Zusammenfassung
In der Theoriearchitektur der älteren Kritischen Theorie kommt der Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit – im Gegensatz zur zweiten Generation der Frankfurter Schule – keine tragende Rolle zu. Davon ausgehend rekonstruiert der Beitrag, wie das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in der klassischen Kritischen Theorie verstanden wurde. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Arbeiten zum Zusammenhang von Familien- und Gesellschaftsordnung sowie dem breiten Emanzipationsbegriff, der auf eine qualitative Veränderung von Produktions-, Lebens- und Subjektivierungsweisen zielt. Abschließend werden geschlechtertheoretische Anschlüsse dargestellt und es wird skizziert, welche weitergehenden Fragen sich mit Blick auf das Projekt der Entwicklung einer feministischen kritischen Gesellschaftstheorie stellen.
Abstract
In the critical social theory of first generation Frankfurt School theory and in contrast to second-generation critical theory, the conceptual distinction between private and public sphere did not play a major role. Taking this as a starting point, the paper reconstructs the first generation’s understanding of the relation between the private and the public. Particular attention is paid to the Frankfurt School’s analyses of the relation between family and social order as well as to its broad concept of emancipation that aims at a substantial transformation of relations of production, modes of living, and forms of subjectivation. The concluding section describes how German-speaking feminists took up ideas developed by the first generation of Frankfurt School theorists and outlines further research questions considering the project of a feminist critical social theory.
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Notes
- 1.
Als Kritische Theorie mit großem ‚K‘ wird im Folgenden stets der auch als ältere Frankfurter Schule bekannte Personenkreis bezeichnet. Nicht gemeint sind damit Theoretiker*innen wie Jürgen Habermas, Oskar Negt, Regina Becker-Schmidt oder Axel Honneth, die gewöhnlich späteren Generationen Kritischer Theorie zugerechnet werden.
- 2.
Zu Marcuse vgl. zusammenfassend Kill (1990), zu Horkheimer die Monografie von Rumpf (1989), zur Dialektik der Aufklärung stellvertretend für eine Vielzahl an Aufsätzen die Beiträge in den Sammelbänden von Kulke (1985) sowie Kulke und Scheich (1992). Für einen Überblick über die Rezeption der Geschlechterthematik in der älteren Kritischen Theorie mit weiteren Literaturhinweisen vgl. Umrath (2019, S. 31–58).
- 3.
- 4.
Zu den unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Perspektiven von Frauen- und Geschlechterforschung vgl. Maihofer (2006, S. 64–77).
- 5.
Ausführlich zu den Schriften zu Kulturindustrie vgl. Steinert ([1998] 2008). Wie Steinert betont, meint Kulturindustrie deutlich mehr als „die Medien“, nämlich einen „ziemlich umfassende[n] Organisations- und Herrschaftszusammenhang“ ([1998] 2008, S. 9). Dieser erstreckt sich über die Sphäre der Produktion beziehungsweise Lohnarbeit, die zumeist im Fokus marxistischer Analysen steht, hinaus auf den Bereich der sogenannten Freizeit und betrifft damit auch die Sphäre der Reproduktion der Arbeitskraft.
- 6.
- 7.
In der Marx'schen Tradition betrifft die Problematisierung erstens das Privateigentum an Produktionsmitteln. Aufgezeigt wird, dass dieses die gesellschaftliche Voraussetzung dafür bildet, dass trotz formalrechtlicher Gleichheit und Freiheit de facto nicht alle Menschen gleich (frei) sind: Für die einen bedeutet der frei von unmittelbarem Zwang geschlossene Arbeitsvertrag die Bedingung von Reichtum, für die anderen Ausbeutung. Zweitens wird die zwar arbeitsteilig, aber in Konkurrenz zueinander organisierte – und insofern privatisierte – Produktionsweise problematisiert, die vom Verwertungsimperativ getrieben ist und damit menschliche Bedürfnisse allenfalls als Mittel zum Zweck, aber nicht als Selbstzweck gelten lässt.
- 8.
Besonders deutlich wird dieses Verständnis von der bürgerlichen Gesellschaft als Herrschaftskomplex in der Dialektik der Aufklärung.
- 9.
Aus Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung ist anzumerken, dass die Auseinandersetzungen der heterosexuellen Kleinfamilie gelten, das heißt der damals mehr noch als heute hegemonialen Norm.
- 10.
Das Typoskript trägt den handschriftlich ergänzten Titel ‚Kollektivarbeit Familie‘. Thematisch einschlägige, entsprechend datierte Bibliographien aus den Nachlässen Max Horkheimers und Erich Fromms lassen vermuten, dass das Typoskript spätestens im Laufe des Jahres 1932 entstand.
- 11.
- 12.
Die thematische Bandbreite der von Schachtel berücksichtigten Rechtsnormen reicht von Fragen der Eheschließung und -scheidung bis hin zu Regelungen, die Kindererziehung, Einkommen, Vermögen, Berufswahl und Berufsausübung betreffen. Für eine ausführliche Darstellung der Analysen Schachtels vgl. Umrath (2019, S. 203–211).
- 13.
Dass letztere keineswegs konsequent vollzogen ist, betont Schachtel ausdrücklich (vgl. [1936] 1987, S. 604).
- 14.
Für eine ausführliche Darstellung der Beiträge Fromms vgl. Umrath (2019, S. 81–105, 221–239).
- 15.
Der Aspekt der (Selbst−)Stilisierung und Selbstaffirmation bürgerlicher Männlichkeit in Abgrenzung zu Weiblichkeit wird einige Jahrzehnte später von Andrea Maihofer in ihrem Verständnis von Geschlecht als bürgerlich-hegemonialem Diskurs und gesellschaftlich-kultureller Existenzweise hervorgehoben (vgl. 1995, S. 109–136).
- 16.
Zeitlich datiert wird dieser Umbruch auf den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Bezeichnung als Spätkapitalismus findet sich bei Adorno ([1969] 2003e).
- 17.
- 18.
Aufgegriffen werden damit Marx'sche Gedanken, die Marcuse in seinem Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie referiert (vgl. [1936] 1987, S. 216–217). Ganz ähnlich wie Horkheimer äußert sich Löwenthal zur Familie in der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. 1990, S. 310). Dass gesellschaftliche Emanzipation eine grundlegende Veränderung von Familienverhältnissen beinhalten müsste, wird auch von Adorno betont (vgl. [1951] 2003b, S. 32, [1955] 2003d, S. 309).
- 19.
In seiner zeitdiagnostischen These eines Zerfalls der Öffentlichkeit knüpft Habermas an die Kulturindustrie-Arbeiten der älteren Frankfurter Schule an, die im Rahmen dieses Beitrags nicht berücksichtigt werden konnten. Vgl. hierzu den Aufsatz von Günter Burkart im vorliegenden Band. Hingewiesen sei zudem darauf, dass der Begriff der Öffentlichkeit bei Oskar Negt und Alexander Kluge ([1972] 1978), zwei weiteren Theoretikern, die der sogenannten zweiten Generation der Frankfurter Schule zugerechnet werden, eine zentrale Rolle spielt.
- 20.
Was die Verbindung von Kapitalismuskritik mit einer Kritik der (monogam-patriarchalen) Familie betrifft, konnte die Kritische Theorie zudem an eine Traditionslinie anknüpfen, die sich bis in den Frühsozialismus Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Mithilfe der Freud’schen Psychoanalyse erweitert die Frankfurter Schule diese Kritikperspektive um subjekttheoretische Überlegungen.
- 21.
Mit ihrem Fokus auf Herrschaftsanalyse und –kritik unterscheidet sich die Frankfurter Schule beispielsweise von den Theorien George Herbert Meads und John Deweys, die Stephanie Bethmann in diesem Band in den Blick nimmt. Für die Produktivität und politische Bedeutung eines an die Kritische Theorie anschließenden vermittlungstheoretischen Verständnisses von Privatheit mit Blick auf einen wirksamen (Frauen-)Menschenrechtsschutz vgl. Mende (2016).
- 22.
Maihofer greift dabei sowohl auf Arbeiten zurück, die stärker aus frauenforschender Perspektive argumentieren wie auf stärker geschlechterforschend argumentierende. Sie setzt sich u. a. mit Judith Butler, Barbara Duden, Carol Gilligan, Stefan Hirschauer, Claudia Honegger, Thomas Laqueur, Gesa Lindemann sowie Regine Gildemeister und Angelika Wetterer auseinander.
- 23.
Die Wertkritik setzt im Unterschied zu einem traditionellen Marxismus nicht primär am Mehrwert und dessen ungerechter Verteilung an, sondern zielt anknüpfend an die Marxsche Form- und Fetischkritik auf eine grundlegendere Problematisierung von Warenproduktion, Wert, abstrakter Arbeit und Geldform (vgl. Scholz 2000, S. 13–15). Für Scholz sind dabei vor allem die Arbeiten von Robert Kurz ein wichtiger Bezugspunkt. Ihre Theorie der Wert-Abspaltung versteht sie als feministische Korrektur der androzentrisch verkürzten Wertkritik. Was feministische Analysen betrifft, setzt sich Scholz u. a. mit Ursula Beer, Veronika Bennholdt-Thomsen und Frigga Haug sowie den (gemeinsamen) Arbeiten von Elisabeth Beck-Gernsheim und Ilona Ostner bzw. Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp auseinander. Die auf einem hohen theoretischen Abstraktionsniveau angesiedelten Überlegungen von Scholz wurden unlängst von Beatrice Müller (2016) in modifizierter Form – als Theorem der Wert-Abjektion – für die empirische Analyse von Care-Arbeit im Pflegebereich fruchtbar gemacht.
- 24.
Anknüpfend an Becker-Schmidt vgl. Aulenbacher (2018).
- 25.
Eine erst vor wenigen Jahren durchgeführte tiefenhermeneutische Untersuchung von Ann-Madeleine Tietge (2019) mit sich als heterosexuell und heteronormativitätskritisch verstehenden Paaren deutet allerdings eher auf (weitgehend unbewusste) Persistenzen denn grundlegende psychodynamische Veränderungen hin.
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Umrath, B. (2022). Gesellschaftlichkeit und gesellschaftstheoretische Relevanz des Privaten – Perspektiven der älteren Kritischen Theorie und feministische Anschlussmöglichkeiten. In: Burkart, G., Cichecki, D., Degele, N., Kahlert, H. (eds) Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35401-5_6
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