2.1 Einleitung

Das Schreiben dieses Artikels fällt in eine Zeit, welche durch die Ausbreitung der Covid-19 Pandemie geprägt ist. Diese Pandemie stellt Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger aus Politik und Gesundheitswesen täglich aufs Neue vor die Herausforderung mit geeigneten Maßnahmen die Dynamik der Pandemie einzudämmen. Diese Entscheidungen werden im engen Dialog mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern getroffen, welche Daten sammeln, auswerten und zur Simulation des Infektionsgeschehens verwenden. Diese Tage zeigen wie wichtig es ist Simulationsmodelle zu entwickeln, zu verstehen und zur Entscheidungsfindung heranzuziehen. Für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik muss hierbei eine gemeinsame Sprache gefunden werden, denn „to understand the value of COVID-19 models, it’s crucial to know how they are made and the assumptions on which they are built“ (Adam, 2020). Das Projekt MoSeL bietet Lösungsansätze für durchgängige Bildungs- und Arbeitsprozesse, welche zur Nutzung der Simulation dynamischer Systeme für eine (nachhaltige) Entscheidungsfindung befähigen. Hierzu gehört ein durchgängiger Kompetenzaufbau vom Modellieren zur Simulation dynamischer Systeme ebenso wie die Befähigung zur Kommunikation zwischen verschiedenen Berufsgruppen.

Für die Entwicklung und eine verständnisorientierte Nutzung der Simulation dynamischer Systeme zur (nachhaltigen) Entscheidungsfindung sind Modellieren und Visualisieren grundlegende Kompetenzen. „Modellbildung und Simulation sind […] unentbehrliche Hilfsmittel für das Verständnis unserer Welt und für den ‚vernünftigen‘ Umgang mit ihr geworden“ (Bossel, 2004). Daher kommen dem Aufbau und der Vermittlung dieser Kompetenzen eine besondere Bedeutung zu. Es ist jedoch festzustellen, dass die Vermittlung dieser Kompetenzen im Verlauf einer Bildungsbiographie nicht nahtlos erfolgt. Die konstruktive Gestaltung der Übergänge zwischen verschiedenen Bildungseinrichtungen (Schule-Hochschule, Hochschule-Betrieb) ist für alle Bildungsinhalte und auch sozialen Aspekte des Lernenden als wichtiger Aspekt für das Gelingen einer Bildungsbiographie erkannt worden (Hemkes & Wilbers, 2019). Im Falle des Kompetenzaufbaus Modellieren und Visualisieren hin zur Nutzung der Simulation dynamischer Systeme zur Entscheidungsfindung wird die Kontinuität in der Ausbildung noch nicht realisiert, da in der Praxis noch kein übergeordnetes Verständnis für die verschiedenen – in den Bildungseinrichtungen behandelten -Teilaspekte des Modellierens, Visualisierens und der Simulation definiert sind. In der Bodenseeregion ist es von zusätzlichem Interesse neben den Übergängen der Lernkontexte zwischen Bildungseinrichtungen auch die Übergänge zwischen den Ländern konstruktiv zu gestalten, um Modellierungs-, Visualisierungs- und Simulationsprozesse auch länderübergreifend wirtschaftlich erfolgreich einzusetzen. Das Projekt MoSeL (Modellieren, Visualisieren und die Simulation dynamischer Systeme als Seamless Learning) befasste sich daher mit der Entwicklung von (im Bodenseeraum länderübergreifenden) Konzepten für einen nahtlosen (seamless) Bildungs- und Arbeitsprozess, der zum Modellieren, Visualisieren und zur Nutzung sowie Gestaltung der Simulation dynamischer Systeme befähigt. Wichtige Meilensteine und Entwicklungen des Projektes sind

  • Entwicklung eines für alle Bildungsbereiche geltenden Modellierungs- und Simulationsprozesses, welcher einen nahtlosen Kompetenzaufbau vom Modellieren hin zur Simulation dynamischer Systeme sowie ein durchgängiges Arbeiten in diesen Bereichen über verschiedene Bildungskontexte hinweg ermöglicht

  • Erarbeitung einer Konzeption, welche die in verschiedenen Bildungsstufen erlernten Kompetenzen nahtlos miteinander verknüpft

  • Exemplarische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse zu Modellierungs- und Simulationsprozessen unter Berücksichtigung der erarbeiteten Konzeption in verschiedenen Bildungsbereichen der Hochschule sowie Implementierung mittels Design-Based Research (Entwicklung geeigneter Lernobjekte)

2.1.1 Modellierungs- und Simulationsprozess

Mathematisches Modellieren ist eine der sechs allgemeinen mathematischen Kompetenzen, die in den Bildungsstandards Mathematik ausgewiesen sind. Als Reaktion auf die PISA-Studie wurden 2003 die Bildungsstandards durch einen Beschluss der deutschen Kultusministerkonferenz eingeführt. Die Bildungsstandards beschreiben die fachbezogenen Kompetenzen, welche Schülerinnen und Schüler im Verlauf ihrer Schullaufbahn bis zum Schulabschluss erwerben sollen (Blum, 2012). Die zu erwerbende Modellierungskompetenz ist die Fähigkeit nötige Prozessschritte beim Wechsel zwischen Realität und Mathematik problemadäquat durchzuführen, um eine realitätsbezogene Situation durch den Einsatz mathematischer Mittel einer Lösung zuzuführen. Die Analyse und die vergleichende Beurteilung verwendeter Modelle ist ebenfalls Gegenstand dieser Kompetenz (Blum, 2007a). In diesem Kontext ist ein mathematisches Modell als ein vereinfachtes mathematisches Abbild der Realität zu verstehen, welches den zu bearbeitenden Sachverhalt einer Bearbeitung zugänglich macht (Henn, 2002). Um mathematisches Modellieren zu lehren und zu lernen ist ein Modell des Modellierungsprozesses nützlich. Der gesamte Modellierungsprozess wird in den vorhandenen Modellen meist als Kreislauf dargestellt (Greefrath et al., 2013). In der Praxis wird häufig ein siebenschrittiger Modellierungskreislauf verwendet, welcher im Vergleich zu den sonstigen Modellen um eine mentale Repräsentation der Situation erweitert wurde (Blum & Leiß, 2007). Für die Entwicklung des Modellierungs- und Simulationsprozesses wurde dieser siebenschrittige Modellierungskreislauf als Grundlage verwendet, u. a. um so zur Erreichung einer Durchgängigkeit beim Kompetenzaufbau an schulische Lernerfahrungen anknüpfen zu können. Der Teilprozess der Konstruktion eines mentalen Modells als erster Schritt dieses Modellierungskreislaufes ermöglicht darüber hinaus eine Anbindung an einen narrativen Ansatz zur Modellbildung über die Simulation dynamischer Systeme (Fuchs, 2015). In diesem Ansatz wird die Simulation dynamischer Systeme als Narration verstanden (Wise, 2017). Stories und Story Worlds der modernen Narratologie (Herman, 2002) spielen hierbei eine zentrale Rolle. Story Worlds sind die Welten, welche in unseren Köpfen entstehen, wenn wir eine Geschichte hören – sind somit mentale Modelle. Die Story ist eine konkrete Handlung, welche in der Story World abläuft. Aus gehörten oder gelesenen Geschichten in der realen Welt werden mentale Modelle, die sich der Rezipient – aufbauend auf seinen bereits gemachten Erfahrungen – selbst bildet, um die Geschichte zu verstehen. An diese Fähigkeit wird angeknüpft, wenn die Simulation komplexer Systeme als Narration betrachtet wird. Hierbei werden die verwendeten Modelle als Story Worlds betrachtet und die Simulation, die mit ihnen durchgeführt wird, sind wie die Stories (Handlungen/Erzählungen), die vor dem Hintergrund der Modellwelt ablaufen (Fuchs, 2015).

Der Wechsel von einem in einem physikalischen Experiment beobachteten dynamischen System bzw. einer Simulation dieses dynamischen Systems zum (mathematischen) Modell entspricht somit dem von früher Kindheit an erlernten Prozess des Wechsels zwischen einer realen Geschichte und dem mentalen Modell dieser Geschichte. Dies ist in einem Modell zusammengefasst und dem Modellierungskreislauf nach Blum angefügt. Darüber hinaus wurde Schritt 4 „mathematisch Arbeiten“ des Modellierungskreislaufes, um den Prozess des mehrmaligen Wiederholens durch computergestützte Rechnungen ergänzt, sodass aus dem mathematischen Modellieren eine Simulation wird.

Der so entwickelte Modellierungs- und Simulationsprozess ist in Abb. 2.1 zusammengefasst.

Abb. 2.1
figure 1

Modellierungs- und Simulationsprozess unter Berücksichtigung von Narrationen

2.1.2 Konzeption zum Kompetenzaufbau

Erfolgreiches Modellieren und Visualisieren sowie die verständnisorientierte Nutzung der Simulation dynamischer Systeme erfordert ein Lernen und Arbeiten über Kontexte hinweg. Diese gewünschte Durchgängigkeit ist noch nicht realisiert und es finden sich noch Brüche insbesondere bei dem Übergang zwischen verschiedenen Bildungsstufen (Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Ausgangslage – Brüche zwischen verschiedenen Bildungsstufen

Seamless Learning bietet einen Rahmen lebenslanges, nahtloses Lernen über Kontexte hinweg zu ermöglich und ist somit das Konzept der Wahl für den Lehr-und Lernprozess zum Aufbau dieser Fähigkeiten. Neben der inhaltlichen Abstimmung und dem narrativen Ansatz zur Bildung von Modellen und Simulationen ist Seamless Learning ein weiteres wichtiges verbindendes Element, um das Ziel für mehr Durchgängigkeit im Verlauf einer Bildungsbiographie zu erreichen. Unter Berücksichtigung dieser definierten verbindenden Elemente wurden Lernobjekte entwickelt, um so die Brüche im Verlauf einer Bildungsbiographie zu überwinden (Abb. 2.3).

Abb. 2.3
figure 3

Konzeption für einen durchgängigen Kompetenzaufbau vom Modellieren und Visualisieren hin zur Anwendung der Simulation dynamischer Systeme zur Entscheidungsfindung

Die einzelnen neu entwickelten Lernobjekte werden im nächsten Kapitel vorgestellt.

2.1.3 Neuentwickelte Lernobjekte

Für die einzelnen Bildungs- und Arbeitsstufen in der unter 1.2 aufgeführten Konzeption wurden geeignete Lernobjekte entwickelt und aufeinander abgestimmt, indem die Grundlagen des unter 1.1. vorgestellten Modellierungs- und Simulationsprozesses berücksichtigt wurden. Verbindende Elemente zwischen allen Lernobjekten sind – so wie es die Konzeption vorsieht – Seamless Learning und narratives Verstehen.

Die neuentwickelten Lernobjekte sind:

  • Mathematische Grundlagen und mathematisches Modellieren in den Life Sciences (Hochschule Albstadt-Sigmaringen, Fakultät Life Sciences) – Arbeits- und Bildungsstufe: Hochschulmathematik (Modellieren)

  • Natur, Technik und System 1 (Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, School of Engineering, Institute of Applied Mathematics and Physics) – Arbeits- und Bildungsstufe: Hochschule (Simulation dynamischer Systeme)

  • Natur, Technik und System 2 (Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, School of Engineering, Institute of Applied Mathematics and Physics) – Arbeits- und Bildungsstufe: Hochschule (Simulation dynamischer Systeme)

  • Solartechnik – Bachelorstudium (Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, School of Engineering, Institute of Computional Physics) – Arbeits- und Bildungsstufe: Hochschule (Anwendung von Simulationssoftware zur Entscheidungsfindung)

  • Solartechnik – Techniker/Handwerker (Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, School of Engineering, Institute of Computional Physics) – Arbeits- und Bildungsstufe: Betrieb und Beruf (Entscheidungsfindung)

  • Anwendung von Simulationsmodellen – Schulung für pflegende und betreuende Angehörige (Fachhochschule St. Gallen, Institut für Modellbildung und Simulation) – Arbeits- und Bildungsstufe: Betrieb und Beruf (Entscheidungsfindung)

Durch die Verknüpfung von zukunftsträchtigen Lerninhalten (Modellieren, Visualisieren, Simulation dynamischer Systeme) mit einer neuartigen Lehr- und Lernform (Seamless Learning SL und mobile-assisted Seamless Learning MSL) wurde ein innovatives durchgängiges Angebot im Bereich Aus- und Weiterbildung unter Anwendung von Design-Based Research gestaltet und weiterentwickelt. Dies war nur im Verbund des IBH-Labs Seamless Learning möglich, da die Übertragung von Seamless Learning und mobile-assisted Seamless Learning auf die konkreten ausgewählten Lernszenarien (Mathematik, NTS, Solartechnik, Schulung von Entscheidungsfindern) sowie die didaktische Konzeptionsentwicklung und Evaluation durch das IBH-Lab Projekt 1 (Basisprojekt) fachlich begleitet wurden.

Als ausgewähltes Einzelobjekt einer neu entwickelten mobile-assisted Seamless Learning-Konzeption wird in dem nachfolgenden Abschn. 3.2 das Mathematik Modul „Mathematische Grundlagen und mathematisches Modellieren in den Life Sciences“ beschrieben.

2.2 Entwicklung eines kompetenzorientierten Mathematik-Moduls unter Berücksichtigung von Seamless Learning

Im Rahmen des Projektes MoSeL erfolgte die Umstellung eines in der Fakultät Life Sciences der Hochschule Albstadt-Sigmaringen gelehrten Mathematik-Moduls von der inhaltsbezogenen zur kompetenzorientierten Lehre unter Berücksichtigung von Seamless Learning. Der Entwicklungsprozess sowie die Ergebnisse dieses Prozesses werden nachfolgend vorgestellt.

2.2.1 Ausgangssituation

Die erarbeiteten Projektziele und Entwicklungen geben für die Konzeption des neuen Mathematik-Moduls wichtige Rahmenbedingungen vor.

Hierzu gehören:

  • die Anschlussfähigkeit an die mathematische Schulbildung

  • Berücksichtigung des entwickelten Modells für einen Modellierungs- und Simulationsprozess

  • Beitrag zum durchgängigen Kompetenzaufbau vom Modellieren hin zur Simulation dynamischer Systeme und deren Nutzung zur (nachhaltigen) Entscheidungsfindung

  • Berücksichtigung von Seamless Learning (lebenslanges, kontextübergreifendes Lernen ermöglichen)

Um die Anschlussfähigkeit an die mathematische Schulbildung zu gewährleisten, müssen die in den Bildungsstandards genannten mathematischen Kompetenzen (Leiß & Blum, 2012) berücksichtigt werden, dies sind:

  • Mathematisch argumentieren,

  • Probleme mathematisch lösen,

  • Mathematisch modellieren,

  • Mathematische Darstellungen verwenden,

  • Mit Mathematik symbolisch, formal und technisch umgehen,

  • Mathematisch kommunizieren.

Die Kompetenz Mathematisch modellieren hat bei der Entwicklung des neuen Lernobjektes einen besonderen Stellenwert, da der Modellierungskreislauf nach Blum und Leiß (Blum & Leiß, 2007), welcher auch bei der schulischen Bildung eingesetzt wird, Bestandteil des entwickelten Modellierungs- und Simulationsprozesses ist (siehe Abb. 2.1) ist und Mathematisches Modellieren in dieser Arbeit als mathematische Kernkompetenz der angewandten Wissenschaften postuliert wird. Mathematisches Modellieren ist untrennbar mit den anderen mathematischen Kompetenzen verwoben (Niss, 2003) und kognitiv anspruchsvoll, was sich auch in den erforderlichen Kompetenzen für die Teilschritte des siebenschrittigen Modellierungskreislaufes (siehe Tab. 2.1) widerspiegelt (Greefrath et al., 2013).

Tab 2.1 Teilschritte des Mathematischen Modellierens

Die Berücksichtigung des entwickelten Modellierungs- und Simulationsprozesses, welcher auf den Modellierungskreislauf mit seinen 7 Teilschritten aufbaut, macht das neu zu entwickelnde Mathematik-Modul zu einem geeigneten Bindeglied zwischen Schulbildung und der Simulation dynamischer Systeme in der Hochschulbildung. Durch Fortsetzung eines modellierungsorientierten Mathematikunterricht im Rahmen der mathematischen Hochschuldidaktik soll auch der Forderung gerecht werden, dass Modellierungskompetenzen langfristig und gestuft aufgebaut werden, was durch eine allmähliche Steigerung der Komplexität der Aufgaben, ein breites Spektrum an Aufgabentypen und eine systematische Variation der Kontexte, den parallelen Aufbau heuristischer Fähigkeiten sowie häufige Übungs- und Festigungsphasen gelingen kann (Blum, 2007b). Darüber hinaus sollten Modellierungskompetenzen nicht losgelöst vom Aufbau der Stoff-inhalte vermittelt werden, sondern in diese integriert (Blum, 2007b). Dabei eignet sich Gruppenarbeit besonders für den Modellierungsprozess. Die Gruppe fungiert nicht nur als soziales Umfeld sondern beeinflusst auch die kognitiven Prozesse positiv (ko-konstruktive Gruppenarbeit) (Ikeda & Stephens, 2001). Neben dem Mathematischen Modellieren wurde in dem Projekt MoSeL auch die Kompetenz „Mathematische Darstellungen verwenden“ als wichtiger Beitrag für einen erfolgreichen Kompetenzaufbau hin zur Simulation dynamischer Systeme und deren Nutzung zur Entscheidungsfindung identifiziert. So wurde bei einer Schulung für simulationsgestütztes Coaching von pflegenden und betreuenden Angehörigen beobachtet, dass die Trainees Schwierigkeiten bei der Interpretation der grafischen Darstellung der Simulationsergebnissen hatten (Hügel, 2019). Die geschilderten Aspekte zeigen, dass in dem zu entwickelnden Mathematik-Modul die Lehre und das Lernen kompetenzorientiert erfolgen müssen. Dies deckt sich auch mit der Zielsetzung des Bologna-Prozesses Lernergebnisse und Kompetenzvermittlung in die Studienreform einzubinden, was konzeptionell an den Diskurs zum lebenslangen Lernen in der digitalisierten Wissensgesellschaft anschließt (Wildt & Eberhardt, 2010). Aus den genannten Aspekten lässt sich das übergeordnete Ziel, Bildung für Entscheidungsfinder und Wissenschaftler bzw. Erfinder einer digitalisierten Wissensgesellschaft anzubieten – und dies möglichst durchgängig – ableiten. Wie ein Mathematik-Modul im ersten Hochschulsemester zu diesem Prozess beitragen kann ist in Abb. 2.4 skizziert.

Abb. 2.4
figure 4

Durchgängige (seamless) Bildung für Entscheidungsfinder und Erfinder/Wissenschaftler – Beitrag eines Mathematik-Moduls

Um eine durchgängige – kontextübergreifende – Vermittlung und Anwendung der gewünschten Kompetenzen zu erreichen, bietet sich eine Seamless Learning-Konzeption an. In Tab. 2.2 sind ausgewählte Publikationen, aus denen die Anforderungen an die zu entwickelnde Seamless Learning-Konzeption abgeleitet wurden, aufgeführt. Eine differenzierte Betrachtung der Definitionen führt zu inhaltlichen Unterscheidungen bei der Verwendung des Konzeptes. Der Lernende kann nahtlos lernen, wenn entweder seine Lernumgebung nahtlos gestaltet ist oder er dazu fähig ist, selbstständig zwischen verschiedenen Lernszenarien zu wechseln. Ersteres erfordert Kompetenzen des Lehrenden. Dieser muss die Lernumgebung so gestalten, dass der Lernprozess möglichst „seamless“ ist, d. h. (unerwünschte) Brüche müssen bewusst beseitigt werden. Letzteres erfordert Kompetenzen des Lernenden, welche in dieser Arbeit als Seamless Learning-Kompetenzen bezeichnet werden. Diese Kompetenzen kann der Lernende nur erlangen, wenn er möglichst oft mit Brüchen, die er selbstständig überwinden muss, konfrontiert wird und diese Brüche bewusst überwindet. Dies erfordert Lernkonzepte, die die Vielfalt von Lernszenarien bewahren und bewusst hervorheben. Für solche Lernkonzepte haben Lackner und Raunig den Begriff Seam-aware Learning eingeführt (Lackner & Raunig, 2016). Die zu entwickelnde Seamless Learning-Konzeption soll somit dem Aufbau der Seamless Learning-Kompetenzen des Lernenden dienen und unerwünschte Brüche („seams“) beseitigen. Gelingt dies, wird der Lernende und Arbeitende dazu befähigt, nahtlos (seamless) zwischen unterschiedlichen Bildungskontexten und Lernszenarien zu wechseln. Wird dieser Wechsel durch ein Konzept ermöglicht, welches eine Verbindung von mobilem Lernen (Nutzung von mobilen Endgeräten) und durchgängigen Lernen ist, spricht man von mobile-assisted Seamless Learning (MSL).

Tab. 2.2 Seamless Learning – ausgewählte Publikationen

Thomas Fößl verweist im Buch „Seamless Learning: Eine Feldstudie über den Einsatz von problembasierten Lernvideos in einem offenen Mathematikunterricht“ auf die Bedeutung des selbstgesteuerten Lernens (SGL) für Seamless Learning Konzeptionen (Fößl, 2014). Dabei wird der Erfolg eines Konzeptes zum durchgängigen Lernen auch von der Fähigkeit des Lernenden bzw. Arbeitenden zum selbstgesteuerten Lernen abhängig gemacht. In dem Phasenmodell von Schmitz und Wiese (Schmitz & Wiese, 2006) wird das selbstgesteuerte Lernen als Zyklus einer präaktionalen Phase (Handlungs- und Lernvorbereitungen finden statt), einer aktionalen Phase (eigentlicher Lernprozess) und einer postaktionalen Phase (Selbstreflexion über den durchlaufenen Lernprozess) beschrieben. Die Abfolge dieser Lernzustände ist in Abb. 2.5 dargestellt.

Abb. 2.5
figure 5

Prozessmodell von Schmitz und Wiese (2006) gezeichnet unter Verwendung der Übersetzungen von Fößl (2014)

Ein weiterer zu beachtender Aspekt bei der Entwicklung des Moduls ist die Motivation der Studierenden. Ursachen für eine mangelnde Motivation sind oft ein fehlender Anwendungsbezug (Studierende: „Wozu brauchen wird das?“) bzw. Anwendungen aus – für die Studierenden – uninteressanten Themenbereichen, Frustration bedingt durch mangelnde Erfolgserlebnisse sowie ein scheinbar nicht zu bewältigendes Arbeitspensum. Sollen erlernte Kompetenzen im Verlauf einer Arbeits- und Bildungsbiographie durchgängig Anwendung finden, so dürfen diese nicht verlernt bzw. vergessen werden. Als erfolgreiche Strategie für ein langfristig, also nachhaltig wirksames Lernen hat sich ein Wechsel aus Lern- und Testphasen erwiesen (Roediger & Karpicke, 2006). Nachhaltigkeit beim Wissenserwerb muss somit als wichtige Voraussetzung für Seamless Learning ebenfalls als Ziel der Entwicklung fokussiert werden. Alle aus den genannten Aspekten abgeleiteten Ziele für die Entwicklung des neuartigen Mathematik-Moduls sind mit den geplanten Maßnahmen in Tab. 2.3 aufgeführt.

Tab. 2.3 Ziele und Maßnahmen der Entwicklung eines neuartigen Mathematik-Moduls

Das methodische Vorgehen sowie die eingeführte Konzeption zur Umsetzung der Maßnahmen und dem damit verbundenen Erreichen der Ziele werden im nächsten Kapitel beschrieben.

2.2.2 Methodisches Vorgehen und Konzeption

Mit dem Wechsel von der inhaltsbezogenen zur kompetenzorientieren Lehre wurde bereits im Sommersemester 2015 begonnen. Die einzelnen Maßnahmen dieses systemischen Veränderungsprozesses sind in dem Sigmaringer Mathematik-Programm (SIGma-P) zusammengefasst. Zum Sommersemester 2018 wurde dieses Programm mit der Einführung des Mathematik-Moduls „Mathematische Grundlagen und mathematisches Modellieren in den Life Sciences“ abgeschlossen. Dieser Wechsel wurde unter Berücksichtigung von Seamless Learning vollzogen, indem das Modul um alle Anforderungen eines erarbeiteten didaktischen Prototyps einer Seamless Learning-Konzeption ergänzt wurde. Die Implementierung des Mathematik-Moduls erfolgte mittels eines Design-Based Research-Ansatzes. Dementsprechend wurde die erste Umsetzung (Pilot) evaluiert und eine unter Berücksichtigung der Evaluationsergebnisse weiterentwickelte Konzeption (Re-Design) zum Wintersemester 2018/2019 realisiert. Neben den Evaluationen, welche speziell für den Forschungsansatz entwickelt und durchgeführt wurden, wurden auch hochschuleigene Evaluationen berücksichtigt. Die aus dem Forschungsansatz ergänzten Evaluationen sind: eine Fokusgruppenbefragung (durchgeführt am 22.05.2017), Teaching Analysis Poll TAP (durchgeführt am 17.0.2018), online-Umfragen (kontinuierlich durchgeführt ab Sommersemester 2018) und eine Evaluation im Pre-Posttest-Design (durchgeführt im Wintersemester 2018/2019).

2.2.3 SIGma-P: Sigmaringer Mathematik-Programm

In dem Sigmaringer Mathematik-Programm sind aufeinander abgestimmte Maßnahmen gebündelt, deren Umsetzung zu einer kompetenzorientierten Lehre führt. Damit verbunden sind umfassende und inhaltlich weitreichende Veränderungen, die im laufenden Lehrbetrieb umgesetzt werden müssen. Eine zeitgleiche Umsetzung aller Maßnahmen lässt sich nur schwer realisieren. Daher wurde der Wechsel in drei Schritten vollzogen.

Begonnen wurde zum Sommersemester 2015 mit der Einführung einer kompetenzorientieren Mathematikvorlesung. Hierbei werden in einem 4-Stufen-Lern- und-Lehr-Prozess die mathematischen Inhalte modulartig in vier Stufen kompetenzorientiert erarbeitet und bearbeitet (siehe Abb. 2.6), wobei vier der in den Bildungsstandards Mathematik ausgewiesenen Kompetenzen als jeweils eine Stufe vertreten sind.

Abb. 2.6
figure 6

4-Stufen-Lern-und-Lehr-Prozess Mathematik

Zu jeder Stufe gibt es im Folienscript zur Vorlesung jeweils eine Seite mit den wichtigsten Informationen. So wird der zu bearbeitende Vorlesungsinhalt in überschaubare Arbeitseinheiten unterteilt. Durch das Bearbeiten aller Inhalte nach diesem Prozess erlernen die Studierenden ein methodisches Vorgehen zum verständnis- und kompetenzorientierten Erarbeiten von mathematischen Inhalten, um diese in der Praxis und beim mathematischen Modellieren anzuwenden. Die Kompetenz Mathematische Darstellungen verwenden wird in jede Stufe integriert. Probleme mathematisch lösen erfolgt in Zusammenhang mit Stufe 3 und 4. Durch Einsatz einer Mathematik-App in Stufe 3 wird E-Learning dort eingesetzt wo individuelles Lernen (Üben im eigenen Tempo sowie orts- und zeitunabhängig) von Vorteil ist. Realisiert wird dies zum Teil auch in Stufe 1 durch den Einsatz von Videos. Stufen 2 und 4 erfordern den direkten Austausch und die Diskussion mit dem Lehrenden und sollten daher immer im Präsenzunterricht stattfinden. Die Umsetzung des 4-Stufen-Lern-und-Lehr-Prozess erfolgt somit im Blended Learning.

Um die Kompetenz Mathematisch modellieren als Lernergebnis des Moduls zu erreichen, sind neben einer kompetenzorientieren Vorlesung geeignete Lern- und Testaufgaben erforderlich. Daher wurden in Schritt zwei gemeinsam mit Studierenden geeignete Modellierungsaufgaben aus den Studiengängen der Fakultät Life Sciences entwickelt, in die vorlesungsbegleitenden Arbeitsunterlagen integriert (u. a. als Aufgaben in Stufe 4) sowie Untersuchungen zu Modellierungskompetenzen durchgeführt (Brinkner, Referentinnen, & Referenten, 2016). Letzteres liefert Kenntnisse über die Bearbeitungsstrategien der Studierenden. Diese Kenntnisse sind hilfreich und wichtig, um die Studierenden optimal beim Lernprozess unterstützen zu können.

Mit dem dritten Schritt des Sigmaringer Mathematik-Programms wird der Notwendigkeit der Veränderung der Prüfungsform Rechnung getragen. Diese muss methodisch und inhaltlich an die gewünschten Lernergebnisse und die Art der Kompetenzvermittlung angepasst sein. Durch die Überarbeitung der Studien- und Prüfungsordnung der Fakultät Life Sciences im Wintersemester 2017/2018 und der damit verbundenen Einführung eines Portfolios als Prüfungsform konnte eine kompetenzorientierte Prüfung realisiert werden und die bis dahin noch geschriebenen Klausuren ersetzen. In Tab. 2.4 sind die Lernaufgaben des Portfolios den entsprechenden Lernergebnissen zugeordnet.

Tab. 2.4 Lernergebnisse und die entsprechenden Lernaufgaben des Prüfungsportfolios

Mit dem Portfolio werden die Lernaufgaben in Form von Gruppen- und Einzelarbeiten sowie Online-Tests und die zu erzielenden Lernergebnisse ideal aufeinander abgestimmt. Die Gruppenarbeit ist unter den Vorgaben einer wissenschaftlichen Arbeit abzufassen, sodass mit diesem Prüfungsteil auch ein Beitrag zur Vorbereitung auf das wissenschaftliche Arbeiten an der Schnittstelle Schule/Hochschule geleistet wird. Da Gruppenarbeit sich besonders für den Modellierungsprozess eignet, wird mit dieser Lernaufgabe auch der Lernprozess unterstützt. Durch die Modellierung eines selbstgewählten Themas wird der Anwendungsbezug von den Studierenden selbst hergestellt und die Motivation der Studierenden erhöht. Bei diesem Lernkonzept beschäftigt die Studierenden nicht die Frage „Wozu brauche ich die zu lernenden mathematischen Inhalte?“, sondern die Herausforderung „Welches mathematische Hilfsmittel muss ich wählen, um mein Problem zu lösen?“. Die erste sonst oft gestellte Frage beantworten die Studierenden sich somit selbst.

2.2.4 Seamless Learning

Die Entwicklung der Seamless Learning-Konzeption wurde an den definierten Anforderungen ausgerichtet. Damit mit der Konzeption die Beseitigung unerwünschter Brüche („seams“) gelingt, müssen diese zunächst identifiziert werden und geeignete Maßnahmen zum Erreichen der Durchgängigkeit definiert werden. In Tab. 2.7 sind die identifizierten Brüche mit den dazugehörigen Maßnahmen zum Erreichen der Durchgängigkeit aufgeführt.

In dem von Wong (Wong, 2012) visualisierten Rahmenmodell für mobile-assisted Seamless Learning wird das Zusammenwirken aller von ihnen postulierten MSL-Dimensionen beschrieben. Dieses Zusammenwirken aller Dimensionen soll den Lernenden dazu befähigen nahtlos („seamless“) zwischen verschiedenen Lernszenarien zu wechseln und so durchgängig zu lernen. Soll ein Lernender diese Kompetenz entwickeln, muss er in seinem Lern- und Arbeitsprozess möglichst oft und in einer großen Variationsbreite mit diesen Dimensionen in Verbindung gebracht werden. Damit die Seamless Learning-Konzeption den Aufbau der Seamless Learning-Kompetenzen des Lernenden unterstützt und ermöglicht, werden die MSL-Dimensionen in die Lehrveranstaltung integriert. Wie dies erfolgt, ist in Tab. 2.5 aufgeführt (Tab. 2.6).

Tab. 2.5 Identifizierte Brüche und Maßnahmen zur Durchgängigkeit
Tab. 2.6 In die Lehrveranstaltung integrierte MSL-Dimensionen
Tab. 2.7 Erfahrungen mit den eingeführten Maßnahmen zur Durchgängigkeit

2.2.5 Online-Tests und selbstgesteuertes Lernen

Im Verlauf des Semesters sind von den Studierenden sechs Online-Tests, welche vorlesungsbegleitend die behandelten mathematischen Inhalte abprüfen, sowie ein Einstiegstest zu absolvieren. Die Tests können wöchentlich an festgelegten Prüfterminen unter Aufsicht in einem PC-Raum der Hochschule absolviert werden. Jeder Test wird in der Regel über einen Zeitraum von 2 Wochen angeboten. Insgesamt können die Studierenden für sieben Online-Tests 21 Prüftermine wahrnehmen, sodass jeder Test im Durchschnitt dreimal durchgeführt werden kann. Mit dem dadurch ermöglichten Wechsel von Lern- und Testphasen soll Nachhaltigkeit beim Wissenserwerb erreicht und das selbstgesteuerte Lernen der Studierenden gefördert werden. Durch das Testverfahren durchlaufen die Studierenden während des gesamten Semesters fortwährend den Zyklus des Phasenmodells zum selbstgesteuerten Lernen von Schmitz und Wiese (Schmitz & Wiese, 2006) und können so ihren eigenen Lernprozess individuell weiter verbessern. Dabei werden sie durch ein digitales Feedback-System unterstützt, welches wöchentlich über den persönlichen Leistungsstand bei den online-Tests informiert. Dieses Feedback-System ist Bestandteil einer an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen entwickelten E-Learning-Technologie. Für diese wurde eine digitalisierte Leistungsstanderhebung programmiert, in welcher die Ergebnisse der vorlesungsbegleitenden Online-Tests zusammengefasst und mit einem Ampelsystem farbig markiert (von dunkel grün = sehr gut bis rot = mangelhaft) werden. Diese E-Learning-Technologie dient nicht nur als Feedback-System zur Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens der Studierenden (siehe Abb. 2.7), sondern auch als Learning Analytics für die Lehrenden. Letzteres ermöglicht eine Vielzahl von Auswertungen (z. B. Ergebnisse für einzelne Tests, Testergebnisse eines Studierenden, Testergebnisse eines Prüfungstermins), welche kontinuierlich über die Qualität des Testverfahrens informieren. Studierende mit Schwächen können frühzeitig identifiziert und einer Beratung und Förderung zugeführt werden.

Abb. 2.7
figure 7

Beispiel einer wöchentlichen Benachrichtigung zur Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens (Feedback-System)

Zeitgleich zur Durchführung werden die Online-Tests in jedem Semester mit einer Online-Umfrage evaluiert. Gegenstand der Evaluation sind dabei die Lernziele, die fachlichen Anforderungen, der inhaltliche Aufbau der Tests sowie deren Bedienbarkeit und empfundener Schwierigkeitsgrad. Diese Art der Evaluation hat zu einer Besonderheit im Design-Based Research-Ansatz geführt. Die erhaltenen Evaluationsergebnisse zu einem Test konnten bereits bei dem nachfolgenden Test berücksichtigt werden. Das Re-Design fand somit zum Teil schon im Pilot statt. Der Ablauf des Verfahrens ist in Abb. 2.8 exemplarisch für die ersten drei Tests dargestellt.

Abb. 2.8
figure 8

Evaluation und Re-Design der Online-Tests im Pilot des Design-Based Research-Ansatzes

Ein weiterer Vorteil dieses Verfahrens war eine engagierte und konstruktive Teilnahme der Studierenden an der Evaluation, was darauf zurückzuführen ist, dass diese direkt von den aus der Evaluation abgeleiteten Verbesserungen profitierten.

Wesentliche Erkenntnisse und Ergebnisse aus allen durchgeführten Evaluationen werden im nächsten Kapitel vorgestellt.

2.2.6 Erkenntnisse und Ergebnisse

In der Teaching Analysis Poll (TAP) (Gommers, 2018) gaben alle Studierenden an, in der Lehrveranstaltung am meisten durch

  • farbliche (visuelle, graphische) Darstellungen (und Tafelaufschriebe)

  • Beispielaufgaben (alltagsbezogen)

  • Zusammenfassungen am Ende

  • die lockere Atmosphäre

  • die Beantwortung von Fragen

zu lernen. Es findet sich somit bestätigt, dass der Anwendungsbezug sich motivierend auf die Studierenden auswirkt. Die Studierenden gaben in der TAP auch an, dass das Lernen durch zu wenige Beispielaufgaben erschwert wird. An der Einführung von aktuellen Anwendungsbeispielen wird daher kontinuierlich weitergearbeitet.

Erfreulich ist, dass die Verwendung mathematischer Darstellungen, welche als wichtige Kompetenz in der Konzeption des Mathematik-Moduls besonders berücksichtig wird, sich auch positiv auf den Lernprozess der Studierenden auszuwirken scheint. Die spezifische Erklärung, dass selbstgesteuertes Lernen von der persönlichen Disziplin abhängt (zu viel Freiwilligkeit), hat als wichtiges Ergebnis der TAP die geplante Einführung des Online-Testverfahrens bekräftigt. Ein weiteres Ergebnis der TAP ist, dass der Übergang von der Schule bzw. dem schulischen Vorwissen als gut unterstützt von den Studierenden wahrgenommen wird. Dies weist daraufhin, dass die propädeutischen Maßnahmen zur Überwindung des Bruchs Schule/Hochschule zu wirken scheinen.

Der systemische Veränderungsprozess von der inhaltsbezogenen zur kompetenzorientierten Lehre hatte zwischenzeitlich zu einer Verschlechterung der Veranstaltung geführt. So wurden die angebotenen, kompetenzorientierten Arbeitsmaterialien als weniger hilfreich angesehen, solange die Prüfungsform des Moduls noch eine inhaltsbezogene Klausur war (Abb. 2.9).

Abb. 2.9
figure 9

Evaluationsergebnisse zur Bewertung der Arbeitsmaterialien

Ähnlich verhielt es sich mit der Bewertung der Struktur der Vorlesung. Diese wurde erst als klar strukturiert wahrgenommen, nachdem auch die Prüfungsform an die kompetenzorientierte Vorlesungskonzeption angepasst war.

Mit der Einführung des Prüfungsportfolios ging auch eine Veränderung der durchschnittlichen Note der Prüfungsleistung einher. Diese verbesserte sich von Werten über 2,0 auf Werte unter 2,0 (z. B. 1,9 im Sommersemester 2018 und 1,7 im Wintersemester 2018/2019).

Diese Verbesserung ist nicht – wie vielleicht zu erwarten war – auf die Gruppen- und Einzelarbeiten zurückzuführen, sondern auf sehr gute Prüfungsleistungen in den Online-Tests (siehe Abb. 2.10).

Abb. 2.10
figure 10

Durchschnittsnoten der Prüfungsleistungen

Die in den Gruppen- und Einzelarbeiten abgeprüften Kompetenzen scheinen den Studierenden schwerer zu fallen als das rein formale Rechnen, welches überwiegend in den Online-Tests abgeprüft wird. Diese Annahme wird auch gestützt durch das Ergebnis der Priorisierungsfrage „Welche der folgenden Probleme sind im Rahmen der Veranstaltung aufgetreten?“ des Posttests (wichtigstes Problem erhält Rang 1). In Abb. 2.11 sind die Anzahl der Rangnennungen für die wichtigsten Probleme dargestellt.

Abb. 2.11
figure 11

Ergebnisse der Priorisierungsfrage zu den wichtigsten Problemen. (Abszisse: Gewählter Rang des Problems – Rang 1 = wichtigstes Problem; Ordinate: Anzahl der Nennungen)

Die Erfahrungen mit den Maßnahmen zur Durchgängigkeit, um unerwünschte Brüche zu beseitigen, sind in Tab. 2.7 zusammengefasst.

Zur Beurteilung der Wirkung des Online-Testverfahrens auf das selbstgesteuerte Lernen der Studierenden wurde für alle Tests eine Auswertung der Testergebnisse vorgenommen und dem von den Studierenden empfundenen Schwierigkeitsgrad gegenübergestellt. Die so erhaltenen Ergebnisse sind für den online-Test 1 und den online-Test 6 in Abb. 2.12 exemplarisch dargestellt.

Abb. 2.12
figure 12

Testergebnisse und von Studenten wahrgenommener Schwierigkeitsgrad der Tests

Die Auswertung für alle Tests ergab, dass der prozentuale Anteil der Studierenden, die den Test beim 1. Versuch sehr gut bestehen, bei gleichbleibenden von den Studierenden wahrgenommenen Schwierigkeitsgrad zunimmt bzw. bei zunehmend wahrgenommenen Schwierigkeitsgrad nicht unter das Anfangsniveau sinkt. Im Verlauf des Semesters erhöht sich somit der Anteil der Studierenden, welche erfolgreich erfolgsorientiert arbeiten. Die Lernmethode darf demnach als wirksam angesehen werden, da sich das selbstgesteuerte Lernen der Studierenden im Verlauf des Semesters verbessert hat.

Die Einführung des Modellierungs- und Simulationsprozesses unter Berücksichtigung von Narrationen gestaltete sich schwieriger als anfangs gedacht. Erste Untersuchungen anhand einer einfachen Textaufgabe zeigten, dass es den Studierenden schwerfällt, adäquate externe Repräsentationen für ein Problem zu finden.

Im Rahmen einer Klausur im Wintersemester 2017/2018 wurde 134 Studierenden folgende Bonusaufgabe gestellt:

Wie viele Äpfel wurden für Apfeldirektsaft in dieser Getränkeverpackung verarbeitet? (Abb. 2.13)

Abb. 2.13
figure 13

Getränkeverpackung Apfeldirektsaft

Einen Lösungsansatz mit einer geeigneten Annahme zur Ergiebigkeit des Saftvolumens eines gepressten Apfel verfolgten 68 Studierende. 36 Studierende berechneten unter der Annahme eines Apfeldurchmessers die Anzahl der Äpfel, die in den Karton passen. 30 Studierende bearbeiteten die Aufgabe gar nicht. Die angedachte Vorgehensweise über ein Modell (Story World) des mathematischen Modellierens zur Simulation (Story) zu gelangen scheint für einige Studierende somit schwer realisierbar. Daher wird der von Fuchs (Fuchs, 2015) vorgeschlagene Weg Stories (Simulationen) zu verwenden, um so Konzeptionen für Modelle (Story Worlds) entstehen zu lassen, Gegenstand zukünftiger Arbeiten sein. Der Weg wird somit vom simulating-as-storytelling-with-models umgekehrt in stories-transporting-us-into-storyworlds (Fuchs, 2015). Der in Abb. 2.1 dargestellte Modellierungs- und Simulationsprozess lässt beide Wege zu.

2.2.7 Fazit

Der Weg von einer inhaltsbezogenen zur kompetenzorientierten Lehre kann gelingen. In der Übergangsphase ist jedoch mit Hindernissen und Brüchen zu rechnen. Eine Seamless Learning-Konzeption sollte unerwünschte „Seams“ beseitigen und erwünschte „Seams“ aus den 10 MSL-Dimensionen beinhalten, um so eine Seamless Learning-Kompetenz beim Lernenden aufzubauen. Offen bleibt die Frage wie der Kompetenzerwerb Seamless Learning beim Lernenden gemessen werden kann. Idealerweise sollte eine Seamless Learning-Konzeption mit einem Angebot zum Erlernen des selbstgesteuerten Lernens verbunden sein, da Seamless Learning maßgeblich von der Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen abhängt. Um Modellbildungsfähigkeiten zu schulen, kann das Beobachten und Erfahren von Simulationen hilfreich sein. Ausreichend gemachten Erfahrungen auf diesem Weg können dazu beitragen, dass auch der umgekehrte Weg simulating-as-stroytelling-with-models erfolgreich gelingen kann.