Einleitung

Die Förderung und der Erhalt von Gesundheit bis in ein möglichst hohes Alter gewinnen zunehmend an Bedeutung, worauf die WHO durch die Ernennung des Zeitraums 2020 bis 2030 zur Dekade des aktiven Alterns (WHO 2020a, b) aufmerksam macht.

Die positiven Effekte auf das Wohlbefinden älterer Menschen, die durch kommunale Gesundheitsförderung im Stadtteil bzw. Quartier erzielt werden können, sind seit einiger Zeit von großem Forschungsinteresse (Kühnemund & Kümpers, 2018). Zunehmend rücken auch ländliche Räume in den Fokus der Gesundheitsforschung (Weidmann & Reime, 2021) und der Sozialgerontologie (Fachinger & Künemund, 2015). Im ländlichen Südtirol (Norditalien) ist das Handlungsfeld der gemeinwesenbasierten Gesundheitsförderung noch kaum aufgebaut und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erscheint für die Gestaltung zielgruppenorientierter Handlungsstrategien notwendig.

Das hier vorgestellte Forschungsprojekt untersucht, ob und wie Gesundheitschancen durch partizipative Ansätze und transdisziplinäre Kooperation gefördert werden können. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Qualitätskriterien der International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR, 2015). Die Notwendigkeit von Partizipation wird dabei nicht auf ethische Gründe reduziert, sondern Partizipation erscheint auch für die Qualitätssicherung notwendig (Mairhofer, 2021; Van der Donk et al., 2014; Wright, 2010). Akteure aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Lebenswelt werden – aufbauend auf ein sozialkonstruktivistisches Wissenschaftsverständnis – als Ko-Konstrukteure eines neuen, gemeinsamen und transformativen Wissens (Mairhofer, 2021) und für eine sich stetig wandelnde Gesellschaft verstanden. Dieses gemeinsam weiterentwickelte Wissen muss dabei vor allem für jene nützlich sein, die Zielgruppe und Untersuchungsgegenstand der Forschung sind (ICPHR, 2013; Von Unger, 2014). Diese partizipativen Wissensentwicklungs- und Transformationsprozesse wurden im Rahmen eines partizipativen gemeinwesenbasierten Gesundheitsförderungsprojektes in intensiver Zusammenarbeit zwischen Universität und lokalen Akteuren untersucht. Dabei wurde analysiert, welche Gesundheitsbilder, Gesundheitsressourcen und -belastungen ältere Menschen im ländlichen Raum benennen und ob und wie sie durch partizipative Methoden aktiv in die Gestaltung gesunder Lebenswelten einbezogen werden können. Ein weiterer Schwerpunkt lag darauf, Potenziale und Herausforderungen des partizipativen Prozesses selbst zu benennen und festzustellen, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit gemeinwesenbasierte Gesundheitsförderung partizipativ gelingen kann (Mairhofer, 2021).

FormalPara Theoretischer Hintergrund

Gesundheitsförderung ist eine ressourcenorientierte Gesamtstrategie, welche auf die Grundprinzipien Empowerment, Ressourcenorientierung, Partizipation, Lebensweltorientierung und Netzwerkarbeit aufbaut (WHO, 1986). Dabei bildet sie eine Nahtstelle zwischen Verhalten und Verhältnissen.

Dieser sozialwissenschaftliche Zugang und Übergang von einem rein bio-medizinischen zu einem holistischeren Gesundheitsverständnis zeigt sich auch in der Gerontologie. Ältere Menschen stehen zunehmend im Fokus von Gesundheitsförderung und Prävention. Der Schwerpunkt liegt vermehrt auf der Förderung gesunder Lebensjahre und des aktiven Alterns, was die WHO als „Prozess der Optimierung der Möglichkeiten von Menschen, im zunehmenden Alter ihre Gesundheit zu wahren, am Leben ihrer sozialen Umgebung teilzunehmen und ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten, und derart ihre Lebensqualität zu verbessern“ (2002, S. 12) definiert.

Nachdem die Bedeutung des Settings Gemeinde bzw. auch des Gemeinwesens lange Zeit nur mehr wenig beachtet wurde, setzte in den 1970er Jahren die große „Wiederentdeckung der Gemeinde“ (Süß & Trojan, 2020, online) ein. Die Auseinandersetzung mit Gesundheitspotenzialen und -risiken im Wohnumfeld rückte wieder vermehrt ins Zentrum der Public-Health-Forschung. Da das direkte Wohnumfeld mit ansteigendem Alter zunehmend an Bedeutung gewinnt (Mairhofer & Teti, 2020; Teti, 2015; Teti & Mairhofer, 2017), wird gemeinwesenbasierte Gesundheitsförderung zum vielversprechenden Ansatz für die Arbeit mit älteren Menschen (Mairhofer, 2021). Eine partizipative Planung und Umsetzung gemeinwesenbasierter Gesundheitsförderung erscheint essenziell, damit diese auch den Bedürfnissen und Wünschen älterer Menschen entspricht: Lebensweltorientierung und Partizipation werden zu Erfolgsfaktoren gemeinwesenbasierter Gesundheitsförderung.

Eine Auseinandersetzung mit den Differenzen zwischen urbanen und ruralen Räumen ist im Hinblick auf die Gestaltung altersgerechter Gemeinden bedeutend. Die zunehmende Landflucht wird das Ungleichgewicht der Generationen weiter verstärken: Während junge Menschen und Familien mit Kindern vermehrt in urbane Räume mit Arbeits-, Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten ziehen, verbleiben ältere Menschen meist in ihrem gewohnten ländlichen Wohnumfeld (Fachinger & Künemund, 2015). Es braucht altersgerechte ländliche Gemeinden (Baumgartner et al., 2013). Ländliche Räume waren jahrhundertelang von traditioneller Dorfgemeinschaft mit Netzwerken sozialer Kontrolle und Unterstützung gekennzeichnet (ebd.) und sind nun zunehmend mit einer Angleichung an die Stadt konfrontiert. Ältere Menschen sehen den schwindenden Zusammenhalt und loser werdende Netzwerke und den Identitätsverlust des Lokalen zunehmend als Verlust (ebd.; Mairhofer, 2021) und ziehen sich vermehrt aus dem öffentlichen Raum zurück (Cloke, 1996; zitiert nach Baumgartner et al., 2013, S. 36). Aktive soziale Teilhabe gehört aber zu den Voraussetzungen für erfolgreiches Altern (Rowe & Kahn, 1997). Soziale Teilhabemöglichkeiten müssen für ältere Menschen im direkten Wohnumfeld geboten werden. Gleichzeitig ist es dringend notwendig, neben diesen Herausforderungen auch die vielen Ressourcen ländlicher Räume für ein gesundes Altern wahrzunehmen (Fachinger & Künemund, 2015). Durch eine darauf aufbauende altersgerechte Lebenswelt wird ein gesundes Altern in ländlichen Räumen gefördert.

FormalPara Partizipative Forschung

Seit einigen Jahren ist eine zunehmende Veränderung von einer mono- und interdisziplinären zu einer transdisziplinären Forschung beobachtbar.

Transdisziplinarität verbindet das Wissen verschiedener Disziplinen mit dem in der Gesellschaft vorhandenen Wissen (Lenz, 2010). Dadurch werden Bürger*innen und Expert*innen verschiedener Disziplinen zu Wissenspartner*innen Bürger*innen entscheiden als Lebensweltexpert*innen mit, welche Forschung wie umgesetzt wird: Sie werden von einer teilnehmenden Zielgruppe zu Teilhaber*innen der Forschung.

Dabei geht es Vertreter*innen der transdisziplinären Forschung aber nicht nur um ethische Diskussionen, welche eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Forschung fordern, sondern vielmehr um ein anderes Qualitätsverständnis der Forschung. Durch das Einbinden von Lebensweltexpert*innen in die Wissensproduktion kann Wissen aufbereitet werden, welches ohne diese Einbindung nicht sichtbar werden würde. Transdisziplinarität ermöglicht es, bessere Kenntnisse über die Zielgruppe der Forschung zu erhalten, und dies ist besonders bei schwer erreichbaren Zielgruppen von großer Bedeutung. So wird in transdisziplinären Projekten der Gerontologie beispielsweise gemeinsam mit älteren Menschen nach geeigneten Erhebungsmethoden gesucht, da aufgrund eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen die Teilnahme an vielen klassischen Erhebungsmethoden nicht immer möglich ist. Gemeinsam können aber Methoden erarbeitet werden, damit möglichst viele Personen der Zielgruppe dann auch teilnehmen können und wollen. Vor allem für Metadisziplinen wie der Gerontologie, sofern sie als solche bezeichnet werden kann, ist diese gezielte Multi-, Inter- und vielleicht auch Transdisziplinarität eine Chance (Künemund & Schröter, 2015).

Community-basierte partizipative Forschung (CBPR) baut auf Ansätzen des community development auf, einer „weltweit verbreitete[n] Strategie der systematischen und partizipativen Entwicklung lokaler und regionaler Räume gemeinsam mit der örtlichen Bevölkerung“ (Ife, 1995; zitiert nach Elsen, 2014, S. 243). Der von der International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR) daraus weiterentwickelte Participatory Health Research ***Approach und im Deutschen als Partizipative Gesundheitsforschung (PGF) bekannte Ansatz hat in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Sozial- und Gesundheitsforschung großen Aufschwung erfahren. PGF „ist ein wissenschaftlicher Ansatz, der die Durchführung von Forschung als eine Koproduktion verschiedener Akteurinnen und Akteure versteht. Der Forschungsprozess wird zwischen allen Beteiligten partnerschaftlich organisiert und kontinuierlich im Hinblick auf die Machtverhältnisse reflektiert. Am gesamten Forschungsprozess soll dabei eine maximale Mitgestaltung der Menschen erreicht werden, deren Lebensbereiche erforscht werden“ (Definition PartNet, 2015; zitiert nach Wright, 2016, online). Neben der klassischen Datengewinnung sieht PGF die Partizipationsprozesse selbst als Kern der Forschung.

FormalPara Umsetzung partizipativer Sozial- und Gesundheitsforschung mit älteren Menschen im ländlichen Raum Südtirol

Aufbauend auf diesen theoretischen Hintergrund und eine Einführung in die partizipative Forschung wird nun ein Forschungsprojekt beschrieben, welches von der Autorin dieses Beitrages geleitet und im ländlichen Südtirol ausgearbeitet und umgesetzt wurde.

Das Forschungsprojekt war Teil des Praxisprojektes Gesundes l(i)ebenswertes V.- Gesundheit für AlleFootnote 1 und folgte auf das Interreg-Projektes insieme sano – gemeinsam gesund ausgearbeitet, welches in mehreren Gemeinden Südtirols (Italien) und Graubündens (Schweiz) zur Implementierung gemeinwesenbasierter Gesundheitsförderung in ländlichen Gemeinden umgesetzt wurde. Dieses Projekt wurde im Herbst 2013 abgeschlossen, mit der politisch unterstützten Vereinbarung, dass darauf aufbauend weiter am Thema gemeindebasierte Gesundheitsförderung gearbeitet werden sollte. Hierfür wurde vorerst eine der ursprünglich fünf Gemeinden ausgewählt. Die weiteren Projekte in dieser Gemeinde sollten durch partizipative Forschung begleitet und evaluiert werden. Zu diesem Zeitpunkt gab es lediglich diese Vorgaben, ohne Einschränkung auf Zielgruppen oder andere konkrete Pläne.

Um das Interesse und den Konsens der Bevölkerung und vor allem der als Kooperationspartner*innen wichtigen Vertreter*innen der ehrenamtlichen Vereine abzuklären, wurde das Projekt 2014 im Rahmen einer Versammlung vorgestellt. Dieser Einladung folgten neben Vertreter*innen der Gemeindepolitik rund fünfzig interessierte Bürger*innen, wobei ein reges Interesse an dieser Thematik beobachtet werden konnte. Das Praxisprojekt wurde beim Amt für Weiterbildung der Autonomen Provinz Bozen mit einer finanziellen Unterstützung zur Deckung der anfallenden Kosten mitfinanziert. Zeitgleich mit der Projektgenehmigung wurde die wichtigste Kooperationspartnerin des Projektes, die Stiftung Vital, das Kompetenzzentrum für Gesundheitsförderung in Südtirol, aus politischen Gründen geschlossen. Die Steuerungsgruppe Gesunde Gemeinde, welche über dieses Vorgehen der Politik enttäuscht und verärgert war, legte ihre Arbeit nieder. Das Konzept wurde überarbeitet und es war längere Zeit unklar, ob das Projekt ohne die Ressourcen der Stiftung Vital umgesetzt werden konnte. Durch diesen Ressourcenwegfall kam es zu einer grundlegenden Veränderung: Während die Gemeindepolitik ihre Anliegen am Thema Gesundheitsförderung vorerst von der Tagesordnung nahm, wurden Vertreter*innen der ehrenamtlichen Vereine aktiv. Sie wollten am Projekt mitarbeiten und umsetzen: Ein Top-Down-Projekt wandelte sich zum Bottom-Up-Projekt, welches ab 2015 in eine mehrjährige Implementierung starten durfte.

In einer anfänglich noch wenig partizipativen Phase der Sensibilisierung möglicher Stakeholder und einer ersten Sammlung und Aufbereitung von Informationen und vorhandenem Datenmaterial wurde mit Vertreter*innen der Gemeindepolitik und lokaler Vereine die Zielgruppen des Projektes festgelegt: Familien mit Kindern, Jugendliche, Alleinerziehende, Alleinlebende, Einwohner*innen der neuen großen WohnbauzonenFootnote 2 und Senior*innen. Dieser Buchbeitrag stellt lediglich die Projektschritte und -ergebnisse mit der Zielgruppe Senior*innen vor.

Vertreter*innen aus ehrenamtlichen Senior*innenvereinen bildeten eine Forschungsgruppe, welche den gesamten Prozess im Sinne eines wissenschaftlichen Beirates als gleichwertige Partnerin begleitete. So legte die Forschungsgruppe nicht nur die Erhebungsform der Daten fest, sondern war auch maßgeblich an der Erstellung des Leitfadens und der gesamten Planung, Umsetzung und Auswertung beteiligt.

In intensiver Zusammenarbeit von Forschung, Praxis, Politik und Bürger*innen wurden Daten mittels narrativer Interviews, kleinen Fokusgruppen und leitfadengestützten Fokusgruppendiskussionen im Rahmen einer Großgruppenveranstaltung erhoben (Mairhofer, 2021). Bereits in der Planung und Umsetzung der Datenerhebungen zeigte sich, welchen Einfluss Partizipation auf den Forschungsverlauf hat. Während in einer anfänglichen Planung von Seiten der Projektleitung ein Fragebogen als Erhebungsform vorgeschlagen wurde, stellte sich im Rahmen der Diskussion in der Forschungsgruppe schnell heraus, dass dieser ein ungeeignetes Instrument für die Zielgruppe darstellt. Viele Teilnehmer*innen hätten vermutlich weder die Lese- und Schreibkompetenz, das Sprachverständnis oder das Interesse, einen Fragebogen auszufüllen, so die Einwände des Forschungsteams. Um möglichst viele Personen der Zielgruppe zu erreichen, wurde vorgeschlagen, eine Großgruppenveranstaltung zu besuchen, an der die große Mehrheit der Zielgruppe teilnehmen würde: die Adventfeier für alle Senior*innen der Gemeinde, eine jährlich stattfindende Veranstaltung mit Kaffee, Keksen, Suppen, Adventmusik und fröhlichem Beisammensein. Auch wurde deutlich, dass es keine klassischen Einzelgespräche oder vorgefertigte Fragenkataloge sein sollten. Die Senior*innen wollten sich austauschen und gemeinsam diskutieren, sodass die Forschungsgruppe mehrere offene Fragen ausarbeitete, welche an den Tischen bei Kaffee und Keksen unter der Leitung von Studierenden diskutiert wurden. Aufgrund der besonderen Dialekte im Territorium erschien es der Forschungsgruppe notwendig, für diese Aufgabe Personen aus dem Territorium einzubringen, und so konnte die Veranstaltung mit Unterstützung lokaler Student*innen der Sozialpädagogik umgesetzt werden.

Die gesammelten Daten wurden gemeinsam in der Forschungsgruppe aufbereitet und mit dem vorhandenen Wissen der verschiedenen Projektpartner zusammengetragen, diskutiert und aufbauend auf eine erste deduktive Codierungsordnung (Van der Donk et al., 2014) induktiv thematisch weiter analysiert und aufbereitet. Die Themen wurden in thematischen Clustern organisiert und um eigene Erfahrungen und das in der Gruppe vorhandene Wissen ergänzt (Mairhofer, 2021). Hierfür war es wichtig, die Methodik verständlich und kreativ der Zielgruppe anzupassen, z. B. durch die Arbeit mit Flipcharts und bunten Kärtchen, mit Bildern und Beschreibungen. Die in der Gruppe erarbeiteten Ergebnisblöcke waren für die Arbeitsgruppe ausreichend, um davon ausgehend Gesundheitsförderungsangebote auszuarbeiten und der Gemeindepolitik und der Bevölkerung darüber berichten zu können. Für die Projektleitung war es aus wissenschaftlichem Interesse wichtig, an einer Vertiefung der Daten zu arbeiten. An diesem Prozess wollte sich die Arbeitsgruppe nicht weiter beteiligen und dieses Recht auf Nicht-Partizipation wurde respektiert.

Förderung von Teilhabemöglichkeiten

Die Förderung von Partizipation älterer Menschen im Forschungsprozess gestaltete sich herausfordernd. Sehr häufig zeigte sich, dass sich ältere Menschen mehr Angebote wünschten und mit der aktuellen Situation unzufrieden waren, aber eigentlich selbst nicht an der Veränderung arbeiten, sondern einfach vorgegebene Angebote erhalten möchten. Wenngleich das Recht auf Nichtpartizipation respektiert werden muss, so erscheint es dennoch notwendig abzuklären, ob es tatsächlich ein Wunsch nach Nichtpartizipation ist, oder vielmehr Mangel an Wissen und Kompetenz über Teilhabemöglichkeiten und der damit zusammenhängenden Konsequenzen. Im Projektverlauf wurde deutlich, dass erst Teilhabevoraussetzungen geschaffen werden müssen und ältere Menschen es häufig nicht gewohnt sind, selbst aktiv zur Veränderung beizutragen bzw. beitragen zu können und zu dürfen. Dabei mussten nicht nur Zeitpunkt und Ort gut gewählt werden, sondern es zeigte sich vor allem auch die Bedeutung von angepassten Methoden.

Im Projektverlauf wurden zwei besonders große Hürden für die Implementierung gemeindebasierter Gesundheitsförderung deutlich:

Zum einen stellte das Fehlen professioneller Angebote alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Es gab weder Professionist*innen aus dem Bereich soziale Gemeinwesenarbeit noch aus der Gesundheitsförderung oder anderen verwandten Feldern, welche vor Ort arbeiten. Es zeigte sich deutlich, dass für eine erfolgreiche Implementierung gemeinwesenbasierter Gesundheitsförderung eine Investition in den Aufbau professioneller Dienste notwendig ist und nicht alles auf das Ehrenamt abgewälzt werden darf (Mairhofer, 2021).

Zum anderen stellte die notwendige Flexibilität, Kreativität und Ergebnisoffenheit aufgrund des partizipativen Ansatzes und damit verbunden der große Zeitaufwand die gesamte Projektplanung und -umsetzung immer wieder vor neue Herausforderungen. So brauchte es beispielsweise mehrere Treffen, um festzulegen, wie die Zielgruppe genannt oder eben nicht genannt werden wollte. Die vorerst vorgeschlagene Begrifflichkeit Senior*innen wurden wenig positiv aufgenommen und schließlich einigten sich die Teilnehmenden in einem langen begleiteten Prozess auf die Bezeichnung Bürgerinnen und Bürger 60 plus. Diese Diskussionen verdeutlichten die Bedeutung von Altersbildern und dass sich ältere Menschen häufig in einer Identitätskrise (Jaeggi, 1997) befinden.

Das Zusammenführen verschiedener Stakeholder, welche bisher vor allem auch aufgrund unterschiedlicher hierarchischer Verhältnisse und Kompetenzen keine Zusammenarbeit gewohnt waren, brauchte viel Zeit und Feingefühl. Erst mit umfangreicher Vorarbeit konnte von Kooperation und nicht mehr von Informationsvermittlung bzw. -austausch gesprochen werden. Hierbei wurde die Bedeutung professioneller Unterstützung besonders deutlich.

Reflexion des Grades der Partizipation

Für den Forschungsprozess besonders bedeutend war die ständige Reflexion über den Grad der Teilhabemöglichkeiten. Hierfür wurde eine Partizipationsmatrix erstellt, welche die einzelnen Stakeholder mit der jeweiligen Projektphase und -maßnahme und dem Grad der Partizipation verbindet. Die farbliche Schattierung dient dem Verständnis: Umso intensiver der Farbton, umso höher ist der Grad der Partizipation. Das Stufenmodell der Partizipation in der Gesundheitsförderung und Prävention nach Wright et al. (2009, zitiert nach Wright, 2020b) bildete die Basis für diese Partizipationsmatrix (Abb. 13.1).

Abb. 13.1
figure 1

Stufen der Partizipation in der Gesundheitsförderung nach Wright et al. (2009, zitiert nach Wright, 2020, eigene farbliche Anpassung)

Auf den ersten beiden Stufen der Nicht-Partizipation werden diejenigen, deren Lebenswelt erforscht wird, kategorisch vom Forschungsprozess ausgeschlossen, ohne Rücksicht auf mögliche negative Konsequenzen beziehungsweise mit der Erwartung, dass die Beforschten nach den Erwartungen der Forscher*innen handeln. In den Vorstufen der Partizipation werden die Beforschten zwar vermehrt wahrgenommen und einbezogen (z. B. im Rahmen von Fokusgruppen zur Klärung von Forschungsfragen), doch kann erst auf den Stufen sechs bis acht, Mitbestimmung bis Entscheidungsmacht, von partizipativer Forschung gesprochen werden, denn erst dort haben alle Beteiligten einen unmittelbaren formalen Einfluss auf das Forschungsprojekt. Die Selbstorganisation der Forschung, wobei die Forschungszielgruppe eigenständig das Forschungsvorhaben konzipiert und umsetzt, wird als „betroffenenkontrollierte Forschung“ bezeichnet (Wright, 2016).

Dabei ist nicht unbedingt der höchste Grad an Partizipation aller Akteur*innen erstrebenswert, sondern dass Partizipationschancen erweitert und reflektiert werden und dass der Grad den Bedürfnissen und Wünschen der jeweiligen Stakeholder – und dabei ganz besonders der Zielgruppe – entspricht (Abb. 13.2).

Abb. 13.2
figure 2

(Eigene Abbildung)

Ausschnitt der Evaluationsmatrix: Grad der Beteiligung.

Diese Matrix wird nun anhand des Beispiels Aktivierung eines PC-Kurses erläutert. Im Rahmen des Projektes zeigte sich, dass viele ältere Menschen über keine oder kaum digitale Kompetenzen verfügen, aber gerne mit Angehörigen und Bekannten videotelefonieren, Fotos austauschen oder per E-Mail Kontakt halten möchten. Ein weiterer Wunsch war das Lesen der Tagesnachrichten und der Todesanzeigen. Wenngleich ein PC-Kurs von einigen Stakeholdern nicht als gesundheitsfördernd verstanden wurde und daher keine Geldmittel zur Verfügung gestellt werden konnten, so wird durch einen Blick auf soziale Teilhabemöglichkeiten dieser Zusammenhang schnell deutlich. Dieses Beispiel veranschaulicht die Transformationsprozesse, die partizipative Forschung anregt. Innerhalb der transdisziplinären Projektgruppe konnte gemeinsam eine Lösung gefunden und ein Angebot umgesetzt werden. Ein pensionierter Lehrer der Gemeinde verfügte über die nötigen Kompetenzen, diesen Kurs abhalten zu können. Durch seine Kontakte zur Schule konnte er für den späten Nachmittag den dortigen PC-Raum organisieren, wodurch für die älteren Menschen ein kostenloser Kurs, angepasst an die festgehaltenen Bedürfnisse und Wünsche, angeboten werden konnte. Dadurch haben die Seniorenvereinigungen und in diesem Fall auch der pensionierte Lehrer (Spalte Andere), selbst älterer Bewohner der Gemeinde, den höchsten Grad der Stufenleiter erreicht, die Selbstorganisation. Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass nicht alle Stakeholder den höchsten Grad erreichen müssen und Pluralität sinnvoll ist. Es reichte aus, die Projektleitung darüber zu informieren und die notwendige Unterstützung bei ihr einzuholen (Vorstufe der Partizipation), ebenso war eine aktive Einbindung der Gemeindepolitik nicht nötig.

Fazit

Die abnehmenden Mobilitätsmöglichkeiten, das Zurückgehen sozialer Netzwerke und der oft zunehmende soziale Rückzug sind bedeutende Herausforderungen und Gesundheitsrisiken des Alterns, welchen frühzeitig begegnet werden muss, um ältere Menschen darin zu unterstützen, möglichst lange gesund leben zu können. Eine Angleichung der Umwelt an die Bedürfnisse älterer Menschen ist notwendig. Hierfür braucht es neben dem ehrenamtlichen Angebot vor allem auch professionelle Dienste, wie professionelle gesundheitsfördernde Gemeinwesenarbeit, welche im ländlichen Raum Südtirols noch nicht vorhanden sind.

Obwohl die Förderung von Partizipation zu den Grundprinzipien der Gesundheitsförderung gehört, so gestaltet es sich in der Praxis und Forschung sehr herausfordernd, einen hohen Grad an Beteiligung zu ermöglichen und nicht in einem, häufig üblichen Bereich der Alibipartizipation (Pfaffenberger, 2007; Straßburger & Rieger, 2014; Wright, 2020) zu verweilen. Im Kontext von Forschung, Politik und Praxis sind Prozesse aufgrund hierarchischer Verhältnisse und Vorgaben oft nicht ergebnis- und prozessoffen und so muss der Grad der Partizipation regelmäßig reflektiert werden, um frei wählbar zu sein/bleiben.

Eine häufige Herausforderung im Rahmen partizipativer Prozesse zeigte sich dann, wenn die Interessen und Erwartungen der professionell-institutionellen Seite nicht mit den Interessen und Erwartungen der Bürger*innen übereinstimmen. Obwohl beispielsweise Gesundheitsbildung, welche durch Wissensvermittlung auf die Förderung gesunden Verhaltens ausgerichtet ist, aus Sicht der Forschung nicht als einzige Maßnahme der Gesundheitsförderung ausreichen kann, so legte die Bevölkerung das Hauptaugenmerk auf diesen Bereich. Aufgrund des partizipativen Prozesses musste diese Entscheidung der Bevölkerung mitgetragen werden, der Hauptteil der Arbeit der Vereinsvertretungen und der finanziellen Ressourcen wurde in den Bereich Gesundheitsbildung, wie beispielsweise Vorträge zu gesunder Ernährung und Bewegung, investiert. Zu bedenken gilt aber, dass die Bevölkerung diese Entscheidung mit einem bestimmten Wissensstand getroffen hat, denn ohne Wissen über die Möglichkeiten und den Umfang eines Bereichs ist eine freie Entscheidung nur bis zu einem bestimmten Grad auch wirklich frei. Diese Freiheit bildet die Grundlage für Beteiligung oder nach Sen und Nussbaum für Verwirklichungschancen beziehungsweise capabilities (Bittlingmayer & Ziegler, 2012; Nussbaum, 1999; Sen, 2000). Erst durch Sensibilisierung konnte das Programm erweitert werden, was auch verdeutlicht, dass Teilhabechancen erst geschaffen werden müssen. So fehlte zu Beginn des Projektes das Bewusstsein, dass ein fehlender Treffpunkt für ältere Menschen im Ortskern, geringe Beschäftigungsmöglichkeiten, Überlastung durch Enkelkinderbetreuung, Einsamkeit, unsichere Wege, fehlende Computerkenntnisse und vieles mehr in diesem Projekt thematisiert werden können. Diese Themen wurden von älteren Menschen, aber auch von der Politik, nicht mit Gesundheit in Verbindung gebracht, was aufzeigt, wie wichtig der Prozess der Sensibilisierung und des Empowerments zur Partizipation ist.

Partizipative Prozesse brauchen vor allem eines: sehr viel Zeit. Das Forschungsprojekt war über mehrere Jahre angelegt und ermöglichte intensive Partizipationsprozesse. Im Alltag von Praxis und Forschung ist dies selten gegeben, was Partizipationsprozesse deutlich einschränkt.

Für eine erfolgreiche Umsetzung ist eine intensive Kooperation von Forschung, Praxis, Politik und Bevölkerung wichtige Voraussetzung. Zeit, Flexibilität, Zusammenarbeit auf Augenhöhe und die Bereitschaft zu einer Abkehr von Hierarchien sind dabei besondere Herausforderungen partizipativer Praxis und Forschung. Im Rahmen dieser Forschung konnte aufgezeigt werden, dass partizipative Forschung trotz vieler Herausforderungen und eines hohen Ausmaßes an Investitionen, wie Zeit und Personal, doch langfristig sehr vielversprechend scheint und nicht nur Daten gewonnen werden, sondern gleichzeitig nachhaltige Transformationsprozesse angeregt werden und bereits durch den Forschungsprozess selbst gesunde Lebenswelten für ältere Menschen gefördert werden können.