FormalPara Hintergrund

Bei aktueller Lebenszeitprävalenz muss ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland damit rechnen, im Laufe des Lebens pflegebedürftig zu werden. Etwa 75 % der im Jahr 2017 verstorbenen Frauen und 60 % der verstorbenen Männer waren zuvor pflegebedürftig (Rothgang & Müller, 2019). Dies stellt die Betroffenen selbst und deren unmittelbares Lebensumfeld, zunehmend aber auch die pflegebezogenen Versorgungsstrukturen und professionellen Pflegeanbieter vor beträchtliche quantitative und qualitative Herausforderungen. Demzufolge sind dringend Bemühungen zu stärken mit dem Ziel, die Nachfrage nach Pflegeleistungen durch Vermeidung, Abmilderung oder Verzögerung von Pflegebedarf zu reduzieren. An diesem Punkt setzt das vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-SV) im Rahmen des Modellprogramms zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (§ 8 Abs. 3 SGB XI) geförderte Forschungsprojekt „Gesundheitsverläufe im Alter: Wege in die Pflegebedürftigkeit“ an, das vom Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité-Universitätsmedizin Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) durchgeführt wird. Ziel ist es, bedeutsame Einflussfaktoren auf die Entstehung von Pflegebedürftigkeit zu identifizieren und in ihren Wechselwirkungen zu analysieren. Liegen mittlerweile zahlreiche Untersuchungen zum Zusammenhang von Demenz, chronischen Krankheiten oder Multimorbidität und Entstehung eines Pflegebedarfs vor (Beekmann et al., 2012; Hajek et al., 2017; Schnitzer et al., 2020; van den Bussche et al., 2014; Wiedenmann, 2017), sind Erkenntnisse zur Bedeutung sozialer Einflussfaktoren für die Entstehung und den Verlauf einer Pflegebedürftigkeit noch minder ausgearbeitet und belegt, vgl. (Hajek et al., 2017) und (Bao et al., 2019; Schneider et al., 2020; Schnitzer, 2020). Das Robert Koch-Institut etwa greift das Thema der Wohnbedingungen in einer Studie auf und beschreibt, dass bei Auftreten von Pflegebedürftigkeit ca. 67 % der Frauen und knapp 78 % der Männer weiterhin in der eigenen Häuslichkeit bleiben (Robert Koch-Institut, 2015). Darum steht im Mittelpunkt dieses Beitrags die Frage, inwieweit Wohnbedingungen, hier über die zwei Aspekte Haushaltszusammensetzung sowie Barrieren bzw. Barrierefreiheit im Wohnumfeld operationalisiert, in Assoziation zu pflegebegründenden Diagnosen Einfluss nehmen auf die Feststellung und den Grad der Pflegebedürftigkeit im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI).

FormalPara Material und Methoden

Stichprobenbeschreibung und Datenaufbereitung

Grundlage für die statistischen Analysen zur Identifikation von Faktoren, die im Zusammenhang mit der Feststellung von Pflegebedürftigkeit und Einstufungsempfehlung in einen Pflegegrad stehen, bilden Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin Brandenburg (MDK BB). Diese beinhalten neben den pflegebegründenden Diagnosen routinemäßig erhobene Daten zu personenbezogenen Merkmalen wie Geschlecht, Altersgruppe oder Wohnort (in Form der ersten drei Stellen der PLZ) sowie Freitextpassagen mit Informationen zu individuellen psychischen, physischen, kognitiven und sozialen Voraussetzungen für die Pflegegradeinstufung. Dazu gehören z. B. Partnerschaft, andere soziale Netzwerke sowie Wohnbedingungen. Die routinemäßig erhobenen Daten können direkt in statistische Analysen zu den Einflussfaktoren für die Einstufungsempfehlung einbezogen werden. Dies könnte bspw. im Rahmen von nach Geschlecht und Alter differenzierten statistischen Analysen erfolgen.

Im Jahr 2017 beantragten in den Bundesländern Berlin und Brandenburg 72.680 Personen im Alter zwischen 50 und 99 Jahren eine Pflege-Erstbegutachtung. Die Mehrheit der Antragstellenden ist weiblich (58,8 %). Von allen Antragstellenden erhielten 57.572 (79,2 %) eine Einstufungsempfehlung in einen Pflegegrad, der Anteil ist für Männer und Frauen ähnlich (80,0 % bzw. 78,6 %). Der Großteil der Antragstellerinnen und Antragsteller befindet sich in den drei 5-Jahres-Altersgruppen zwischen 75 und 89 Jahren (Männer 53,3 %, Frauen 62,2 %). Meist wurde die Einstufung in Pflegegrad 2 (43 %) empfohlen, gefolgt von Pflegegrad 1 (33 %).

In die folgenden Analysen einbezogen wurden Erstbegutachtungsunterlagen von insgesamt 63.633 Antragstellerinnen und Antragstellern. In unseren Untersuchungen konzentrierten wir uns ausschließlich auf Personen, die in der eigenen Häuslichkeit wohnen. Daher wurden die Daten zu Personen in stationärer Betreuung, in betreuten Wohngruppen oder jenen ohne Angabe der Wohnform von den Analysen ausgeschlossen. Von diesen 63.633 Antragstellenden leben 29.302 (46 %) mit mindestens einer weiteren Person zusammen, 34.331 (54 %) sind alleinlebend.

Tab. 7.1 zeigt Charakteristika der Erstantragstellenden: 60,3 % der Antragstellenden sind weiblich, 39,7 % männlich. Das Durchschnittsalter beträgt 77,5 Jahre (SD 10,4 Jahre). Von den 63.633 Antragstellerinnen und Antragstellern erhielten 48.827 (76,7 %) eine Einstufungsempfehlung in einen Pflegegrad. Unter den pflegebegründenden Diagnosen sind insgesamt Alzheimer- oder andere DemenzerkrankungenFootnote 1 am häufigsten (9,0 % der 48.827 eingestuften Antragstellenden). Es folgen Polyarthrosen (5,7 %) und Herzinsuffizienz (4,9 %) sowie COPDFootnote 2 (4,4 %) und Hirninfarkt (4,1 %).

Methoden

Die Erstbegutachtungsunterlagen des MDK beinhalten auch Daten zu den familiären Verhältnissen der Antragstellenden, zum sozialen Umfeld oder Beschreibungen der Wohn- und Pflegesituation in Form von Freitextangaben. Diese Angaben enthalten weitere Informationen, die im Zusammenhang mit einer Pflegegradeinstufung relevant sein können, bedürfen jedoch der vorherigen Aufbereitung mittels Verfahren, mit denen Wörter und Wortbestandteile aus Texten extrahiert und aufbereitet werden können, um sie einer quantitativen statistischen Auswertung zugänglich zu machen. Solche Verfahren werden unter dem Begriff Text Mining als einer Form des Data Mining zusammengefasst. Der Begriff Text Mining umfasst dabei eine Vielzahl verschiedener Ansätze, Typologien und Verfahren zur Extraktion und Aufbereitung von Informationen aus eher unstrukturierten textbasierten Daten (Mehler & Wolff, 2005).

Der beschriebene methodische Ansatz umfasst somit zwei Zugänge zur Identifikation von Einflussfaktoren der Pflegebedürftigkeit: die Analyse standardisierter numerisch vorliegender Routinedaten und die Aufbereitung von Informationen in Freitextangaben mittels Text Mining. Abb. 7.1 verdeutlicht beide Zugangswege.

Abb. 7.1
figure 1

Methodisches Vorgehen

Bei der Anwendung des Text Mining werden Merkmale der begutachteten Personen mithilfe einer Verschlagwortung von Schlüsselbegriffen aus den Freitextangaben extrahiert und einer statistischen Analyse zugänglich gemacht. Das Verfahren zur Ermittlung dieser Informationen wird nach der Methode des Exact Pattern Matching durchgeführt. Dazu werden thematisch relevante Freitextangaben in den Datensätzen der Antragstellenden selektiert und in Zeichenketten (Strings) umgewandelt. Anschließend wird jeder dieser Strings exakt nach relevanten synonymen Schlagwörtern durchsucht. Im Falle eines Treffers wird einer neu gebildeten numerischen Variablen, bspw. „Barrieren“, eine 1 für „Barrieren im Wohnumfeld vorhanden“, anderenfalls eine 0 zugeordnet. Die Suche erfolgt case-sensitive, d. h., es wird zwischen Groß- und Kleinschreibung (z. B. „Stufe“, „Türschwelle“, „schwelle“) unterschieden. Durch diese Verfahrensweise wird bspw. verhindert, dass eine „Treppenstufe“ zugleich als „Treppe“ und als „Stufe“ gewertet wird. Die Verschlagwortung wird sowohl deduktiv als auch induktiv durchgeführt. Das heißt, es werden Schlagwörter einerseits anhand von theoretisch abgeleiteten Synonymen sowie andererseits nach empirisch ermittelten Textfeldinhalten gebildet. Infokasten 1 zeigt die Vorgehensweise für die Bildung der Variablen „Barrieren“ am Beispiel des Begriffs „Schwelle“.

FormalPara Infokasten 1: Bildung der Variablen „Barrieren“ am Beispiel des Begriffs „Türschwelle“

In einem ersten Schritt wurde mit der Zeichenkette „Schwelle, schwelle“ die Anzahl der Erwähnungen von (Tür-)Schwellen ermittelt.

In einem zweiten Schritt wird die Anzahl der Einträge für explizit NICHT vorhandene Schwellen ermittelt, durch: „ohne Schwelle“, „ohne schwelle“, „keine Schwelle“, „keine schwelle“, „schwellenfrei“, „schwellenlos“, „schwelle nicht“, „schwellen nicht“, „Schwelle nicht“, „Schwellen nicht“, „Schwelle ist nicht“, „schwelle ist nicht“, „Schwellen sind nicht“, „schwellen sind nicht“, „keine Türschwelle“, „keine türschwelle“, „Keine Türschwelle“, „Keine türschwelle“ „Schwelle: nein“, „Schwelle:nein“, „schwelle: nein“, „schwelle:nein“, „Schwellen: nein“, „Schwellen:nein“, „schwellen: nein“, „schwellen:nein“.

Aus der Differenz ergibt sich die Häufigkeit des Merkmals „Barrieren im Wohnumfeld vorhanden“ der Variablen „Barrieren“.

Zur Validierung der Suchergebnisse werden Sensitivität und Spezifität des Verfahrens mittels Klassifikationstest überprüft. Dazu werden Zufallsstichproben von Gutachten gezogen (n = 100). Diese wurden sowohl händisch als auch unter Anwendung des beschriebenen Text-Mining-Verfahrens auf das Vorkommen und die Validität der Bedeutungszuschreibung der verwendeten Schlagwörter geprüft. Die Zuverlässigkeit der Methode wird bewertet, indem Zuordnungen zu true positive, false positive, true negative sowie false negative berechnet werden. Die händische Erfassung fungiert dabei als Referenz, die automatisierte Erfassung als Komparator. Thematisch relevante Suchbegriffe, die erst im Zuge der Validierung ermittelt werden können, werden dem Schlagwortkatalog hinzugefügt. Nach erfolgter „Sättigung“ der Verschlagwortung wird die Suche auf den gesamten Datensatz angewendet; die aus diesem Verfahren resultierenden Variablen können dann in quantitative statistische Analysen einbezogen werden.

FormalPara Ergebnisse

Folgende Ergebnisse rekurrieren auf die Wohnbedingungen der Antragstellerinnen und Antragsteller. Als einen Aspekt von Wohnbedingungen verstehen wir dabei die Haushaltszusammensetzung. Betrachtet man zunächst Personen mit einer Einstufungsempfehlung, zeigen sich deutliche Unterschiede bei Gegenüberstellung der einzelnen Pflegegrade mit der Haushaltszusammensetzung (alleinlebend/ zusammenlebend). Abb. 7.2, basierend auf einer Fallzahl von n = 63.633, verdeutlicht, dass von allen Alleinlebenden ein höherer Anteil in Pflegegrad 1 eingestuft wird als dies bei den Nicht-Alleinlebenden der Fall ist (32,1 zu 24,9 %). Insbesondere in den höheren Pflegegraden 2 und 3 hingegen sind die Anteile für Nicht-Alleinlebende höher als für Alleinlebende (39,9 % zu 31,3 % bzw. 15,5 % zu 6,7 %).

Unter den Antragstellerinnen und Antragstellern ohne Feststellung der Pflegebedürftigkeit beträgt der Anteil der Alleinlebenden 29,2 %, der Anteil unter den Nicht-Alleinlebenden ist mit 16,3 % geringer.

Abb. 7.2
figure 2

Erstbegutachtungsergebnisse nach Haushaltszusammensetzung und Pflegegrad (kein PG, 1–5) (alle Säulen einer Farbe kumulieren sich zu 100 %)

Bei Betrachtung der Haushaltszusammensetzung in höheren, häufig typischen AltersgruppenFootnote 3 für den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zeigt sich, dass der Anteil der Alleinlebenden gegenüber den Nicht-Alleinlebenden deutlich höher liegt. Am stärksten zeigt sich dieser Befund bei den 85–89-Jährigen (62 % zu 38 % von n = 63.633) und 90–94-Jährigen (71 % zu 29 %). Die relativen Unterschiede sind in der höchsten Altersgruppe noch größer (78 % zu 22 %), hier nimmt aber auch die Fallzahl der Pflegebedürftigen deutlich ab (siehe Abb. 7.3). Für die niedrigeren Altersgruppen unter 75 Jahren gibt es nur sehr geringe Unterschiede in den Anteilen zwischen der Gruppe der Alleinlebenden und Nicht-Alleinlebenden, weshalb diese Altersgruppen auch für die folgende Abbildung ausgespart wurden.

Im Folgenden werden beispielhaft einige pflegebegründende Diagnosen aufgegriffen, deren Prävalenz im Vergleich der Alleinlebenden mit den Nicht-Alleinlebenden auffallende Unterschiede aufweist (nicht für alle der fünf häufigsten Erstdiagnosen aus Tab. 7.1 zutreffend). Bei Betrachtung der Daten zur insgesamt häufigsten Diagnose Demenz im Zusammenhang mit der Haushaltszusammensetzung ist zunächst festzustellen, dass bei 8,4 % der Nicht-Alleinlebenden diese Erkrankung auftritt, während dieser Wert für die Alleinlebenden bei 6,0 % liegt. Höhere Anteile für die Nicht-Alleinlebenden finden sich auch in den Beschwerdebildern Parkinson (3,2 % zu 1,3 %) und Lungenkrebs (2,6 % zu 1,2 %). Bei den nachfolgenden hier aufgeführten Erkrankungen dreht sich das Verhältnis zwischen Alleinlebenden und Nicht-Alleinlebenden um. So berichten 6,5 % der alleinlebenden Antragstellerinnen und Antragsteller, an einer Polyarthrose erkrankt zu sein, gegenüber 4,4 % der Nicht-Alleinlebenden. Der Anteil der Alleinlebenden, die an Gonarthrose leiden, ist mit 2,7 % größer als der der Nicht-Alleinlebenden mit 2 %. Weitere, noch nicht veröffentlichte Ergebnisse zeigen auch, dass im Zusammenhang mit der Haushaltszusammensetzung unterschiedliche Erkrankungsprävalenzen den Pflegegrad beeinflussen.

Für weitere Erkenntnisse über Zusammenhänge zwischen Wohnbedingungen und Pflegebedarf wurden nicht nur die numerisch vorliegenden Variablen analysiert, sondern auch die Inhalte der Freitexte im Hinblick auf Barrieren vs. Barrierefreiheit. Dies geschah mittels des oben beschriebenen Text-Mining-Verfahrens. Eine Kategorie innerhalb der Freitextanalyse beinhaltete die Exploration von Barrieren bzw. Barrierefreiheit in der eigenen Häuslichkeit der Antragstellerinnen und Antragsteller. Der im Methoden-Abschnitt beschriebenen Operationalisierung der beiden Kategorien „Barriere“ bzw. „Barrierefreiheit“ folgend zeigt sich, dass die Mehrheit der Antragstellenden von vorhandenen Barrieren berichtet (57 %; n = 36.287). Dabei zeigen sich geringe Unterschiede in der berichteten Prävalenz zwischen Frauen (57,8 %) und Männern (55,8 %). Dieser geschlechtsspezifische Unterschied zeigt sich auch für Personen, die zu Hause allein leben (56,3 %; Frauen 57,1 %; Männer 54,5 %) und für Personen, die mit jemandem gemeinsam in der eigenen Häuslichkeit leben (57,9 %; Frauen 59,1 %; Männer 56,7 %). In allen vorgestellten Kategorien berichten Frauen anteilsmäßig häufiger von Barrieren als Männer (Abb. 7.4).

Im Verlauf über alle 5-Jahres-Altersgruppen zeigt sich fast ausnahmslos sowohl für Frauen als auch für Männer ein Gradient dahin gehend, dass sich mit zunehmendem Alter auch die Berichte über vorhandene Barrieren häufen (Abb. 7.4). Diese Abbildung zeigt erstens die Anzahl der Männer und Frauen je Altersgruppe, die von Barrieren berichten (Primärachse), und zweitens werden auch die relativen Anteile dargestellt, um ergänzend zu den Absolutzahlen den Anteil je Altersgruppe aufzuzeigen, der sich mit Barrieren konfrontiert sieht (Sekundärachse).

Abb. 7.3
figure 3

Altersgruppen nach Haushaltszusammensetzung, ab Altersgruppe 75–79 Jahre

Abb. 7.4
figure 4

Personen, die von Barrieren berichten (n = 36.287), nach Altersgruppe und Geschlecht, n und %

Bei den Frauen steigen die relativen Werte innerhalb der Altersgruppen für berichtete Barrieren kontinuierlich an: Sie beginnen bei 48,8 % (n = 550) der 50–54-Jährigen, verlaufen über 55,7 % (n = 1.855) bei den 70–74-jährigen Personen und steigen bis auf 62,7 % (n = 345) bei der ältesten Gruppe (95–99-Jährige) an. Bei den Männern steigt der Anteil derer, die von erschwerten Wohnbedingungen in Form von Barrieren berichten, bis auf 61,4 % (n = 2.203) in der Altersgruppe 85–89 Jahre an und nimmt dann wieder leicht ab, und liegt bei den 95–99-Jährigen bei 55,4 % (n = 62).

FormalPara Diskussion

Die Analysen der Pflege-Erstbegutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Einstufungsempfehlung in einen Pflegegrad und den vorhandenen Wohnbedingungen gibt. Während in Pflegegrad 1 der Anteil der Alleinlebenden im Vergleich zu den Nicht-Alleinlebenden größer ist, kehrt sich dieses Verhältnis insbesondere für die Pflegegrade 2 und 3 um. Dies deutet auf eine protektive Wirkung des Zusammenlebens mit der Annahme dadurch vorhandener Unterstützung hin. Offenbar kann entstehender Pflegebedarf durch die Hilfe der Partnerin oder des Partners eine Zeit lang kompensiert werden, sodass zunächst keine Beantragung von Leistungen aus der Pflegeversicherung erfolgt. Wenn der Hilfsbedarf durch Unterstützungsarrangements nicht mehr aufgefangen werden kann, erfolgt die Antragstellung auf Pflegeleistungen und dann direkt die Einstufungsempfehlung in einen höheren Pflegegrad. Unsere Befunde der protektiven Effekte von Partnerschaft bzw. Zusammenleben (i. d. R. ist dies ein Zusammenleben mit der Partnerin oder dem Partner, vgl. (Robert Koch-Institut, 2015), werden auch von anderen Studien bestätigt (Schnitzer et al., 2020; Unger et al., 2015), vgl. (Hajek & König, 2016).

Die Unterschiede im Auftreten spezifischer Krankheitsbilder nach der Haushaltszusammensetzung (alleinlebend/nicht alleinlebend) zeigen, dass auch das Antragsverhalten diesbezüglich variiert. Es ist davon auszugehen, dass verschiedene Erkrankungen ebenso unterschiedliche Unterstützungspotenziale erfordern. Somit werden bspw. bei hohen Erfordernissen durch eine Erkrankung oft früher Pflegeleistungen beantragt als dies bei Erkrankungen der Fall ist, mit denen ein Umgang relativ gut auch ohne professionelle Hilfestellung möglich ist. Dies lässt für zukünftige Analysen vermuten, dass neben der pflegebegründenden Diagnose das Zusammenleben mit einer Partnerin oder einem Partner die Beantragung von Leistungen aus der Pflegeversicherung beeinflusst, einerseits über die Ressource der Unterstützung, andererseits über den Grad der Erfordernisse im Umgang mit der Erkrankung.

Die Analysen bezüglich berichteter Barrieren zeigen, dass ein bedeutsamer Anteil der Antragstellerinnen und Antragsteller Hindernisse im Wohnumfeld angibt. Dieser Anteil nimmt für beide Geschlechter fast ausnahmslos mit dem Alter zu, nur bei den Männern nimmt der Wert ab der Altersgruppe 90–94 Jahre wieder leicht ab. Vermutlich ist der Anstieg auf ein sensibleres Empfinden potenzieller Barrieren mit zunehmendem Alter zurückzuführen, da sich auch Mobilitätseinschränkungen einstellen und so bspw. eine früher unproblematische Türschwelle nun zu einem Hindernis wird – dies deutet darauf hin, dass eine Barriere erst in Kombination mit den jeweiligen individuellen Fähigkeiten oder Einschränkungen einer einzelnen Person sinnvoll interpretiert werden kann (Iwarsson & Slaug, 2010). Die Abnahme der Anteile berichteter Barrieren bei Männern in den höchsten Altersgruppen könnte auch darauf zurückgeführt werden, dass neben fallzahlbedingten Schwankungen auch das Vorhandensein einer Partnerschaft und damit verbundene Unterstützungspotenziale eine geringere Wahrnehmung eigentlich vorhandener Barrieren bewirken. Zum anderen können in diesen Altersgruppen auch vormals vorhandene Barrieren bereits durch wohnraumverändernde Maßnahmen beseitigt worden sein. Grundsätzlich schwanken Studienbefunde zu Barrieren in der eigenen Häuslichkeit, da die Ergebnisse von der Art der untersuchten Barrieren abhängen (Wahl & Oswald, 2012). Im Rahmen dieser Arbeit wurden Barrieren als einschränkende Wohnbedingung bezüglich der Mobilität untersucht (Schwellen, Stufen etc.), weitere Analysen müssten auch andere Aspekte wie z. B. Lichtverhältnisse oder zu niedrige Toilettensitze einbeziehen, die ebenfalls eine bedeutende Rolle für altengerechte Wohnbedingungen spielen (Wahl & Oswald, 2012). Wahl und Oswald vermuten außerdem, dass in Deutschland Möglichkeiten zur Wohnraumanpassung bei weitem nicht ausgeschöpft sind (2012), nicht zuletzt geht der Barmer Pflegereport davon aus, dass auch viele ältere Pflegebedürftige gar nicht oder kaum über Möglichkeiten der Unterstützung bei der Verbesserung ihrer Wohnbedingungen informiert sind (Kalwitzki et al., 2015). Möglichkeiten der Verbesserungen von Wohnbedingungen sind vielfältig: So gibt es bereits Ansätze, über Mehrgenerationenhäuser ältere Pflegebedürftige von jüngeren Menschen unterstützen zu lassen, während die Älteren im Gegenzug den Jüngeren helfen (z. B. beim Aufpassen auf die Kinder). Ebenso könnten betreute Wohnformen in barrierefreien Wohnumgebungen stärker gefördert werden.

Die hier berichteten Ergebnisse legen außerdem einige Überlegungen hinsichtlich geeigneter Maßnahmen nahe, durch die zum einen nicht (mehr) vorhandene Partnerschaften bei älteren Menschen in Bezug auf ihr Unterstützungspotenzial kompensiert und zum anderen Angehörige, die selbst eine Unterstützungsleistung erbringen, stärker entlastet, gefördert und damit wertgeschätzt werden könnten. So könnten Pflegelotsen als Schnittstelle zwischen (Haus-)Ärzten/Ärztinnen und Krankenkassen sowie Angehörigen und Betroffenen eingesetzt werden, um einen erhöhten Pflegebedarf bereits zu identifizieren, bevor eine Überforderung aufseiten pflegender Angehöriger eintritt, und diese bei der Einleitung entsprechender Schritte zu unterstützen. Des Weiteren wäre die Schaffung und Unterstützung von Möglichkeiten zur Entlastung der versorgenden Angehörigen denkbar, z. B. durch das unbürokratische Verfügbarmachen einer kurzfristigen Pflegekraft über die Sozialversicherungsträger, um einer Überforderung dieser wichtigen personellen Ressource zur Kompensation frühzeitiger Pflegebedürftigkeit vorzubeugen. Zur Überprüfung dieser und weiterer Überlegungen zur Vermeidung oder Verzögerung von Pflegebedürftigkeit im Alter bzw. zur Verbesserung der Pflegesituation älterer Menschen und ihrer Angehörigen in Deutschland ist weitere Forschung notwendig. Das im Rahmen dieser Arbeit angewendete Verfahren kann dazu einen wichtigen methodischen Beitrag leisten.

Limitationen des angewendeten Verfahrens liegen bspw. in der Identifikation von zwar relevanten, aber orthografisch fehlerhaft übertragenen Textbestandteilen im Datensatz. So würde bspw. der Begriff „Schwlle“ nicht als Schwelle identifiziert werden können, wenn er nicht zufällig in den ermittelten Ergebnissen oder den gezogenen Zufallsstichproben auftaucht und auf diese Weise Eingang in die Verschlagwortung findet. Demzufolge besteht die Möglichkeit einer Unterschätzung der auf der Basis des Text Mining ausgewiesenen Prävalenzen. Zu einer Überschätzung kann es bspw. kommen, wenn der Begriff „Schwellen“ als Risiko (für z. B. einen Sturz) gewertet wird, es aber eigentlich „Schwellen überwindbar“ bedeutet, das Wort „überwindbar“ bliebe in unserer Methode unberücksichtigt. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass die Validierung der Suchergebnisse mittels Klassifikationstest auf der Basis von jeweils n = 100 Zufallsstichproben durchgeführt wurde. Inwiefern eine Erhöhung der Anzahl an Stichproben die Zuverlässigkeit der Ergebnisse verbessern kann, sollte in nachfolgenden Studien weiter erprobt werden. Prinzipiell bleibt die Anzahl der für die Validierung gezogenen Stichproben aus pragmatischen Gründen aber begrenzt.

Weitere limitierende Faktoren ergeben sich aus der vorhandenen Datenbasis. So handelt es sich erstens um Querschnittsdaten, mit denen potenzielle Progredienzen der Pflegebedürftigkeit nicht im Zeitverlauf erfasst werden können. Zweitens basieren unsere Analysen ausschließlich auf den Begutachtungsunterlagen des MDK für die Bundesländer Berlin und Brandenburg, die sich – wie in jedem anderen Bundesland – durch diverse Spezifika auszeichnen (z. B. bezüglich Altersstruktur, Geschlechterverhältnis, Krankheitsgeschehen). Demnach stellen die von uns untersuchten Personen kein repräsentatives Sample für die gesamte Pflegesituation in Deutschland dar.

Die vorliegenden Befunde können zu sechs Kernaussagen zusammengefasst werden: 1. Wohnbedingungen beeinflussen den Grad der festgestellten Pflegebedürftigkeit. 2. Alleinlebende werden eher in niedrigere Pflegegrade (zumeist Pflegegrad 1) eingestuft, Nicht-Alleinlebende eher in höhere (mehrheitlich Pflegegrade 2 und 3). Dies deutet auf eine protektive Wirkung von engen sozialen Beziehungen (i. S. v. Zusammenleben) und damit einen längeren Erhalt der Selbstständigkeit hin und zögert dadurch den Eintritt von Pflegebedürftigkeit (d. h., die Antragstellung auf Leistungen aus der Pflegeversicherung) hinaus. 3. Den Befunden folgend muss ein Fokus in der Prävention eines defizitären Unterstützungsarrangements liegen, das auf die besonderen Bedarfe alleinlebender Menschen zugeschnitten ist. 4. Zur Realisierung präventiver Bemühungen zur Hinauszögerung eines Pflegebedarfs müssen Maßnahmen zur Schaffung und Stabilisierung sozialer Netzwerke aktiviert und versorgende Partnerinnen und Partner proaktiv unterstützt werden. 5. Der Abbau von Barrieren kann durch Wohnraumanpassungen gelingen, mit dem Ziel, eine Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich hinauszuzögern. 6. Die bedeutende Rolle von sozialer Unterstützung für die Kompensation von Pflegebedarf sowohl für Frauen als auch für Männer sowie die altersgerechte Beseitigung von Barrieren im Wohnumfeld als wichtige Präventionsmaßnahme sollten durch vertiefte Analysen weiter erforscht und aufgeklärt werden.

Tab. 7.1 Charakteristika der Erstantragstellenden