1.1 Problembeschreibung

Politische Bildung ist Unterrichtsfach, Unterrichtsprinzip, Querschnittsaufgabe der schulischen und außerschulischen Bildung, Bildungsauftrag und wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie, denn „Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – früh, im Kindergarten, aber auch im hohen Alter“ (Negt 2018, 21). Damit meint der Soziologe Oskar Negt nicht, oder zumindest nicht nur das bestehende politische System, die parlamentarische Demokratie mit all ihren Facetten. Negt betont Demokratie vielmehr als Lebensform ohne dabei den Begriff zu entpolitisieren. Im Gegenteil er fordert eine Demokratisierung aller Lebensbereiche (Negt 2010, 514 ff.) und meint damit vor allem konsequente Mitbestimmungsmöglichkeiten, die weit über die systemischen Möglichkeiten der repräsentativen Demokratie bspw. über Wahlen hinausgehen. Der Begriff Demokratie steht in diesem Verständnis vielmehr für die Überzeugung, dass das gesellschaftliche und politische Zusammenleben auf den Prinzipien der Grund- und Menschenrechte basiert und geprägt ist von einem fortwährenden Prozess der Weiterentwicklung, die auf Demokratisierung und demnach auf politischer Partizipation aufbaut. Das Demokratische als unhintergehbarer Kern ist Ausgangspunkt für Gesellschaft, Politik und alle Bildungsbemühungen, die auf diesem Fundament aufbauen. Politische Bildung setzt sich, in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, Formen und Formaten, in formalen, non-formalen und informellen Bildungskontexten dafür ein, dass auf Grundlage dieser Überzeugung alle Menschen dazu befähigt werden, Demokratie als politisches System zu verstehen, politische und ökonomische Zusammenhänge zu erkennen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu analysieren und zu hinterfragen und damit auch Demokratie, als politisches System, in ihrer Vielfalt kritisch zu reflektieren – auch mit dem Ziel, sie bei Bedarf (aktiv) weiterzuentwickeln. Demokratie lebt davon, denn neben dem auf Grund- und Menschenrechten basierenden gesellschaftlichen Selbstverständnis auf der einen Seite und den vielfältigen Strukturen des politischen Systems auf der anderen Seite zeichnet sich Demokratie drittens auch dadurch aus, dass sie nicht statisch ist. Demokratie ist lebendig, Gesetze und politische Strukturen sind nicht zementiert. Als Demokratisierung lässt sich dieses prozesshafte Element einer demokratischen und politischen Zivilgesellschaft bezeichnen. Sie ist geprägt von der Ermöglichung von Freiräumen, unter anderem zur Teilhabe über Verbände, Gewerkschaften und Vereine, aber auch als Einzelpersonen oder selbstorganisierte Gruppen. Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen dabei immer hinterfragbar und veränderbar sein.

Moritz Peter Haarmann, Dirk Lange und ich haben in einem gemeinsamen Aufsatz vorgeschlagen Demokratie in drei unterschiedliche Ebenen zu unterteilen: das Demokratische als gesellschaftliches Selbstverständnis (1), die Demokratie als politisches System (2) und die Demokratisierung als partizipative Kraft und kontinuierlicher Prozess (3) (Haarmann u. a. 2020). Politische Bildung verfolgt das Ziel, diese drei Ebenen der Demokratie zu berücksichtigen und auf unterschiedlichen Wegen Menschen zu befähigen, sie zu sichern, zu begleiten, zu fördern und zu entwickeln. Die vorliegende Arbeit widmet sich dabei vor allem der dritten Ebene, der Demokratisierung. An der Notwendigkeit eines gemeinsamen Verständnisses grundlegender Werte besteht in der politischen Bildung kein Zweifel. Basierend auf dem Konzept der Menschenrechte und den Werten des Grundgesetzes, verankert in den Grundrechten, ist politische Bildung grundsätzlich daher normativ, wobei damit keine Werteerziehung im affirmativen Sinne gemeint ist, sondern eher eine indirekte Auseinandersetzung mit Werten, Ethik und Moral über die Reflexion derselben am Beispiel konflikthafter gesellschaftspolitischer Fragen (Overwien 2017). Über ein kritisch-emanzipatorisches Bildungsverständnis gilt es die Fragen des Wertefundamentes zu entwickeln.

Wenngleich bezüglich der Methoden und Zugänge durchaus Kontroversen vorherrschen, so ist auch die Bedeutung des politischen Wissens über die Demokratie als System unstrittig, genauso wie die Notwendigkeit analytische Fähigkeiten zu stärken und die politische Urteilskraft zu entwickeln. Doch welche Rolle die politische Bildung im Feld der Handlungsfähigkeit der Menschen einnimmt, wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Insbesondere in Bezug auf formale politische Bildungssettings wie Schule oder Unterricht steht im politikdidaktischen Diskurs zur Disposition, welches Potential in realen politischen Handlungserfahrungen für politische Bildungsprozesse steckt.

Die zentralen Fragen dieser Kontroverse sind dabei, ob Partizipation ein Ziel politischer Bildung sei und inwiefern sie als Lernanlass fruchtbar gemacht werden könne (u. a. Pohl 2015, 2019a; Wohnig 2018b, 2020b; Kenner 2016, 2018; Harles/Lange 2015; Klatt 2012; Widmaier/Nonnenmacher 2011; Nonnenmacher 2010). Der Streit um diese Fragen ist dabei allerdings alles andere als neu. Die Arbeit Rolf Schmiederers (1971) „Zur Kritik der politischen Bildung“ und der ebenfalls 1971 erschienene Sammelband „Politische Aktion und politisches Lernen“, herausgegeben von Hermann Giesecke, Dieter Baacke, Hermann Glaser, Theodor Ebert, Gernot Jochheim und Peter Brückner (1971), sind bis heute, 50 Jahre nach Erscheinen, in den politikdidaktischen Diskursen sichtbar. Wenngleich die sozialwissenschaftliche Forschung vielfältige Dimensionen des Partizipationsbegriffs – im weiteren Verlauf werden diese genauer beschrieben – hervorhebt, so gilt für die vorliegende Arbeit, dass politische Aktion als ein Handeln verstanden wird, das auf (partielle) Veränderung bestehender politischer Verhältnisse abzielt. Politische Aktion geht damit über soziales Verhalten hinaus. Diese Form politischer Partizipation als Bildungsziel wird in Teilen des politikdidaktischen Diskurses skeptisch betrachtet. Schulisches Lernen und insbesondere Politikunterricht werden vielmehr ausschließlich als Lernraum für die notwendigen Instrumentarien bzw. kognitiven Möglichkeiten verstanden, die späteres politisches Handeln ermöglichen (Detjen 2012, 235). Die Befähigung zur politischen Handlung stellt demnach unbestritten ein Ziel politischer Bildung dar. Politische Partizipation aber selbst als wertvollen Anlass für Bildungserfahrungen zu begreifen, ist keine Selbstverständlichkeit im Feld der politischen Bildung. Begründet wird diese Haltung zumeist mit dem ersten Prinzip des „Beutelsbacher Konsens“ (u. a. Hufer 2013a; Scherb 2017; Wehling 1977), dem Überwältigungsverbot. Befürchtet wird, dass reale politische Partizipationserfahrungen zu dem Phänomen der Überwältigung von Schüler*innen führe (u. a. Oberle 2013 & Detjen 2012). Der Politikdidaktiker Frank Nonnenmacher sieht in dieser Auslegung des „Beutelsbacher Konsens“ die Ursache, für die in der Politikdidaktik vermeintlich beendete, jedoch bis heute notwendige Diskussion über die Förderung politischer Teilhabe durch den Politikunterricht (Nonnenmacher 2010, 466). Im Kontext dieser Erfahrbarmachung politischer Bildung schließt sich die in der Didaktik der politischen Bildung geführte Diskussion über soziales und politisches Lernen an (u. a. Wohnig 2015, 2017 & Reinhardt 2011, 2013).

Neben einem Beitrag zur politikdidaktischen Kontroverse schließt die vorliegende Studie auch an den zahlreichen Studien der Bildungssoziologie und Jugendforschung zum Verhältnis von Jugend und Politik sowie zur politischen Teilhabe Heranwachsender an, wie beispielsweise den Shell-Jugendstudien (aktuell: Albert u. a. 2019), der FES-Jugendstudie „jung – politisch – aktiv“ (Gaiser u. a. 2016), den Untersuchungen zum Verhältnis von politischem Interesse und politischer Bildung (Lange/Onken/Slopinski 2013) sowie von politischem Wissen und politischer Partizipation (Weißeno/Landwehr 2017, 2018), den DJI-Jugendsurveys (Gille 2006) und Studien wie „Unpolitische Jugend?“ (Helsper u. a. 2006) und „Politische Partizipation in Deutschland“ (Kornelius/Roth 2004). Diese Studien haben vorrangig Faktoren wie Geschlecht, Bildungsgrad, Peergroup, Familie, politisches Interesse und politisches Wissen untersucht. Wenngleich vielfältige qualitative und quantitative Untersuchungen das Verhältnis von Jugend und Politik sowie die Partizipationsbereitschaft und Partizipationserfahrungen aufgreifen, so stellt die Forschung auf Grundlage der Rekonstruktion individueller Partizipationserfahrung nach wie vor ein Forschungsdesiderat dar. Die empirische Forschung zur Entwicklung politischer Partizipationsfähigkeit stecke noch „in den Kinderschuhen“, konstatiert Kerstin Pohl (2019a) im Online-Dossier Politische Bildung der Bundeszentrale für Politische Bildung und erklärt weiter:

[E]s gibt viele Hoffnungen, dass Partizipationserfahrungen die Motivation für weitere Partizipation erhöhen, aber es liegen wenig gesicherte Erkenntnisse dazu vor und die Ergebnisse der vorhandenen Studien sind widersprüchlich. (Pohl 2019a)

Vor allem in Bezug auf qualitative, explorative Forschung gibt es einen erhöhten Forschungsbedarf. Zu selten werden noch immer die Perspektiven und Erfahrungen der Betroffenen, der Kinder und Jugendlichen, in den Fokus gerückt. Hervorzuheben sind hier unter anderem Arbeiten wie die Studie „Beteiligt sein. Partizipation aus Sicht von Jugendlichen“ von Sonja Moser (2010) und die Studie „Zum Verhältnis von sozialem und politischem Lernen“ von Alexander Wohnig (2017). Beide haben unter anderem auf Grundlage qualitativer Inhaltsanalysen von Einzelinterviews oder Gruppengesprächen mit Jugendlichen ihre Partizipationserfahrungen analysiert und rekonstruiert. Allerdings orientierten sich beide Arbeiten eher an Erfahrungen des sozialen Engagements. Im Fokus der vorliegenden Studie liegt ebenfalls die subjektorientierte Analyse und Rekonstruktion von Handlungs- und Bildungserfahrungen, wobei hier die Erfahrungen im Kontext von explizit selbstbestimmter und selbstorganisierter politischer Aktion in den Blick genommen wird. Dafür gilt es, zunächst den Begriff der politischen Aktion auf Grundlage sozialwissenschaftlicher Bezüge einzuordnen. Besonders hervorzuheben ist für das geplante Forschungsvorhaben aber auch die Bedeutung von politischer Bildung als nachhaltig prägendes Element für die Partizipationsbereitschaft und die tatsächliche politische Teilhabe Jugendlicher und junger Erwachsener. Für das Forschungsvorhaben wird vor allem an die Vorstellungen der subjektiven Entwicklungen politischer Konzepte angeknüpft, wobei für die Untersuchung bezüglich der Konzepte politischer Bildung keine standardisierten Vorgaben gemacht werden. Vielmehr wird durch die offene Befragung der Heranwachsenden eine differenzierte Analyse der individuellen Konzepte und der politischen (Selbst)Bildung ermöglicht.

Als zentrale Aufgabe der Forschung zur politischen Bildung ist die Entwicklung des Bürgerbewusstseins (Lange 2005, 2008a, 2008b) hervorzuheben. Es handelt sich dabei um jenes sinnstiftende Element politischer Bildung, das eine Interpretation politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge ermöglicht, um daraus individuelles politisches Handeln ableiten zu können (Lange/Onken/Slopinski 2013, 22). Es ist jenes Bürgerbewusstsein, das Voraussetzung ist für das über die politische Bildung hinausgehende Ziel der Erziehung zur Mündigkeit (Henkenborg 2014, 214), weil die politische Bildung an den tatsächlich bestehenden Denkmustern der Schüler*innen ansetzt. Allerdings soll die geplante Studie einen Schritt weitergehen und Erkenntnisse darüber ableiten, ob und wie reale politische Aktionen Bildungsprozesse anregen und befördern.

Im Zentrum stehen daher für die vorliegende Untersuchung Erfahrungsberichte von Schüler*innen, die sich dafür entweder Freiräume in der Schule erstritten haben, beispielsweise durch die Gründung selbstverwalteter politischer Arbeitsgemeinschaften und Initiativen, oder die sich außerhalb der Schule Freiräume für unkonventionelle nicht-strukturierte Partizipationsformen geschaffen haben. Das politische Handeln der interviewten Jugendlichen ist geprägt von Selbstbestimmung, Freiwilligkeit und Selbstorganisation. Anknüpfend an die individuellen Vorstellungen der Befragten steht die Analyse politischer Bildungsprozesse im Zuge der gewählten Aktionsformen im Fokus der Arbeit.

Mit der vorliegenden Studie soll demnach ein empirisch fundierter Beitrag zu der Kontroverse über die Bedeutung realer politischer Partizipation für politische Bildungsprozesse geleistet werden. Dafür wird der Versuch unternommen, unter Berücksichtigung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Diskurse, das Verhältnis von politischer Aktion und politischer Bildung nachzuzeichnen. Es wird dabei nicht der Anspruch verfolgt, alle Perspektiven gleichermaßen und vollumfänglich zu berücksichtigen, weil diese Kontroverse seit Jahrzehnten die politische Bildung nachhaltig prägt und der Anspruch auf Vollständigkeit nicht erfüllt werden kann. Dennoch: Die grundsätzlichen Denkrichtungen, kritischen Einwände, theoretischen Überlegungen und empirischen Befunde aus den sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen und der politikdidaktischen Forschung stellen die Grundlage für die vorliegende Arbeit dar und werden daher in ihren Grundzügen diskutiert.

Ziel des empirischen Teils dieser Arbeit ist es, darauf aufbauend den politischen Bildungsprozess der Befragten anhand ihrer Erfahrungsberichte zu rekonstruieren. Für diese Untersuchung ist das politische Wissen der Individuen nur eine von mehreren Dimensionen der politischen Bildung. Daneben werden vor allem politische Bildungserfahrungen in Bezug auf Kommunikationsstrukturen, Organisationswissen, Entscheidungsverfahren, analytisches Denken und die Ausprägung einer differenzierten Urteilskraft in den Blick genommen, genauso wie unmittelbare Erfahrungen politischen Handelns in Verbindung mit Konflikt- und Kritikfähigkeit.

1.2 Forschungsansatz, Kernfragen und Zielstellung

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel zu erforschen, welche Bildungsprozesse Kinder und Jugendliche vollziehen, wenn sie selbstbestimmt und selbstorganisiert individuell oder kollektiv für politische Ziele einstehen. Im Fokus stehen daher reale politische Handlungserfahrungen im Kontext politischer Aktionen. Wie sich diese Form politischer Partizipation von anderen Formen des Handelns, wie beispielsweise dem sozialen Engagement oder institutionalisierten und konventionelle Partizipationsformen unterscheidet wird in Abschnitt 2.1 ausführlich beschrieben. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Bildungsverständnis wird in Abschnitt 2.2 skizziert.

Mit der vorliegenden explorativen Studie werden politische Bildungsprozesse der interviewten Jugendlichen anhand ihrer Erfahrungsberichte aus der Mitwirkung in politischen Jugend- und Protestbewegungen rekonstruiert. Neben dem Zuwachs politischen Wissens werden politische Orientierungs- und Analysekompetenzen genauso in den Blick genommen wie Urteilsbildung, Kritik, Emanzipation und Konfliktfähigkeit sowie die kritisch reflektierte Auseinandersetzung mit manifestierten Macht- und Herrschaftsstrukturen – auch innerhalb der eigenen Gruppe. Die Arbeit schließt damit an die These von Bettina Lösch an, dass mit den unkonventionellen, teils neuen Formen politischer Partizipation auch „neue Formen und Gelegenheiten politischer Bildung“ (Lösch 2012, 21) entstehen.

In einem Pre-Test wurden Interviews mit Schüler*innen aus einer Großstadt geführt, die sich in einer Antirassismus-AG organisieren und im Jahr 2016 am Refugee Schul- und Unistreik partizipierten. In der Hauptuntersuchung wurde in einer ersten Phase auf Grundlage ethnographischer Zugänge das Sample festgelegt. Mehrere Dutzend Plenumssitzungen, Demonstrationen, Kundgebungen und Aktionen von Jugendpartizipationsbewegungen wurden dafür begleitet.

Anschließend wurden 17 leitfadengestützte Interviews in ganz Deutschland realisiert, von denen 13 einer mehrstufigen qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016; Mayring 2015), basierend auf den Prinzipien der Rekonstruktiven Sozialforschung (Bohnsack 2014), unterzogen wurden. Dabei wurden Kinder und Jugendliche aus urbanen und ländlichen Räumen, mit und ohne Migrationsbiographien und von verschiedenen Schultypen befragt. Die Interviews wurden vollständig transkribiert. Über diese Interviews wurde ein Zugang geschaffen zum subjektiven Bedeutungsempfinden der Befragten bezüglich politischer Bildung und ihrer individuellen Bildungserfahrungen in der politischen Aktion.

Die narrativen Elemente aus den Erfahrungsberichten dienen der Beantwortung der explorativen Fragestellung, inwiefern selbstbestimmte und selbstorganisierte politische Aktionen einen mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf politische Bildungsprozesse haben.

Das Kodierverfahren im Zuge der qualitativen Inhaltsanalyse ist dabei deduktiv vor allem von den Dimensionen der politischen Bildung geprägt, wie Orientierungs- und Analysefähigkeit, Perspektivenwahrnehmung, politische Urteilsbildung, Emanzipation und Kritik sowie Handlungskompetenz, die in der Politikdidaktik in den letzten Jahrzehnten kontrovers diskutiert wurden. Im Analyseprozess wurden diese Kategorien um weitere induktiv ermittelte Kategorien erweitert, wie beispielsweise Organisationswissen, Selbstwirksamkeit und Wir-Ihr-Konstruktionen.

Ziel der abschließenden Interpretation der Ergebnisse ist es, Erkenntnisse und Anregungen abzuleiten, die Rückschlüsse auf politische Bildungsprozesse in der politischen Aktion ermöglichen und damit Grundlage für die Entwicklung von Implikationen für schulische und außerschulische (Selbst)Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen sind. Aus der Gesamtschau werden Schlussfolgerungen abgeleitet, die einen Rahmen für eine (Re)Politisierung der politischen Bildung schaffen sollen, ohne dabei grundlegende Prinzipien dieser Disziplin wie das Multiperspektivitätsgebot oder das Überwältigungsverbot zu verletzen. Die Potentiale politischer Selbstorganisation und dabei ganz konkret selbstbestimmter politischer Aktionen als wertvolle Bildungserfahrungen sollen ergründet werden. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, inwiefern formale politische Bildung die Selbstbildungserfahrungen politisch aktiver Jugendlicher ergänzen und begleiten kann. Die Befragten fungierten in dem zweigeteilten Interview auch als Expert*innen, indem sie aus ihrem Erfahrungsschatz Stärken und Schwächen der politischen Jugendbildung nennen sowie Wünsche und Anforderungen an eine handlungsorientierte politische Bildung formulieren. Die Analyse dieser kritischen Reflektion eigener Erfahrungen mit formalen politischen Bildungssettings werden in den abschließend formulierten Implikationen für eine Schule als Lernort der Demokratie (Kenner/Lange 2019) und eine handlungsorientierte Didaktik der politischen Bildung berücksichtigt.

1.3 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs Hauptkapitel. Nach der Hinführung wird im zweiten Kapitel zunächst der Forschungsstand skizziert. Dafür werden theoretische und empirische Forschungsergebnisse aus den Sozialwissenschaften und der politischen Bildung systematisch zusammengestellt. Einleitend wird politische Aktion als Begriff aus fachwissenschaftlicher Perspektive eingeordnet (Abschnitt 2.1). Ausgehend von der Vielfalt und Dialektik des Partizipationsbegriffs werden empirische und theoretische Grundlagen zusammenfassend dargestellt. Darüber hinaus wird das Verhältnis von Jugend und Politik, basierend auf exemplarischen Erkenntnissen aus Jugendstudien, aufgearbeitet. Der nationale Diskurs wird dabei immer wieder auch gerahmt von einschlägigen internationalen Arbeiten zur politischen Partizipation und den citizen studies. Hierbei werden unter anderem die Arbeiten von Engin Isin und Greg Nielsen zu den acts of citizenship (Isin/Nielsen 2008a) berücksichtigt. Auf Grundlage politikwissenschaftlicher und soziologischer Theorien zu politischen Aktionen von Jugendlichen werden im weiteren Schritt (Abschnitt 2.2) politikdidaktische Dimensionen als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der (Selbst)Bildungserfahrungen der beforschten Jugendlichen eingeführt. Dieser Abschnitt der Arbeit dient auch zur Klärung des für die Untersuchung grundlegenden Bildungsverständnisses. Dabei werden folgende Ebenen unter Berücksichtigung kontroverser Diskurslinien im Feld der politischen Bildung berücksichtigt: Subjektorientierung und das politische Selbstkonzept (2.2.1), das Handwerkszeug für eine politische Mündigkeit (2.2.2) und Politische Partizipation als Erfahrungsraum informellen Lernens (2.2.3). Dabei wird der Frage nachgegangen, ob es richtiges politisches Wissen gibt und welche Bedeutung Fähigkeiten wie Analyse- und Orientierungskompetenz, Perspektivenwahrnehmung und -übernahme, politische Urteilsbildung, Emanzipation und Kritik sowie Urteilsbildung und -reflexion für Bildungsprozesse im Kontext realer politischer Handlungserfahrungen beigemessen wird. Darüber hinaus rückt die Handlungskompetenz als Ausdruck von Selbstbestimmung in den Fokus der fachdidaktischen Klärung. Neben den verschiedenen Dimensionen politischer Bildung, die den Ausgangspunkt für das im ersten Schritt deduktiv erstellte Kategoriensystem zur Auswertung der Interviews darstellen, werden im Abschnitt 2.3 „Zum Verhältnis von politischer Aktion und politischer Bildung“ auch explizit kontrovers diskutierte Fragen zu politischer Partizipation im Kontext Bildungserfahrungen aufgearbeitet. Dabei wird einleitend diskutiert, inwiefern – auch unter Berücksichtigung einer rechtlichen Verankerung – politische Bildung als grundsätzliches Bildungsziel verstanden werden kann. Es wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern ein vermeintliches Neutralitätsgebot zu einer Unvereinbarkeit von politischer Aktion und politischer Bildung führe. Abschließend wird die maßgebliche Kontroverse über die Frage nachgezeichnet, ob Partizipation das Ziel politischer Bildung sei.

Im dritten Kapitel werden Forschungsdesign und Forschungsfeld vorgestellt. Um höchstmögliche Transparenz im Forschungsverfahren sicherzustellen, wird zunächst eine Einordnung des Untersuchungskonzeptes nach den Gütekriterien der qualitativen Forschung (u. a. Flick 2019) vorgenommen (3.1). Anschließend wird das Forschungssample (3.2) vorgestellt und schließlich das methodische Vorgehen (3.3) skizziert.

Das vierte Kapitel widmet sich den Ergebnissen der Feldforschung. Einleitend (4.1) werden Vorstellungen und Denkmuster zu den Begriffen Politik und Demokratie exemplarisch aufgearbeitet, wobei diese nicht dazu dienen, im Sinne einer (politik)didaktischen Rekonstruktion (Vajen u. a. 2021; Heidemeyer/Lange 2010; Kattmann 2007) die subjektiven Vorstellungen mit fachwissenschaftlichen Konzepten abzugleichen. Vielmehr werden die Deutungsmuster als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des politischen Bildungsprozesses auf Grundlage der Erfahrungsberichte der Jugendlichen genutzt. Danach wird die Motivation der Kinder und Jugendlichen für ihr individuelles politisches Engagement beschrieben (4.2). Ab dem dritten Unterkapitel beginnt die systematische Auswertung der Erfahrungsberichte mit dem Ziel einer Rekonstruktion des individuellen und kollektiven politischen (Selbst)Bildungsprozesses. Analysefähigkeit und politische Orientierung (4.3.1) stellt die erste Kategorie für die Systematisierung des Materials dar. Darüber hinaus werden die individuellen Erfahrungsberichte daraufhin untersucht, inwiefern Perspektivenwahrnehmung (4.3.2) sowie Urteilsbildung und Kritik (4.3.3) als Kernelemente des Bildungsprozesses rekonstruiert werden können. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt auf der Entwicklung von Handlungskompetenzen, wobei insbesondere die Ausprägung von Konfliktfähigkeit in realen politischen Aushandlungsprozessen herausgehoben wird (4.3.4). Dabei wird untersucht, ob der (innere oder äußere) Konflikt als wertvoll wahrgenommen wird und inwiefern Strategien entwickelt werden, (politische) Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Darüber hinaus werden die sozialen und politischen Handlungserfahrungen kategorisiert. Hierbei werden beispielweise Unterkategorien wie legale und illegale Aktionsformen sowie die Reflexion der eigenen Handlungen unter Berücksichtigung ihrer Wirksamkeit und ihrer Legitimation unterschieden. Abschließend wird eine Agency-Analyse von individuellen und kollektiven Handlungserfahrungen durchgeführt (4.3.5), wobei insbesondere Frustrations- und Anerkennungserfahrungen (abschnitt 4.3.5.1), Wir-Ihr-Konstruktionen (4.3.5.2) und Selbstwirksamkeit (4.3.5.3) im Kontext realer politischer Handlungserfahrungen im Fokus stehen. In Abschnitt 4.4 werden die Ergebnisse der empirischen Forschung diskutiert und eingeordnet.

Aus den Ergebnissen des empirischen Teils der Studie und unter Berücksichtigung der fachwissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Perspektiven werden im fünften Kapitel Implikationen für das Feld der politischen Bildung und der demokratischen Schulentwicklung formuliert. Diese sollen dazu dienen, die Erkenntnisse aus der empirischen Datenerhebung und Auswertung für schulische und außerschulische politische Bildungsprozesse nutzbar zu machen, und Anregungen für die Entwicklung einer handlungsorientierten und emanzipatorischen politischen Bildung geben.

Im zusammenfassenden sechsten Kapitel wird ein Ausblick für die Entwicklung einer emanzipatorischen und partizipativen politischen Bildung formuliert.