Wie wir das Alter wahrnehmen und wo wir seine Herausforderungen festmachen, hängt auch an den Bildern, die über das Alter und das Altern gesellschaftlich verfügbar sind, an den AltersbildernFootnote 1 also. Diese Bilder und Vorstellungen sind historisch veränderbar und erstrecken sich in ihren inhaltlichen Aussagen von Verklärung bis zur Verurteilung der späten Phase des Lebens. Lobgesänge auf das Alter finden sich ebenso wie die Altersschelte, Klage und Trost mit Blick auf Alter und Endlichkeit wechseln sich ab oder gehen Hand in Hand (Göckenjan, 2020). In dieser schwankenden Haltung in Bezug auf die Einschätzung des Alters offenbart sich eine Ambivalenz, die sich durch die Geschichte hindurchzieht (Ehmer, 2019, S. 28). So verschieden diese Vorstellungen an sich schon sind: Wo es Bilder für das Alter gibt, gibt es immer auch Bilder oder Vorstellungen von dem, was nicht alt ist, wovon sich das Alter abgrenzen lässt, also vom Jungsein, von den Jungen oder Jüngeren, von den noch nicht oder zumindest noch nicht ganz so Alten. Letzteren wurde entsprechend das Schild der ‚jungen‘ Alten umgehängt (Neugarten, 1974).

Menschen können auf unterschiedliche Weise altern. Im Normalfall gehen wir davon aus, dass das Leben eine zeitliche Strukturierung aufweist bzw. eine Verlaufsstruktur mit verschiedenen Phasen hat. Diese Struktur lässt sich in Bildern und Vorstellungen fassen, die wir an die einzelnen Lebensphasen herantragen. In der Lebensphase des Alters angekommen sind die Menschen entweder weise, erfahren, vernünftig, angesehen, besonnen und gelassen oder aber gebrechlich, vergreist, stur, unvernünftig und – obwohl sie alt sind – „wie kleine Kinder“. Dabei handelt es sich um Zuschreibungen in Medien und Gesellschaft, die auch von den Älteren selbst als Angehörige dieser Gesellschaft übernommen und so Teil ihres Selbstbildes werden. Aus diesen Bildern folgt jeweils, dass Ältere entweder gesellschaftlich angesehen sind und über hohen sozialen Status und Autorität verfügen – oder aber es trifft gerade das Gegenteil zu. Je nach Vorstellung und Zuschreibung verlangt das Alter entweder den Aktiven, Aufgeschlossenen, Engagierten oder im Gegenteil den Hilfsbedürftigen, Unselbstständigen, Kranken und Leidenden. Die gesellschaftlichen Handlungsimperative, die damit jeweils einhergehen, unterscheiden sich entsprechend: Man soll das Alter verdientermaßen genießen oder aber sich dagegen zur Wehr setzen. Man soll es „ehren“ oder aber man lehnt es als negativ und „hässlich“ ab. Wie auch immer das Bild des Alters konkret aussieht, es ist gleichsam auch Ausdruck einer strukturell angelegten Diskontinuität und damit von Veränderung im Leben. Wer alt werden kann, der kann sich auch entwickeln, sei es zum Guten oder zum weniger Guten, gar zum Schlechten. Dabei ist immer auch das Konzept einer Persönlichkeit, die sich durch Entwicklungsfähigkeit auszeichnet, mitgedacht. Selbst im Extremfall einer schwerwiegenden Demenz im Alter, der oft eine brüchig gewordene Identität oder gar ein Persönlichkeitsverlust zugeschrieben wird, ist einmal eine Person bzw. eine Persönlichkeit mit intakter Identität vorausgegangen, die nun scheinbar verloren ging. Es gibt im Alter, in welcher Form auch immer es sich manifestiert, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein Vorher und Nachher, ein Jung und Alt, umschrieben mit den Dichotomien von ‚aktiv‘ und ‚passiv‘, ‚produktiv‘ und ‚unproduktiv‘, ‚erfolgreich‘ und ‚weniger erfolgreich‘, ‚autonom‘ und ‚fremdbestimmt‘.

Diese Konzeptionen und Bilder des Alters und des Alterns stehen der Vorstellung der „Alterslosigkeit“ von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gegenüber. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden ebenfalls oft als „kindlich“ wahrgenommen, allerdings nicht erst im Alter. Sie werden als sich dauerhaft in der Lebensphase der Kindheit befindend gesehen. Die Brüche und Diskontinuitäten, die im Rahmen einer sogenannten normalen Biografie festzumachen sind, gelten bei kognitiv Beeinträchtigten nicht. In dieser Perspektive treten kognitiv beeinträchtigte Menschen nie in die Rolle des Erwachsenen über und erfahren so auch keine Veränderung im Lebensverlauf. Sie scheinen vielmehr diese Zuschreibungen selbst zu verinnerlichen und in ihr Selbstbild zu übernehmen, mit entsprechenden Folgen im Verhalten und im eigenen Erscheinungsbild (Haveman & Stöppler, 2010, S. 45). Ältere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen können daher zwar auch nicht als „Alte“ diskriminiert oder diffamiert und durch negative Altersbilder stigmatisiert werden, da sie sowohl in der Fremd- wie auch in der Eigensicht keine „Alten“ sind. Allerdings sehen sie sich dennoch der Gefahr einer negativen Stereotypisierung als Behinderte einerseits sowie als nicht der Erwachsenenrolle Fähige andererseits gegenüber. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen von älteren Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung eröffnet sich damit ein Spannungsfeld, welches die betroffenen Älteren selbst ebenso wie die übrige Gesellschaft, und hier insbesondere auch Betreuende und Pflegende, betrifft. Wie lässt sich das gesellschaftlich verbreitete Bild der „Alterslosigkeit“ von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung mit der Forderung nach einem selbstbestimmten Leben vereinen (vgl. Falk & Zander, 2020, S. 423)?

Entgegen der gesellschaftlichen Wahrnehmung altern Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen natürlich trotz allem, und sie tun dies über weite Strecken und in den Grundzügen in ähnlicher Weise wie alle Menschen. Aufgrund der verschiedenen Beeinträchtigungen und ihrer spezifischen Verlaufsformen ebenso wie der je individuellen Geschichte finden sich jedoch unterschiedliche Ausprägungen des Alterungsprozesses. Grundsätzlich altern Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen biologisch wie die Gesamtbevölkerung. Je nach Form der Beeinträchtigung finden sich jedoch Besonderheiten, etwa bei Menschen mit Trisomie 21 oder mit Williams-Syndrom. Bei ihnen treten verschiedene Merkmale auf, die auf ein frühzeitiges Altern bzw. auf Störungen im Immunsystem oder auf eine Alzheimererkrankung hinweisen. Auch bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist Multimorbidität im Alter ein Thema (Haveman & Stöppler, 2010, S. 35). Im Vergleich zur übrigen Bevölkerung haben sie jedoch meist weniger Strategien zur Verfügung, um altersbedingte Einschränkungen zu kompensieren. Bemerkt wurde auch, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung oft eine „Altersgleichgültigkeit“ (Skiba, 2006) zum Ausdruck bringen oder altersbedingte Veränderungen des Körpers nicht zu verstehen scheinen. Die Gründe dafür sind jedoch unklar und bestehen eventuell auch in einem Informationsdefizit seitens der Betroffenen (Haveman & Stöppler, 2010, S. 38). Altersbedingte Einschnitte wie etwa die Pensionierung bzw. das Ende des Arbeitslebens können jedoch auch für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung eine Veränderung darstellen, die sie dem Alter bzw. dem Altern zurechnen, die das Alter für sie erfahrbar macht und die sich nicht zuletzt auch auf ihre sozialen Beziehungen auswirkt.

Im Bereich der professionellen Unterstützungssysteme für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist das Altwerden und damit das Alter in jüngerer Zeit zu einem immer stärker beachteten Thema geworden. So lässt sich in der Schweiz eine Neuausrichtung in diesem Feld feststellen. Neues Wissen und neue Erfahrungen im Umgang mit älteren Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden vor dem Hintergrund der gestiegenen Lebenserwartung dieser Personengruppe immer stärker von den entsprechenden Institutionen berücksichtigt mit dem Ziel, die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern. In diesem Zusammenhang erhält die Frage zunehmend an Bedeutung, wie viel Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen vom Alternsprozess wissen, wie sehr sie ihn wahrnehmen und in welcher Weise sie sich damit auseinandersetzen. An einem Fallbeispiel aus der institutionellen Praxis soll diesen Fragen im Folgenden mit Blick auf einige ausgewählte Aspekte nachgegangen werden.

Fallbeispiel

J. stammt aus einer Institution für Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen in der Schweiz. Vorab ist zu erwähnen, dass sich die Herausforderungen in den Bereichen Wohnen und Gesundheit von Fall zu Fall stark unterscheiden können. In der Wohngruppe leben zwanzig Frauen und Männer zusammen. Sie werden rund um die Uhr betreut, nachts befindet sich ein Bereitschaftsdienst im Haus. Die Betreuung und Begleitung ist hauptsächlich agogisch und orientiert sich an den Grundsätzen des Empowerments, des Normalisierungsprinzips und der Selbstbestimmung.

J. kann einfache Sätze lesen und schreiben und kennt die Zahlen. Er hat eine Vorstellung vom chronologischen Alter. Ihm ist bewusst, dass er 63 Jahre alt ist. Er kann einschätzen, wenn Personen jünger oder älter sind als er. Diese Einschätzung beruht vermutlich auf optischen Eindrücken, da er selten das chronologische Alter der anderen Personen seines Umfelds kennt. Er äußert im Alltag immer wieder, dass er älter ist als andere Mitbewohnende. Diese Aussagen sind meist adäquat.

J. erkrankte als Kleinkind an einer Hirnhautentzündung, bald kamen epileptische Anfälle hinzu. Seine Wirbelsäule wurde mit Stäben und Schrauben versteift, wodurch er in seiner Beweglichkeit und Mobilität eingeschränkt wurde. Dies wiederum hatte Auswirkungen auf die Entwicklung seines Gewichts. Heute entwickeln sich die Folgen dieser Vorbelastungen immer weiter und beeinflussen einander. So ist er beispielsweise aufgrund des Übergewichts an Diabetes erkrankt. Hinzu kommt eine Vielzahl an Medikamenten zur Behandlung seiner verschiedenen Erkrankungen. Durch die Komplexität der Krankheitsbilder und das fortschreitende Alter von J. verändert sich der Fokus in der Betreuung. Er benötigt mehr medizinische und pflegerische Maßnahmen. So werden die agogische Begleitung und Betreuung immer mehr von medizinischen und pflegerischen Fragestellungen beeinflusst. Im Begleitungsalltag bedeutet dies, dass der Bedarf immer wieder genau reflektiert werden muss, damit die agogische Begleitung nicht in den Hintergrund rückt.

Physische Veränderungen nimmt J. wahr. Diese Annahme lässt sich anhand seiner Aussagen: „Früher war es anders“, „Wieso brauche ich das?“ oder „Zu Hause war das nicht so“ belegen. Jedoch ist im Begleitungsalltag beobachtbar, dass die Fragen beispielsweise zur Inkontinenz, zur zunehmenden Immobilität oder zum Diabetes immer wieder gestellt werden. Ein Teil seiner kognitiven Beeinträchtigung zeigt sich in Auswirkungen auf das Kurzzeitgedächtnis. Bei stetigem Wiederholen kann er sich Informationen merken, wenn diese für ihn eine Bedeutung oder Relevanz haben. Die körperlichen und gesundheitlichen Veränderungen bringt er nur erschwert in einen sinnhaften Kontext. Er hat Mühe, sich daran zu erinnern. Es braucht Zeit, Geduld und häufiges Erklären, wenn J. neue Hilfsmittel zur Gesundheitserhaltung oder Unterstützung erhält.

Sein Bild von älteren Menschen ist von Autorität und Überlegenheit geprägt. Jüngere Personen dürfen aus seiner Sicht älteren nicht widersprechen oder ihnen Vorschriften machen. Diese Haltung zeigt sich im Begleitungsalltag dadurch, dass er auf das Empfinden von Bevormundung durch jüngere Personen mit Aussagen wie: „Du bist ja noch nicht einmal fünfzig“ reagiert. Diese Vorstellung fordert von den Betreuungspersonen viel Reflexion und Feingefühl in der Kommunikation mit J. In der Kontaktpflege zu Mitbewohnenden lassen sich diese Aussagen ebenfalls beobachten. So unterscheidet er klar zwischen den jungen und älteren Bewohnenden. Handlungsweisen und Eigenheiten von jüngeren Mitbewohnenden wertet er als „Kindergarten“. Er möchte nichts mit ihnen zu tun haben, sucht keinen Kontakt bzw. meidet den Kontakt. Für ihn scheint es eine Überlegenheit bzw. einen höheren sozialen Status von älteren Personen gegenüber jüngeren zu geben. Sein Altersbild ist – so lässt sich vermuten – von entsprechenden Bildern und Vorstellungen geprägt.

Der Auszug aus dem Elternhaus erfolgte erst beim Tod der Mutter, als J. bereits 48 Jahre alt war. Sie hat ihn lange begleitet und betreut. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich J. bedingt durch seine Beeinträchtigungen immer in einer Form der Rolle des Kindes befunden hatte. Er umschreibt seine Mutter als hart arbeitende und liebe Frau. Sie hat auch heute noch eine große Bedeutung für J. Er erzählt jeweils davon, wie er für sie einkaufen ging, Kaffee kochte oder das Frühstück vorbereitete. Erst als es seiner Mutter gesundheitlich schlechter ging und er in eine begleitete Wohnform wechseln musste, veränderten sich seine Rollen. Durch das späte Verlassen des Elternhauses war vermutlich auch bei J. die Einnahme der Erwachsenenrolle nur bedingt möglich.

Auf den ersten Blick ist die Beeinträchtigung von J. nicht sichtbar. Die Zuschreibung des „ewigen Kindes“ hat er vermutlich weniger erfahren. Vom Erscheinungsbild her ist er ein älterer Herr. Es gab Situationen, in denen seine kognitive Beeinträchtigung nicht erkannt wurde und das Umfeld ihn überforderte. So wurde beispielsweise aufgrund eines Missverständnisses in einem Lebensmittelgeschäft die Polizei gerufen. J. reagierte mit Gewaltandrohung, und die Polizei fixierte ihn daraufhin. Dieses Erlebnis war belastend für J., da er den Grund dafür nicht verstehen und das Erlebte nur schwer verarbeiten konnte.

Wie oben erwähnt, hat J. ein Altersbild entwickelt, welches sich auf Autorität oder Überlegenheit bezieht. Er weiß von der Bedeutung des chronologischen Alters, jedoch sind die damit verbundenen Prozesse für ihn nicht oder nur erschwert erkennbar. Diese Annahme lässt sich anhand seiner Selbstwahrnehmung und Selbsteinschätzung aufzeigen. J. geht gerne mit seinem Rollator in die Stadt. Er sammelt bei verschiedenen Entsorgungsstellen Pfandflaschen und bringt diese an Rückgabestellen. Neben dem Umstand, dass dies seine einzige Freizeitbeschäftigung ist, wird dieses Verhalten von den Betreuungspersonen gefördert, weil die Bewegung und das erworbene Geld ihm Zufriedenheit und Lebensqualität geben. Direkte Auswirkungen zeigen sich zum Beispiel darin, dass J. mit seinen Mitbewohnenden deutlich weniger Konflikte hat. Er wirkt im Alltag ausgeglichener. Es wurde beobachtet, dass beim Wegfall der Beschäftigung seine Frustration und Unzufriedenheit zunahmen und seine Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung wiederum abnahmen. Er äußert schneller das Wahrnehmen von Bevormundung im Begleitungsalltag und kommuniziert dies beispielsweise mit „Du bist noch nicht mal fünfzig, du hast mir nichts zu sagen“. Die Zusammenarbeit mit ihm wird dadurch erschwert.

In letzter Zeit ist J. auf seinen Touren öfter gestürzt. Ein Grund dafür ist seine Multimorbidität. Es ist vorgekommen, dass er über einen Randstein stolperte oder ihn die Kraft in den Beinen verließ. Manchmal kam er ins Haus zurück und erzählte, dass ihm Passanten aufgeholfen hatten, aber es musste auch schon die Ambulanz aufgeboten werden. Glücklicherweise war nie etwas gebrochen. Dennoch war J. deswegen auch mehrere Male stationär im Krankenhaus. Mit jedem Sturz verliert J. physische Ressourcen. Rehabilitation und Physiotherapien zeigen wenig Erfolge, da er Anweisungen nur bedingt umsetzen kann. J. fragt auch nach den Gründen für die Stürze. Die Betreuungspersonen erklären J. immer wieder die Ursachen hierfür. Die von J. erlebten Konsequenzen sowie die Erklärungen hindern ihn jedoch nicht am Suchen der Pfandflaschen, und nach einer kurzen Ruhezeit geht er wieder auf seine Runden. Ihm wird nach einer sturzbedingten Pause immer wieder geraten, kleinere Runden zu gehen, da seine Kondition abgenommen hat. Er wurde auch schon bewusst begleitet mit der Absicht, die Kondition langsam wieder aufzubauen. Nach kurzer Zeit möchte er aber wieder eigenständig gehen und sieht keine Notwendigkeit mehr in der Begleitung. Dies lässt vermuten, dass J. keine Verbindung zum Prozess des Älterwerdens sieht. Für die Betreuenden im Arbeitsalltag besteht immer wieder ein Dilemma zwischen Gewährenlassen und Intervenieren. Die fehlenden Kompensationsstrategien von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben vermutlich bei J. nicht zuletzt auch einen Einfluss auf seine Gesundheit. J. erkennt wahrscheinlich nicht, dass seine körperlichen Fähigkeiten mit jedem Sturz abnehmen und dass er beispielsweise mit dem langsamen Aufbau der Kondition durch kleinere Runden weniger stürzen würde. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich seine physische Gesundheit immer weiter verschlechtert.

In der Begleitung der Klientel wird die Selbstbestimmung und Lebensqualität sehr hoch gewichtet. J. kann zum einen von seinem Vorhaben, Flaschen zu sammeln, nicht abgebracht werden, zum anderen ist der gesundheitliche und psychische Gewinn sehr hoch. Jedoch besteht jeder Zeit die Gefahr, dass J. so stürzt, dass er sich stärker verletzt. Bedingt durch seine physische und medizinisch komplexe Disposition, aber auch durch die strukturellen Rahmenbedingungen in der Institution wäre eine Rückkehr in die aktuelle Wohngemeinschaft bei einer Immobilität nicht mehr möglich. Die pflegerischen Anforderungen würden die fachlichen Kompetenzen der Betreuungspersonen übersteigen und eine kompetente Pflege wäre nicht zu bewerkstelligen. Dies ist den Betreuungspersonen bewusst und muss von ihnen ausgehalten werden, wenn J. unterwegs ist. Ein weiterer Faktor ist, dass die Gesellschaft oft ein Bild der Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen hat. Dies führt zu Unverständnis, dass J. in diesem Lebensbereich selbstbestimmt ist und nicht bevormundet wird. Auch dieses Dilemma ist von den Betreuungspersonen auszuhalten, da es zu Äußerungen von Unverständnis und Kritik kommen kann. Damit ein adäquater Umgang mit dieser Belastung möglich ist, braucht es eine klare Haltung aller beteiligten Personen. Die Beistandschaft von J. gewichtet die Selbstbestimmung ebenfalls höher als die Schutzbedürftigkeit. Dies ist nicht in jedem Fall so.

Nicht jeder Alterungsprozess der Klientel zeigt sich so klar wie bei J. Die Klientel der Wohngruppe war bis vor etwa zehn Jahren homogen, mit ähnlichen Ressourcen und Fähigkeiten. In den letzten Jahren haben sich große Unterschiede in den kognitiven, psychischen und biologischen Alterungsprozessen eingestellt. Diese Unterschiede müssen die Klientel und die Betreuungspersonen erkennen und anerkennen. Weil über das Alter kognitiv beeinträchtigter Menschen nach wie vor wenig Wissen und Erfahrungen bestehen, werden im Begleitungsalltag immer wieder kreative und neue Lösungen benötigt. Aus der Perspektive der Praxis wäre einiges gewonnen, wenn Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht als „alterslos“ gesehen würden und sie so gleichsam Zugang zu verschiedenen Lebensphasen erhalten und diese bewältigen könnten. Der Prozess des Älterwerdens von kognitiv beeinträchtigten Menschen verlangt nach mehr Aufmerksamkeit, damit die Betroffenen die Möglichkeit erhalten zu verstehen, was mit ihnen passiert. Mit einer breiteren Aufklärung und Bildung zu Alter und Altern könnte so auch dem von Haveman und Stöppler (2019, S. 38) benannten Informationsdefizit insbesondere der Betroffenen selbst entgegengewirkt werden. Wie das Beispiel von J. zeigt, ergibt sich eine mitunter komplexe Ausgangslage in Zusammenhang mit den Herausforderungen des Älterwerdens von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Das Zusammenspiel aller beteiligten Akteurinnen und Akteure kann sich ziemlich unübersichtlich gestalten, und die unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen von kognitiv beeinträchtigten Personen (Selbstbestimmung, eigenes Altersbild), Betreuenden (Wert der Autonomie, Verantwortungsübernahme, Sorge) und einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die wiederum angesichts ihres Bildes von älteren Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ihre Kritik anbringt, lassen sich zuweilen nur schwer vermitteln.