„Si vis pacem para pacem“ (wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor) – unter dieser Maxime steht das Leitbild des gerechten Friedens. Es steht „für einen fundamentalen Wandel in der ethischen Praxis“ und setzt „andere Bewertungsgrundlagen und Handlungskriterien voraus“ (ÖRK 2011a, Präambel). Ausgehend von Psalm 85,11 „dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ sowie Jesaja 32,17 „der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit ewige Stille und Sicherheit“ (vgl. auch Jak 3,18) werden Frieden und Gerechtigkeit wechselseitig aufeinander bezogen (vgl. ÖRK 2011a, Ziff. 1 und 3). Damit verbunden ist ein Perspektivenwechsel: Nicht mehr der Krieg, sondern der Frieden steht im Fokus des neuen Konzeptes. So umfasst der gerechte Frieden „viel mehr als den Schutz von Menschen vor ungerechtem Einsatz von Gewalt“; er schließt „soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Sicherheit für alle Menschen“ (ÖRK 2011a, Ziff. 10) mit ein. In der Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) werden vier Dimensionen benannt, die einen gerechten Frieden ausmachen: die Vermeidung von und der Schutz vor Gewalt als zentrales Grundelement, die Förderung der Freiheit für ein Leben in Würde, der Abbau von Not durch die Korrektur sozio- ökonomischer Asymmetrien sowie die Anerkennung kultureller Verschiedenheit für eine konstruktive Konfliktkultur (vgl. EKD 2007, Ziff. 78–84).Footnote 1

Vor dem Hintergrund dieser friedenspolitischen Dimensionen basiert der gerechte Frieden auf drei Grundorientierungen: „(1) dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung, (2) dem Verständnis einer Friedensordnung als Rechtsordnung sowie (3) der Beschränkung militärischer Gewalt zur Rechtsdurchsetzung“ (Hoppe und Werkner 2017, S. 349).

Zum ersten und zentralen Grundsatz des neuen friedensethischen Leitbildes heißt es in der Friedensdenkschrift: „Im Rahmen des Konzeptes des gerechten Friedens ist zivile Konfliktbearbeitung eine vorrangige Aufgabe“ (EKD 2007, Ziff. 170).Footnote 2 Dabei komme der Konfliktvorbeugung und -nachsorge, die zugleich der Prävention neuer Konflikte diene, eine besondere Bedeutung zu. Ferner gelte es, die verschiedenen Aktivitäten – wie beispielsweise die Unterstützung und den Aufbau ziviler Strukturen in Konfliktregionen, die Förderung und den Ausbau demokratischer Strukturen, Maßnahmen zur Deeskalation gewaltförmiger Konflikte oder auch die Förderung von Friedensallianzen – zu vernetzen (vgl. EKD 2007, Ziff. 177).

Zweitens wird Friedensordnung als Rechtsordnung verstanden. Frieden, Recht und Gerechtigkeit bilden die zentralen Begriffe der Friedensdenkschrift. Nach ihr ist der gerechte Frieden „zu seiner Verwirklichung auf das Recht angewiesen“ (EKD 2007, Ziff. 85). Perspektivisch liege dem gerechten Frieden eine „kooperativ verfasste Ordnung ohne Weltregierung“ (EKD 2007, Ziff. 86) mit einem System kollektiver Sicherheit zugrunde. Damit schreibt die Denkschrift den Vereinten Nationen auf dem Weg zum gerechten Frieden eine prominente Rolle zu, verbunden mit weitergehenden Forderungen nach einer Fortentwicklung völkerrechtlicher Normen.

Drittens erfolgt – ausgehend von der Kriegsächtung und dem grundsätzlichen Gewaltverbot der Vereinten Nationen – eine Beschränkung militärischer Gewalt zur Rechtsdurchsetzung.Footnote 3 Dafür steht der Terminus der „rechtserhaltenden Gewalt“ (EKD 2007, Abschn. 3.2). Damit verbindet sich die Auffassung, dass militärische Gewaltanwendung ausschließlich dann zulässig sein kann und erfolgen darf, wenn sie dazu dient, Recht zu erhalten beziehungsweise Recht zu setzen. Im Fokus stehen dabei die Menschenwürde und die Menschenrechte. Durch die Anerkennung dieser soll eine „wechselseitige Erwartungssicherheit“ ermöglicht werden, „die Konflikte und Interessengegensätze gewaltfrei zu regeln erlaubt“ (Meireis 2012a, S. 3).

Mit der Bindung des Friedens an die Herrschaft des Rechts, in der Friedensdenkschrift ausgedrückt in der Formel „Friede durch Recht“, ist ein rechtspazifistischer Zugang verbunden. Dieser impliziert zwei Abgrenzungen: Zum einen distanziert sich die EKD-Denkschrift vom radikalen Pazifismus. Zum anderen erfolgt eine Absage an die Lehre vom gerechten Krieg, heißt es in der Friedensdenkschrift explizit: „Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr“ (EKD 2007, Ziff. 102). Davon unberührt sind dagegen die Kriterien der bellum iustum-Lehre: Erlaubnisgrund, Autorisierung, richtige Absicht, äußerstes Mittel und Verhältnismäßigkeit der Folgen (ius ad bellum) sowie Verhältnismäßigkeit der Mittel und Unterscheidungsprinzip (ius in bello). Diese gelten nach wie vor als zentrale Prüfkriterien militärischer Gewaltanwendung.

Der Versuch, dieses noch junge Konzept auf den Afghanistaneinsatz anzuwenden (vgl. EKD 2013), offenbarte eine Reihe von empirischen wie normativen Fragen, die weiterer Analyse bedurften. Sie standen im Zentrum eines interdisziplinären Konsultationsprozesses an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (2016–2020).Footnote 4 In Aufnahme dieser Debatten fokussiert der folgende Beitrag auf konzeptinhärente Ambivalenzen und bestehende Dissense. Er nimmt Präzisierungen und Differenzierungen, aber auch Neuausrichtungen vor und zeigt Perspektiven eines Umgangs mit friedensethischen Ambiguitäten auf.