1 Einleitung

Jede Kultur enthält Definitionen dessen, was (un)erwünscht ist und mit ihren Normen und Werten lenkt sie das menschliche Verhalten im Zusammenspiel mit der Gesellschaft (Giddens, 2007). Mitglieder einer Gesellschaft stehen unter dem globalen Einfluss einer dominanten Kultur, die ihre Lebensweise, ihre Handlungen und zuletzt auch ihre Persönlichkeit prägt.

Zugleich wird beobachtet, dass Menschen im Zuge der Globalisierung als Träger einer Kultur aufeinandertreffen und die Regeln des Zusammenlebens in interkulturellen Interaktionen neu definiert werden müssen. Infolge der Globalisierung und Diversifizierung als dynamisches Zusammenwirken durchzieht dieser Prozess alle Bereiche der Gesellschaft. Insbesondere wird dies in der Wirtschaft sichtbar, die auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist.

Seit Jahren besteht in Deutschland in dem Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technologie, kurz MINT, ein Fachkräftemangel. In dem Artikel von Siems (2017) wird berichtet, dass im Jahr 2017 mehr als 1,6 Mio. Fachkräfte aus dem Ausland einen Arbeitsplatz in der MINT-Branche in Deutschland gefunden haben. Trotzdem sind immer noch 430.000 Stellen zu besetzen (Siems, 2017). Nach dem MINT-Herbstreport 2020 des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln hat sich die Anzahl der freien Stellen im MINT-Bereich aufgrund der Corona-Pandemie deutlich verringert. Der Bedarf an Fachkräften ist innerhalb des letzten Jahres von 263.000 auf 108.700 gesunken. Doch die Lücke in den IT-Berufen mit 26.000, den Berufen der Baubranche mit 27.100 und in den Elektro- und Energieberufen mit 44.400 unbesetzten Stellen ist weiterhin auf hohem Niveau geblieben (Anger et al., 2020).

Für die kommenden Jahre wird aktuell ein wirtschaftliches Wachstum in Deutschland prognostiziert (Müller, 2020). Fach- und Führungskräfte aus dem Ausland werden dabei einen wichtigen Beitrag leisten, wie sie es schon seit den 1950ern tun. Während die Zahl der sozialpflichtigen Beschäftigten mit deutschem Pass in der MINT-Branche stagniert, stieg sie für ausländische Fach- und Führungskräfte im letzten Jahrzehnt um 60 % (Anger et al., 2020).

Welche kulturellen Prägungen und Eigenschaften bringen Menschen mit Migrationserfahrung oder Migrationshintergrund mit und wie können sie diese erfolgreich in der Wirtschaft einsetzen?

Die Grundlage der Betrachtung bildet das Big-Five-Modell der Persönlichkeit, das auf eine lange Forschungsgeschichte zurückblickt und als weitgehend anerkannt gilt. Louis Thurstone, Henry S. Odbert und Gordon Allport entwickelten bereits in den 1930er Jahren den lexikalischen Ansatz, der die Grundlage des Fünf-Faktoren-Modells bildet. Dabei wurden aus 18.000 Begriffen mittels Faktorenanalyse fünf stabile Faktoren abgeleitet, die eine dimensionale Beschreibung der Persönlichkeit ermöglichen. In Anlehnung an die englische Schreibweise werden die Big Five auch als OCEAN-Modell der Persönlichkeit bezeichnet (Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness und Neuroticism; Übersicht bei Asendorpf & Neyer, 2012, Borkenau & Ostendorf, 2008).

Die Big-Five

  • Openness (Offenheit für neue Erfahrungen) ist eng mit Merkmalen wie divergentem Denken und Kreativität verbunden. Menschen mit hohen Offenheitswerten sind wissbegierig, intellektuell, fantasievoll, experimentierfreudig und künstlerisch interessiert. Sie sind bereit, vieles kritisch zu hinterfragen, sind oft unkonventionell und an neuen Ideen interessiert. Diejenigen, die niedrige Offenheitswerte haben, neigen zu konservativen Entscheidungen, äußern ihre Emotionen nicht frei und ziehen das Bekannte dem Neuen und Unbekannten vor (Borkenau & Ostendorf, 2008).

  • Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit) als eine Persönlichkeitseigenschaft zeichnet Personen mit hohen Gewissenhaftigkeitswerten aus. Sie sind zielstrebig, pünktlich, ordentlich, genau und penibel. Andererseits beschreiben sich Personen mit niedrigen Gewissenhaftigkeitswerten eher als nachlässig, gleichgültig und unbeständig und verfolgen ihre Ziele mit einem geringen Engagement (Borkenau & Ostendorf, 2008).

  • Extraversion (Extraversion) wird Personen zugeschrieben, die sich bei einer hohen Ausprägung als aktiv, energisch, heiter, gesprächig, gesellig und optimistisch beschreiben. Sie sind durchsetzungsfähig und extravertiert, mögen Menschen, fühlen sich in Gruppen und auf gesellschaftlichen Versammlungen besonders wohl und sind oft abenteuerlustig. Im Gegenteil sind Personen mit niedriger Ausprägung eher introvertiert, phlegmatisch und zurückhaltend (Borkenau & Ostendorf, 2008).

  • Agreeableness (Verträglichkeit) bezieht sich auf Menschen, die bei hohen Werten empathisch, altruistisch, verständnisvoll und hilfreich sind. Sie neigen zu zwischenmenschlichem Vertrauen und Nachgiebigkeit, glauben an Kooperation und haben ein starkes Harmoniebedürfnis. Das Gegenteil davon sind Menschen, die unkooperativ, kompetitiv, egozentrisch und misstrauisch gegenüber den Absichten anderer Menschen sind (Borkenau & Ostendorf, 2008).

  • Neuroticism (Neurotizismus) steht in direktem Zusammenhang mit Angstempfinden, emotionaler Zerbrechlichkeit und der Tendenz, Situationen negativ zu perzipieren. Menschen mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus können oft durch negative Gefühlszustände überwältigt sein, sie sind oft traurig, verlegen, unsicher und nervös. Im Gegenteil beschreiben sich diejenigen, die emotional stabil sind, selbst als ruhig, stressresistent, sorgenfrei, selbstbewusst und ausgeglichen (Borkenau & Ostendorf, 2008).

Die Etablierung dieses Modells der Persönlichkeit führte weltweit zu einer erheblichen Forschungsaktivität. Im Zentrum stand die Frage, ob die Persönlichkeitseigenschaften in unterschiedlichen Ländern eine abweichende durchschnittliche Ausprägung aufweisen. In einer Übersichtsarbeit unter Beteiligung von 79 Autorinnen und Autoren haben McCrae und Terracciano (2005) die Ergebnisse von Studien aus 50 Nationen zusammengefasst. Die befragten Studierenden aus Brasilien, der französischsprachigen Schweiz und Malta hatten die höchsten Extraversionswerte, wohingegen Deutsche, Däninnen und Dänen und deutschsprachige Schweizerinnen und Schweizer höchste Offenheitswerte zeigten. Gleichzeitig hatten Studierende aus Hong Kong, Kuwait und Nordirland die niedrigsten Offenheitswerte. Auch andere Merkmale, wie Neurotizismus, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit, wiesen unterschiedliche nationale Durchschnittswerte auf.

Eine weitere Übersichtsstudie von Schmitt et al. (2007) mit Teilnehmenden aus 56 Nationen bestätigte die nationalen Unterschiede. So hatten Befragte aus Japan und Argentinien die höchsten und Befragte aus dem Kongo und Slowenien die niedrigsten Neurotizismuswerte.

Auch regionale Unterschiede in Deutschland konnten unter Verwendung des beschriebenen Modells der Persönlichkeit nachgewiesen werden (Obschonka et al., 2019). Der Vergleich von 97 deutschen Regionen zeigte ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, wobei Norddeutsche signifikant geringere Werte in Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit und signifikant höhere Werte in Neurotizismus und Offenheit hatten als Süddeutsche. Westdeutsche Regionen waren insgesamt homogener und zugleich in der Effektstärke höher in Extraversion und Verträglichkeit im Vergleich zu ostdeutschen Regionen, die wiederum höhere Werte in Neurotizismus, aber auch in Gewissenhaftigkeit vorweisen konnten und generell weniger homogen waren. Auch Stadt-Land-Unterschiede konnten nachgewiesen werden, mit signifikant höheren Werten für Extraversion und Offenheit und niedrigen Werten in Neurotizismus in Städten gegenüber ländlichen Regionen (Obschonka et al., 2019).

Die Arbeits- und Organisationswissenschaften befassen sich darüber hinaus immer wieder mit dem Zusammenhang von Persönlichkeitsmerkmalen und Führungserfolg. In einer Metastudie gingen Judge et al. (2002) der Frage nach, ob eine hohe Ausprägung der fünf großen Persönlichkeitsmerkmale karrierefördernd sein kann. Dabei werteten die Forschenden 222 Korrelationen aus insgesamt 73 Studien aus. Eine hohe Ausprägung bei vier von fünf Merkmalen begünstigt demnach den Führungserfolg mit einer Korrelation von r = .45 für alle Merkmale. Bei Offenheit für Neues betrug die Korrelation r = .24, bei Gewissenhaftigkeit r = .28, bei Extraversion r = .31, bei Verträglichkeit r = .08 und Neurotizismus r = -.24 (Judge et al., 2002).

2 Fragestellung, Methode und Stichprobe

Die zugrunde liegende Fragestellung dieser Studie ist, inwiefern sich Personen mit Migrationserfahrung, mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund hinsichtlich ihrer Selbstbeschreibung in Bezug auf die Big-Five Persönlichkeitseigenschaften unterscheiden.

In der vorliegenden Studie sind sowohl qualitative als auch quantitative Methoden verwendet worden, wozu ein halbstrukturierter Interviewleitfaden mit 67 Fragen erstellt wurde.

Der Leitfaden hatte folgende Schwerpunkte:

  • persönliche Informationen und Angaben

  • Diversität allgemein

  • Einschätzungen zu kultureller Diversität

  • Bedrohung durch Stereotype

  • Gruppengrenzen

  • Diversität in der Gesellschaft

  • interkulturelle Kompetenz

Alle Interviews wurden aufgezeichnet, nach festgelegten Regeln vollständig transkribiert, in MAXQDA kodiert und mithilfe von STATA und Excel analysiert. Aussagen in den Interviews wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse induktiv ausgewertet. Ein vollständiges Interview dauerte im Durchschnitt eineinhalb Stunden und es wurden insgesamt 49 Interviewpartnerinnen und Interviewpartner aus verschiedenen MINT-Betrieben in der Zeit zwischen Oktober 2019 und Dezember 2020 befragt.

In der ersten Akquisitionsphase in den Betrieben wurden kleine, mittelständische und Großunternehmen per E-Mail oder telefonisch kontaktiert. Aufgrund der Ausbreitung von COVID-19 Anfang 2020 und steigender Ansteckungsangst in den Unternehmen war die Interviewbereitschaft jedoch sehr gering. Es folgte eine zweite Phase der Akquise über soziale Medien, Werbeflyer und zum Schluss auch über private Netzwerke beziehungsweise Empfehlungen.

Bei der Auswahl der Probandinnen und Probanden wurde darauf geachtet, dass die Stichprobe möglichst heterogen bezüglich des Geschlechts und des Migrationshintergrunds ist. 21 der Befragten waren weiblichen und 28 männlichen Geschlechts. Bei der Migrationsfrage ließen sich am Ende drei Gruppen bilden: internationale Beschäftigte (M = Migration); Beschäftigte mit Migrationshintergrund (MH = Migrationshintergrund) und Beschäftigte ohne Migrationshintergrund (KM = keine Migration). Die meisten Befragten waren in ihrem ersten Job nach dem Studium und hatten nicht länger als drei Jahre in ihrem Beruf gearbeitet. In dieser Zeit werden Weichen für eine erfolgreiche Karriere gestellt, beziehungsweise die Entscheidung getroffen, das Unternehmen wieder zu verlassen (Hossiep et. al., 2000).

3 Ergebnisse

Die Aussagen in den Interviews wurden in MAXQDA kodiert und die Codes danach entsprechenden Persönlichkeitsmerkmalen zugeordnet.

So gehörten beispielsweise Codes, in denen sich Probanden als „lockerer“, „stressresistenter“, „selbstbewusster als andere“ beschrieben hatten, zur Eigenschaft der emotionalen Stabilität. Hinweise auf Neurotizismus gaben hingegen Codes, mit denen Teilnehmende ihre Ängste ausdrückten, wie zum Beispiel, dass „mich alle anschauen“ oder „andere klüger und effizienter sind“ oder auch die Annahme, dass sie aufgrund des Geschlechts oder unterschiedlicher Kulturmerkmale diskriminiert werden.

Zu Extraversion zählten jene Codes, in denen sich Teilnehmende als „extravertiert“, „ehrgeizig“, „geselliger und sozialer“ beschrieben haben. Aussagen, die Introversion markierten, waren solche, in denen sich Personen als „schüchtern“ und „zurückhaltend“ beschrieben.

Zu Offenheit für Neues zählten Codes wie „man lernt voneinander“, „Offenheit“, „offener als andere“, „suche Kulturaustausch“ und „Altersdiversität bringt Wissen und Erfahrung“.

Für Gewissenhaftigkeit standen Codes wie „übernehme Verantwortung“, „bereite mich gut auf Aufgaben vor“ und „wer Druck macht, bekommt mehr Beachtung“.

Bei Codes für Verträglichkeit beschrieben sich Teilnehmende als „einfühlsam“, „stark empathisch“, „rücksichtvoll“, „höflich und respektvoll“.

Manche Aussagen, die zum Beispiel Extraversion markierten, hatten unterschiedliche Valenzen, beziehungsweise wiesen gegensätzliche Polung auf, beispielsweise „schüchtern“ und „gesellig und sozial“.

Wertet man die Aussagen einzelner Personen bezüglich ihrer Offenheit für neue Erfahrungen aus und weist sie unterschiedlichen Gruppen zu (siehe Methode), zeigt sich eine deskriptiv ungleiche Verteilung der Häufigkeiten, deren Unterschiede jedoch nicht signifikant waren. 25.6 % der Aussagen kamen von Beschäftigten ohne Migrationshintergrund (KM), zugleich stammten 42.7 % von Beschäftigten mit Migrationshintergrund (MH) und 31.7 % von Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung (M). Wie Tabelle 1 und Abb. 1 zeigen, gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Teilnehmenden.

Tab. 1 Statistische Vergleiche Offenheit

Prüft man die Aussagen der drei befragten Gruppen hinsichtlich ihrer Gewissenhaftigkeit, zeigt sich eine statistisch ungleiche Verteilung der Häufigkeiten (Abb. 2). 23.3 % kamen von Beschäftigten ohne Migrationshintergrund, zugleich stammten 32.4 % von Beschäftigten mit Migrationshintergrund und 44.3 % von Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung. Dabei zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen den Teilnehmenden mit und ohne Migrationshintergrund, wohingegen sich Personen mit und ohne Migrationshintergrund jeweils nicht signifikant von Migrierten unterschieden. Alle statistischen Vergleiche sind in Tab. 2 zusammengefasst.

Tab. 2 Statistische Vergleiche Gewissenhaftigkeit
Abb. 1
figure 1

Verteilung der Aussagen zur Offenheit für Neues in Prozent und statistischer Vergleich der Gruppen: keine Migration (KM), Migrationshintergrund (MH) und Migration (M)

Stellvertretend für die Gruppe mit eigener Migrationserfahrung, die sich nach den Befunden durch eine hohe Ausprägung der Gewissenhaftigkeit auszeichnet, steht die Aussage einer Person /BID_7/: „So, a specific example would be, ahm, preparing for a presentation let’s say. Usually, people don’t prepare for presentation too much, they rely on their…, they will improvise on the spot depending on people, that they have to present to, how they feel and what they have to present. While others like me, have to go through each possible scenario in my head and try to find solutions to those scenarios, so when I am actually in the room presenting one of these scenarios happens, that I know what expect and what to do.“

Im Hinblick auf Extraversion zeigte sich eine statistisch ungleiche Verteilung der Häufigkeiten in den einzelnen Gruppen (Abb. 3). Während sich Beschäftigte ohne Migrationshintergrund mit 45.3 % in der Häufigkeit der Aussagen nicht signifikant von Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung mit 43.0 % unterscheiden, weichte die Häufigkeit der Aussagen bei Beschäftigten mit Migrationshintergrund mit lediglich 11.7 % höchst signifikant von den ersten beiden Gruppen ab. Alle statistischen Vergleiche sind in Tab. 3 zusammengefasst.

Abb. 2
figure 2

Verteilung der Aussagen zur Gewissenhaftigkeit in Prozent und statistischer Vergleich der Gruppen: keine Migration (KM), Migrationshintergrund (MH) und Migration (M)

Tab. 3 Statistische Vergleiche Extraversion

Eine Auswahl von Aussagen von Beschäftigten ohne Migrationshintergrund und Personen mit Migrationserfahrung sollen die Ergebnisse nochmal verdeutlichen. Beschäftigte ohne Migrationshintergrund, /BID_2/: (Fragen der Interviewer in Klammern)

„(Also, in welchem Kontext oder wann würdest du andere Gruppen ansprechen in der Arbeit?) Ich so, ich hab‘ das schon genannt, für mich ist das gar kein Problem, in allen möglichen Kontexten, ich sprech‘ ständig mit anderen Gruppen. (Du sprichst konkret an, du brauchst keinen besonderen Anlass, du bist sowieso offen und kommunizierst mit anderen Gruppen?) Also in allen möglichen Kontexten, ich hab‘ schon wegen meiner Einstellung oder Mutterschutz gesprochen, immer mit jemand anderem, aus anderen Gruppen. Ja, oder ... keine Ahnung, beim Sommerfest...Geretsried auch interessant ist, ich kenne die Leute auch in Geretsried, das ist so halt, das gehört zu meiner Stärke. Ja, ich gehöre zu verschiedenen Gruppen.“

Person mit Migrationserfahrung, /BID_27/:

„I think I’m very open so I don’t need something, I just go to that person and tell them, just like hey, I need this, hey can you do this please, can you help me with this“.

Wertet man die Aussagen bezüglich der Verträglichkeit aus und weist sie unterschiedlichen Gruppen zu, zeigt sich eine statistisch ungleiche Verteilung der Häufigkeiten (Abb. 4). 23.6 % der Aussagen fielen auf Beschäftigte ohne Migrationshintergrund und unterschieden sich statistisch nicht signifikant von der Häufigkeit der Aussagen von Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung mit 19.9 %. Beide Gruppen wichen höchst signifikant von der Häufigkeit der Aussagen ab, die in der Gruppe mit Migrationshintergrund mit 56.5 % auf eine erhöhte Verträglichkeit hinweisen. Alle statistischen Vergleiche sind in Tab. 4 zusammengefasst.

Abb. 3
figure 3

Verteilung der Aussagen zur Extraversion in Prozent und statistischer Vergleich der Gruppen: keine Migration (KM), Migrationshintergrund (MH) und Migration (M)

Abb. 4
figure 4

Verteilung der Aussagen zur Verträglichkeit in Prozent und statistischer Vergleich der Gruppen: keine Migration (KM), Migrationshintergrund (MH) und Migration (M)

Abb. 5
figure 5

Verteilung der Aussagen zur Ängstlichkeit (Neurotizismus) in Prozent und statistischer Vergleich der Gruppen: keine Migration (KM), Migrationshintergrund (MH) und Migration (M)

Tab. 4 Statistische Vergleiche Verträglichkeit

Prüft man die Hinweise auf Ängstlichkeit beziehungsweise Neurotizismus, zeigt sich eine statistisch gleiche, also nicht signifikant unterschiedliche, Verteilung der Häufigkeiten zwischen den drei Gruppen. 38.5 % kamen von Beschäftigten ohne Migrationshintergrund, zugleich stammten 25.5 % von Beschäftigten mit Migrationshintergrund und 36.0 % von Beschäftigten mit eigener Migrationserfahrung. Alle statistischen Vergleiche sind in Tab. 5 zusammengefasst.

Tab. 5 Statistische Vergleiche Ängstlichkeit (Neurotizismus)

Stellvertretend für die hohe Verträglichkeit in der Gruppe mit Migrationshintergrund stehen folgende Aussagen /BID 5/:

„Ähm ich glaube, dass ich sehr empathisch bin, also ich glaube das unterscheidet mich schon. Ähm, dass ich immer, also ich habe immer das Gefühl, zu mir kommen die Leute gerne und reden mit mir, weil sie mir irgendwas erzählen wollen /// oder über irgendwelche anderen Themen, weil sie dann, sich irgendwie verstanden fühlen. Und ich glaube, dafür habe ich ein gutes Gespür.“

„Ähm, ich glaube bei der Kommunikation bin ich ein Mensch, der aktiv immer zuhört und immer noch mal nachfragt, weil ich immer will, dass jeder halt involviert ist. Und ich glaube, dass da, darauf achte ich besonders, dass man niemanden übergeht.“

4 Diskussion

Persönlichkeitsmerkmale werden in der Regel mittels eines Persönlichkeitstests gemessen, durch Fremdbewertung beurteilt, durch Verhaltensbeobachtung festgestellt oder in (Vorstellungs-) Interviews unsystematisch eingeschätzt. Jede dieser Methoden hat ihre Berechtigung, ihre Schwächen und Stärken (Schuler & Höft, 2001; Schuler & Marcus, 2001). Das beste Werkzeug zur Messung sind klar die Persönlichkeitstests. Allerdings werden diese in Deutschland in lediglich 7 % der Unternehmen eingesetzt (Schuler & Höft, 2001). Am ehesten wird das Potenzial für Führungsaufgaben durch Beurteilungen ermittelt, beziehungsweise in Auswahlgesprächen eingeschätzt (Schuler & Marcus, 2001).

Das Vorgehen in dieser Studie zur Bewertung der Persönlichkeitsfaktoren kann am besten mit einem strukturierten Interview verglichen werden, dessen Validität bekanntlich deutlich höher ist als bei einem (unstrukturierten) Auswahlgespräch (Schuler & Marcus, 2001). Zugleich kommt bei uns eine qualitative Inhaltsanalyse (Mayring, 2015) zum Einsatz, wie sie auch bei der semantischen Wortfeldanalyse üblich ist (Goeke & Kornelius, 1984). Diese Methoden haben einen ähnlichen lexikalischen Ansatz, wie die Methode zur Ermittlung der fünf grundlegenden Persönlichkeitsfaktoren (Asendorpf & Neyer, 2012).

Im Folgenden soll ein Beispiel durchgespielt werden, welches von einem qualifizierten Auswahlverfahren für Führungskräfte ausgeht, in dem die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen für den Führungserfolg bekannt ist (Judge et al., 2002). Es werden drei Kandidaten und Kandidatinnen betrachtet, die jeweils eine Gruppe repräsentieren und für ein Beförderungsgespräch zur Verfügung stehen. Die erste Person repräsentiert die Gruppe der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund, die zweite repräsentiert Beschäftigte mit Migrationshintergrund und die dritte Person Beschäftigte mit eigener Migrationserfahrung. Wer wird nun aufgrund der besseren Eignung auf Basis der Persönlichkeitsmerkmale für die Führungsaufgabe ausgewählt? Das vorgeschlagene Verfahren entspricht dem sogenannten Rangordnungsverfahren, bei dem ein direkter Vergleich zwischen den zur Auswahl stehenden Personen vorgenommen wird, ohne dabei das Ausmaß der Unterschiede genau zu erfassen (Marcus & Schuler, 2001).

Steht die Offenheit für Neues für die Auswahl im Vordergrund, haben nach den vorliegenden Ergebnissen (Abb. 1) alle drei Bewerbenden gleiche Chancen. Zugleich zeigen viele Studien, die eine signifikante Differenz in der Ausprägung der Offenheit bei unterschiedlichen Nationen feststellen, einen anderen Befund (Schmitt et al., 2007). Der Widerspruch ist auflösbar, wenn man folgende Umstände dieser Studie berücksichtigt:

Die Stichprobe mit Personen mit eigener Migrationserfahrung besteht aus Personen aus 17 Nationen aus Osteuropa, Südamerika, dem Nahen und Mittleren Osten. Es bietet sich an, deren Ausprägungen mit Durchschnittswerten ihrer Heimatkulturen zu vergleichen. Schmitt et al. (2007) führten dazu eine Studie durch, in der sie für die Dimensionen des NEO-FFI durchschnittliche Werte auf einer T-normierten Skala erhoben (1–100, M = 50, SD = 10). Eine überdurchschnittliche Ausprägung der Offenheit, wie sie Schmitt et al. (2007) bei bestimmten Nationen aus der Stichprobe findet, so zum Beispiel bei Personen aus Rumänien (T-Wert 53.13), Serbien (52.44), Slowenien (50.50), scheint sich durch Personen anderer Nationen mit unterdurchschnittlicher Ausprägung, so zum Beispiel bei Personen aus Indien (48.48), Brasilien (49.16) oder Marokko (49.10), auszugleichen. Deutsche sind mit einem T-Wert von 47.80 in der Studie von Schmitt et al. (2007) eher unterdurchschnittlich offen. Zugleich zeigen Personen aus deutschen Städten eine überdurchschnittliche Offenheit (Obschonka et al., 2019), wodurch der Unterschied weiter eingeebnet sein könnte.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass Migrantinnen und Migranten ihre Herkunftsländer nicht vertreten, sondern sich in Ausbildungsstatus, Alter und Migrations- und Integrationserfahrung vom Durchschnitt der jeweiligen Nation unterscheiden.

Dies trifft in dieser Studie für Befragte mit Migrationshintergrund in besonderer Weise zu. Da sie in Deutschland geboren sind, haben sie bereits langjährige Anpassungs- und Integrationsprozesse in Deutschland durchlebt, auch wenn ihre Eltern oder Großeltern eine andere kulturelle Prägung mitgebracht haben (Köppen, 2015).

Die Eigenschaft Gewissenhaftigkeit, sollte diese im Fokus der Auswahl für eine Führungsaufgabe stehen, zeigt in dieser Studie ein Chancenplus für Migrierte mit 44.3 % gegenüber 23.3 % und 32.4 % in beiden anderen Gruppen, die sich statistisch nicht voneinander unterscheiden (Tab. 2). Entgegen dem Stereotyp der gewissenhaften Deutschen erreichen Deutsche bei Schmitt et al. (2007) mit einem T-Wert von 46.52 eine deutlich unterdurchschnittliche Gewissenhaftigkeit, ähnlich den Menschen aus Osteuropa (Serbien mit 47.53 und Slowenien mit 49.24), ebenso Brasilien (45.38), wie auch Indien (47.36) und der Türkei (48.71), nicht jedoch bei Personen aus Israel (52.40). Zahlenmäßig dürfte also kein Unterschied in der Gewissenhaftigkeit bestehen. Auch die Personen, die in deutschen Städten leben zeigen in Gewissenhaftigkeit keinen Unterschied gegenüber der Landbevölkerung (Obschonka et al., 2019).

Eine weitere Erklärung ist hier denkbar: Die Eigenschaft Gewissenhaftigkeit steht in besonderer Weise im Zusammenhang mit dem Bewerbungs- und Berufserfolg (Hossiep et al., 2000) und könnte bei der Auswahl von Migrierten eine größere Rolle gespielt haben als bei Beschäftigten ohne Migrationshintergrund. Doch sollte der erste Versuch, eine Führungsposition zu erhalten, nicht gleich zum Erfolg führen, werden die Chancen, die die Gewissenhaftigkeit bietet, eher größer, da die Ausprägung dieser Eigenschaft im Laufe des Lebens etwas zunimmt (McGrae & Terracciano, 2005).

Mit der Eigenschaft Extraversion entsteht nach Judge et al. (2002) der größte Beitrag zum Führungserfolg mit einer Korrelation von r = .31**. Zwei Gruppen von Bewerberinnen und Bewerbern haben den Ergebnissen zufolge etwa gleich große Chancen, für eine Führungsaufgabe ausgewählt zu werden: Migrierte (43.0 %) und Personen ohne Migrationshintergrund (45.3 %) gegenüber Personen mit Migrationshintergrund (11.7 %). Die Ergebnisse von Schmitt et al. (2007) weisen Deutsche bei Extraversion mit 50.31 (T-Wert) als durchschnittlich aus. In der Stichprobe vertretene Migrierte stammen aus Ländern mit ähnlicher Ausprägung (Rumänien: 50.33 und Slowenien: 50.54), etwas höherer (Serbien: 51.95) und etwas geringerer Ausprägung (Indien: 47.42, Brasilien: 45.89, Israel: 48.65 oder Marokko: 48.81) dieser Eigenschaft. Die Unterschiede in der Gruppe mit Migrationserfahrung dürften sich damit an die Beschäftigten ohne Migrationshintergrund angeglichen haben. Zugleich weist die städtische Bevölkerung in Deutschland einen signifikant höheren Wert von 3,437 gegenüber der Landbevölkerung mit 3,364 auf einer 5-stufigen Likert-Skala auf (Obschonka et al., 2019). Im Vergleich mit der Gewissenhaftigkeit nimmt die Extraversion im Laufe des Lebens etwas ab (McGrae & Terracciano, 2005), sodass Individuen mit dieser Eigenschaft eher empfohlen wird, nicht zu zögern, ihre Chance auf eine Karriere zu ergreifen.

Der Eigenschaft Verträglichkeit wird nach Judge et al. (2002) der geringste Beitrag zum Führungserfolg attestiert. Sollte bei der Auswahl für eine Führungsaufgabe diese Eigenschaft im Fokus stehen, hätten Personen aus der Gruppe mit Migrationshintergrund die größten Chancen. Die Gruppe besteht aus Individuen der zweiten oder dritten postmigrantischen Generation, deren Eltern oder Großeltern aus Österreich, Russland, Kroatien und Polen eingewandert sind. Alle vier Länder zeichnen sich eher durch eine geringe Ausprägung der Verträglichkeit aus, mit T-Werten von 45.9; k.A.; 45.20 und 46.74. Die durchschnittliche Ausprägung in Deutschland ist mit 45.08 ähnlich gering. Die Bedingtheit des Vergleichs zeigt sich jedoch darin, dass es sich bei Personen in dieser Stichprobe mehrheitlich um Spätaussiedler handelt, die nach ihrem Eigenverständnis Deutsche sind. Wie bei ihren Eltern, deren Anpassungsleistung in der Vergangenheit oft ihr Überleben im Herkunfts- und Einwanderungsland sicherte (Kossert, 2009), markiert die erneute Anpassung der Kinder, ausgehend von der hybriden Identität (Köppen, 2015) und Ausgrenzungserfahrung, eine Strategie, die als Verträglichkeit zum Vorschein kommt.

Wird die Eigenschaft des Neurotizismus, beziehungsweise seines Gegenpols der emotionalen Stabilität, bei der Auswahl für eine Führungsaufgabe in den Fokus genommen, hätten alle drei Gruppen die gleiche Chance. Die Gruppe der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund war mit 38.5 %, die Gruppe der Migrierten mit 36.0 % und die Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund mit 25.5 % an der Häufigkeit von Aussagen beteiligt, die auf Ängste hinwiesen. Im Übrigen haben Deutsche mit einem T-Wert von 50.29 eine sehr durchschnittliche Ausprägung dieser Eigenschaft. Ebenso im Durchschnitt liegen in der Gruppe der Personen aus Israel (49.27), Indien (50.00), Serbien (50.17). Lediglich Sloweninnen und Slowenen mit 45.28 scheinen weniger ängstlich zu sein als andere Nationen. Für Personen mit einem Migrationshintergrund liegen Österreicherinnen und Österreicher mit 49.69 nah am Durchschnitt, Personen aus Polen mit 51.80 sind etwas überdurchschnittlich und Personen aus Kroatien mit 46.16 deutlich unter dem Durchschnitt.

Es ist wichtig zu betonen, dass Persönlichkeitsmerkmale keine unveränderlichen, vollständig angeborenen Eigenschaften sind. Sie entwickeln sich durch Aufmerksamkeit, bewusstes Training und ein günstiges soziales Umfeld weiter und stehen unter großem Einfluss persönlicher Eindrücke durch Familien- und Lebenssituation, Freunde und Vorbilder (Borkenau & Ostendorf, 2008).

Wenn Persönlichkeit im Fokus steht, haben alle drei Gruppen gute Chancen, einen Karriereschritt zu machen. Die Entscheidung über Beförderung wird auf Basis vieler Faktoren getroffen, aber eben auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher Persönlichkeitseigenschaften. Diese stehen unter Einfluss der Kultur beziehungsweise Kulturen (Keupp et al., 1999) und können im günstigen Fall das nötige Quantum dazu beitragen, eine Chance bei einer Beförderung zu bekommen und diese auch zu nutzen.