Einleitung

Das hohe Alter soll nachfolgend im Sinne von Grenzgängen gedeutet werden, was zum einen bedeutet, die zwischen psychologischen Bereichen liegenden Grenzen immer wieder zu überschreiten und in diesem Überschreiten ein hohes Maß an psychologischer Komplexität zu verwirklichen. Zum anderen soll mit den Grenzgängen angedeutet werden, dass es alten Menschen gelingen kann, in der Auseinandersetzung mit Grenzen – und das Erleben zunehmender Verletzlichkeit lässt die Grenzen der eigenen Existenz immer deutlicher in das Zentrum des Bewusstseins treten – zu neuen Erlebens-, Verhaltens- und Lebensqualitäten zu gelangen.

Selbst- und Weltgestaltung als zentrales Thema des hohen Alters

In der vom Florentiner Gelehrten Pico della Mirandola im Jahre 1427 verfassten Schrift „De hominis dignitate“ (deutsch: „Über die Würde des Menschen“) – in der Philosophiegeschichte als eine der ersten grundlegenden Schriften zur Menschenwürde eingeordnet – wird als ein zentrales Merkmal der Menschenwürde die Fähigkeit des Individuums zur Selbst- und Weltgestaltung genannt. Pico leitet diese Schrift mit folgenden Aussagen ein, die die Fähigkeit zur Selbstgestaltung und Weltgestaltung in das Zentrum rücken (1990, S. 6 f.):

„Endlich beschloss der höchste Künstler, dass der, dem er nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was die Einzelnen jeweils für sich gehabt hatten. Also war er zufrieden mit dem Menschen als Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“

Jeder Mensch besitzt als Mensch Würde; diese ist nicht an Eigenschaften, nicht an Leistungen gebunden. Sie ist a priori gegeben. Jeder Mensch hat zudem eine Vorstellung von seiner Würde, das heißt, er stellt implizit oder explizit Kriterien auf, die erfüllt sein müssen, damit ihm das eigene Leben als ein würdevolles erscheint. In dem Beitrag von Pico della Mirandola ist ausdrücklich auch die Verwirklichung von Würde angesprochen, das heißt, es wird eine Bedingung genannt, unter der die Würde des Menschen „lebendig“ wird. Diese Bedingung lautet: die Möglichkeit zur Selbstgestaltung und Weltgestaltung.

Die psychologische Betrachtung der Selbstgestaltungs- und Weltgestaltungspotenziale im hohen Alter führt mich zu einer Verbindung von vier psychologischen Konstrukten (ausführlich in Kruse, 2017): 1) Introversion mit Introspektion (im Sinne der „vertieften Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst“), 2) Offenheit (im Sinne der „Empfänglichkeit für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale und räumliche Welt erwachsen“), 3) Sorge (im Sinne der „Bereitschaft, sich um andere Menschen, sich um die Welt zu sorgen“) und 4) Wissensweitergabe (im Sinne des „Motivs, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen und durch die Weitergabe von Wissen Kontinuität zu erzeugen und Verantwortung zu übernehmen“). Nachfolgend seine diese vier Konstrukte kurz erläutert. Zwei dieser Konstrukte („Introversion und Introspektion“ sowie „Offenheit“) interpretiere ich als Merkmale der Selbstgestaltung, zwei Konstrukte („Sorge“ sowie „Wissensweitergabe“) als Merkmale der Weltgestaltung.

Selbstgestaltung

Introversion mit Introspektion: Dieses Merkmal beschreibt die vertiefte, konzentrierte Auseinandersetzung des Individuums mit dem eigenen Selbst. Der psychologische Terminus der Introversion mit Introspektion erscheint besonders geeignet, wenn es darum geht, die innere (psychische) Situation eines alten Menschen genauer zu betrachten. Im Zentrum dieser Betrachtung steht das Selbst, das in der psychologischen Forschung als Zentrum, als Kern der Persönlichkeit betrachtet wird. Das Selbst integriert alle Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse, die das Individuum im Laufe seines Lebens in der Begegnung mit anderen Menschen, in der Auseinandersetzung mit der Welt, aber auch in der Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Biografie gewinnt. In dem Maße nun, in dem Menschen offen sind für neue Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse, entwickelt sich auch das Selbst weiter: Dieses zeigt sich gerade in der Verarbeitung neuer Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse in seiner ganzen Dynamik, in seiner (schöpferischen) Veränderungskapazität. Das Konstrukt der Introversion mit Introspektion wird hier verwendet, um die besondere Sensibilität alter Menschen für alle Prozesse zu umschreiben, die sich in ihrem Selbst abspielen (Staudinger, 2015). – Neben den Erlebnissen, Erfahrungen und Erkenntnissen, die in der Begegnung mit anderen Menschen und in der Auseinandersetzung mit der Welt gewonnen werden, spielt hier zunächst der Lebensrückblick – der in der Theorie von Erik Homburger Erikson (1998) einen bedeutenden Teil der Ich-Integrität im Alter bildet – eine wichtige Rolle. Dieser Lebensrückblick betrifft in zentraler Weise das Selbst: Inwieweit werden dem Individuum bei dieser „Spurensuche“ noch einmal Aspekte seines Selbst bewusst, die dieses aus heutiger Sicht positiv bewertet, inwieweit Aspekte des Selbst, die dieses eher negativ bewertet (Butler, 1963)? Inwieweit gelingt es dem Individuum trotz negativer Bewertungen, „sich selbst Freund zu sein“, die eigene Biografie in ihren Höhen und Tiefen als etwas anzunehmen, das in eben dieser Gestalt stimmig, sinnerfüllt, notwendig war, inwieweit kann das Individuum sich selbst, aber auch anderen Menschen im Rückblick vergeben (Ritschl, 2004)? – Zudem stößt die begrenzte Lebenszeit Prozesse der Introversion mit Introspektion an: In der Literatur wird auch von Memento mori-Effekten gesprochen (Brandtstädter, 2014), womit Einflüsse der erlebten Nähe zum Tod auf das Selbst gemeint sind. Im Zentrum stehen eine umfassendere Weltsicht und eine damit einhergehende Ausweitung des persönlich bedeutsamen Themenspektrums, weiterhin eine gelassenere Lebenseinstellung, begleitet von einer abnehmenden Intensität von Emotionen wie Ärger, Trauer, Reue und Freude. Zudem treten Spiritualität, Altruismus und Dankbarkeit stärker in das Zentrum des Erlebens (Kruse & Schmitt, 2018).

Schließlich gewinnen Grenzsituationen große Bedeutung für Prozesse der Introversion mit Introspektion. Mit Grenzsituationen umschreibt Karl Jaspers (1973) jene Situationen, die wir durch unser eigenes Handeln nicht verändern, sondern allein durch unsere Existenz zur Klarheit bringen können. „Durch unsere Existenz zur Klarheit bringen“: Damit spricht Karl Jaspers – interpretieren wir ihn eher psychologisch – Prozesse der inneren, also seelisch-geistigen Auseinandersetzung oder eben der Introversion mit Introspektion an, die darauf zielen, die erlebten Grenzen – so zum Beispiel chronische Erkrankungen, zunehmende Gebrechlichkeit, Verlust nahestehender Menschen, begrenzte Lebenszeit – innerlich zu verarbeiten, sie zu einem Teil des bewusst gestalteten und in seinen Höhen wie Tiefen angenommenen Lebens werden zu lassen (Kruse, 2007). Die Tatsache, dass in und durch Grenzsituationen Prozesse der Introversion mit Introspektion angestoßen werden, deutet darauf hin, dass Grenzsituationen durchaus das Potenzial besitzen, das Individuum – bei aller Belastung und Schwere, die dieses fühlt – mehr und mehr zum Zentrum der eigenen Persönlichkeit, also zum Selbst, zu führen. Damit können auch bewusst herbeigeführte Entscheidungen für das Leben – im Sinne des von Viktor Frankl gewählten Buchtitels: …trotzdem Ja zum Leben sagen (Frankl, 2009) – begünstigt werden.

Offenheit: Die konzentrierte, vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst wird durch die Offenheit des Individuums für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse gefördert. Offenheit wird in der psychologischen Literatur auch mit dem Begriff der „kathektischen Flexibilität“ (Peck, 1968) umschrieben, was bedeutet, dass auch neue Lebensbereiche emotional und geistig besetzt und damit subjektiv thematisch werden. Mit Blick auf das hohe Alter misst der Psychologe Robert Peck dem Abzug der seelisch-geistigen Energie von körperlichen Prozessen und deren Hinwendung zu psychischen Prozessen große Bedeutung bei; weiterhin dem Abzug der seelisch-geistigen Energie vom eigenen Ich und deren Hinwendung zu dem, was dieses Ich materiell und ideell umgibt: der natürlichen, kulturell und sozial geformten Welt, dem Kosmos, der gesamten Schöpfung (Tornstam, 2005). Dies aber bedeutet, dass das Individuum empfänglich, offen für neue Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse ist, dass es den „fließenden Charakter“, mithin die Dynamik des Selbst nicht blockiert, sondern dass es sich vielmehr ganz auf diese einlässt und damit auch etwas Neues hervorbringt, „schöpferisch lebt“. – Wir verdanken Friedrich Nietzsche (1844–1900) – nämlich seiner 1878 anlässlich des 100. Todestages Voltaires erschienenen Schrift Menschliches, Allzumenschliches – ein Buch für freie Geister – ein bemerkenswertes Zitat, das den fließenden Charakter des Selbst, das schöpferische Leben anschaulich umschreibt:

„Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzu fest an alles einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe.“ (Nietzsche, 1998, S. 65).

Das Potenzial zur Selbstgestaltung ist nicht ab einem gewissen Alter abgeschlossen, sondern besteht – sofern nicht schwere Krankheiten dieses Potenzial zunichtemachen – bis zum Ende des Lebens: aus diesem Grunde ich auch vom Potenzial zur Selbstgestaltung im Prozess des Sterbens ausgehe (sofern die körperliche und psychische Gesundheit dies zulässt), aus diesem Grunde ich die entscheidende Aufgabe der palliativen Versorgung darin erkenne, Symptome soweit zu lindern, dass sich Menschen bewusst auf ihr Sterben einstellen und einlassen können (Kruse, 2007).

Weltgestaltung

Sorge: Sorge beschreibt die erlebte und praktizierte Mitverantwortung für andere Menschen und das damit verbundene Bedürfnis, etwas für andere Menschen zu tun, deren Entwicklung und Lebensqualität zu fördern. Dieser Aspekt von Sorge wird auch mit dem psychologischen Konstrukt der Generativität angesprochen, ja, er ist geradezu für dieses Konstrukt konstitutiv (McAdams & de St. Aubin, 1992). Sorge meint zudem nicht nur die von einem Menschen ausgehende, praktizierte Sorge, sondern auch die Sorge, die er von anderen erfährt. Dabei ist auch mit Blick auf Sorgebeziehungen im hohen Alter hervorzuheben, wie wichtig ein Geben und Nehmen von Hilfe und Unterstützung („Reziprozität“) für die Akzeptanz erfahrener Sorge ist. Die fehlende Möglichkeit, die empfangene Sorge zu erwidern, macht es schwer, Sorge anzunehmen. Dieser Aspekt gewinnt besondere Bedeutung in Phasen erhöhter Verletzlichkeit. Gerade in solchen Phasen sind Menschen sensibel dafür, ob sie primär als Hilfeempfangende wahrgenommen und angesprochen werden, oder ob sie auch in ihrer Kompetenz, selbst Hilfe und Unterstützung zu leisten, ernst genommen werden. Zugleich ist im thematischen Kontext von Sorge immer mitzudenken, wie wichtig es ist, dass das Individuum rechtzeitig lernt, Hilfe und Unterstützung, die objektiv nötig ist, bewusst anzunehmen (Baltes, 1996; Kruse, 2005a). – Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Sorge wird auch deutlich, was mit Sorge nicht gemeint ist: das Umsorgt-Werden von anderen Menschen, das Umsorgen anderer Menschen. Nicht selten tendieren wir dazu, Sorge mit Umsorgt-Werden oder Umsorgen gleichzusetzen. Dieses enge Verständnis von Sorge greift zu kurz. Sorge ist sehr viel weiter zu fassen: Sie meint die freundschaftliche Hinwendung zum Menschen, die freundschaftliche Hinwendung zur Welt (Arendt, 1989) – und dies in einer Haltung der Mitverantwortung (für den Mitmenschen wie auch für die Welt) und dem Bedürfnis nach aktiver Mitgestaltung (der Beziehungen, der Welt). Dies übrigens ist auch ein Grund dafür, warum in meinen Überlegungen nicht nur die Selbstgestaltung im Zentrum steht, sondern auch die Weltgestaltung – beide Orientierungspunkte (das Selbst, die Welt) finden hier ausdrücklich Berücksichtigung.

Mit dem Konstrukt der Sorge ist nicht allein das Wohl einzelner Menschen angesprochen, für die das Individuum Mitverantwortung übernimmt, sondern auch das Wohl der Welt. Damit tritt die „politische“ Dimension in das Zentrum meiner Argumentation. Mit dem politischen (und nicht nur psychologischen) Verständnis von Sorge folge ich den politikwissenschaftlichen Beiträgen von Hanna Arendt (1993), die ausdrücklich von der „Liebe zur Welt“ (Amor mundi) spricht und diese als einen wichtigen Grund für ihre Arbeit an einer politischen Theorie nennt – so lesen wir in einem ihrer Briefe an Karl Jaspers. Die Liebe zur Welt führt nach Hannah Arendt zur „Sorge um die Welt“, die den Kern, den „Mittelpunkt der Politik“ bildet. Hannah Arendt löst ihre Deutung von „Welt“ nie vom „Menschlichen“ ab. Wenn sie von „Welt“ spricht, so orientiert sie sich grundsätzlich am Menschlichen – nämlich an einem öffentlichen Raum, in dem sich das „Zwischen den Menschen“ entfalten kann, in dem sich Menschen in Wort und Tat begegnen, die Gestaltung der Welt als eine gemeinsam zu lösende Aufgabe begreifen. Und Hannah Arendt geht noch weiter: Ihr Verständnis von Politik orientiert sich auch an dem Wesen der Freundschaft (Arendt, 1989). Inwiefern? Sie hebt hervor, dass das Schließen von Freundschaften keinem äußeren Zweck geschuldet ist, sondern dass dieses hervorgeht aus der Erfahrung des „Zwischen“, in dem sich Menschen im Vertrauen darauf zeigen und aus der Hand geben können, dass sie in ihrer Unverwechselbarkeit erkannt und angenommen werden – dieses Vertrauen ist dabei entscheidend für die Initiative, für den Neubeginn, für die Geburtlichkeit (Natalität) des Menschen.

Wissensweitergabe: Mit der Wissensweitergabe ist auch das Fortwirken des Individuums in nachfolgenden Generationen angesprochen (in der Begrifflichkeit von Hannah Arendt (1960): „symbolische Unsterblichkeit“). Dieses Fortwirken vollzieht sich auch auf dem Wege materieller und ideeller Produkte, die das Individuum erzeugt und mit denen es einen Beitrag zum Fortbestand und zur Fortentwicklung der Welt leistet (Staudinger, 1996). So sehr eine Person in der Erinnerung an das gesprochene Wort und die einmalige Gebärde fortlebt, so sehr Begegnungen mit dieser in uns emotional und geistig fortwirken, so wichtig ist es auch, die materiellen und ideellen Produkte im Auge zu haben, die sich nicht notwendigerweise unmittelbaren Begegnungen mit nachfolgenden Generationen verdanken, sondern die in Verantwortung vor der Welt und für die Welt entstanden sind. Auch diese Produkte hat Hannah Arendt im Auge, wenn sie von symbolischer Unsterblichkeit spricht (Arendt, 1960). Dabei bindet sie diese symbolische Immortalität an die höchste Form der Vita activa, nämlich an das Handeln – also an den Austausch zwischen Menschen in Wort und Tat – sowie an die Verwirklichung „des Politischen“ im Menschen. Dies legt folgende Deutung nahe: Es geht hier um Werke, die (auch) aus einer Verantwortung gegenüber der Welt entstanden sind, mit denen bewusst zum Fortbestand und zur Fortentwicklung der Welt beigetragen werden soll (Blumenberg, 1986).

Wenn von „Welt“ gesprochen wird, so sind damit die unterschiedlichsten Bereiche des öffentlichen Raums gemeint. Um ein Beispiel zu geben: Wenn jemand in einem Verein wirkt, und dies aus der Überzeugung heraus, mit dem Aufbau und der Weiterentwicklung einer lebendigen Organisation etwas zum Gemeinwohl heute und in Zukunft – auch nach Übergabe seiner Verantwortung an andere Menschen, auch nach seinem Tod – zu leisten, so hat er etwas geschaffen, was zum Fortbestand und zur Fortentwicklung der Welt beitragen soll, und zwar über sein Leben, über seine Generation hinaus. Diese Person lebt in der „Vereinsgeschichte“ fort; bei einem Rückblick auf diese Geschichte, bei der Suche nach „Spuren“, die einzelne Personen hinterlassen haben, wird auch deren Leistung erkannt und gewürdigt werden. Das Handeln als höchste Form der Vita activa beschränkt sich also nicht allein auf den unmittelbaren, konkreten Austausch mit Menschen. Wir treten auch in unseren Gedanken in einen – vielleicht „virtuell“ zu nennenden – Austausch mit Menschen, die wir kannten (und die heute nicht mehr leben), die wir kennen (denen wir aber gegenwärtig nicht unmittelbar begegnen können) und die wir noch nicht kennen, ja, niemals kennenlernen werden: Damit ist in besonderer Weise die „geistige“ Dimension der Vita activa, des „gemeinsamen“ Handelns (als eines Konstituens der Vita activa) und des Politischen (als der Umschreibung von gemeinsam geteilter Verantwortung vor der Welt und für die Welt) angesprochen.

Verletzlichkeit

Allerdings darf gerade mit Blick auf die Verletzlichkeit des alten Menschen nicht übersehen werden, dass sich im Falle körperlicher, möglicherweise auch kognitiver und sozialer Verluste Auswirkungen auf den Grad und die Art der Offenheit ergeben. Die Fähigkeit, sich auf sich selbst zu besinnen, sich konzentriert dem eigenen Selbst zuzuwenden und damit Entwicklungsprozesse des Selbst anzustoßen, ebenso wie die Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf die Welt zu konzentrieren, diese in ihrer anregenden, motivierenden und unterstützenden Qualität wahrzunehmen und zu nutzen, kann in Phasen vermehrten Schmerzerlebens, in Phasen vermehrter funktionaler Beeinträchtigung, in Phasen verstärkter Einsamkeit erkennbar zurückgehen. Dabei ist zu bedenken, dass es sich hier vielfach um Phasen des Rückzugs von der Welt, um Phasen der subjektiven Entfremdung („ich finde mich nicht mehr“, „ich kann mich selbst nicht mehr erkennen“, „ich bin mir selbst fremd geworden“) handelt, die wieder einer stärkeren Öffnung nach außen und nach innen weichen, wenn körperliche und kognitive Krankheitssymptome kontrolliert und gelindert werden, vor allem, wenn sich Möglichkeiten eines fruchtbaren, anregenden und motivierenden Austauschs mit anderen Menschen ergeben – auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer wahrhaftigen, offenen und mitfühlenden Kommunikation sehr deutlich.

Wie aber ist Verletzlichkeit im hohen Alter zu verstehen, durch welche Merkmale zeichnet sich diese aus?

Vor dem Hintergrund der mittlerweile umfangreichen empirischen Literatur zum hohen Alter ist davon auszugehen, dass sich im Verlauf des neunten Lebensjahrzehnts der Übergang vom höheren („dritten“) zum hohen („vierten“) Alter allmählich, fließend, kontinuierlich vollzieht (Kruse, 2017). Dabei ist das neunte Lebensjahrzehnt nicht als ein Jahrzehnt zu begreifen, in dem körperliche und psychische Erkrankungen notwendigerweise plötzlich, abrupt über das Individuum hereinbrechen. Vielmehr ist im neunten Lebensjahrzehnt eine graduell zunehmende Anfälligkeit des Menschen für neue Erkrankungen und funktionelle Einbußen ebenso erkennbar wie die graduelle Zunahme in der Schwere bereits bestehender Erkrankungen und bereits bestehender funktioneller Einbußen (Fried et al., 2001). Damit ist ein wichtiges Merkmal des hohen Alters beschrieben, das auch im Erleben der Menschen dominiert: Die allmählich spürbare Zunahme an Krankheitssymptomen, die allmählich spürbaren Einbußen in der körperlichen, zum Teil auch in der kognitiven Leistungsfähigkeit, schließlich die allmählich spürbaren Einschränkungen in alltagsbezogenen Fertigkeiten werden vom Individuum im Sinne der erhöhten Verletzlichkeit erlebt und gedeutet (Clegg et al., 2013). Verletzlichkeit heißt dabei nicht Gebrechlichkeit; letztere ist vielmehr Folge ersterer. Verletzlichkeit lässt sich auch nicht mit den medizinischen Begriffen Multimorbidität und Polysymptomatik angemessen umschreiben. Vielmehr meint Verletzlichkeit eine erhöhte Anfälligkeit und Verwundbarkeit, mithin das deutlichere Hervortreten von Schwächen, meint verringerte Potenziale zur Abwehr, Kompensation und Überwindung dieser körperlichen und kognitiven Schwächen. Die objektiv messbare wie auch die subjektiv erlebte Verletzlichkeit tritt zu interindividuell unterschiedlichen Zeitpunkten im neunten Lebensjahrzehnt auf; sie kann sich bei dem einen sogar noch später (also erst im zehnten Lebensjahrzehnt), bei dem anderen sogar noch früher (also schon im achten Lebensjahrzehnt) einstellen. Entscheidend ist, dass im Verlauf des neunten Lebensjahrzehnts bei der Mehrzahl alter Menschen eine derartige erhöhte Verletzlichkeit objektiv nachweisbar ist und subjektiv auch als eine solche empfunden wird.

Mit dem Hinweis auf die erhöhte Verletzlichkeit wird angedeutet, dass im hohen Lebensalter ein Merkmal der Conditio humana – nämlich die grundsätzliche Verwundbarkeit – noch einmal stärker in das Zentrum tritt, dabei auch in das Zentrum des Erlebens. Mit diesem Hinweis wird die vielfach vorgenommene, strikte Trennung zwischen drittem und viertem Lebensalter relativiert: Es ist nicht so, dass das dritte Lebensalter ganz unter dem Zeichen erhaltener körperlicher, kognitiver und sozioemotionaler Kompetenz, das vierte Lebensalter hingegen ganz unter dem Zeichen verloren gegangener körperlicher, kognitiver und sozioemotionaler Kompetenz [im Sinne eines modus deficiens] stünde. Vielmehr finden wir auch im dritten Alter graduelle Verluste und damit allmählich stärker werdende Schwächen, die in summa auf eine erhöhte Verletzlichkeit des Menschen deuten; und im vierten Alter sind vielfach seelische, geistige, sozioemotionale und sozialkommunikative Ressourcen zu beobachten, die das Individuum in die Lage versetzen, ein schöpferisches, persönlich sinnerfülltes und stimmiges Leben zu führen – dies auch in gesundheitlichen Grenzsituationen (Brothers et al., 2016).

Grenzsituationen

Fortsetzen möchte ich mit einer kurzen Reflexion über das Wesen der Grenzsituationen, mich dabei auf die Philosophie Karl Jaspers‘ beziehend, weil diese Reflexionen schon sehr nahe heranreichen an die für das hohe Alter charakteristische Verbindung von Verletzlichkeit und Reife.

Karl Jaspers beschreibt in seiner Schrift Philosophie (1973) Grenzsituationen als Grundsituationen der Existenz, die „mit dem Dasein selbst sind“, das heißt, diese Situationen gehören zu unserer Existenz, konstituieren unsere Existenz. Grenzsituationen, wie jene des Leidens, des Verlusts, des Sterbens, haben den Charakter der Endgültigkeit: „Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem anderen erklären und ableiten zu können“ (Jaspers, 1973, S. 203). Aufgrund ihrer Endgültigkeit lassen sich Grenzsituationen selbst nicht verändern, sondern vielmehr erfordern sie die Veränderung des Menschen, und zwar im Sinne weiterer Differenzierung seines Erlebens, seiner Erkenntnisse und seines Handelns, durch die er auch zu einer neuen Einstellung zu sich selbst und zu seiner Existenz gelangt: „Auf Grenzsituationen reagieren wir nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten“ (Jaspers, 1973, S. 204).

Das „Eintreten offenen Auges“ lässt sich psychologisch im Sinne des reflektierten und verantwortlichen Umgangs interpretieren, also im Sinne der Orientierung des Menschen an Werten, derer er sich bewusst geworden ist – hier findet sich eine Nähe zu dem Begriff der Selbstverantwortung. Die Anforderungen, die Grenzsituationen an den Menschen stellen, sowie die Verwirklichung des Menschen in Grenzsituationen „gehen auf das Ganze der Existenz“ (Jaspers, 1973, S. 206). Dabei wird die Verwirklichung in der Grenzsituation auch im Sinne eines „Sprungs“ interpretiert, und zwar in der Hinsicht, als das Individuum in der gelingenden Auseinandersetzung mit dieser Situation zu einem vertieften Verständnis seiner selbst gelangt: „Nach dem Sprung ist mein Leben für mich ein anderes als mein Sein, sofern ich nur da bin. Ich sage ‚ich selbst‘ in einem neuen Sinn“ (Jaspers, 1973, S. 207).

Die Aussage, wonach Grenzsituationen Antworten des Menschen geradezu herausfordern, wird durch nachfolgendes Zitat gestützt, in dem die Frage nach der Bedeutung von Grenzsituationen für das Dasein aufgeworfen wird. Jaspers äußert sich in seiner Schrift „Philosophie“ zu dieser Frage wie folgt:

„Als Dasein können wir den Grenzsituationen nur ausweichen, indem wir vor ihnen die Augen schließen. In der Welt wollen wir unser Dasein erhalten, indem wir es erweitern; wir beziehen uns auf es, ohne zu fragen, es meisternd und genießend oder an ihm leidend und ihm erliegend; aber es bleibt am Ende nichts, als uns zu ergeben. Auf Grenzsituationen reagieren wir daher nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten“ (Jaspers, 1973, S. 203 f.).

Der Umgang des Menschen mit Grenzsituationen im Alter – zu nennen sind hier vor allem die erhöhte körperliche Verletzlichkeit, der Verlust nahe stehender Menschen, die Bewusstwerdung eigener Endlichkeit – ist auch in seinem potenziellen Einfluss auf kulturelle Leitbilder gelingenden Lebens zu betrachten: Ältere Menschen können hier bedeutsame Vorbildfunktionen übernehmen – und zwar in der Hinsicht, dass sie nachfolgenden Generationen Einblick in Grenzen des Lebens sowie in die Fähigkeit des Menschen zum reflektierten Umgang mit diesen Grenzen und zur bewussten Annahme der Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen geben. Diese Aussage findet sich in der philosophischen Theorie des „Alterns als Werden zu sich selbst“ (Rentsch, 2013).

Selbst- und Weltgestaltung im Umgang mit Grenzsituationen

Die Verbindung der unter Selbstgestaltung und Weltgestaltung genannten vier Konstrukte kann auch als psychologischer Hintergrund für die (innere) Verarbeitung und (äußere) Bewältigung von Verletzlichkeit dienen. Das Verständnis dieses Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesses darf sich nicht alleine darauf beschränken, Bewältigungstechniken zu identifizieren und differenziert zu beschreiben. Für eine tiefere psychologische Analyse ist es vielmehr notwendig, auf empirischer Basis darzulegen, inwieweit sich spezifische Verarbeitungs- und Bewältigungstechniken oder grundlegende Orientierungen im Umgang mit Verlusten und Konflikten mit psychologischen Qualitäten verschmelzen (Labouvie-Vief et al., 2010), die sich – unter günstigen Entwicklungsbedingungen – im Lebenslauf ausbilden und im Alter eine weitere Akzentuierung erfahren (Brandtstädter, 2014). In diesem Kapitel geht es darum, in die vier genannten psychologischen Konstrukte einzuführen und damit den psychologischen Hintergrund zu skizzieren, vor dem der Umgang mit Verletzlichkeit im Alter betrachtet werden soll.

Dass die vier genannten Konstrukte für das vertiefte Verständnis des Umgangs alter Menschen mit Verletzlichkeit hilfreich sein können, geht aus folgender Beobachtung hervor: Die innere Auseinandersetzung mit körperlichen, zum Teil auch kognitiven, zudem mit sozialen Verlusten und begrenzter Lebenszeit wird durch psychische Kräfte und Orientierungen gefördert, die sich in den vier genannten Konstrukten und deren Verbindung widerspiegeln: Die vermehrte Konzentration auf sich selbst und der darin zum Vorschein kommende Versuch, das Selbst auch in seiner kontinuierlichen Veränderung (oder Dynamik) zu erfahren, die Offenheit für Neues – sowohl in einem selbst wie auch in der (räumlichen, sozialen und kulturellen) Welt, die einen umgibt, die erlebte und praktizierte Sorge um bzw. für andere Menschen und die Welt, schließlich die Bereitschaft, Wissen weiterzugeben und damit sowohl zur Kontinuität in der Generationenfolge beizutragen als auch die Entwicklung nachfolgender Generationen zu fördern, bilden in ihrer Integration eine bedeutsame psychologische „Rahmung“ des Umgangs mit eigener Verletzlichkeit. Mit diesen vier psychologischen Konstrukten sind auch seelisch-geistige Bereiche angesprochen, in denen sich alte Menschen weiterentwickeln, in denen sie schöpferische Kräfte zeigen, in denen sie etwas Neues hervorbringen können.

Zudem machen diese Konstrukte deutlich, dass körperliches Altern einerseits, seelisch-geistiges Altern andererseits verschiedenartigen Entwicklungsgesetzen folgen: Das Wesen des Alterns wird nur bei integrierter Betrachtung dieser verschiedenartigen Entwicklungsgesetze (ergänzt um die soziale und die kulturelle Dimension) wirklich erfahrbar. Allerdings ist auch zu bedenken, dass sich die körperliche Dimension sowie die seelisch-geistige Dimension gegenseitig durchdringen: Tief greifende körperliche Veränderungen (zu denen auch Veränderungen des Gehirns zu zählen sind) können sich auf die emotionalen, vor allem aber auf die geistigen Prozesse auswirken und potenzielle Entwicklungen im hohen Alter mehr und mehr einengen oder unmöglich machen – man denke hier nur an neurodegenerative oder vaskuläre Hirnprozesse, die ihrerseits das Lern-, Gedächtnis- und Denkvermögen erheblich einschränken, wenn nicht sogar weitgehend zerstören. Umgekehrt zeigt sich immer wieder, dass sich kontinuierliche körperliche Aktivität (Ausdauer, Koordination, Kraft, Beweglichkeit) positiv auf die emotionale Befindlichkeit wie auch auf die kognitive Kompetenz im Alter auswirkt – mittlerweile kann als gesichert angesehen werden, dass kontinuierliche körperliche Aktivität einen Schutzfaktor mit Blick auf die verschiedenen Demenzerkrankungen darstellt. Umgekehrt wirken sich emotionale und geistige Entwicklungsprozesse positiv auf die körperliche Gesundheit, das körperliche Befinden und die körperliche Restitutionsfähigkeit des Individuums aus – darauf weisen empirische Befunde aus psychosomatisch-psychotherapeutischen Interventionsstudien hin. Und auch in der Bewältigungs- und Resilienzforschung lassen sich Belege dafür finden – diese sind für unsere Argumentation besonders wichtig –, dass die Verwirklichung emotionaler und geistiger Entwicklungspotenziale im hohen Alter dazu beiträgt, dass alte Menschen auch im Falle chronischer Erkrankung erkennbar mehr für ihre Gesundheit tun, dass sie gesundheitliche Einschränkungen besser verarbeiten und bewältigen können, dass ihnen das Alter trotz körperlicher Grenzen als eine Lebensphase erscheint, in der sie immer wieder Phasen des Wohlbefindens, der Stimmigkeit, der Erfüllung und des Glücks erleben können.

Einen Hinweis auf die gelingende Verarbeitung und Bewältigung von Verletzlichkeit gibt uns die positive, von Dankbarkeit und Hoffnung bestimmte Sicht auf die eigene Lebenssituation – eine Haltung, die man durchaus in „Konzepte positiver Entwicklung“ einordnen kann, wie diese in der psychologischen Theorienbildung erfolgreich entwickelt wurden (Brandtstädter, 2007). Diese Haltung legt die Annahme nahe, dass eine konzentrierte, vertiefte Auseinandersetzung mit dem Selbst stattgefunden hat und noch immer stattfindet, wobei sich diese Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der vielfältigen Erlebnisse in der Biografie und in der Gegenwart wie auch der mit der eigenen Endlichkeit assoziierten Gefühle und Gedanken vollzieht (Introversion mit Introspektion). Die in der vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst zutage geförderten Erfahrungen und Erkenntnisse – die den Kontext von Lebenswissen und Lebenssinn darstellen – können an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden (Wissensweitergabe) und bilden zudem ein bedeutsames Fundament von erlebter und praktizierter, freundschaftlich gemeinter Sorge. Entscheidend ist dabei die Offenheit des Individuums für Prozesse in seinem Selbst und in seiner räumlichen, sozialen und kulturellen Welt. Damit ist aber auch die Beschaffenheit dieser Welt angesprochen.

Gemeint sind damit vor allem die objektiv gegebenen Möglichkeiten zur Teilhabe, wobei Teilhabe – auch in Anlehnung an Hannah Arendts Konzeption des Handelns als höchster Form der „Vita activa“ (Arendt, 1960) – im Sinne von praktizierter Mitverantwortung zu deuten ist. Es geht nicht nur darum, auf wie viele Kontakte das Individuum blickt. Es geht auch nicht nur darum, dass es sich sozial eingebunden fühlt. So wichtig das Erlebnis des Eingebunden-Seins ist, so bedeutsam ist auch die Erfahrung der Teilhabe. Und diese meint, sich als aktiver Teil von Gemeinschaft zu erleben, nicht nur Sorge zu empfangen, sondern auch Sorge praktizieren zu können, nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für andere Menschen mitverantwortlich zu sein. Das heißt aber auch, dass räumliche Umwelten möglichst barrierefrei gestaltet sein müssen (was gerade mit Blick auf die Verletzlichkeit wichtig ist), damit alte Menschen die Möglichkeit haben, sich ohne zu große Mühen an Orte zu begeben, an denen sie sich mit anderen Menschen austauschen können. Das heißt weiterhin, dass Mehrgenerationenangebote gestärkt werden, womit sich alten Menschen die Möglichkeit zur Wissensweitergabe und praktizierten Sorge bietet. Das heißt schließlich – und damit ist vor allem die soziale und kulturelle Umweltgestaltung angesprochen –, dass man alten Menschen offen, vorurteilsfrei, neugierig und damit motivierend begegnet: Denn nur unter dieser Voraussetzung wird die Initiativebereitschaft des Individuums geweckt, wie Hannah Arendt in ihren Aussagen zum Handeln als der höchsten Form der Vita activa deutlich macht.

In der inneren Auseinandersetzung des alten Menschen wird uns auch vor Augen geführt, was es bedeutet, nicht im lebendigen Austausch mit anderen Menschen zu stehen, oder in den Worten von Hannah Arendt: sich nicht in der Einzigartigkeit seines Seins mitteilen, sich nicht aus der Hand geben, die soziale Umwelt nicht mitgestalten zu können. Vereinsamung ist mit einem deutlich erhöhten Depressionsrisiko verbunden. Es sind zwei psychische Prozesse, die uns diesen Zusammenhang besser verstehen lassen. Zum einen entwickelt sich in der Vereinsamung die Überzeugung, nicht mehr Teil von Gemeinschaft zu sein, ja, von anderen Menschen vergessen worden zu sein. Dieses „Aus-der-Welt-Fallen“, um hier einen von Else Lasker Schüler (1869–1945) verwendeten Begriff aufzugreifen, bedeutet im Leben und Erleben des Individuums einen tiefen Einschnitt, der nicht selten in depressive Störungen mündet. (Hier sei auch auf die Gefahr der Wahnbildung im Falle von Vereinsamung im hohen Alter hingewiesen.) Zum anderen ist im Falle des fehlenden Austauschs mit anderen Menschen die vertiefte Auseinandersetzung mit sich selbst blockiert – und damit die Verwirklichung schöpferischer Potenziale. Denn: Eine kontinuierlich geführte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst ist ohne eine tiefe, wahrhaftig geführte Kommunikation nicht möglich. Zudem schränkt der Mangel an Kommunikation die Möglichkeiten zur Wissensweitergabe (zum Beispiel auf dem Wege des Geschichtenerzählens, das – im Verständnis von Hannah Arendt – auch immer bedeutet, „etwas loslassen zu können“), ebenso wie die Möglichkeiten zur Erfahrung einer mit anderen Menschen geteilten Welt und schließlich die Sorge um bzw. für die Welt sowie für andere Menschen erheblich ein.

Mit anderen Worten: Die seelisch-geistige Entwicklung, die seelisch-geistigen Stärken, das schöpferische Leben im Alter ist ohne die Gestaltung der Welt, in der alte Menschen leben, gar nicht denkbar. Dabei ist hier nicht allein die Lebenswelt des Individuums angesprochen, sondern auch die politische Welt oder der politische Raum. Gemeint ist mit diesem Begriff, dass sich Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit, in ihrer Vielfalt zeigen, mithin die Welt aus ganz verschiedenen Perspektiven betrachten können. Gemeint ist mit diesem Begriff weiterhin, dass Menschen Anliegen teilen, dass sie gemeinsam Initiative übernehmen, etwas Neues beginnen, Welt gestalten können. Erst wenn sich Menschen ausdrücklich auch in dieser politischen Dimension angesprochen fühlen, nehmen sie sich als Teil von Welt wahr, für die sie sorgen, die sie mitgestalten wollen und können:

„Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren.“ (Arendt, 1960, S. 169).

Auch in einen solchen thematischen Kontext sind die psychologischen Konstrukte der Sorge und der Wissensweitergabe einzuordnen.

Empirische Näherung: Thematische Analysen

Die Verbindung dieser Konstrukte erscheint vor dem Hintergrund von empirischen Befunden zu subjektiv erlebten Anliegen (Daseinsthemen) im hohen Alter als angemessen und hilfreich. Zwei Studien des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg sollen dazu dienen, Einblick in die Daseinsthemen alter Menschen zu geben. In einer ersten Studie, gefördert von der Generali-Stiftung, galt unser Interesse der Bedeutung der Sorge für andere Menschen und um andere Menschen im Erleben alter Menschen (N = 400; Altersbereich: 85 bis 100 Jahre); zudem stellten wir die Frage, inwieweit Institutionen (Verbände, Vereine, Kirchen, Bildungseinrichtungen und Bürgerzentren) das Sorgemotiv alter Menschen erkennen, angemessen würdigen und geeignete Gelegenheitsstrukturen für die Verwirklichung dieses Sorgemotivs schaffen (ausführlich in Kruse, 2017; Kruse & Schmitt, 2015). In einer zweiten, gerade abgeschlossenen, von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geförderten Studie galt unser Interesse der Bedeutung der Selbstgestaltung und Weltgestaltung im Erleben alter Menschen (N = 400; Altersbereich: 75 bis 95 Jahre); zudem gingen wir der Frage nach, in welche thematischen Kontexte Medien Altern und Alter stellen (Medienanalyse in zwölf europäischen Ländern), wie Journalistinnen und Journalisten (N = 160) die mediale Darstellung von Altern und Alter bewerten, wie Experten auf dem Gebiet der medizinischen, pflegerischen und psychotherapeutischen Versorgung sowie auf dem Gebiet der Bildung und der Sozialen Arbeit [N = 200] die Versorgungs- und Bildungsangebote für alte Menschen bewerten (N = 200) und in welcher Hinsicht ältere und alte Menschen (N = 200) von der Nutzung kultureller und sozialer Angebote in Bürgerzentren (Mehr-Generationen-Zentren, Begegnungsstätten und Seniorenzentren) unterschiedlichen Bürgerzentren profitieren (ausführlich in Kruse et al., 2020).

Bevor auf Ergebnisse der beiden Studien eingegangen wird, sei in Kürze dargestellt, was in diesen unter „thematischer Analyse“ verstanden wurde. Den Ausgangspunkt bildeten folgende Fragen: Welches sind die „dominanten Anliegen und Lebensthemen“ alter Menschen? Was beschäftigt Frauen und Männer besonders stark? Inwieweit sind diese Anliegen und Lebensthemen emotional eher positiv oder negativ besetzt? Inwieweit drückt sich in den Anliegen und Lebensthemen eine „Bindung an das Leben“ aus, inwieweit konkretisieren sie sich in diesen spezifische Perspektiven auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Lassen diese Anliegen und Themen besondere Potenziale und Verletzlichkeiten erkennen, wie diese von älteren und alten Menschen selbst wahrgenommen werden? Lassen sich in verschiedenen Lebensaltern unterschiedliche Akzentsetzungen mit Blick auf die dominanten Themen und Anliegen erkennen? Inwieweit spiegeln sich Lebenswelten in dominanten Anliegen und Themen wider? Lassen sich zwischen den Lebenswelten Unterschiede in dominanten Anliegen und Themen erkennen?

Mit dem Konstrukt des dominanten Anliegens bzw. des Lebens- oder Daseinsthemas nimmt die Studie Bezug auf Theorien von Hans Thomae und Ursula Lehr („daseinsthematische Analyse des Individuums in seiner Welt“), von Daniel Levinson („Analyse von Lebensstrukturen“) sowie von Ursula Staudinger („Analyse des persönlichen Investments in einzelne Lebensbereiche“). Mit der Frage, inwieweit sich in den dominanten Anliegen und Lebensthemen eine spezifische Bindung an das Leben widerspiegelt, werden Beziehungen zur Theorie von Powell Lawton („Bewertung des Lebens“ [valuation of life]) aufzuzeigen versucht.

Daseinsthemen

Hans Thomae geht in seiner Persönlichkeitstheorie (1966) von der Differenzierung des „Ich“ in drei dynamische Kerngebiete aus: das „impulsive Ich“, das er als „Sphäre der festgelegten Triebe“ umschreibt, das „prospektive Ich“, das sich – als hochorganisierte Form – durch seine „vordenkende, das Verhalten auf weite Sicht hinlenkende Funktion“ auszeichnet, und schließlich das „propulsive Ich“, das er als „plastisch bleibenden Antriebsfonds“ begreift, dessen wesentlichste Kennzeichen „Nichtfestgelegtheit, Formbarkeit, Nichtvorhersagbarkeit“ sind. Das propulsive Ich charakterisiert er dabei mit folgenden Worten: „Es gibt letzten Endes das Gefühl der Initiative und Freiheit, das Empfinden, dass selbst der größte Verlust und die äußerste Begrenzung unseres Daseins uns nicht alles nehmen können, sondern letztlich nur eine neue Seite der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten offenbaren.“ (1966, S. 124).

Mit der Differenzierung des Ich in diese drei Kerngebiete leistet Hans Thomae eine strukturelle Analyse der Persönlichkeit. Neben die strukturelle tritt eine thematische Analyse (Thomae, 1996). Diese konzentriert sich auf die Frage, welche Themen (man könnte auch sagen: Anliegen) das Erleben des Individuums in einer gegebenen Situation bestimmen. Dabei ist zwischen aktuellen, temporären und chronifizierten Themen zu unterscheiden. Während die aktuelle Strukturierung Themen beschreibt, die ganz durch die gegebene Situation bestimmt sind – wie zum Beispiel die Freude an einem inspirierenden Gespräch, zum Beispiel über ein gerade betrachtetes Kunstwerk –, ist mit temporärer Strukturierung das Vorherrschen eines Themas über einen längeren Zeitraum gemeint – so zum Beispiel die intensive Beschäftigung mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen oder die Anregung, die von einer neuen, als erfüllend erlebten beruflichen Tätigkeit ausgeht.

Mit „chronischer thematischer Strukturierung“ sind schließlich die über größere Abschnitte des Lebenslaufes (manchmal sogar über den gesamten Lebenslauf) bestimmenden Themen eines Menschen angesprochen – und eben mit Blick auf diese verwendet Hans Thomae den Begriff des Daseinsthemas (oder Lebensthemas). Als Beispiel ist hier die intensive Ausübung einer Tätigkeit zu nennen, die immer und immer wieder als erfüllend und identitätsstiftend erlebt wird (Kruse, 2005b).

Lebensstrukturen

Daniel Levinson (1986) führt in seiner Konzeption von Entwicklung das Konzept der Lebensstruktur ein, mit dem er das zu einem spezifischen Zeitpunkt der individuellen Entwicklung bestimmende, innere Lebensmuster umschreibt. Als zentrale Komponenten dieses Lebensmusters wertet er dabei die persönlich bedeutsamen Beziehungen des Individuums zu den verschiedenen Anderen in der externalen Welt. Die verschiedenen Anderen können Menschen sein, eine Gruppe, eine Institution, eine Kultur, ein bestimmter Ort. Von bedeutsamen Beziehungen ist – der Theorie Levinsons zufolge – dann auszugehen, wenn das Selbst in hohem Maße in diese Beziehung eingebunden ist, in diese investiert, aber durch diese zugleich wertvolle Anstöße und Anregungen erhält. In diesem Prozess der Entwicklung, Erhaltung und Erweiterung bedeutsamer Beziehungen entwickelt und differenziert sich das Selbst. Aus diesem Grund ist gerade der Beziehung zu den verschiedenen Anderen große Bedeutung für das Verständnis der psychischen Entwicklung beizumessen.

Lebenserfahrung und Lebenssinn des Menschen

In ihrer theoretisch-konzeptionellen Arbeit mit dem Titel Lebenserfahrung, Lebenssinn und Weisheit (2005) hebt die Psychologin Ursula Staudinger hervor, dass unter Lebenserfahrung vielfach nur das Sammeln von Erfahrungen verstanden werde. Dieses Verständnis von Lebenserfahrung sei allerdings einer tieferen Analyse des Lebenswissens abträglich; vielmehr komme es hier auf die bewusst reflektierten Lebenserfahrungen an, aus denen erst Lebensverständnis und Lebenseinsicht resultierten. In ganz ähnlicher Richtung argumentieren Ursula Lehr (2011) und Leopold Rosenmayr (2011), wenn sie hervorheben, dass Erfahrungen allein keine Grundlage für die kreative Bewältigung von Anforderungen, so auch von Anforderungen des Lebens, bildeten, sondern dass die Verarbeitungstiefe dieser Erfahrungen entscheidend für Kreativität sei.

Lebenserfahrung in diesem Sinne wird von Ursula Staudinger mit „Lebenserfahren-Sein“ gleichgesetzt, wobei dies auch im Sinne des „Etwas-Besonderes-Sein“ zu verstehen sei. Etwas-Besonderes-Sein ist nicht in der Hinsicht zu interpretieren, dass sich jemand über andere erhebt. Es meint vielmehr, dass sich das Individuum als von anderen verschieden, als unwiederholbar begreift. „In jede zur Lebenserfahrung verarbeitete Erinnerung fließen Erwartungen, Werte, Ziele oder Sinndimensionen – also in gewisser Weise die Zukunft – als organisierende Größen ein.“ (Staudinger, 2005. S. 741).

In engem Bezug zu Lebenserfahrungen steht der Lebenssinn eines Menschen. Denn der Lebenssinn gründet zum einen auf der Ordnung des bisherigen Lebens zu einem integrierten Ganzen (Vergangenheitsperspektive), zum anderen auf der erfolgreichen Verfolgung von Lebenszielen (Zukunftsperspektive), wobei die Definition von Lebenszielen auch auf Erkenntnissen gründet, die aus einzelnen Ereignissen und Geschehnissen in der Vergangenheit abgeleitet wurden. „Lebenssinn ist nicht etwas einmal ‚Gefundenes‘, das wir dann besitzen, sondern Lebenssinn ist dynamisch. Lebenssinn muss in der Auseinandersetzung mit den jeweils gegebenen Lebensumständen immer wieder neu gefunden, besser gesagt, neu konstruiert werden.“ (Staudinger, 2005, S. 752 f.)

Lebensbewertung

Das von M. Powell Lawton et al. (1999) entwickelte und empirisch vielfach überprüfte theoretische Konzept der „Lebensbewertung“ (valuation of life) ist für ein tieferes Verständnis der seelisch-geistigen Situation kranker Menschen bedeutsam. Lebensbewertung definieren Lawton et al. als das Ausmaß, in dem eine Person an ihr Leben (present life) gebunden ist – und dies nicht allein aufgrund der Erfahrung von Freude oder fehlender Belastung, sondern auch und vor allem aufgrund von Plänen und Zielen, Hoffnungen, Sinn-Erleben, Kompetenz im Umgang mit gegenwärtigen Anforderungen, Zukunftsbezogenheit und Fortbestehen (im Leben anderer Menschen). Nach M. Powell Lawton et al. ist die Lebensbewertung als ein Komplex aus Bewertungen, Emotionen und Projektionen in die Zukunft zu verstehen. Lebensbewertung definiert Lawton als „the extent to which the person is attached to his or her present life, for reasons related to a sense not only of enjoyment and the absence of distress, but also hope, futurity, purpose, meaningfulness, persistence, and self-efficacy.“ (Lawton et al., 1999, S. 407). Nachdem die Nützlichkeit dieses Konzepts mit Blick auf die Vorhersage der individuellen Bindung an das Leben wie auch der Vorhersage der subjektiven Beurteilung einer durch Einschränkungen und Verluste gekennzeichneten Situation in einer empirischen Studie mit über 600 gesunden und chronisch kranken älteren Menschen bestätigt werden konnte, ist durch zukünftige Studien zu klären, wie kulturelle, soziale, gesundheitliche und psychologische Faktoren zur Entstehung einer positiven oder negativen Lebensbewertung beitragen.

Generali-Studie ‚Hohes Alter‘: „Sorge“ im Erleben alter Menschen

An dieser Interviewstudie haben N = 400 Personen, 66 % Frauen, 34 % Männer, teilgenommen, die über Verbände und Vereine, Kirchen, Bildungseinrichtungen, stationäre und ambulante Pflegedienste und niedergelassene Ärzte gewonnen wurden (Generali Stiftung & Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg, 2014; Kruse & Schmitt, 2015). Ausschlusskriterien bildeten kognitive Symptome, die auf das Vorliegen einer Demenz schließen ließen, sowie psychische Symptome, die auf eine klinisch manifeste depressive Störung deuteten. 65 % der Teilnehmer waren zwischen 85 und 89 Jahren, 27 % zwischen 90 und 94 Jahren, 8 % zwischen 95 und 98 Jahren alt. 30 % waren verheiratet, 58 % verwitwet, 7 % ledig, 5 % geschieden. 27 % hatten Abitur, 48 % einen Mittelschulabschluss, 17 % einen Volksschulabschluss, 8 % keinen Abschluss. 74 % lebten in einem Privathaushalt, 26 % in einem Wohnstift, Altenheim oder Pflegeheim. 21 % waren pflegebedürftig nach SGB XI. – Es wurden ausschließlich Interviews durchgeführt. Diese dauerten zwischen 90 und 150 min und fanden in der Wohnung der Teilnehmer statt. Zunächst wurde die Zielsetzung der Studie – zu einer differenzierten Einschätzung des Erlebens hochbetagter Menschen zu gelangen – beschrieben und auf Fragen der Interviewpartner zur Studie eingegangen. Die Teilnehmer wurden dann darum gebeten, die subjektiv wichtigsten Stationen ihrer Biografie zu schildern; danach sollten sie möglichst differenziert auf Erwartungen, Hoffnungen sowie Befürchtungen im Hinblick auf ihre persönliche Zukunft eingehen. In einem weiteren Schritt standen die aktuellen Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken im Vordergrund: Die Teilnehmer sollten schildern, was sie aktuell besonders beschäftigt. Hier wurden Nachfragen gestellt, um weitere Ausführungen zu diesen Erlebnissen, Erfahrungen und Gedanken anzustoßen. Nach Abschluss dieses Interviewteils wurde gefragt, ob und in welcher Weise sich die Teilnehmer um andere Menschen kümmern bzw. sich mit der Lebenssituation anderer Menschen beschäftigen. Die ersten 60 Interviews wurden jeweils von zwei unabhängig voneinander arbeitenden Wissenschaftlern ausgewertet. In einer ersten Stufe wurde dabei für jedes von 30 Interviews ein eigenes Kategoriensystem erstellt, wobei die Auswerter die von ihnen erstellten Kategoriensysteme miteinander verglichen und zur Übereinstimmung brachten. In einer zweiten Stufe wurden diese 30 Kategoriensysteme nebeneinander gestellt und von den beiden Auswertern zu einem allgemeinen, übergreifenden Kategoriensystem weiterentwickelt. In einer dritten Stufe wurden weitere 30 Interviews auf der Grundlage dieses übergreifenden Kategoriensystems ausgewertet, wobei auch hier die Auswerter unabhängig voneinander arbeiteten. Der Vergleich dieser 30 Interviewauswertungen diente dazu, die Interrater-Reliabilität abzuschätzen und ggf. notwendige Modifikationen des Kategoriensystems vorzunehmen, mit dem schließlich die weiteren 340 Interviews ausgewertet wurden.

Daseinsthemen

Nachfolgend sind die 27 von uns identifizierten Daseinsthemen aufgeführt; in Klammern ist der prozentuale Anteil jener Personen aus der Stichprobe (N = 400 Personen) angeführt, bei denen das jeweilige Daseinsthema ermittelt werden konnte.

  1. 1.

    Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begegnung mit anderen Menschen (76)

  2. 2.

    Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Entwicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eigenen Familie und in nachfolgenden Generationen (72)

  3. 3.

    Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen (61)

  4. 4.

    Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geachtet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen (60)

  5. 5.

    Sorge vor dem Verlust der Autonomie (im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstständigkeit) (59)

  6. 6.

    Bemühen um die Erhaltung von (relativer) Gesundheit und (relativer) Selbstständigkeit (55)

  7. 7.

    Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgender Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann (44)

  8. 8.

    Intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst, differenziertere Wahrnehmung des eigenen Selbst, vermehrte Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung, Rückbindung von Interessen und Tätigkeiten an frühe Phasen des Lebens (41)

  9. 9.

    Phasen von Einsamkeit (39)

  10. 10.

    Fehlende oder deutlich reduzierte Kontrolle über den Körper und spezifische Körperfunktionen, Sorge vor immer neuen körperlichen Symptomen (36)

  11. 11.

    Fragen der Wohnungsgestaltung (Erhaltung von Selbstständigkeit, Teilhabe, Wohlbefinden) (34)

  12. 12.

    Phasen der Niedergedrücktheit (31)

  13. 13.

    Chronische oder passagere Schmerzzustände und Bemühen, diese zu kontrollieren (30)

  14. 14.

    Intensive Beschäftigung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens (30)

  15. 15.

    Intensive Beschäftigung mit einem Leben nach dem Tod; diese Beschäftigung ist dabei auch eingebettet in religiöse oder spirituelle Kontexte (28)

  16. 16.

    Sorge vor fehlender finanzieller Sicherung (24)

  17. 17.

    Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach Engagement für andere Menschen (23)

  18. 18.

    Fehlende Achtung, Zustimmung und Aufmerksamkeit durch Familienangehörige – vor allem nachfolgender Generationen (23)

  19. 19.

    Selbstzweifel mit Blick auf die Attraktivität der eigenen Person für andere Menschen (20)

  20. 20.

    Innere Beschäftigung mit Fragen der Art und Weise des Sterbens wie auch des Sterbeortes (19)

  21. 21.

    Probleme bei der finanziellen Sicherung des Lebensunterhalts (18)

  22. 22.

    Subjektiv erlebte kognitive Einbußen, die vorübergehend die Sorge auslösen können, an einer Demenz erkrankt zu sein (17)

  23. 23.

    Beschäftigung mit dem Leben und dem Schicksal persönlich bedeutsamer Gruppen und Orte (zum Beispiel des Geburts- und Heimatortes) (15)

  24. 24.

    Fehlende Achtung und Aufmerksamkeit von Mitmenschen, Leben in Distanz zu anderen, auch Konflikte und Unverständnis, anderen nicht näherkommen (13)

  25. 25.

    Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach verständnisvoller und tiefsinniger Kommunikation mit nachfolgenden Generationen (12)

  26. 26.

    Intensive Zuwendung zur Menschheit und Schöpfung (11)

  27. 27.

    Intensive Auseinandersetzung mit dem Leben eines Verstorbenen, der bedeutsam für das eigene Leben gewesen und es auch heute noch ist (10)

Es fällt auf, dass sich in den ersten vier Daseinsthemen wie auch im siebten Daseinsthema die erlebte Bezogenheit des Individuums widerspiegelt, wobei sich diese im zweiten wie auch im vierten Thema als Sorge für und Sorge um andere Menschen, im siebten Daseinsthema als Wissensweitergabe ausdrückt. Im zweiten, vierten und siebten Daseinsthema sind Sorge bzw. Wissensweitergabe vor allem mit dem Wunsch assoziiert, die Lebenssituation nachfolgender Generationen fördern zu können: Ausdruck von Generativität. Im vierten Daseinsthema wird ein weiteres wichtiges Motiv des inneren und äußeren Engagements für andere Menschen – vor allem nachfolgender Generationen – sichtbar: in diesem Engagement vermittelt sich dem Individuum die Erfahrung, eine Aufgabe zu haben, von anderen Menschen gebraucht zu werden. Das zweite Daseinsthema spricht für die Notwendigkeit, zwischen der Sorge für und der Sorge um andere Menschen zu differenzieren: denn die intensive Beschäftigung bildet Ausdruck der Sorge um andere Menschen. Erst mit dem fünften Daseinsthema wird der Themenbereich der Erhaltung von Autonomie betreten. Die Tatsache, dass dieser Themenbereich in der Rangreihe für die Gesamtstichprobe erst deutlich später aufscheint als jener der Bezogenheit (mit seinen Teilaspekten Sorge und Wissensweitergabe), weist auf die Notwendigkeit hin, bei der Betrachtung von Lebensqualität und Wohlbefinden nicht allein und nicht einmal primär die Autonomie in das Zentrum zu rücken, sondern auch und sogar primär das Erleben von Bezogenheit. Man kann dies auch wie folgt ausdrücken: die persönliche Würde verwirklicht sich – aus der Sicht des Individuums – vor allem in den Beziehungen zu anderen Menschen, zudem auch in der praktizierten und erlebten Mitverantwortung für andere Menschen. In der Terminologie des englischen Theologen und Schriftstellers John Donne ausgedrückt: „No man is an island, entire for itself. Every man is a piece of the continent, a part of the main“ (2008, S. 78). Im achten, vierzehnten und fünfzehnten Daseinsthema tritt die Introversion mit Introspektion in das Zentrum: vor allem im achten Daseinsthema werden die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person und ihrer Biografie sowie die differenzierte Sicht auf das eigene Selbst thematisch; diese beiden Aspekte bilden entscheidende Ausdrucksformen des Konstrukts „Introversion mit Introspektion“. Im vierzehnten und fünfzehnten Daseinsthema wird die Introversion und Introspektion um den Aspekt der Transzendenz erweitert: die intensive Beschäftigung mit der eigenen Endlichkeit (siehe vierzehntes Daseinsthema), vor allem aber die Frage, inwieweit eine (gewandelte) Existenzform auch nach Abschluss der irdischen Existenz vorstellbar ist, kann als Ausdrucksform eines Transzendenz-Themas gedeutet werden. – Die aufgeführten Daseinsthemen spiegeln auch erlebte Grenzen und Einschränkungen in der Gegenwart bzw. Befürchtungen mit Blick auf die Zukunft wider. Auch wenn die positiv konnotierten Beziehungen zu anderen Menschen innerhalb der Sequenz der ermittelten Daseinsthemen dominieren, so sind doch auch Befürchtungen erkennbar, von anderen Menschen nicht geachtet, nicht differenziert wahrgenommen, nicht wirklich ernstgenommen zu werden. Phasen von Einsamkeit werden immerhin von fast 40 % der Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen berichtet. Auch Phasen der Niedergeschlagenheit sowie Folgen funktioneller Einbußen und chronischer Schmerzzustände bilden bedeutende Daseinsthemen. – Die gesamte Sequenz der ermittelten Themen weist auf eine hohe Komplexität des Erlebens, Verhaltens und Handelns alter Menschen hin. In aller Regel geben die Interviews nicht Zeugnis von nur positiv oder aber nur negativ konnotierten Themen; vielmehr konnten wir bei den meisten Studienteilnehmern und -teilnehmerinnen sehr unterschiedliche, auch emotional unterschiedlich besetzte Themen erkennen. Doch wurde zugleich deutlich, und dies zeigt die angeführte Sequenz der Themen sehr klar auf, dass die sich bietenden Möglichkeiten der Reziprozität von Sorge – im Sinne empfangener und gegebener Sorge – einen Themenkomplex bildet, der (auch)m im hohen Alter besonderes Gewicht besitzt. Daraus erwächst – wie bereits hervorgehoben wurde – für Gesellschaft und Kultur die Aufgabe, Gelegenheitsstrukturen zu schaffen, die alten Menschen die Möglichkeit bieten, dieses Sorgemotiv umzusetzen. Wir haben in dieser Studie N = 3000 kulturelle und soziale Institutionen angeschrieben und um eine ausführliche Darstellung der von ihnen unterbreiteten Angebote für alte Menschen gebeten; zugleich haben wir die Frage gestellt, inwieweit alte Menschen auch gezielt in ihrem Motiv, etwas für andere Menschen zu tun und sich für andere Menschen zu engagieren, angesprochen werden. Von den N = 3000 angeschriebenen Institutionen haben N = 850 ausführlich und differenziert geantwortet. Der Tenor der Antworten lautete wie folgt: Menschen im neunten und zehnten Lebensjahrzehnt würden nicht gezielt als jene angesprochen, die etwas für andere Menschen (außerhalb der eigenen Familie) tun, die sich für andere Menschen (außerhalb der Familien) engagieren sollten. Denn es werde davon ausgegangen, dass im neunten und zehnten Lebensjahrzehnt das Motiv der Mitverantwortung und des Engagements für andere Menschen (außerhalb der Familie) immer weiter zurückgehe und irgendwann gar nicht mehr gegeben sei. Die hier berichteten empirischen Befunde scheinen eine andere Sprache zu sprechen (Kruse & Schmitt, 2016).

Sorgeformen

Ergänzend zu der Frage, was einen derzeit besonders beschäftige, wurde die Frage gestellt, auf welche Art und Weise man sich um andere Menschen kümmere bzw. sich innerlich mit anderen Menschen beschäftige. Es wurden in der Auswertung 20 „Sorgeformen“ ermittelt, die nachfolgend aufgeführt sind (in Klammern ist der prozentuale Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer angegeben, bei denen sich die jeweilige Sorgeform identifizieren ließ):

  1. 1.

    Intensive Beschäftigung mit dem Lebensweg nachfolgender Generationen der Familie (85)

  2. 2.

    Unterstützende, anteilnehmende Gespräche mit nachfolgenden Generationen der Familie (78)

  3. 3.

    Intensive Beschäftigung mit dem Schicksal nachfolgender Generationen (72)

  4. 4.

    Unterstützung von Nachbarn im Alltag (68)

  5. 5.

    Unterstützung von Familienangehörigen im Alltag (65)

  6. 6.

    Unterstützung junger Menschen in ihren schulischen Bildungsaktivitäten (58)

  7. 7.

    Gezielte Wissensweitergabe an junge Menschen (berufliches Wissen, Lebenswissen) (54)

  8. 8.

    Finanzielle Unterstützung nachfolgender Generationen der Familie (49)

  9. 9.

    Beschäftigung mit der Zukunft des Staates und der Gesellschaft (48)

  10. 10.

    Freizeitbegleitung junger Menschen (41)

  11. 11.

    Besuch bei kranken oder pflegebedürftigen Menschen (38)

  12. 12.

    Existentielle Gespräche vor allem mit jungen Familienangehörigen (33)

  13. 13.

    Zurückstellung eigener Bedürfnisse, um Familienangehörige nicht zu stark zu belasten (29)

  14. 14.

    Unregelmäßig getätigte Spenden; regelmäßige Spenden an Vereine oder Organisationen (27)

  15. 15.

    Anderen Menschen in der Lebensführung und Belastungsbewältigung Vorbild sein (24)

  16. 16.

    Kirchliches Engagement (Freiwilligentätigkeit in kirchlichen Organisationen) (23)

  17. 17.

    Beschäftigung mit der Zukunft des Glaubens und der Kirchen (19)

  18. 18.

    Politisches Engagement (Freiwilligentätigkeit in Kommunen oder in Parteien) (17)

  19. 19.

    Gebete für andere Menschen (16)

  20. 20.

    Besuchsdienste in Kliniken und Heimen (12)

Der Überblick über die verschiedenen Sorgeformen zeigt, dass zwischen praktischer Unterstützung, die anderen Menschen gegeben wird, und innerer Anteilnahme zu differenzieren ist. Die Bedeutung letzterer hatte sich in der hohen Besetzung des ersten und des dritten Daseinsthemas gezeigt, in denen die Beschäftigung mit der Lebenssituation eines anderen Menschen zum Ausdruck kommt. Zugleich zeigen die Befunde, dass alte Menschen ein bemerkenswertes instrumentelles Engagement unter Beweis stellen, wie sich dieses in konkreter, praktischer Unterstützung anderer Menschen, auch der Angehörigen junger Generationen, verwirklicht (Kruse & Schmitt, 2015).

Älterwerden in Balance: Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen

Die im Oktober 2019 abgeschlossene Studie „Älterwerden in Balance“ setzt sich aus acht Studienteilen (A-H) zusammen (Kruse et al., 2020). Im Studienteil A standen Interviews und der Einsatz psychometrischer Instrumente in einer Gruppe von N = 400 Frauen und Männern zwischen 75 und 95 Jahren im Zentrum. Im Vergleich zur 75-jährigen und älteren Bevölkerung in Deutschland sind in der Stichprobe a) Männer, b) Personen mit einem Pflegegrad von 2 und höher sowie c) Heimbewohner und Heimbewohnerinnen deutlich überrepräsentiert. Dies erklärt sich daraus, dass in der Stichprobe unterschiedliche Lebenswelten in ausreichender Anzahl abgebildet werden sollten, um auf diese Weise Kontraste zwischen Lebenswelten bilden und auf der Grundlage des Vergleichs der Lebenswelten differenzierende Aussagen über Gesundheitsförderung und Prävention treffen zu können. Vor dem Hintergrund der im Vergleich zu vorliegenden Survey-Untersuchungen kleinen Stichprobengröße wurde eine derartige Strategie als eine Voraussetzung für differenzierte Analysen zur Bedeutung objektiver Lebensbedingungen angesehen.

In den halbstrukturierten Interviews (das sich um 30 Leitfragen zentrierte) sollten auch die dominanten Anliegen und Daseinsthemen der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer erfasst werden: Was beschäftigt Frauen und Männer der Altersgruppe 75 bis 95 Jahre? Von welchen Freuden, Sorgen und Belastungen ist ihr aktuelles Leben bestimmt? Wie bewerten sie ihre aktuelle Lebenssituation und wie blicken sie in die Zukunft? Welche Hoffnungen und Befürchtungen werden beim Blick in die Zukunft genannt? Das Interview wurde in aller Regel von zwei Personen geführt; einem Interviewer/einer Interviewerin sowie einem Interviewassistenten/einer Interviewassistentin. Zu Beginn des Interviews wurde der Interviewpartner/die Interviewpartnerin noch einmal über das Ziel der Studie aufgeklärt: Es gehe in dieser darum, Informationen über die Lebens- und Alltagsgestaltung im Alter zu erhalten, über das gesundheitliche Befinden alter Menschen, über den Umgang mit Anforderungen, Herausforderungen und Belastungen, schließlich über das, was alte Menschen für ihre körperliche und seelische Gesundheit tun, wie zufrieden sie mit ihrer gesundheitlichen Versorgung seien.

„Daseinsthemen“ wurden auch in dieser Studie im Sinne von wiederkehrenden Anliegen und Themen, die in den Interviews spontan geäußert und erläutert wurden, operationalisiert. Die Themen wurden auf einer 3-stufigen Skala mit den Skalenpunkten: 1 = eher geringe, 2 = mittlere, 3 = eher hohe Ausprägung eingestuft. Grundlage für die Skalierung bildeten drei Merkmale: a) Häufigkeit, mit der Ereignisse und Entwicklungen spontan in ihrem Bezug zum entsprechenden Daseinsthema im Interview spontan angeführt wurden; b) Differenziertheit der Schilderung des Daseinsthemas im Interviews (vor allem Anreicherung mit biografischem Material); c) emotionale Intensität, mit der das Daseinsthema geschildert wurde (im Sinne einer inneren Beteiligung). Da N = 358 Interviews von zwei Personen geführt wurden, wurde die Einstufung der einzelnen Daseinsthemen nach Abschluss des Interviews von beiden Interviewern gemeinsam vorgenommen; im Falle eines Interviews nur mit einer Person (in N = 42 Fällen) wurde das Interview einer anderen Person aus der Arbeitsgruppe mit der Bitte vorgestellt, die vorgenommene Skalierung der Daseinsthemen zu prüfen. (Das Kategoriensystem der Daseinsthemen wurde in einer Pilotstudie mit N = 30 Personen erstellt.) Nachfolgend sind die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (S) für alle Daseinsthemen angegeben:

Daseinsthema

M

SD

1

Freude an der Natur

2.3

.54

2

Hohes Alter als besondere Herausforderung der Psyche

2.2

.56

3

Freude am Zusammensein mit anderen Menschen

2.2

.60

4

Erfahrung, von anderen Menschen gebraucht werden

2.2

.72

5

Anderen Menschen etwas geben können

2.2

.72

6

Wachsende Bedeutung des Lebensrückblicks

2.1

.70

7

Eine Aufgabe im Leben haben

2.1

.68

8

Zufriedenstellende/gute (physische/mentale) Gesundheit

2.1

.63

9

Möglichkeiten selbstverantwortlicher Lebensgestaltung/erfüllter Alltag

2.1

.59

10

Belastendes SchmerzerlebenFootnote 1

2.0

.84

11

Freude an der Musik/Kunst/Literatur

2.0

.73

12

Glaubens- und Transzendenzerfahrungen

2.0

.70

13

Sorge vor wachsender Einsamkeit

2.0

.62

14

Erfahrung eigener seelisch-geistiger Reifung

1.9

.71

15

Seelisch-geistige Gewinne/seelisch-geistiges Wachstum

1.9

.70

16

Stärkeres Angewiesensein auf Hilfeleistungen durch andere Menschen und Institutionen

1.9

.60

17

Sorge vor ausgeprägten sensorischen Einbußen

1.9

.59

18

Großes Interesse anderer Menschen am hohen Alter

1.9

.60

19

Sorge vor kognitiven Verlusten und abnehmender Orientierung

1.8

.59

20

Phasen von schmerzlich empfundener Einsamkeit

1.8

.61

21

Leben in der eigenen Wohnung

1.7

.71

22

Stärkeres Angewiesensein auf Beziehungen zu anderen Menschen

1.7

.69

23

Sorge vor Aufgabe der eigenen Wohnung

1.7

.66

24

Erfahrung der Abwertung, Meidung, Geringschätzung durch andere Menschen

1.4

.56

Zunächst lässt sich auch in dieser Stichprobe die große Bedeutung der Bezogenheit – und dabei auch im Sinne der Sorge für andere und um andere Menschen – für das Erleben alter Menschen beobachten: im dritten, vierten und fünften Daseinsthema spiegelt sich die Bezogenheit wider; im vierten und fünften Daseinsthema zugleich die Sorge um bzw. für andere Menschen. Auch das siebte Daseinsthema – eine Aufgabe im Leben haben – spricht für die Sorge um bzw. für andere Menschen (wenn auch nicht ausschließlich), denn in den meisten Interviews wurde die Förderung der Lebenssituation anderer Menschen – dabei ausdrücklich auch junger Menschen – als wichtige Aufgabe im Leben genannt. Dabei konnte diese Förderung auch eher „symbolischer“ Natur sein: entscheidend war das Motiv erlebter bzw. praktizierter Mitverantwortung („Weltgestaltung“). Zur Aufgabe im Leben konnte weiterhin die Aufrechterhaltung von Selbstständigkeit und Gesundheit wie auch von Teilhabe und persönlichen Interessen gehören, was zeigt, wie verschiedenartig und umfassend der Aufgabencharakter des Lebens subjektiv gedeutet wird: mit diesem Thema ist somit die Integration von Selbst- und Weltgestaltung angesprochen. – Es finden sich fünf Daseinsthemen (sechstes, elftes, zwölftes, vierzehntes und fünfzehntes Thema), in denen sich eine vermehrte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst (auch in seiner biografischen Dimension) im Zentrum steht („Selbstgestaltung“). Vor allem die Erfahrung seelisch-geistiger Reifung im Alternsprozess, die erlebten seelisch-geistigen Gewinne sowie die wachsende Bedeutung des Lebensrückblicks sprechen für diese Auseinandersetzung. Aber auch Glaubens- und Transzendenzerfahrungen weisen auf diese hin.

Die „Freude an der Natur“ weist den höchsten Mittelwert auf; dies zeigt, wie wichtig der Zugang zur Natur auch im Alter ist, wie sehr das Eingebundensein in die Natur das Lebensgefühl vieler Menschen im Alter bestimmt.

Eine ähnlich große Bedeutung wie das Thema „Freude an der Natur“ hat in der Gesamtgruppe das „Hohes Alter als besondere Herausforderung für die Psyche“. Was ist mit diesem Thema gemeint? Zum einen die Erfahrung erhöhter Verletzlichkeit, die in Themen wie „Belastendes Schmerzerleben“, „Sorge vor ausgeprägten sensorischen Einbußen“, „Sorge vor kognitiven Verlusten und abnehmender Orientierung“, „Vermehrtes Angewiesensein auf Hilfen durch andere Menschen und Institutionen“ und „Sorge vor Aufgabe der eigenen Wohnung“ (aufgrund von funktionellen Einbußen, müsste hinzugefügt werden) deutlich zum Ausdruck kommt. Zum anderen die schmerzliche Erfahrung von (unfreiwilliger) Einsamkeit und die Sorge vor wachsender Einsamkeit, die sich in entsprechenden Daseinsthemen widerspiegelt. Doch diese beiden Erfahrungen genügen nicht, um aus der Sicht alter Menschen von „besonderen Herausforderungen des hohen Alters für die Psyche“ zu sprechen. Denn würden sich alte Menschen alleine auf diese beiden Erfahrungen konzentrieren, so müsste ihnen das hohe Alter als eine „Belastung“ erscheinen. Mit „Herausforderung“ wird assoziiert, dass das hohe Alter im eigenen Erleben sowohl mit Möglichkeiten eines sinnerfüllten Lebens als auch mit Verlusten, Einschränkungen und Grenzen verbunden wird. Die Möglichkeiten eines sinnerfüllten Lebens zu nutzen, erfordert aus Sicht vieler alter Menschen, Verluste, Einschränkungen und Grenzen innerlich zu verarbeiten, zu überwinden oder – wie dies Hans Georg Gadamer einmal ausgedrückt hat (Gadamer, 1993) – zu „verwinden“. Diese seelische (emotionale und kognitive) Aufgabe bildet den Kern der „Herausforderung“, von der in den Interviews vielfach gesprochen wurde.

Einflüsse auf den Ausprägungsgrad der Daseinsthemen

Die Standardabweichungen weisen auf eine hohe Heterogenität mit Blick auf die angeführten Daseinsthemen hin: diese finden sich in der Gesamtgruppe in unterschiedlicher Ausprägung. Damit stellte sich in der Studie die Aufgabe der Suche nach jenen Situationsmerkmalen, die Einfluss auf den Ausprägungsgrad der Daseinsthemen ausüben. In univariaten wie auch in multivariaten Analysen schälten sich immer wieder die folgenden drei Einflussgrößen heraus: a) Soziale Schichtzugehörigkeit, b) Pflegegrad und c) Schmerzerleben (das heißt: Einfluss eines Daseinsthemas auf den Ausprägungsgrad anderer Daseinsthemen). In multivariaten Regressionsgleichungen waren es vor allem diese drei Variablen, die jeweils ein vergleichsweise hohes Beta-Gewicht aufwiesen und in ihrer Kombination einen vergleichsweise hohen Anteil an Varianz aufzuklären vermochten. Deutlich geringeren Einfluss auf die Ausprägung der Daseinsthemen wiesen das chronologische Alter sowie die Geschlechtszugehörigkeit auf. Dies bedeutet: Vor allem jene Menschen, die einer unteren Sozialschicht angehörten, bei denen ein Pflegegrad von mindestens „2“ vorlag und für die „Schmerz“ ein Daseinsthema von mittlerer oder großer persönlicher Bedeutung bildete, zeigten mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit eine daseinsthematische Struktur, die eher von Einschränkungen, Verlusten und Grenzen bestimmt war. Zugleich zeigten diese Personen auch in den von uns eingesetzten Fragebögen 1) zum Kohärenzgefühl, 2) zur Depressivität, 3) zur Lebenszufriedenheit, 4) zum Optimismus, 5) zur subjektiven Gesundheit, 6) zur Einstellung zum eigenen Alter, 7) zur Mitverantwortung, 8) zu den Barrieren der Mitverantwortung und 9) zu den seelisch-geistigen Gewinnen (hoch-)signifikant ungünstigere Werte. Vor allem dann, wenn die drei genannten Merkmale kombiniert wurden, wies die daseinsthematische Struktur mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit in eine eher negative Richtung.

„Eine Aufgabe im Leben haben“: Bedeutung für die psychologische Gesamtsituation

Als ein für die psychologische Gesamtsituation sehr wichtiges Merkmal erwies sich in der Studie das Daseinsthema „Eine Aufgabe im Leben haben“. Dies zeigte sich in den Zusammenhängen zwischen diesem Daseinsthema einerseits und den mit den (bereits genannten) Fragebögen erfassten psychologischen Merkmalen andererseits. Zwischen allen Daseinsthemen und einzelnen der neun psychologischen Merkmale fanden sich statistisch signifikante Zusammenhänge. Die meisten Zusammenhänge mit diesen Merkmalen (nämlich acht) wies das Daseinsthema „Eine Aufgabe im Leben haben“ auf. Es erwies sich damit als besonders wichtig, wenn nicht sogar als zentral für das Verständnis der psychologischen Gesamtsituation der Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen.

Folgt man den Ergebnissen der univariaten Varianzanalysen, so lässt sich konstatieren: Jene Menschen, die davon überzeugt sind, in ihrem Leben eine Aufgabe zu haben, zeigen eine deutlich bessere psychologische Gesamtsituation. Betrachtet man die am stärksten ausgeprägten Zusammenhänge, so fallen vor allem Kohärenzgefühl, Lebenszufriedenheit, Optimismus und mitverantwortliche Potenziale auf.

Die hervorgehobene Bedeutung, die das Merkmal „Eine Aufgabe im Leben haben“ für die psychologische Gesamtsituation besitzt, erfordert auch eine nähere Betrachtung dessen, was genau unter diesem Merkmal zu verstehen ist. Bei der Erstellung des Kategoriensystems war es uns wichtig, die in vielen Interviews der Pilotuntersuchung getroffenen Aussage, a) wonach man auch im Alter nach einer Aufgabe suche, b) wonach sich auch im Alter Aufgaben stellten, c) wonach man im Alter keine Aufgabe mehr habe, d) wonach sich im Alter keine Aufgaben mehr stellten, e) wonach man im Alter gar nicht mehr nach einer Aufgabe strebe (zum Beispiel, weil man in der Biografie genug getan habe), zu kategorisieren, wobei uns bewusst war, dass mit der Kategorie „Eine Aufgabe im Leben haben“ individuell unterschiedliche Aspekte verknüpft sind – genauso wie mit der Überzeugung, keine Aufgabe mehr zu haben. Unter „Aufgabe“ wurde zum einen das Engagement für andere Menschen (für einen Verein, für einen Verband) verstanden, zum anderen die Nutzung (die Ausschöpfung, das Auskosten) von Möglichkeiten, ein selbstständiges, selbstverantwortliches, persönlich sinnerfülltes Leben zu führen, zum dritten die Übernahme von Verantwortung innerhalb oder außerhalb der Familie, zum vierten die Erhaltung von Gesundheit und Selbstständigkeit (im Sinne funktionaler/ alltagspraktischer Autonomie). Schließlich erblickten nicht wenige Studienteilnehmer und –teilnehmerinnen im Lebensrückblick, aber auch in der Vorsorge für die Zukunft eine bedeutende Aufgabe. Für unsere Deutung von „Aufgabe“ war der subjektiv gegebene Aufforderungscharakter wichtig, der von einem Bereich ausging, sowie die Betonung des persönlichen Engagements zur Umsetzung dieser Aufforderung.

Die aufgezeigten Zusammenhänge mit den psychologischen Merkmalen sind für das tiefere Verständnis dessen, was unter „Aufgabe“ zu verstehen ist, hilfreich: Es wurde schon auf den Zusammenhang mit den „Mitverantwortlichen Potenzialen“ hingewiesen, der deutlich macht, dass die „Aufgabe“ auch darin gesehen wird, das Leben in den Dienst eines anderen Menschen, eines Vereins, der Gesellschaft, einer Idee und/oder der Schöpfung zu stellen; hier ergibt sich eine enge Nähe zu der von Viktor Frankl (2005) unterbreiteten Definition von Sinn-Erleben, das sich in dem Maße einstelle, in dem das Individuum sein Leben in den Dienst von etwas stelle, das nicht es selbst ist. Ein weiteres wichtiges Merkmal, mit „Eine Aufgabe im Leben haben“ sehr eng zusammenhängt, ist das „Kohärenzgefühl“, welches in der Definition von Aaron Antonovsky (1997) die subjektive Überzeugung beschreibt, externe und interne Reize verstehen, diese Reize (auch wenn sie mit Konflikten und Belastungen verknüpft sind) bewältigen zu können und in den Bewältigungsversuchen innerlich zu wachsen, sodass es sich „lohne“, viel psychische Energie in die Bewältigung zu investieren. Der Optimismus – als weiteres Merkmal, mit dem die subjektiv attribuierte Aufgabe in einem sehr engen statistischen Zusammenhang steht – verdeutlicht einmal mehr, dass die Aufgabe im Erleben der Person nicht (oder nicht notwendigerweise) als eine Belastung erscheint, sondern eher als eine Anforderung oder auch als eine Aufforderung (zum Beispiel zu engagiertem Handeln). Es ist aber auch möglich – und zeigte sich in den Interviews – dass auch belastende Situationen als Aufgabe und nicht nur als Belastung empfunden werden; so zum Beispiel dann, wenn der bzw. die hilf- oder pflegebedürftige Partner bzw. Partnerin betreut oder gepflegt werden muss. Das Müssen kann hier – neben allen belastenden Aspekten – auch eine positive affektive Komponente aufweisen, weil in der Betreuung oder Pflege eine Aufgabe gesehen wird, die sich auch aus der Geschichte der Partnerschaft und der Verantwortung, die aus dieser gemeinsamen Geschichte erwächst, ergibt. – Die hier berichteten und explizierten Zusammenhänge sind aber auch in negativer Richtung zu deuten: Jene Personen, die in ihrem Leben keine Aufgabe mehr erblicken, weisen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine deutlich ungünstigere psychologische Gesamtsituation auf als jene Personen, die in ihrem Leben eine Aufgabe erblicken.

Abschluss: Schöpferisches Handeln in Grenzsituationen

Wie lautet, so sei abschließend gefragt, die zentrale Botschaft der hier vorgestellten Studien? Was lehren uns diese mit Blick auf die Grenzgänge alter Menschen? Zunächst geht aus beiden Studien hervor, dass nicht wenige alte Menschen ihre aktuelle Lebenssituation auch im Sinne einer Grenzsituation charakterisieren – und dies durchaus in der Art und Weise, wie Karl Jaspers Grenzsituationen definiert hat. Diese sind durch eigenes Handeln nicht zu verändern, diese sind aber durch die eigene Existenz zur Klarheit zu bringen. Folgen wir den Daseinsthemen, so lassen sich Grenzsituationen nennen, die im Kern durch eigenes Handeln nicht verändert werden können: ich denke hier vor allem an die verschiedenen Formen der Verletzlichkeit – vor allem die Formen körperlicher, kognitiver, zum Teil auch emotionaler Verletzlichkeit –, die von alten Menschen vielfach als „endgültige“, „unveränderbare“ Einschränkungen und Verluste gedeutet werden und in den Interviews auch in dieser Weise beschrieben wurden. Dies heißt nicht, dass nicht durch medizinische, rehabilitative, psychotherapeutische sowie pflegerisch-aktivierende Interventionstechniken deutliche Linderung (der Schmerzen, der Einbußen, der Belastungen) erreicht werden könnte. Doch ist das Erleben deutlich erhöhter Verletzlichkeit auch im Falle einer Linderung immer noch gegeben, wenn nicht sogar dominant. Neben den verschiedenen Formen körperlicher, kognitiver und emotionaler Verletzlichkeit sind die Verluste im sozialen Nahumfeld und die damit einhergehenden Phasen erlebter bzw. befürchteter Einsamkeit als Grenzsituation zu nennen, die zwar durch profunde und nachhaltige (kulturelle und soziale) Teilhabeangebote in ihren Folgen abgemildert werden kann, die aber als Erlebnis weiterhin präsent bleibt, vielleicht sogar das Erleben dominiert. Doch die beiden Studien zeigen auch auf, dass es vielen alten Menschen gelingt, diese Verletzlichkeit innerlich zu überwinden oder – um noch einmal Hans Georg Gadamer zu zitieren – zu „verwinden“. Damit ist ausdrücklich nicht gemeint, dass durch die seelisch-geistige Verarbeitung Grenzsituationen ungeschehen gemacht werden könnten. Vielmehr ist – auch hier durchaus in Nähe zu der von Karl Jaspers gewählten Beschreibung – erkennbar, dass alte Menschen allmählich wieder zu ihrem Lebensfundament zurückgefunden und dieses vielleicht im Prozess innerer Verarbeitung in Teilen modifiziert, in Teilen erweitert haben; in der Sprache Karl Jaspers‘: nach dem Sprung sagt das Individuum „ich selbst“ in einem neuen Sinn. Die in den beiden Studien deutlich hervortretenden Formen der Selbst- und Weltgestaltung, zu denen die intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst (Selbstgestaltung) wie auch die intensive Beschäftigung mit dem Anderen (Weltgestaltung) zu zählen sind, können als Hinweise auf das „ich selbst“ in einem neuen Sinn gedeutet werden. Denn wie die Interviews zeigten, werden die Grenzsituationen nun als eine bedeutende Facette des Selbst betrachtet – doch nicht nur die Grenzsituationen, sondern auch die Fähigkeit, diese innerlich zu verwinden und trotzdem „Ja“ zum Leben zu sagen. Zugleich zeigten die Interviews, dass in der inneren Auseinandersetzung mit Grenzsituationen der Blick nicht notwendigerweise von anderen Menschen abgewendet wird, sondern im Gegenteil durchaus intensiviert werden kann. Eine Aussage aus dem Werk des Philosophen Emmanuel Lévinas hilft, diesen Prozess der Intensivierung besser zu verstehen.

In seiner Schrift „Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre“ (1991) (deutsch: „Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen“) arbeitet Emmanuel Lévinas (1995) das Konzept „des Anderen“ heraus. Die zentrale Stellung des Subjekts ist, wie Lévinas hervorhebt, zugunsten des unbedingten Anspruchs „des Anderen“ aufzugeben. Bevor ich zu mir selbst komme, steht mir „der Andere“ gegenüber; diesem kommt die Qualität der unbedingten „vorausgehenden Verpflichtung“ zu. Wie „der Andere“ einen unbedingten Anspruch an mich richtet, so richte ich einen unbedingten Anspruch an ihn. Und: Durch „den Anderen“ komme ich mehr und mehr zu mir selbst.

„Die Nähe des Nächsten ist die Verantwortung des Ich für einen Anderen. Die Verantwortung für den anderen Menschen, die Unmöglichkeit, ihn im Geheimnis des Todes allein zu lassen, ist konkret, durch alle Modalitäten des Gebens hindurch der Empfang der höchsten Weihe und Gabe, derjenigen, für den Anderen zu sterben. Verantwortung ist keine kalt juristische Forderung. Sie ist die ganze Schwere der Nächstenliebe … “ (1995, S. 227).

Die beiden Studien zeigen aber auch: damit die Selbstgestaltung, vor allem die Weltgestaltung in Grenzsituationen gelingen kann, ist es notwendig, dass alte Menschen in Sorgebeziehungen stehen – und zwar in Sorgebeziehungen, in denen sie sich nicht allein als „Umsorgte“ begreifen, sondern auch als „Sorgegebende“ oder „Sorgeschenkende“. Sorgebeziehungen dieser Art erscheinen vor dem Hintergrund für die Verarbeitung der Grenzsituation eigener Verletzlichkeit geradezu zentral.