteht (§ 1626 BGB), und sie treffen auf Personen und Institutionen, die ebenfalls im politischen Handlungsfeld zumindest teilweise angesiedelt sind, wie Schule und Betrieb, Verbände und Parteien. (Richter 2016, 137)

Wenngleich das Elternrecht oder auch das staatliche Erziehungsrecht durchaus beschränkend auf die Verwirklichung von Grundrechten für Kinder und Jugendliche Einfluss nehmen kann, so verweist Richter darauf, dass eine „generelle oder individuelle alters- oder reifeabhängige Begrenzung der selbständigen Grundrechtsausübung von Kindern und Jugendlichen“ (Richter 2016, 152) nicht im Grundgesetz begründet ist. Vielmehr ist von einer wachsenden Grundrechtsmündigkeit von Kindern und Jugendlichen auszugehen, deren Einschränkungen immer nur in Konkurrenz der verschiedenen Verfassungsrechte gefunden werden können (Richter 2016, 151 f.).

Bildung liegt in der föderal strukturierten Bundesrepublik Deutschland im Hoheitsbereich der Länder. Dies führt dazu, dass bildungspolitische Entscheidungen in den 16 Bundesländern oftmals sehr unterschiedlich geregelt werden. Dies betrifft auch die politische Bildung. Allerdings konnten sich die Bildungsminister*innen der Länder zuletzt im Jahr 2018 auf eine gemeinsame Erklärung zur Demokratiebildung einigen. In dieser Erklärung heißt es:

Schule kann und soll sich als Ort erweisen, an dem Demokratie als dynamische und ständige Gestaltungsaufgabe – auch im Spannungsfeld unterschiedlicher demokratischer Rechte – reflektiert und gelebt wird. Die Thematisierung von Diversität und Ambiguitätstoleranz sind grundlegende Voraussetzungen für den Erfolg historisch-politischer Bildung in der Schule. (Kultusministerkonferenz 2018, 2 f.)

Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollten in Deutschland alle Menschen im Laufe ihres Lebens mit politischer Bildung in formalen, non-formalen oder informellen Settings in Berührung kommen. Gewährleistet wurde dies unter anderem mit der Verankerung der politischen Bildung als Bildungsziel in den Verfassungen des überwiegenden Teils der 16 Bundesländer. Die Formulierungen lassen dabei aber Raum für Interpretation. Der Politikdidaktiker Joachim Detjen (2015) sagt, dass es in Deutschland zwei schulische Unterrichtsfächer bzw. zentrale schulische Aufgaben mit Verfassungsrang gäbe. Für Religionsunterricht, der im Grundgesetz verankert ist, stimmt diese These. In Artikel 7, Satz 2 ist festgelegt, dass Eltern über die Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht bestimmen dürfen. Das Unterrichtsfach Religion ist an den öffentlichen Schulen ein ordentliches Schulfach, so regelt es Artikel 7 in Satz 3 des Grundgesetzes. Der Verfassungsrang und somit der Schutz vor Abschaffung ist für das Unterrichtsfach Religion in Deutschland damit formuliert. Für politische Bildung ist dieser Verfassungsrang bis heute weniger klar definiert. Nur in Ausnahmefällen gibt es ein verfassungsrechtlich klares Bekenntnis zu dem Unterrichtsfach. Zumeist wird in den Landesverfassungen eher ein allgemeines Bildungsziel im Sinne der politischen Bildung formuliert. Von den 16 deutschen Bundesländern haben nur zwei politische Bildung als Unterrichtsfach in der Landesverfassung verankert. Wenngleich mit zwei unterschiedlichen Bezeichnungen, sichern die Länder Baden-Württemberg (Gemeinschaftskunde) und Nordrhein-Westfalen (Staatsbürgerkunde) das Unterrichtsfach Politische Bildung vor der Streichung von der Stundentafel (Kenner 2020a, 35). Auch als klares Bildungsziel ist politische Bildung nicht in allen Bundesländern verankert. Zehn Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Saarland und Thüringen) haben politische Bildung als eindeutiges Ziel in der Landesverfassung verankert (siehe Tabelle 2.1). Dabei wurde politische Bildung für diese Analyse der Landesverfassungen eher im engeren Sinne kategorisiert. Zentrale Begriffe sind u. a. Bildung auf „Grundlage demokratischer Werte und Prinzipien“, Erziehung zu „demokratischer Haltung und Gesinnung“, „Rechtsstaatlichkeit“, „Achtung vor der Überzeugung und der Würde des anderen“ u. v. m. (Kenner 2020a).

Beispielhaft für jene Bundesländer, die ein klares verfassungsrechtlich verankertes Bekenntnis zur politischen Bildung haben, sei hier ein Auszug aus der Landesverfassung des Bundeslandes Bremer aufgeführt. Hervorgehoben sind in kursiv die Schlagworte, die auf politische Bildung als Bildungsziel schließen lassen:

Landesverfassung Bremen (Artikel 26)

Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im Wesentlichen folgende Aufgaben:

(1) Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung vor der Würde jedes Menschen und auf dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung beruht, zur Sachlichkeit und Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer führt und zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern aufruft.

(2) Die Erziehung zu einem Arbeitswillen, der sich dem allgemeinen Wohl einordnet, sowie die Ausrüstung mit den für den Eintritt ins Berufsleben erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten.

(3) Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun.

In zwei Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) lassen sich Bezüge für eine Verankerung von politischer Bildung im weiteren Sinne identifizieren. Hier wird deutlich, dass politische Bildung nicht explizit im Sinne einer Bildung für die Demokratie verankert ist, sondern vor allem auf Konzepte wie „soziale Verantwortung“, „Toleranz“ und „Gemeinschaftsgefühl“ rekurriert. Diese Konzepte lassen sich im Sinne des sozialen Lernens unbestritten als Teilelemente der politischen Bildung begreifen. Ein klares Bekenntnis zu politischer Bildung im Sinne eines politischen Lernens, der Anerkennung von Menschenwürde und demokratischer Überzeugung ist allerdings nicht abzuleiten.

In vier Bundesländern (Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) ist politische Bildung weder als Unterrichtsfach noch als zentrales Bildungsziel oder im weiteren Sinne verfassungsrechtlich festgeschrieben. Damit ist politische Bildung weder als Unterrichtsfach noch als Schulprinzip oder außerschulische Aufgabe vor der Abschaffung geschützt. Bei einem Viertel der deutschen Bundesländer kann demnach nicht davon ausgegangen werden, dass politische Bildung einen Verfassungsrang hat. Diese Analyse offenbart das Spannungsverhältnis, in dem sich politische Bildung in Deutschland befindet. Bildungspolitiker*innen aller Länder betonen die Bedeutung von politischer Bildung, die strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen allerdings divergieren (Kenner 2020a).

Tabelle 2.1 Übersicht zum Verfassungsrang Politischer Bildung (PB) in den 16 Bundesländern (eigene Darstellung)

Politische Bildung als Bildungsziel in der Verfassung sichert nicht nur die schulische politische Bildung. Der Rechtswissenschaftler Hans Hugo Klein (2004, 64), von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht, betont, dass sich auch die non-formale Bildung in vielen Landesverfassungen wiederfindet. Er verweist darauf, dass die Annahme berechtigt sei, dass „soweit politische Bildung Gegenstand der Erwachsenenbildung ist, die für die Schule genannten Erziehungsziele ebenfalls verbindlich sind“ (Klein 2004, 52). Darüber hinaus ist die außerschulische politische Bildung auch im Feld der Kinder- und Jugendhilfe und den entsprechenden Trägern durch die Bestimmungen im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geschützt.

Um die Erkenntnisse aus der Analyse der Landesverfassungen sowie der Überlegungen zur Grundrechtsmündigkeit von Kindern und Jugendlichen in den Forschungskontext der vorliegenden Studie einzuordnen, gilt es auch zu fragen, inwiefern das Bildungsziel politische Bildung auch mit der Befähigung zu und dem Recht auf politische Teilhabe verbunden ist. Die Länder Nordrhein-Westfalen (Artikel 7, Satz 1) und Sachsen (Artikel 101, Satz 1) formulieren in ihren Landesverfassungen auch die Befähigung und Bereitschaft zum sozialen Handeln als wesentliches Bildungsziel. Die Landesverfassungen von Brandenburg (Artikel 28) und Thüringen (Artikel 22) betonen gar die Förderung von selbstständigem Denken und Handeln.

Aber auch in den Bundesländern, die politischer Bildung bis heute keinen Verfassungsrang einräumen, wird eine Verankerung dieses Bildungsziels auch in Verbindung mit der Befähigung zum selbstständigen Handeln diskutiert. Der Landesverband Niedersachsen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) forderte beispielsweise die Landesregierung und den Landtag in einem offenen Brief im Mai 2020 dazu auf, die Landesverfassung dementsprechend zu erweitern. Vorgeschlagen wird folgender Zusatz zum Artikel 4, in dem das Recht auf Bildung festgeschrieben ist:

1 Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbständiges kritisches Denken, Urteilen und Handeln, die Achtung der Würde der Menschen in Anerkennung der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit, dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit, Friedfertigkeit im Zusammenleben aller Menschen und Verantwortung für die Umwelt zu fördern. 2 Ihr Ziel ist die Stärkung des konsequenten Eintretens gegen jedwede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger. 3 Dieser Bildungsauftrag wird in allen öffentlichen Schulen durch ein ordentliches Unterrichtsfach sowie durch demokratische Schulentwicklung erfüllt und ist zugleich Grundlage für die außerschulische politische Bildung. (DVPB Landesverband Niedersachsen 2020, 2)

An dieser Stelle sei erwähnt, dass eine Nicht-Nennung der politischen Bildung in der Landesverfassung nicht gleichzusetzen ist mit einer Vernachlässigung dieses Bildungsziels. Niedersachsen beispielsweise räumt der politischen Bildung auch als Unterrichtsfach einen großen Stellenwert durch verhältnismäßig viel Unterrichtszeit ein. Berlin hat jüngst das Unterrichtsfach Politische Bildung wieder als eigenständiges Unterrichtsfach auf der Stundentafel der Schüler*innen verankert (Gökbudak/Hedtke 2020).

Für eine Analyse der Rahmenbedingungen für politische Partizipation als Lernerfahrung sind neben den Landesverfassungen aber vor allem auch die Schulgesetze von besonderer Bedeutung. Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, eine vollumfängliche Analyse aller 16 Landesschulgesetze vorzunehmen (ausführlich hierzu u. a.: Hameister/May 2020; 2021). Daher sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf besondere Probleme hingewiesen, die mit der rechtlichen Verankerung von Schüler*innenpartizipation verbunden sind.

Eine zentrale Frage bezüglich der Verankerung von Partizipationsrechten für Schüler*innen in Landesschulgesetzen ist, welche Aufgaben ihrer Interessenvertretung zugesprochen werden. Besonders problematisch ist es, wenn der Schüler*innenvertretung dabei Ordnungsaufgaben übertragen werden. Dabei wird ein Phänomen verrechtlicht, das in der Fachliteratur als Alibi-Partizipation oder gar Manipulation beschrieben wird (siehe Abschnitt 2.1.3.2 Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung). In Bayern finden wir solche Formulierungen bis heute. Im Landesschulgesetz Bayern wird das Wirkungsfeld der Schüler*innenvertretung u. a. mit diesen Ordnungsaufgaben definiert. Hier heißt es:

Zu den Aufgaben der Schülermitverantwortung gehören insbesondere die Durchführung gemeinsamer Veranstaltungen, die Übernahme von Ordnungsaufgaben, die Wahrnehmung schulischer Interessen der Schülerinnen und Schüler und die Mithilfe bei der Lösung von Konfliktfällen. (Landesschulgesetz Bayern, Artikel 62, Satz 3)

Neben diesen offensichtlichen Formen der Fremdbestimmung, die vermutlich noch auf die Ursprünge der Schüler*innenmitverwaltung in den 1950er-Jahren zurückzuführen sind, in denen die Schüler*innenvertretung weniger als Interessenvertretung, denn als Erziehungs- und Disziplinierungsinstrument etabliert wurde (Auernheimer/Doehlemann 1971, 68–70), ist ein zweiter limitierender Faktor in den Schulgesetzen verankert: das Verbot des allgemeinpolitischen Mandats für die Schüler*innenvertretung. Gemeint ist damit, dass sich Schüler*innenvertretungen nicht zu allgemeinpolitischen Themen positionieren dürfen. Eine direkte Ausformulierung dieses Verbots findet sich heute nur noch im Landesschulgesetz von Baden-Württemberg in § 63 „Klassenschüler-versammlung, Schülervertreter“, Absatz (3): „Klassenschülerversammlung und Schülervertreter haben kein politisches Mandat.“ Indirekt ist das Verbot eines allgemeinpolitischen Mandats aber noch in mehreren Landesschulgesetzen verankert, indem in einer Reihe von möglichen Aufgaben der Schüler*innenvertretung die politische Dimension explizit unerwähnt bleibt. Beispielhaft hierfür sei an dieser Stelle ein Auszug aus dem Landesschulgesetz von Schleswig-Holstein angeführt. In § 79 „Wesen und Aufgaben“ wird der Schüler*innenvertretung die „Wahrnehmung selbstgestellter kultureller, fachlicher, sozialer und sportlicher Aufgaben“ zugestanden. Diese wird dabei beschränkt auf den „Schulbereich“. Die Wahrnehmung politischer Aufgaben wird ihnen explizit nicht zugesprochen und die Einschränkung ihres Wirkungsfeldes wird klar mit dem Schulbereich definiert. Das Land Berlin verzichtet auf eine Aufzählung möglicher Handlungsfelder und beschreibt die Aufgaben der Schüler*innenvertretung in § 83, Absatz 1 des Schulgesetzes wie folgt: „Die Schülerinnen und Schüler wirken bei der Verwirklichung der Bildungs- und Erziehungsziele durch ihre Schülervertretung aktiv und eigenverantwortlich mit.“ In Absatz 2 wird dieser vermeintlich große Spielraum für politische Partizipation allerdings auch in Berlin eingeschränkt, denn Stellung beziehen, darf die Schüler*innenvertretung nur zu „bildungspolitischen Fragen“.

Diese bis heute wirksame Verankerung des Verbots eines allgemeinpolitischen Mandats macht reale politische Partizipation als Lernerfahrung in der Vertretung der Schüler*innen unmöglich. Was den Interessenvertretungen der Schüler*innen nicht möglich ist, ist den einzelnen Schüler*innen aber teilweise durchaus gestattet. Besonders weitgehend ist dabei das Schulgesetz in Niedersachsen. Der § 86 „Schülergruppen“ im niedersächsischen Schulgesetz gestattet es den Schüler*innen, sich in Gruppen zu organisieren und für die durchaus allgemeinpolitischen Ziele einzustehen, die als Auftrag der Schule in § 2 des Schulgesetzes formuliert sind. Hier heißt es u. a., dass die Schüler*innen befähigt werden sollen: zur „Erhaltung der Umwelt“ beizutragen, die „Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen“ und „ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten“. Daraus lassen sich vielfältige Anlässe zu politischer Aktion und Selbstorganisation ableiten. Wollen sich Schüler*innen zur Erfüllung dieses Bildungsauftrages zusammenschließen, zum Beispiel eine Antirassismus-Arbeitsgemeinschaft gründen, „so gestattet ihnen die Schulleiterin oder der Schulleiter die Benutzung von Schulanlagen und Einrichtungen der Schule“ (Niedersächsisches Schulgesetz, § 86 Schülergruppen).

Die Frage, ob politische Bildung Verfassungsrang hat, lässt sich nicht einheitlich für die Bundesrepublik beantworten. Grundsätzlich muss aber konstatiert werden, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine emanzipatorische und partizipative politische Bildung unzureichend sind. Das Fallbeispiel Niedersachsen zeigt allerdings, dass die Diskussion über die verfassungsrechtliche Verankerung der politischen Bildung nicht abgeschlossen ist und auch das Schulgesetz Möglichkeiten zur politischen Partizipation in der Schule bieten kann. Diskussionen über eine Ausweitung rechtlicher Rahmenbedingungen für die Verankerung emanzipatorischer und partizipativer politischer Bildung sind wichtig, denn es bedarf nicht nur des Rechts auf mehr politische Bildung, sondern für partizipative Prozesse braucht es auch klare Leitplanken, die als verfassungsrechtlich verankerte Bildungsziele formuliert werden sollten. Außerdem zeigt das hier dargelegte Fallbeispiel des § 86 des Niedersächsischen Schulgesetzes, dass es durchaus möglich ist, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Schüler*innen Freiräume für reale politische Partizipationserfahrungen im Schutzraum Schule ermöglichen und dabei zugleich Grenzen setzen, indem politisches Engagement in der Schule dem Zweck dienen muss, dem demokratischen Auftrag der Schule gerecht zu werden.

Gelingt es, rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, so kann davon ausgegangen werden, dass die Schule immer häufiger auch als Freiraum für reale politische Partizipation genutzt wird. Politische Bildung im Kontext von Selbstorganisation und autonomer politischer Aktion wird dann immer häufiger auch verbunden sein mit informellen Lernerfahrungen, die wiederum als Lernanlass für formale Bildungssettings dienen können. Inwiefern die Schule und der Politikunterricht diesen Brückenschlag vollziehen können, ist in der Politikdidaktik umstritten. Die Kontroverse um die Bedeutung realer politischer Partizipation im Kontext schulischer Bildung prägt Forschung und Praxis der politischen Bildung seit mehr als 50 Jahren. Im folgenden Kapitel wird der Versuch unternommen, diese Kontroverse in gebotener Prägnanz nachzuzeichnen.

2.3.2 Kontroverse: Partizipation als Ziel politischer Bildung?

Die Kontroverse um Partizipation und explizit um die politische Aktion als Teil oder gar Ziel politischer Bildungsprozesse ist so alt wie die Disziplin der politischen Bildung selbst. Die Politikdidaktikerin Kerstin Pohl (2015) sieht den Ursprung in zwei konträren demokratietheoretischen Annahmen über die Notwendigkeit politischer Partizipation für die Sicherung und Weiterentwicklung demokratischer Gesellschaften. Vertreter*innen der repräsentativen Demokratie gehen davon aus, dass ein Großteil der Bürger*innen weder über das notwendige Wissen noch über ein weitreichendes Problembewusstsein oder die relevanten Kompetenzen verfügt, um politische Entscheidungsprozesse jederzeit mitzubestimmen. Dieser Argumentation folgend, erscheint es geboten, alltägliche politische Teilhabe vornehmlich im Sinne konventioneller Partizipation strukturell in Parteien, Verbänden, Vereinen und anderen Formen der Interessenvertretung zu verorten. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich politische Entscheidungen, getroffen von Repräsentant*innen, und in diesem Verständnis von Expert*innen, durch mehr Rationalität und Effektivität auszeichnen. Der Großteil der Menschen würde das Recht auf Teilhabe nur in regelmäßig stattfindenden Wahlen in Anspruch nehmen. Vertreter*innen einer partizipativen Demokratie widersprechen dieser Denkart und betonen, dass möglichst viele Menschen Politik und Gesellschaft mitgestalten sollten. Partizipation in diesem Verständnis hat nicht nur eine Funktionslogik für das politische System. Vielmehr wird Partizipation als ein menschlicher Selbstbestimmungs- und Selbstverwirklichungsmodus verstanden. Bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten seien deshalb beständig auszubauen, zum Beispiel durch die Ermöglichung unkonventioneller Formate der politischen Teilhabe, beispielsweise über Bürger*innenforen oder Volksinitiativen (Pohl 2015).

Diese zwei demokratietheoretischen Grundannahmen beeinflussen auch seit jeher die Diskurse im Feld der politischen Bildung. Hier war vor allem umstritten, in welchem Verhältnis reales politisches Handeln und politische Bildung stehen. Die historische Entwicklung der damit verbundenen Kontroverse soll hier nur anhand zentraler Stationen nachgezeichnet werden. Eine ausführliche Rekonstruktion hat Klaus-Peter Hufer (2011) in dem Aufsatz „Politische Bildung und politische Aktion“ vorgenommen. Alexander Wohnig hat in seinem Aufsatz „Zum Stellenwert der politischen Aktion in der politischen Bildung“ (2020b) die Positionen 14 zentraler AkteureFootnote 1 der vergangenen 50 Jahre schematisch zusammengetragen. Bei der Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung der Kontroverse wird deutlich, dass seit jeher und in allen Phasen die Positionen zwischen euphorischer Bejahung, Skepsis und Ablehnung zu verorten waren (Wohnig 2020b, 154–155). Im Folgenden werden wesentliche Etappen skizziert.

Zunächst wird auf die Arbeiten von Rolf Schmiederer (1971) und Hermann Giesecke (1971) Bezug genommen, die Anfang der 1970er-Jahre veröffentlicht wurden. Diese frühen Arbeiten von Schmiederer und Giesecke haben im Feld der politischen Bildung eine bis heute nachwirkende Debatte über Kritik, Emanzipation und Partizipation als Wesenskerne politischer Bildung ausgelöst. Daran anschließend wird mit dem sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ (Wehling 1977) der Versuch einer Formulierung allgemeingültiger Prinzipien für politische Bildungsarbeit vor allem unter Berücksichtigung einer handlungsorientierten Politikdidaktik kritisch eingeordnet. Die Diskussion über das Leitbild und die Ziele politischer Bildung wurde erneut in den 1990er Jahre mit den Arbeiten von Heinz Klippert (u. a.: 1991, 1996) und Anfang der 2000er-Jahre mit dem Konzept der Bürger*innenleitbilder (Detjen 2000; Breit/Massing 2002) entfacht. Abschließend wird in diesem Kapitel der Blick auf die 2010er-Jahre geworfen. Die letzten zehn Jahre waren geprägt vom Wiederaufflammen der Diskurse über den Stellenwert sozialer und politischer Partizipation in der politischen Bildung. Hervorzuheben sind dabei u. a. das Handbuch „Kritische politische Bildung“, verantwortet von Bettina Lösch und Andreas Thimmel (2010) sowie die Sammelbände „Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung“, herausgegeben von Benedikt Widmaier und Frank Nonnenmacher (2011), „Zeitalter der Partizipation. Paradigmenwechsel in Politik und politischer Bildung?“ von Lothar Harles und Dirk Lange (2015) und zuletzt der Band „Politische Bildung als politisches Engagement“ herausgegeben von Alexander Wohnig (2020c). Darüber hinaus wurde in dieser Zeit mit der „Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung“ (Eis/Lösch u. a. 2015) ein Grundsatzpapier für die politische Bildung entwickelt und veröffentlicht, mit dem die Prinzipien der politischen Bildungsarbeit (re)formuliert wurden. Darin wird deutlich stärker eine kritisch-emanzipatorische Perspektive betont und Handlungsorientierung sowie politische Aktion explizit in den Blick genommen. Mit dieser schlaglichtartigen Zusammenfassung zentraler Aspekte soll der Versuch unternommen werden, die historische Entwicklung um politische Partizipation als Ziel politischer Bildung herzuleiten und in den gegenwärtigen Diskurs einzuordnen.

Die Kontroverse um den Stellenwert politischen Handelns in der politischen Bildung ist immer auch verbunden mit der Frage nach dem Ziel politischer Bildung. Ist sie zuvorderst dazu angehalten, politisches Wissen zu vermitteln, und basiert sie auf einer instruktionsorientierten Didaktik (siehe hierzu auch Abschnitt 2.2.2.2 „Richtiges Politikwissen?“)? Oder sind Emanzipation, Mündigkeit und Selbstbestimmung die Leitziele politischer Bildung? Diese Frage wirft Hermann Giesecke (1971) in seinem Aufsatz mit dem Titel „Didaktische Probleme des Lernens im Rahmen von politischen Aktionen“ auf und unterstellt der politischen Bildung, „einseitig auf kognitive Lernleistungen orientiert“ (Giesecke 1971, 13) zu sein. Er formuliert in diesem Aufsatz die These, die politische Bildung habe „nur Wissensstoffe und Verhaltensweisen vermittelt, die nicht dem politischen Handeln mit dem Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft dienten, sondern geeignet waren, von eben diesem Ziel abzulenken“ (Giesecke 1971, 17). Der Politikdidaktiker kritisiert die Trennung von Lernen und Anwendung (Giesecke 1971, 19) und stellt fest, dass eine politische Bildung zum Ziel haben muss, „zu einem gegebenen Zeitpunkt einer Lebensgeschichte durch Lernen mögliche Emanzipation tatsächlich“ (Giesecke 1971, 40) realisieren zu können. Hier setzt auch Rolf Schmiederer an, der in seinem 1971 erschienenen Werk „Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des politischen Unterrichts“ darauf verweist, dass politische Bildung sich als „Erziehung zu Emanzipation und Demokratie“ (Schmiederer 1971, 27) verstehen müsse. Politische Lernprozesse dürften daher nicht nur auf der Ebene der Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen reduziert werden, sie müssten vielmehr die „Voraussetzungen schaffen, daß unter bestimmten Umständen aus der Reflexion politische Handlungsbereitschaft wird“ (Schmiederer 1971, 51). Dies könne aber nicht gelingen, wenn der Unterricht keinen Freiraum dafür schaffe:

Versucht man im Unterricht die Diskussion über die Realisierung politischer Ziele zu unterbinden und wird politische Aktivität als etwas abgetan, das nicht hierher gehört, so wird der emanzipatorische Effekt der politischen Bildungsarbeit behindert. (Schmiederer 1971, 54)

Rolf Schmiederer und Hermann Giesecke erfuhren ihrerzeit großen Widerspruch aus der Fachdisziplin für die von ihnen aufgestellten Überlegungen zur politischen Aktion als Bildungserfahrung (Nonnenmacher 2011, 88). Die von Schmiederer und Giesecke angeregte Diskussion um den Stellenwert realer politischer Partizipationserfahrungen von Schüler*innen fiel in eine Zeit, in der die politische Bildung ohnehin entlang scheinbar unvereinbarer Konfliktlinien verlief. „Durch die Orientierung entweder am Zielwert ‚Emanzipation‘ oder am Zielwert ‚Rationalität‘ entstand in der Politikdidaktik eine Art ‚politische Geographie‘ und eine Lagerbildung, die zu heftigen Auseinandersetzungen führte.“ (Scherb 2017, 255) Es war eine Zeit, in der die Forschung zur politischen Bildung noch in den Anfängen stand und zugleich die Bundesrepublik Deutschland von einem „systemkritischen demokratischen Aufbruch in Gesellschaft und Politik“ (Widmaier/Zorn 2016b, 9) geprägt war. Der parteipolitische Streit jener Zeit nahm auch unmittelbar Einfluss auf das neue Unterrichtsfach Politik. In dieser Zeit lud die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zu einer Fachtagung ein, um die Vertreter*innen der noch jungen Forschungsdisziplin zusammenzuführen und über einen Minimalkonsens für die Arbeit der politischen Bildung zu beraten. Dokumentiert wurde diese Tagung, die im Jahr 1976 in Beutelsbach stattfand, von Hans-Georg Wehling. Seine Beobachtungen fasste Wehling 1977 in seinem Aufsatz „Konsens à la Beutelsbach?“ (Wehling 1977) zusammen. In dieser Publikation formulierte er auch erstmals die drei Grundsätze, die in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmend „paradigmatische Bedeutung“ (Widmaier/Zorn 2016b, 10) erlangten. Demnach gelte (1) ein Überwältigungsverbot: So sei es nicht erlaubt, Schüler*innen – mit welchen Mitteln auch immer – zu überrumpeln und sie damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern. Außerdem (2) gelte das Kontroversitätsgebot: Dies besagt, dass alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers sein müsse. Schließlich (3) die Interessenorientierung: Schüler*innen müssen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Interessenlage und die individuelle politische Situation zu analysieren. Entsprechend ihrer persönlichen Lage sollen Schüler*innen befähigt werden, diese im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen (Wehling 1977, 179–180).

Diese drei Prinzipien gehen zurück auf einen jahrelangen Diskurs über die Ziele und Grundlagen gelingender politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bezeichnung Konsens ist dabei irreführend, da es sich nicht um das Ergebnis eines konsensualen Prozesses im Zuge der Tagung in Beutelsbach handelte, sondern um eine Protokollnotiz beziehungsweise eine nicht abgestimmte Tagungsdokumentation. Für die Kontroverse um den Stellenwert politischer Partizipation in politischen Lernprozessen ist besonders der dritte Satz des „Beutelsbacher Konsens“ bedeutsam. Hier steht die Interessenlage des Individuums im Fokus. Es wird auch betont, dass die Schüler*innen befähigt werden sollen, sich für die Verwirklichung ihrer Interessen einzusetzen. Der dritte Satz beschränkt das Wirkungsfeld aber auf die Vermittlung von Wissen über Handlungsstrategien, schließt die Befähigung zur Partizipation ein, die Begleitung von politischer Partizipation aber eher aus. Der Politikdidaktiker Frank Nonnenmacher, der mit seiner Arbeit „Politisches Handeln von Schülern. Eine Untersuchung zur Einlösbarkeit eines Postulats der Politischen Bildung“ dafür plädiert politisches Lernen und Handeln sinnvoll zu verknüpfen (Nonnenmacher 1984, 114) hält den dritten Satz des „Beutelsbacher Konsenses“ für problematisch. Er sieht in der Anerkennung dieser Grundsätze durch Rolf Schmiederer in seiner späteren Arbeit eine Rücknahme der Zielorientierung seiner Didaktik:

Als ebenfalls problembehaftet sehe ich den dritten Grundsatz. Er betont das „Interesse“ der Schülerinnen und Schüler. Vermutlich war dies der Grund, warum Rolf Schmiederer sich in diesem Beutelsbacher Konsens wiedergefunden hat, hat er doch sein stark gesellschaftskritisches Konzept von 1971 mit seinem zweiten großen Werk relativiert und es „Politische Bildung im Interesse der Schüler“ benannt. Er hat darin seine normative Orientierung an seiner Zielorientierung „Demokratisierung und Emanzipation“ teilweise zurückgenommen und eine gemäßigtere Position bezogen. (Nonnenmacher 2011, 89)

Benedikt Widmaier sieht ein anderes Problem in Bezug auf den dritten Satz des „Beutelsbacher Konsens‘“. Für ihn wird der damit verbundene Anspruch der politischen Bildung, dass Schüler*innen lernen die politische Lage entsprechend ihrer Fähigkeiten zu beeinflussen, bis heute nicht erfüllt (Widmaier 2013, 48 f.).

Es bleibt aber zu konstatieren, dass es mit dem „Beutelsbacher Konsens“ über die Jahre gelang, die Konflikte im Feld der politischen Bildung zunächst weitgehend zu befrieden. Die Diskussion um den partizipativen Charakter politischer Bildung wurde erst Anfang der 1990er-Jahre mit den Arbeiten von Heinz Klippert (1991, 1996) wieder intensiviert. Handlungsorientierten Politikunterricht hat Klippert in drei Ebenen unterteilt: reales, simulatives und produktives Handeln (Klippert 1991, 12 ff.). Das simulative Handeln impliziert Rollen-, Plan- und Konferenzspiele, aber auch Pro- und Contra-Diskussionen. Mit produktivem Gestalten meint Klippert das Entwickeln von Tabellen und Schaubildern, von Ausstellungen und eigenen Arbeitsblättern, das Produzieren von Reportagen oder das Halten von Vorträgen. All diese Elemente handlungsorientierter politischer Bildung sind heute selbstverständlicher Bestandteil des Unterrichts, der sich nicht mehr ausschließlich auf ein belehrendes Verständnis institutionenkundlicher Bildung reduziert. Für die vorliegende Studie sind aber vor allem Klipperts Überlegungen zu realen politischen Handlungserfahrungen von Bedeutung. Darunter fasst Klippert Straßeninterviews, Fallstudien und Praktika, aber eben auch die Wahl der Schüler*innenvertretung, das Engagement in der Schülerzeitung und Aktivitäten in Projektinitiativen. Es sind erste Ansätze der Integration real-politischer Partizipationserfahrungen in den Politikunterricht. Klippert meint damit Handeln „innerhalb wie außerhalb der Schule, das über den Klassenraum hinausweist und den Schülern Gelegenheit gibt, die politische Realität ansatzweise zu erforschen […] und /oder demokratische Prozesse konkret zu erleben und mitzugestalten“ (Klippert 1991, 12). Der Schwerpunkt der didaktischen Arbeit von Heinz Klippert lag auf einer handlungsorientierten politischen Bildung, die Schüler*innen in Planung, Gestaltung und Umsetzung des Unterrichts aktiv einbindet (Klippert 1996). Das war in den 1990er-Jahren ein neuer Ansatz politischer Bildung, der bis heute nachwirkt. Dennoch: Politische Selbstorganisation der Schüler*innen als Bildungsgelegenheit hat Klippert in seinen Arbeiten nicht hervorgehoben.

Fahrt hat die Diskussion um Partizipation als Bildungsziel erneut Anfang der 2000er Jahre mit den von Joachim Detjen (2000) und weiteren Politikdidaktiker*innen (siehe u. a. Breit/Massing 2002) eingeführten Überlegungen zu Bürgerleitbildern. Mit „reflektierten Zuschauer*innen“, „interventionsfähigen Bürger*innen“ oder „Aktivbürger*innen“ wurden drei mögliche Leitbilder formuliert, verbunden mit der Frage, welcher Kompetenzen es bedürfe, um einem dieser Leitbilder zu entsprechen. Kerstin Pohl stellt dafür einen Rückbezug zu den hier eingangs beschriebenen demokratietheoretischen Grundannahmen einer politischen Bildung für die repräsentative bzw. die partizipative Demokratie her:

Anhänger/-innen der repräsentativen Demokratie setzen vor allem auf die Vermittlung von politischem Wissen. Anhänger/-innen der partizipativen Demokratie sind hingegen der Meinung, politische Bildung müsse auch kommunikative und strategische Fähigkeiten fördern, und ihre Adressatinnen und Adressaten zum Engagement motivieren. Hier deutet sich an, dass die demokratietheoretischen Vorstellungen auch Konsequenzen für die Wahl der Inhalte und Methoden der politischen Bildung haben: Interventionsfähige Bürger/-innen und vor allem Aktivbürger/-innen müssen lernen, auf welche Art und Weise sie sich politisch engagieren können. Für die Ausbildung der notwendigen Kompetenzen zum Mitmachen eignen sich handlungsorientierte Methoden, wie zum Beispiel Planspiele, durch die kommunikative und strategische Fähigkeiten gefördert werden. (Pohl 2019b)

In der Politikdidaktik besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass keines dieser Leitbilder vorgegeben werden solle. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die politische Bildung für Schüler*innen überhaupt Lernanlässe und (Frei)Räume dafür schafft, sich als Aktivbürger*in zu verstehen und dieses demokratische Selbstverständnis auch reflektieren zu können. Genau hier gibt es nach wie vor eine Leerstelle im Feld der politischen Bildung.

Im „Handbuch kritische politische Bildung“ (Lösch/Thimmel 2010) hat Frank Nonnenmacher (2010) in seinem Aufsatz „Analyse, Kritik und Engagement – Möglichkeiten und Grenzen schulischen Unterrichts“ bereits darauf hingewiesen, dass eine Debatte über den Stellenwert realer politischer Partizipationserfahrungen in der Politikdidaktik „kaum mehr existent“ (Nonnenmacher 2010, 466) sei.

Ein wichtiger Grund für dieses Faktum liegt in der Tatsache, dass in der Folge der sich exponierenden wissenschaftlichen und politischen Kontroversen, die in den 1970er Jahren in der Politikdidaktik geführt und die durch den Beutelsbacher Konsens pazifiziert wurden, das politische Handeln im engeren Sinne […] von vornherein in den Verdacht gestellt wurde und wird, dem bloßen Aktionismus […] Vorschub zu leisten. (Nonnenmacher 2010, 466 f.)

Die Diskussion um den Stellenwert realen politischen Handelns für die politische Bildung erhielt mit der Diskussion um die Bürgerleitbilder und fast zeitgleich mit der Veröffentlichung des „Handbuchs kritische politische Bildung“ (Lösch/Thimmel 2010) neue Impulse. Auch die Tagung „Politische Bildung und politische Aktion“, die 2010 in der Akademie für politische und soziale Bildung „Haus am Maiberg“ realisiert wurde, sowie der im Kontext der Tagung entstandene Sammelband „Partizipation als Bildungsziel“ (Widmaier/Nonnenmacher 2011) entfachten eine neue Debatte über die Notwendigkeit, politisches Handeln pädagogisch zu begleiten. Geprägt war diese Debatte von einer kritischen Rezeption des „Beutelsbacher Konsens“. Vor allem aus dem Feld der sich etablierenden kritischen politischen Bildung wurden Stimmen lauter, die eine Erweiterung des „Beutelsbacher Konsens“ forderten. Kritisiert wird dabei vor allem die Unbestimmtheit der drei Leitsätze. Andreas Eis erklärt, dass der „Beutelsbacher Konsens“ in dieser Form kein „fachliches Selbstverständnis“ (Eis 2016, 132 f.) sein könne, da diese drei Aspekte für ein demokratisch verfasstes Bildungs- und Wissenschaftssystem ohnehin vorauszusetzen seien. Die weitgehende Unbestimmtheit dieser drei Prinzipien führe nach Bettina Lösch außerdem dazu, dass „Urteilsbildung meist ein einfacher Meinungsaustausch ist […], und die Handlungskompetenz, wenn überhaupt eine Verhaltenskompetenz umfasst. Die Schüler sollen lernen, sich demokratisch zu ‚verhalten‘ (behave).“ (Lösch u. a. 2019, 18). Mit politisch Handeln habe diese Handlungskompetenz wenig zu tun. Die Tatsache, dass für die politische Bildung das Überwältigungsverbot, das Multiperspektivitätsgebot und die Befähigung zu selbstbestimmter Interessensanalyse von jungen Menschen als Selbstverständlichkeit angesehen werden, reichte demnach nicht aus. Innerhalb der Profession bestand daher für viele Akteur*innen das Bedürfnis, ausgehend vom „Beutelsbacher Konsens“ die Anforderungen an gelingende politische Bildung weiterzuentwickeln. Eine Gruppe von Forscher*innen und Praktiker*innen aus dem Feld der politischen Bildung hat daher immer wieder in verschiedenen Kontexten mögliche Zugänge für eine Weiterentwicklung des „Beutelsbacher Konsens‘“ diskutiert. Das Ergebnis wird mit sechs zentralen Aspekten in der „Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung“ (Eis/Lösch u. a. 2015) zusammengefasst. Dabei handelt es sich um den Versuch, der Unbestimmtheit des „Beutelsbacher Konsens“ entgegenzuwirken und Klarheit über die Prinzipien gelingender kritisch-emanzipatorischer politischer Bildung zu schaffen. Die Frankfurter Erklärung führt die folgenden sechs Grundprinzipien auf:

  1. 1.

    Krisen: Eine an der Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse interessierte Politische Bildung stellt sich den Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit.

  2. 2.

    Kontroversität: Politische Bildung in einer Demokratie bedeutet, Konflikte und Dissens sichtbar zu machen und um Alternativen zu streiten.

  3. 3.

    Machtkritik: Selbstbestimmtes Denken und Handeln wird durch Abhängigkeiten und sich überlagernde soziale Ungleichheiten beschränkt. Diese Macht- und Herrschaftsverhältnisse gilt es, wahrzunehmen und zu analysieren.

  4. 4.

    Reflexivität: Politische Bildung ist selbst Teil des Politischen, Lernverhältnisse sind nicht herrschaftsfrei, Politische Bildung legt diese Einbindung offen.

  5. 5.

    Ermutigung: Politische Bildung schafft eine ermutigende Lernumgebung, in der Macht- und Ohnmachtserfahrungen thematisiert und hinterfragt werden.

  6. 6.

    Veränderung: Politische Bildung eröffnet Wege, die Gesellschaft individuell und kollektiv handelnd zu verändern.

(Eis/Lösch u. a. 2015)

Hervorzuheben ist hier unter anderem die Dimension der Reflexivität. Die Autor*innen machen darauf aufmerksam, dass eine Befähigung zu kritisch reflektierter Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen auch dazu führt, dass die Adressat*innen (beispielsweise Schüler*innen) von politischer Bildung den politischen Lernprozess (beispielsweise den Politikunterricht) reflektieren und damit auch die Rolle der politischen Bildner*innen. Der sechste Grundsatz ist für die hier skizzierte Kontroverse im Feld der politischen Bildung allerdings noch bedeutsamer. Er schließt an den dritten Satz des „Beutelsbacher Konsens“ an, geht aber deutlich weiter. So heißt es in der Erklärung:

Politische Bildung eröffnet allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Räume und Erfahrungen, durch die sie sich Politik als gesellschaftliches Handlungsfeld aneignen können. Sie ermöglicht Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen, um Wege zu finden, das Bestehende nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern. Im Handeln entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu begründen. (Eis/Lösch u. a. 2015)

Dieser Zugang steht in einem deutlichen Widerspruch zur Haltung, die unter anderem Joachim Detjen vertritt, wenn er betont, dass sich die Schule nicht als Ort direkter politischen Aktion eigne (Detjen 2012, 235). Dies offenbart, dass die Kontroverse auch nach über 50 Jahre weiterhin für Widerspruch sorgt. Es besteht noch immer Klärungs- und damit verbunden auch Forschungsbedarf (Pohl 2019a). Dies ist innerhalb der Disziplin unbestritten. Und auch aus diesem Grund stand der vorletzte Bundeskongress Politische Bildung, veranstaltet von der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB), dem Bundesausschuss Politische Bildung (bap) und der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) unter dem Motto: „Zeitalter der Partizipation“. In dem Vorwort zum gleichnamigen Tagungsband (Harles/Lange 2015) heißt es:

Eine demokratische Gesellschaft ist auf die Partizipation engagierter Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Das Eintreten für demokratische Werte, die Bereitschaft, zu umstrittenen Fragen selbst Stellung zu beziehen, und die Übernahme von gesellschaftspolitischer Verantwortung sind nicht naturgegeben. Jede Generation politisiert sich aufs Neue. Politische Bildung begleitet diesen Prozess und qualifiziert zur politischen Partizipation in Staat und Zivilgesellschaft. (Harles/Lange 2015, 7)

Wenn Schule und die politische Bildung diesem Anspruch gerecht werden und den Prozess der Politisierung begleiten wollen, muss sich Schule als ein „genuin politischer Ort“ (Hedtke 2015, 125 f.) verstehen. Vor allem aber darf das Qualifizieren zum Partizipieren nicht darauf beschränkt bleiben, dass Schüler*innen Wissen über die Vielfalt politischer Partizipationsformen vermittelt bekommen. Politisches Handeln und damit auch der politische Konflikt müssen real erfahrbar gemacht werden. Dies kann nicht gelingen, wenn die Qualifizierung zur Teilhabe nur bedeutet, Schüler*innen „funktionalistisch zur formalen Teilhabe an bestehenden Strukturen“ (Lösch 2010, 120) zu befähigen. Damit sind auch konventionelle Partizipationsangebote in der Schule gemeint. Die Mitwirkung in der Interessenvertretung der Schüler*innen – zumeist ohne allgemeinpolitisches Mandat und häufig durch Lehrkräfte und Schulleitung instrumentalisiert – führt eher zu Frustrationserfahrungen. Mit derartigen „pseudopartizipatorischen Alibiveranstaltungen lassen sich nämlich auch Kinder nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Alltagswelt heteronom von Erwachsenen, von Pädagog_innen und von politischen Institutionen bestimmt wird.“ (Eis/Rößler u. a. 2015, 155)

Was ist aber nun – um die Ausgangsfrage abschließend erneut aufzugreifen – wenn die Analyse politischer, ökonomischer oder gesellschaftlicher Verhältnisse bei Schüler*innen den Wunsch weckt, selbst durch politische Aktionen Einfluss zu nehmen? Während der Politikdidaktiker Joachim Detjen (2012, 235) sich klar dagegen ausspricht, dass die Schule und politische Bildner*innen hierfür auch im schulischen Kontext Freiräume schaffen sollten, plädieren unter anderem Benedikt Widmaier (2015), Frank Nonnenmacher (2010 & 2011) und Alexander Wohnig (2020b) für mehr Offenheit. Nonnenmacher empfiehlt, selbstbestimmtes politisches Handeln von Schüler*innen zu ermöglichen, knüpft dies aber an drei grundlegende Bedingungen, damit politische Aktionen auch politische Lernanlässe schaffen. Vor der politischen Aktion muss eine möglichst umfängliche Sachanalyse vorangestellt werden, die Teilnahme muss freiwillig sein und die Aktionen müssen mit größtmöglicher Öffentlichkeit realisiert werden, um ihre Bedeutung für den öffentlichen politischen Diskurs hervorzuheben und ein Klima der Diskursivität zu schaffen (Nonnenmacher 2010, 467). Maria Grüning ist überzeugt, dass es dafür die Kooperation schulischer und außerschulischer politischer Bildung brauche. Nur dann könne politische Partizipation als Bildungsziel tatsächlich in den Blick genommen werden (Grüning 2020, 186). Alexander Wohnig weist darauf hin, dass im Zuge der Begleitung politischer Aktionen auch eine Kooperation von Schule und außerschulischer politischer Bildung sinnvoll und wirkungsvoll sei (Wohnig 2018a, 2020a). Die Politikdidaktikerin Kerstin Pohl führt darüber hinaus an, dass „nur der spezifische pädagogische Rahmen von Bildungsmaßnahmen die Chance zur intensiven und qualifizierten Reflexion von Erfahrungen politischen Handelns eröffnet, die von der politischen Praxis selbst nicht unbedingt geboten wird“ (Pohl 2019a).

Trotz der Uneinigkeit innerhalb des Feldes besteht ein Konsens darin, dass sich Bildungsgelegenheiten in simulierten Handlungssettings und realen Partizipationsmomenten unterscheiden. Hermann Giesecke, der durchaus für ein dialektisches Verhältnis von politischem Lernen und politischer Aktion plädierte, spitze dies in den 1970er-Jahren zu und sagte, dass „die Situation der politischen Aktion eine extrem schlechte Lernsituation“ sei und „umgekehrt das didaktisch organisierte Lernfeld eine extrem schlechte politische Handlungssituation“ (Giesecke 1971, 21). Darauf aufbauend stellte die Politikdidaktikerin Sibylle Reinhardt die Probleme gegenüber, die ihrer Meinung nach mit Bildungserfahrungen in didaktischen Lernsituationen und Erfahrungsräumen politischer Bildung in Aktionen und Bewegungen verbunden seien. Didaktische Lernsettings seien demnach weniger handlungsorientiert, hätten einen geringeren Lebens- und Subjektbezug, seien zu systematisch, zu sach-/ gegenstandsorientiert und zu langweilig. Politische Aktionen und Bewegungen würden hingegen die Perspektive auf die eigene Gruppe reduzieren, Sachkompetenz vernachlässigen, wenig Anreiz zur Mühe intellektuellen Arbeitens schaffen und seien zu kurzatmig (Reinhardt 2014, 278). Wenngleich diese Gegenüberstellung eingängig erscheint, so ist sie an dieser Stelle empirisch nicht belegt. Vor allem die These, dass im Kontext des selbstbestimmten politischen Engagements die Offenheit für vielfältige Perspektiven fehle und es wenig Anreiz für eine mühevolle intellektuelle Auseinandersetzung mit den Konflikten und Problemlagen des jeweils ausgewählten Themenfeldes gibt, gilt es zu prüfen und ist auch zentraler Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. In jedem Fall kommen sowohl Hermann Giesecke als auch Sibylle Reinhardt zu dem Schluss, dass sich die Bildungserfahrungen und Lernanlässe aus dem realen politischen Handeln und dem Politikunterricht verbinden ließen und dies auch anzuraten sei. „Kein Lernort kann den anderen ersetzen, sondern Kooperation und Kompensation sind nötig.“ (Reinhardt 2014, 278).

Eine Demokratie braucht Menschen, die politisch handeln. Das ist auch im Feld der politischen Bildung unbestritten, genauso wie die Betonung der Aufgabe von politischer Bildung, Handlungskompetenz zu entwickeln. Doch wie dies gelingen soll, kann kaum unterschiedlicher interpretiert werden. Die Kontroverse über die Bedeutung realer politischer Handlungserfahrungen besteht nach wie vor. Zu dieser wichtigen Debatte soll die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten. Denn die Argumentation stützt sich zumeist nach wie vor auf theoretische Überlegungen. Die wenigen empirischen Untersuchungen sind oftmals quantitativ angelegt, ihnen fehlt es damit an dem notwendigen explorativen Charakter. Qualitative Forschung in dem Feld hat bislang zumeist soziales Engagement fokussiert. Grundlage für die Rekonstruktion von (Selbst)Bildungserfahrungen sind daher für die vorliegende Untersuchung explizit die Erfahrungsberichte von Jugendlichen, die sich selbstbestimmt und selbstorganisiert politisch engagieren.

Politische Bildung in politischer Aktion kann dabei in verschiedenen Dimensionen identifiziert werden. Ingrid Miethe und Silke Roth schlagen für Bildung in sozialen Bewegungen vor, dass Bildung als Gegenstand sowie als kollektiver und individueller Prozess in den Blick genommen wird. Außerdem verweisen sie auf die Bewegung als lernende Organisation (Miethe/Roth 2016). Neben den Kategorien politischer Bildung wie analytisches Denken, Urteilsbildung, Kritik-, Konflikt und Handlungsfähigkeit dienen auch diese Kategorien der Strukturierung der Erfahrungsberichte in politischer Selbstorganisation der interviewten Jugendlichen.

Zunächst gilt es aber das Forschungsfeld und das Forschungsdesign der vorliegenden empirischen Untersuchung vorzustellen.