1 Einleitung

Dieser Beitrag ist ein Resultat des Forschungsprojektes „Digitale Gesundheitsklassifikationen in Apps“, welches durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) seit 2019 gefördert wird.

Seit einigen Jahrzehnten haben sich die interdisziplinären Gesundheitswissenschaften institutionalisiert, die verschiedene Wissenschaftsbereiche wie Gesundheitsökonomie, Gesundheitssoziologie, Gesundheitskommunikation beinhalten (Hehlmann et al. 2018).Footnote 1 „Gesundheit“ hat sich in vielfältiger Weise nicht nur als Gegenstand wissenschaftlicher Disziplinen etabliert, sondern ist ebenso Gegenstand vielfältiger Diskurse geworden, die Konzepte von „Gesundheit“ formieren (Canguilhem 2013). Dabei ist „Gesundheit“ kein in der „objektiven Wirklichkeit“ bereits einfach gegebener Sachverhalt, sondern ist abhängig von den institutionellen Prozessen (Definitionen und Kategorisierungen) und den normativen Ordnungen, die die gesellschaftlich wirksame Bestimmung und die Problematisierungen von „Gesundheit“ ermöglichen.

Damit ist einmal die Normativität von gesundheitsbezogenen Praktiken und Politiken angesprochen, also die Frage, was warum „gut“ (richtig) oder auch „schlecht“ (falsch) ist. Zum anderen ist damit die Frage verbunden, was angemessene sowie individuelle und kollektive legitime Strategien sind, individuelle und kollektive Gesundheit zu erzielen, zu bewahren und zu verbessern. Weiter stellt sich die praktische Frage, in welcher Form das gesundheitsbezogene Wissen gesammelt, organisiert und wirksam werden kann.

Sowohl für die Fundierung der Normativitäten als auch für die Begründung der Strategien, die Gesundheit betreffen, sowie auch für die adäquate Organisation des Wissens liegt eine koexistierende Pluralität von institutionellen Logiken vor. Diese Logiken werden im Rahmen der Economie des Conventions (kurz EC) als „Konventionen“ aufgefasst. Die EC kann als ein komplexer pragmatischer Institutionalismus verstanden werden, der empirisch untersucht, wie Akteure in Situationen kognitive Formen und Konventionen mobilisieren, um die Qualität von „Gesundheit“ und die Modalitäten der Gesundheitsversorgung sowie darauf bezogene kollektive Entscheidungen, Bewertungen und Praktiken zu fundieren und institutionell zu legitimieren. Die EC bringt also zunächst selbst keine normative Perspektive ein, sondern geht davon aus, dass Akteure in Situationen selbst kompetent sind, um die Angemessenheit von Konventionen als normative Logiken für die Koordination, Evaluation und Interpretation zu beurteilen.

In diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie die EC als integrierender Ansatz in dem Bereich der Gesundheitsforschung fungieren kann, um soziologische, ökonomische, rechtliche, mediale Forschungsfragen konzeptionell und methodologisch zu integrieren. Bislang sind die meisten Beiträge der EC zur Analyse der auf die Gesundheit bezogenen pragmatischen Koordination und ihrer Institutionen fast ausschließlich französische Beiträge, welche daher im Zentrum stehen.Footnote 2 Zunächst wird die EC als institutionentheoretischer Ansatz eingeführt (Abschn. 2.2). Dann werden die Pluralität der Koordinationslogiken (Abschn. 2.3), die sogenannten Regime des Engagements und die Formen der Subjektivierung (Abschn. 2.4), die politische Ökonomie des Gesundheitssystems, die Ökonomisierung der Gesundheit, die Rolle der Gesundheitsdiskurse (Abschn. 2.5) sowie zuletzt die Quantifizierung und Digitalisierung im Gesundheitssystem (Abschn. 2.6) aus Sicht der EC behandelt.

2 Grundkonzepte der Economie des conventions

Der Ansatz der EC ist seit den 1980er Jahren zunächst in Frankreich als transdisziplinäre Wissenschaftsbewegung entstanden (Storper und Salais 1997; Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone und Salais 2011; Diaz-Bone 2018).Footnote 3 Ein Ausgangspunkt war die Kritik innerhalb der französischen Wirtschaftswissenschaften an dem sich etablierenden neoklassischen Mainstream. Dieser zieht letztlich nur die marktförmige und auf individuellen Nutzenkalkülen basierende Konvention als Koordinationslogik heran, um ökonomische Institutionen (auch normativ beurteilend) auf ihre effiziente Leistungsfähigkeit hin zu untersuchen. Das Akteurmodell dieser neoklassischen Wirtschaftswissenschaften geht von eigennützig und individuell Entscheidenden aus, für die Ressourcen, Produktqualitäten und die institutionellen Settings externe Gegebenheiten sind.

Die EC betrachtet stattdessen, wie sich Akteure in realen Situationen und mit einem Bezug auf ein Gemeinwohl koordinieren. Das Gemeinwohl ist als ein situativer Sinnhorizont zu denken, auf den in der auf Konventionen bezogenen Koordination die kollektive Intentionalität (Searle 2015) ausgerichtet werden kann. Zugleich dient das Gemeinwohl als übergeordneter Legitimationszusammenhang, auf den sich Akteure beziehen können, wenn sie in die Kritik geraten oder ihr Handeln rechtfertigen sollen (Boltanski und Thévenot 2007). Dabei dienen Konventionen zumeist und implizit schlichtweg auch als praktische Koordinationslogiken, die in den Situationen dann ermöglichen, den situativen Sinn der Koordination zu bestimmen. Zudem werden dann die Qualitäten der Akteure, Objekte und Handlungen, um die sich die Koordination dreht, erst praktisch zugeschrieben. Damit geht die EC davon aus, dass Qualitäten als Resultat von prozesshafter Koordination aufzufassen sind und nicht vorab gegebene materiale Eigenschaften (z. B. von Produkten) sind. Da es eine von der EC angenommene Pluralität von Konventionen als Koordinationslogiken gibt, sind Qualitäten im Sinne von situativ anerkannten Eigenschaften und Wertigkeiten ebenso in vielfacher Weise praktisch zuschreibbar, d. h. sozial konstruierbar. Damit erhalten Konventionen den Charakter von Qualitätskonventionen: sie sind die fundamentalen Logiken für die Rechtfertigung, aber auch Infragestellung von Qualitäten (Boltanski und Thévenot 2007).

Die Pluralität koexistierender Qualitätskonventionen erfordert, dass Akteure in Situationen diese praktisch auf ihre Angemessenheit beurteilen und sie in der Weise mobilisieren, indem sie diese situativ für ihre urteilenden und bewertenden Praktiken einbringen. Damit realisieren sie situativ Konventionen als normative Ordnungen. Allerdings sind empirisch selten nur einzelne Konventionen in diesem Sinne wirkmächtige Koordinationslogiken. Stattdessen finden sich zumeist Kombinationen vor, die zudem auch über eine räumliche und zeitliche Reichweite verfügen. Diese Reichweite erhalten sie aufgrund ihrer Vernetzung mit Objekten und kognitiven Formen (Thévenot 1984), sodass das Konzept der Situation nicht beschränkt ist auf situative Interaktionen, sondern umfassender gedacht ist. Allerdings bringt eben dieses Konzept die spezifische methodologische Perspektive mit sich, dass Institutionen nicht als externe Bedingungen der Koordination aufgefasst werden (wie dies in der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft erfolgt), sondern als „endogen“, d. h. als in das Handeln eingelagert angesehen werden. Aus Sicht der EC ist der Sinn von Institutionen (Regeln, Organisationen oder das Recht) unvollständig und muss daher und mit Bezug auf Konventionen interpretativ vervollständigt werden.Footnote 4 Die Situationen werden in diesem neopragmatischen Ansatz dann auch unter Einbeziehung der Objekte und kognitiven Formate analysiert, auf die sich die Koordinationen stützen. Situationen sind in diesem Sinne „ausgestattet“ und die Koordination erfolgt hierin als „distribuierter“ Prozess, d. h. er ist nicht rückführbar auf individuelle Intentionen und Motive. Objekte und kognitive Formate (wie Zahlen, Tabellen, Narrationen, Visualisierungen etc.) ermöglichen dann dauerhafte und weitreichende Formen der Koordination, wenn sie mit den Konventionen zusammen ein kohärentes Netzwerk bilden (Boltanski und Thévenot 2007; Diaz-Bone 2018). Die Reichweite der Koordinationen wird dann durch solche Objekte und Personen ermöglicht, die aus Sicht der EC als Intermediäre fungieren (Bessy und Chauvin 2013).

Die EC ist auch eine der Grundlagentheorien für die Konzepte von Valorisierung und Valuation (Eymard-Duvernay 2009, 2016; Bessy und Chauvin 2013). Hier greift die EC die Arbeiten des Pragmatisten John Dewey (1939) wieder auf. Der „Wert“ (die „Größe“) von Personen, Objekten und Handlungen resultiert in Situationen, d. h. erfolgt durch Prüfungen, Tests und andere Formen der Zuschreibung.Footnote 5 Valorisierungen und Valuationen können sich in Form von Kategorisierungen und Quantifizierungen artikulieren, die wiederum Hierarchisierungen ermöglichen (Diaz-Bone 2016).

Die Economie des conventions hat sich seit ihren Anfängen Schritt für Schritt zu einem insgesamt sozialwissenschaftlichen Institutionalismus entwickelt. Aus diesem Grund ist heute auch von der EC als Soziologie der Konventionen die Rede (Diaz-Bone 2011). Zudem hat sich ihr Anwendungsspektrum früh ausgeweitet, so dass sie auch nicht mehr eine allein wirtschaftswissenschaftliche Wissenschaftsbewegung darstellt. Die EC kann heute als ein neopragmatischer Ansatz aufgefasst werden, da er einmal klassische pragmatische Positionen wieder aufgreift, dann aber auch weiterentwickelt.

3 Die Pluralität der Konventionen

Insbesondere der Pluralismus der und die Verbindungen zwischen den die Realität strukturierenden Prinzipien des klassischen Pragmatismus von William James (1994) findet sich mit der radikalen Ko-Existenz der Konventionen sowie den Kompromissen zwischen ihnen wieder. Die EC oder Soziologie der Konventionen betont allerdings die Spannungen zwischen den Konventionen sowie die Kritiken in Situationen, die darauf reagierenden Rechtfertigungen und die Vereinnahmungen von Kritiken als Auslöser für soziale Dynamiken (Boltanski und Chiapello 2003). Mit dieser Fokussierung auf soziale Konflikte setzt sie sich vom klassischen Pragmatismus ab.

Die Tab. 2.1 präsentiert einige der wichtigen Qualitätskonventionen, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007) systematisch eingeführt haben und gibt (in der letzten Spalte) zumindest einige Hinweise, wie sich diese im Bereich der Gesundheit artikulieren.Footnote 6 Prinzipiell lassen sich alle Qualitätskonventionen in den verschiedenen sozialen Bereichen vorfinden.Footnote 7 Allerdings sind zumeist nur einige wenige einflussreich und liegen in Kombinationen vor, so dass die in der Tab. 2.1 unterschiedenen Qualitätskonventionen als idealtypische Logiken aufzufassen sind.

Tab. 2.1 Pluralität der Qualitätskonventionen

Aufgabe der empirischen pragmatischen Institutionenanalyse ist dann, die einflussreichen Qualitätskonventionen, die Weisen ihrer Routinisierung, Ausdehnung und Stabilisierung (anhand von Objekten, kognitiven Formen und Intermediären) sowie die Spannungen zwischen ihnen zu identifizieren und zu folgern, welche Qualitäten und Wertigkeiten (Valuationen bzw. Valorisierungen) sie ermöglichen bzw. verhindern. Thévenot (2002) hat anhand des Beispiels der Blutspende zu zeigen versucht, wie Konventionen situativ in unterschiedlicher Weise herangezogen werden können und wie sich daher stabilere oder weniger stabile Konstellationen ergeben. In dem Beispiel von Thévenot geht es darum, wie die Blutspende beurteilt werden kann, wenn Akteure in einer komplexen Situation entweder die Marktkonvention oder die staatsbürgerliche Konvention für die Interpretation der Situation heranziehen. Für einen Blut spendenden Akteur und einen zweiten interpretierenden Akteur lassen sich anhand Tab. 2.2 vier Situationen analytisch differenzieren.

Tab. 2.2 Situative Kombination zweier Konventionen nach Thévenot

Man erkennt hieran, dass die Handlung des Blutspendens sowie der Blutspender selbst ganz unterschiedliche Wertigkeiten erhalten können. Die Situationen unten links („naiv“) und oben rechts („gierig“) sind kritische Situationen, in denen mit Infragestellungen der Koordination zu rechnen ist. Die Tab. 2.2 zeigt aber auch anhand der Situationen oben links („solidarisch/sympathisch“) und unten rechts („realistisch“), dass die Praxis des Blutspendens nicht nur anhand einer Koordinationslogik in unkritischer Form erfolgen kann. Blut als „zu gebendes Gut“ bestimmt an sich also weder seine Wertigkeit (oder derjenigen, die es geben) noch die Koordinationslogik. Es sind aus Sicht der EC letztlich die mobilisierten Konventionen (und deren Verhältnis), die in der Situation die Grundlage für die Wertigkeiten darstellen.Footnote 8

4 Regime des Engagements

Die Qualitätskonventionen fundieren die rechtfertigbaren Qualitäten und Wertigkeiten. Damit haben sie einen grundlegend strukturierenden Charakter für Institutionen und Diskursordnungen im Gesundheitsbereich. Und eben diese sind bereits einflussreich für die je individuelle Lebensführung und deren Aspekte, die die „Gesundheit“ betreffen.

Aber es existieren (in je nach sozio-historischer Epoche und sozialer Kategorie unterschiedlichem Ausmaß) Bereiche für noch zu gestaltende Praxisformen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich nicht auf formale Institutionen, Konventionen oder Diskurse praktisch stützen müssen oder können. Damit unterliegen sie nicht dem „Zwang zur Rechtfertigung“ (Boltanski und Thévenot 2007, S. 317), das heißt auch, dass diese auch nicht Gegenstand von Kritik und Rechtfertigung werden können, weil sie außerhalb des Geltungsbereichs derjenigen Koordinationslogiken liegen, die Praxisformen mit Wert („Größe“) sowie zugehörigen Tests ausstatten. Laurent Thévenot hat mit den Regimen des Engagements ein Konzept vorgelegt, das dasjenige der Qualitätskonventionen so ergänzt, um auch diese Praxisformen „jenseits“ des Rechtfertigungszwanges zu fassen (Thévenot 2011a, b, 2014). Damit erst kann auch das Selbstverhältnis, der Umgang mit dem eigenen Körper aus Sicht der Soziologie der Konventionen vollständiger erfasst werden, sobald es sich nicht um gesellschaftlich etablierte Gesundheitskonzepte oder auf Gesundheit bezogene kollektive Normativitäten handelt.Footnote 9 Die Regime des Engagements sind erneut Praxisformen in Situationen, die mit Objekten, Technologien, Personen und kognitiven Formaten ausgestattet sind (siehe Tab. 2.3). Und es sind nun insbesondere einige der digitalen Technologien (wie das Internet, Smartphones oder „Wearables“), die hier für die Regime des Engagements als Instrumentierung besonders geeignet erscheinen, da sie auch die Distanzierung oder gar Ablösung von einer gesellschaftlichen und massenmedial organisierten Öffentlichkeit ermöglichen – wie dies insbesondere mit Social Media und netzwerkartigen Kommunikationsstrukturen erfolgt.Footnote 10

Tab. 2.3 Regime des Engagements

Das Konzept der Regime des Engagements erweitert konzeptionell die Analyseperspektiven der EC auch für eine Soziologie der Gesundheit.Footnote 11

  1. 1.

    Eine wichtige Perspektive kommt auf, wenn man danach fragt, wie weit, wann und unter welchen Bedingungen Qualitätskonventionen und Rechtfertigungsordnungen Akteure mobilisieren können, auch jenseits von Situationen, in denen die Qualitätskonventionen und Rechtfertigungsordnungen wirkmächtige Koordinationsprinzipien sind. Denn die drei unterschiedlichen Regime des Engagements können eben auch eine Distanzierung ermöglichen, die bewirken kann, dass öffentliche (massenmediale) Gesundheitskommunikation und „Gesundheitskampagnen“ wirkungslos bleiben oder andere als die beabsichtigten Wirkungen erzielen können. Und umgekehrt kann das Gelingen von konventionenbasierten Koordinationen darauf zurückzuführen sein, dass die Regime des Engagements damit einhergehen. Man denke an das Erfordernis für die industrielle Koordination, dass das Regime des planenden Handelns für die rechtzeitige tägliche Mobilisierung der Mitarbeitenden beitragen muss. Wenn Patientinnen und Patienten ihren Lebenswandel umstellen müssen, kann dies nur erfolgen, wenn die Regime des Engagements mit den Qualitätskonventionen in Abstimmung gebracht werden können.

  2. 2.

    Eine andere Analyseperspektive eröffnet sich, wenn man den Pluralismus der koexistierenden Konventionen (und auch der Diskurse) in Alltagssituationen einbezieht. Bereits dieser Pluralismus bringt Spannungen ein und generiert Kritiken und Rechtfertigungen. Kompetente Akteure können dann zur Herstellung von dauerhaften Kompromissen beitragen. Aber für die Individuen bringt diese Pluralität von Konventionen nicht nur Freiräume im Sinne von Spielräumen ein, sondern ringt ihnen auch das Erfordernis ab, diese Freiräume zu gestalten. Ernährungspraktiken, sportliche Aktivität, die Aufmerksamkeit für den eigenen Körper und das eigene Wohlbefinden sind also aus Sicht des Pragmatismus nicht durch Konventionen determiniert. Vielmehr sind die Regime des Engagements eben auch Praxisformen, die Akteuren ermöglichen, sich den Spannungen, Kritiken und Tests zu entziehen, indem sie Halt und Rückzugsmöglichkeiten finden in Situationen, die entlastet sind von dem Zwang zur Rechtfertigung sowie entlastet sind von den Prüfungen der Größe und der Angemessenheit. Diese Entlastung erst kann es Akteuren ermöglichen mit Spannungen und Widersprüchen zwischen Qualitätskonventionen und Rechtfertigungsordnungen praktisch „fertig zu werden“. So kann das „Coping“ mit den Folgen einer schweren Erkrankung oder der Abbau von psychischem Stress einfacher bewältigt werden, wenn Akteure sich auf Handlungsregime wie das Handeln im Plan oder das Handeln im Vertrauten zurückziehen können.Footnote 12 Eben damit können überbordende oder widersprüchliche Erwartungen abgefedert werden, die sonst für die Betroffenen nicht aushaltbar wären. Das Phänomen der Selbstquantifizierung verdeutlicht eine andere Art und Weise, wie die Regime des Engagements sich in solchen Freiräumen artikulieren können (Selke 2014; Lupton 2016; Ruckenstein und Schüll 2017). Denn die kontinuierliche Selbstvermessung anhand von neuen Technologien scheint Schritt für Schritt abgekoppelt zu sein von der industriellen Konvention, wenn die Selbstquantifizierung nicht dem Test und der Ermittlung der Angemessenheit oder Wirkung medizinischer Maßnahmen dient. Denn stattdessen kann sich die Selbstvermessung als eine Weise der Selbsterfahrung entwickeln, die zu einer Form der kaum begründbaren (und damit kaum rechtfertigbaren) Selbststeigerung und dann gar zu einer (möglicherweise krankhaften) Praxis der Selbstübersteigerung mutiert. Hier zeigt sich, dass das Ausprobieren neuer Quantifizierungstechnologien anfänglich Züge des entdeckenden Handelns trägt, dann zu einem Handeln im Plan übergeht, welches dann zugleich ein Handeln im Vertrauten ist.

    Die Konzepte der Regime des Engagements und der Konventionen sind aus Sicht der Soziologie der Konventionen nicht irgendwelchen Ebenen zuzuordnen und ihre Anwendung folgt auch nicht der Trennung von „öffentlich“ und „privat“. Die Soziologie der Konventionen wäre falsch rezipiert, wenn man sie als einen mikrosoziologischen Ansatz verstünde. Das zeigen gerade die Arbeiten zur politischen Ökonomie des Gesundheitswesens.

5 Politische Ökonomie des Gesundheitswesens

Verschiedene Vertreterinnen und Vertreter der EC haben das französische Gesundheitssystem zum Gegenstand kritischer Analysen gemacht. Philippe Batifoulier et al. (2007) haben zunächst sehr grundlegend nicht nur die der Gesundheitspolitik unterliegende wirtschaftswissenschaftliche Theorie, sondern auch das zugehörige Staatsverständnis aus konventionentheoretischer Perspektive diskutiert. Ihr Ausgangspunkt ist die neoliberale Politik, die postuliert, dass die marktförmige Organisation des Gesundheitswesens effizient und anzustreben sei. Abweichungen davon seien entweder auf das Fehlen marktförmiger Strukturen oder auf das opportunistische Verhalten von Individuen zurückzuführen, die versuchten in unzulässiger Weise vom Gesundheitssystem zu profitieren und so für die Allgemeinheit die Kosten in die Höhe treiben würden. Dies zum Beispiel, indem sie in nicht gewünschter Weise wie „medizinische Nomaden“ selbstständig teure Facharztbehandlungen in Anspruch nähmen, anstatt zuerst ihre/n HausärztIn zu konsultieren, die/der eigentlich kompetent über die weitere medizinische Beratung zu entscheiden habe. Aus dem Grund soll für die Gesundheitspolitik die grundlegende Strategie eingesetzt werden, marktförmige Strukturen zu perfektionieren (und auch ihren Geltungsbereich auszuweiten) und das Verhalten der Individuen durch Anreize („incentives“) zu optimieren. Die drei Konventionentheoretiker kritisieren nicht nur die Akteurskonzeption, die dieser Gesundheitspolitik unterliegt, sondern auch die Verkennung der Bedeutung von Werten für das praktische Handeln sowie für die Gesundheitsinstitutionen selbst.

Diese Konzeption verschleiert die Bedeutung von Werten im Gesundheitssystem. Die Eigenschaften des medizinischen Gutes, insbesondere sein symbolisches Gewicht und seine wesentliche Bedeutung, machen es jedoch notwendig, normative Werte, moralische und ethische Codes ernst zu nehmen. […] Wir werden die Idee verteidigen, dass eine Wirtschaftspolitik, die der Theorie der Anreize folgt, die Problematik der Werte in gefährlicher Weise verschleiert. Es reicht daher nicht aus, die allgemeine Politik anzuprangern, die (ausgehend von einer Vorstellung vom Patienten als potentiellem Betrüger) gegen ein „medizinisches Nomadentum“ kämpfen will, von dem wir wissen, dass es nicht existiert! Auch auf der normativen Ebene ist es notwendig, die Konsequenzen aus dieser Konzeption zu ziehen, wenn sie sich nicht auf die Schriften der Ökonomen beschränkt, sondern die Vorstellungen des Gesetzgebers inspiriert. Der generalisierte Verdacht der Unmoral unter dem Deckmantel der optimistischen Rationalität lässt die Darstellungen, die der Einzelne über das Gesundheitssystem macht, nicht ungeschoren davonkommen. Weil es eines ihrer Ziele ist, Werte als in die Koordination endogenisiert zu betrachten, bietet das Forschungsprogramm der Ökonomie der Konventionen eine entsprechende Lektüre dieser Politik, die vom Sozialstaat umgesetzt wird, wenn sie auf einer Überbewertung des nutzenmaximierenden Verhaltens von Individuen basiert. Die Berücksichtigung einer Pluralität der Werte ermöglicht es, sowohl der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ‚eine bestimmte Gesellschaft von mehreren unvereinbaren Gerechtigkeitsprinzipien durchzogen ist und sich diese Prinzipien im Laufe der Zeit in ihrer Anwendung und Interpretation weiterentwickeln‘ [...] als auch mit dieser Konzeption die theoretischen Machtkonstrukte und die in der Gesundheitspolitik gängigen Ideen anzuprangern, die eine Konzeption des Sozialstaates prägen, welche sich auf die Rolle der Manipulation von Anreizen beschränkt (Batifoulier et al. 2007, S. 205‒206; Übersetzung RDB).

Batifoulier, Eymard-Duvernay und Favereau kritisieren die Anwendung der neoklassischen Markttheorie im französischen Gesundheitssystem, um die Kosten im Gesundheitssystem zu senken. Die Rolle des Staates werde nun darin gesehen, dass er Marktversagen durch seine Gesetzgebung kompensiert und so institutionelle Anreize setzt. Diese bestehen konkret darin, dass PatientInnen zuerst zu ihren HausärztInnen gehen müssen, um von diesen zu FachärztInnen überwiesen zu werden. Das unmittelbare Aufsuchen einer FachärztIn führt dann zu Zusatzkosten, die nicht durch die Krankenversicherung abgedeckt sind, sondern durch die PatientInnen selbst zu tragen sind.

Das hier unterliegende Akteurmodell ist aus Sicht der Autoren mit einem Misstrauen gegenüber den Versicherten verbunden. Der Staat werde somit im Gesundheitssystem zum „Reparateur des Marktes“, anstatt dass er für seine BürgerInnen eine demokratische Entscheidung und eine Diskussion ermöglicht, anhand welcher Normen das Gesundheitssystem und die Gesundheitsversorgung mit Hilfe der Gesetzgebung auszurichten sind.

Tatsächlich erweist sich, dass in Frankreich viele Menschen bereit sind die Zusatzkosten zu tragen, wenn sie nicht auf eine Überweisung warten wollen. Für Batifoulier, Eymard-Duvernay und Favereau zeigt sich, dass die durch den Gesetzgeber intendierten Anreize als Institution erst durch die interpretative Praxis der Versicherten vervollständigt wird. Denn aus Sicht der EC gibt es keine einfache Kausalbeziehung zwischen einer gesetzlichen Regelung und den Auswirkungen. Diese aber anzunehmen sei ein Fehler der Theorie der Anreize, sodass auch das zugehörige Rechtsverständnis darunter leide (Batifoulier et al. 2007, S. 225). Diese deuten die Situation so, dass die Krankenversicherung ihre Freiheit einschränkt, was ihren eigenen Wertvorstellungen, wie die Gesundheitsversorgung erfolgen soll, vielfach widerspricht. Für die Konventionentheoretiker ist die Folge aber auch, dass die Zusatzkosten vor allem von finanziell besser gestellten Patienten getragen würden. Insgesamt wird die Steuerungsabsicht durch den Staat verfehlt: das Gesundheitssystem beruht nicht auf einem legitimierenden Konsens, es erzielt nicht die angestrebte Kosteneffizienz und es befördert die soziale Ungleichheit. Für die drei ist am Ende die Folgerung, dass der Staat seine legitime Rolle als Begründer einer gemeinsamen normativen Welt annehmen muss, anstatt das Recht dafür zu instrumentalisieren, ein Anreizsystem für die Steuerung von Interessen zu sein.Footnote 13

Die Aufgabe des Sozialstaates, die ‚richtigen Konventionen‘ zu finden, besteht dann in der (klassischen) Funktion, das rechtsstaatlich organisierte Arzt-Patienten-Verhältnis wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Der Begriff der Gesundheitsdemokratie, der aus der Infragestellung der traditionellen medizinischen Bevormundung entstanden ist, lässt sich also nicht auf eine Logik der Interessen reduzieren (Batifoulier et al. 2007, S. 226; Übersetzung RDB).

Es sind insbesondere die Arbeiten des Konventionentheoretikers Philippe Batifoulier, der mit anderen Konventionenforschenden die Perspektive der EC in die Analyse des Gesundheitssystems und dessen politischer Ökonomie eingebracht hat.Footnote 14 Diese Arbeiten bringen eine weitere konventionentheoretische Tradition ein: die historische Rekonstruktion der Genealogie institutioneller Strukturen, die eine eindimensionale und eine monokausale Herleitung ablehnt.

Philippe Batifoulier et al. (2019) haben die politischen Diskurse über das Wohlfahrtssystem in Frankreich seit Ende des zweiten Weltkrieges untersucht.Footnote 15 Sie verwenden das Konventionenkonzept, um damit normative Ordnungen zu bezeichnen, die sich als idealtypischer Gehalt von Ideologien auffassen lassen. Konventionen repräsentieren damit ein normatives Bild eines Wohlfahrtssystems.Footnote 16 Es werden von ihnen insgesamt drei Konventionen identifiziert:

  • an anticapitalist convention in which the social security system is thought of as an alternative to capitalism through the creation of a sector that escapes from the market;

  • a solidaristic convention in which the social security system is meant to redistribute wealth from the rich to the poor so as to ensure the cohesion of society;

  • a liberal convention in which the social security system is reserved primarily to those who cannot exercise their own free will and individual responsibility (Batifoulier et al. 2019, S. 265).

Diese drei Konventionen lassen sich in den politischen Diskursen nicht als einfache Abfolge finden, sondern stehen als Diskurspositionen in einem antagonistischen Machtverhältnis zueinander. Dabei können sie eine historische Dynamik ausmachen, durch die die (seit 1945) ursprünglich dominante antikapitalistische Konvention abgelöst wird durch einen Kompromiss zwischen der solidaristischen und liberalen Konvention. Aus Sicht dieser Konventionentheoretiker sind die Kritik, soziale Konflikte sowie die Vereinnahmung der Kritik der eigentliche Motor für diese Dynamik (Batifoulier et al. 2019; Boltanski und Chiapello 2003). Diese Perspektive haben Batifoulier et al. (2018) in ihrer Monographie „Economie de la santé“ zur Geschichte und gegenwärtigen institutionellen Verfassung des französischen Gesundheitssystems ebenfalls herangezogen. Hierin schildern sie, dass das Gesundheitssystem im Grunde kontinuierlicher Gegenstand politischer Reformen ist, in deren Kern nicht nur die Regulierungsbemühungen wirken, sondern auch die Konflikte zwischen den beteiligten Berufsgruppen. So setzen sich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts die diplomierten Ärzte durch, die fortan aufgrund ihrer Diplome allein berechtigt sind, zu praktizieren und Versorgungsleistungen in Rechnung zu stellen, während für andere Berufsgruppen faktisch die Berufstätigkeit untersagt wird.Footnote 17 Nach dem zweiten Weltkrieg werden die allgemeinen Krankenversicherungen eingeführt, welche auf dem Solidaritätsprinzip basieren, und die vorher existenten Versorgungskassen dafür abgeschafft.Footnote 18 Zudem kommen mehr und mehr Aufsichtsgremien hinzu, um verschiedene Berufsgruppen einzubeziehen, was die Governance-Struktur der Krankenkassen nach und nach komplexer werden lässt. Insgesamt sind die Anfänge der Krankenversicherung wesentlich durch die staatsbürgerliche Konvention geprägt.Footnote 19 Während durch die Gesundheitspolitik wesentlich die Frage der Kosten (insbesondere der Kostensteigerungen) problematisiert wird, wird von den Konventionentheoretikern die „Produktion“ der Gesundheit sowie die Bedeutung der Gesundheitsversorgung für die anderen gesellschaftlichen Bereiche betont.

Während die Krankenversicherung einen beträchtlichen sozialen Nutzen hat, trägt diese Absicherung auch in vollem Umfang zur wirtschaftlichen Regulierung bei. Sie erleichtert die Entwicklung von Unternehmensgründungen durch die Ausweitung des (privaten oder kollektiven) Konsums dank der Zahlungsfähigkeit der Haushalte. Ohne die Leistungen der Krankenversicherung hätten die Kranken eine Belastung ihres Einkommens, die ihren Konsum einschränken würde. Ohne den Gesundheitsschutz wären der industrielle Kapitalismus und der Finanzkapitalismus weniger entwickelt (Batifoulier et al. 2018, S. 61–62; Übersetzung RDB).

Die (in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts) in den politischen Diskursen erfolgende zunehmende Fokussierung auf die Kosten im Gesundheitssystem verdeckt dann die Frage nach der „Produktion der Gesundheit“. Batifoulier, Da Silva und Domain rekonstruieren, wie sich das moderne Gesundheitssystem differenziert in das System der Krankenhäuser und in dasjenige der niedergelassenen ÄrztInnen. Dabei stellen sie heraus, wie in den letzten drei Jahrzehnten nach und nach neue Managementstrategien wie das „New public management“, die Einrichtung von „Globalbudgets“ sowie die Etablierung eines Leistungsvergleichs zwischen den Krankenhäusern anhand von veröffentlichten Kennzahlen den GesundheitsmanagerInnen zu mehr Einfluss verhelfen, so dass letztlich die Medizinerinnen und Mediziner in ihrer Tätigkeit und die Qualität der medizinischen Versorgung durch betriebswirtschaftliche Vorgaben beeinträchtigt werden.Footnote 20 Hier zeichnet sich ab, dass die industrielle Konvention mit umfangreichen Standardisierungen, Quantifizierungen und der Einführung von Statistiken zu einem Dispositiv (zunächst) für das Krankenhausmanagement geworden ist.Footnote 21 Damit ist verbunden, dass aus Sicht der Patientinnen und Patienten sich die Versorgung verschlechtert, da diese die handwerkliche Konvention („convention domestique“) und die darauf bezogene Qualität wertschätzen (Batifoulier et al. 2018, S. 188). Batifoulier (2014) hat die dadurch aufkommende Spannung zwischen dem beruflichen Normensystem der medizinischen Praktiker (professionelle Konvention) und der industriellen Konvention in tabellarischer Form (Tab. 2.4) gegenüber gestellt.Footnote 22

Tab. 2.4 Professionelle Konvention und industrielle Konvention

Mit dem Einzug der industriellen Konvention als dominante Managementrationalität geht in Frankreich einher, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen ihren Leistungsumfang einschränken und durch private Zusatzversicherungen ergänzt werden müssen.Footnote 23 Damit erhält auch die Marktkonvention einen größeren Einfluss im Gesundheitswesen. Dieser Zuwachs an Einfluss der Marktkonvention wird wiederum ermöglicht durch die Etablierung der industriellen Konvention. Die Folge ist, dass im Gesundheitssystem eine Konzentration der Krankenversicherungsunternehmen erfolgt sowie auch, dass die Konkurrenz zwischen den Versicherungen und ein marktförmiges Verhalten der Versicherten angereizt werden. Aus Sicht der drei Konventionentheoretiker wird die ursprünglich auf dem Solidaritätsprinzip basierende Krankenversicherung so unterhöhlt, da das Gesundheitssystem durch die verschiedenen Formen der Privatisierung der Krankenversicherung die PatientInnen nun einerseits eher in die Position einer entscheidenden KonsumentIn versetzt, die dann aber auch selbst für die erbrachten Leistungen zahlen muss (Batifoulier et al. 2018, S. 160 f.).Footnote 24 Batifoulier hat (mit anderen) die verschiedenen Formen der Privatisierung zu identifizieren und zu systematisieren versucht. Hierbei spielt der Staat als Gesetzgeber eine wichtige Rolle, denn er ermöglicht die Überlassung von Teilen des öffentlichen Sektors an Private oder richtet diese aktiv ein. Zugleich sollen die Akteure „erlernen“, sich wie „rational kalkulierende UnternehmerInnen“ im Gesundheitssystem zu verhalten. Die Abb. 2.1 stellt verschiedene Prozesse der Privatisierung anhand von zwei Achsen gegenüber.Footnote 25 Die horizontale Achse differenziert das Ziel der Privatisierung, die vertikale Achse stellt gegenüber, ob Individuen die Privatisierung auferlegt wird oder ob sie von den Individuen selbst vorangetrieben wird.Footnote 26

Abb. 2.1
figure 1

Pluralität der Privatisierungen

Diese Pluralität der Privatisierungen ist nicht nur eine Beförderung sozialer Ungleichheit, die die Konventionentheoretiker mit diesen Prozessen verbinden; sie sehen fundamentaler ein gänzlich anderes Verhältnis zwischen Gesundheitssystem und Kapitalismus aufkommen.

Da die alten Wachstumssektoren im Niedergang begriffen sind, versucht der Kapitalismus, auf der Suche nach neuen Märkten, in Sektoren zu expandieren, die nicht spontan in seine Logik passen. Gesundheit ist nun für den neuen Kapitalismus das, was das Auto für den alten Kapitalismus war (Batifoulier et al. 2018, S. 157; Übersetzung RDB).

Die Arbeiten von Batifoulier (und anderen) haben zudem deutlich gemacht, dass die zunehmende Ökonomisierung und Privatisierung einhergeht mit dem Einzug der Quantifizierung als kognitiver Form im Gesundheitsbereich (Da Silva 2017; Batifoulier et al. 2018).

6 Quantifizierung und Digitalisierung

Im Bereich der Gesundheit haben das medizinische Wissen und die medizinische Expertise von Beginn an die fundierende Rolle gespielt. Für das Gesundheitsmanagement haben statistische Kennzahlen mehr und mehr an Bedeutung gewonnen – dies nicht nur für das Krankenhausmanagement, sondern auch für Krankenversicherungen, Arztpraxen sowie für die Gesundheitspolitik insgesamt. Die Effekte dieser Quantifizierung im Gesundheitswesen können dabei durchaus als positiv, aber auch als problematisch beurteilt werden.

The use of numbers in healthcare governance and management can no doubt bring considerable benefits in terms of improved planning and care delivery. […] Comparative quality data that are pooled in clinical collaborative can prompt quality improvements by rupturing rooted assumptions that there are no problems to address and by providing feedback on improvement efforts once they are undertaken […]. It is also reasonable that healthcare provider organizations are held accountable for the quality and efficiency of their services through measures that are comparable between providers and over time. To make that happen in reality, however, is fraught with difficulties, and the ever‐increasing ability of government agencies and managers to amass and calculate performance data has not solved fundamental problems […]. The basic assumption of managerial efforts to control healthcare by numbers is that well‐chosen measures can truly capture central aspects of healthcare quality and performance, in a neutral and objective way, and thereby be used to evaluate services and make informed decisions about how to improve them. However […] this does not ring well with findings from social studies of accounting, which persistently demonstrate that measurement and quantified control are fundamentally constitutive activities that tend to displace and even exacerbate underlying problems. In the context of healthcare, it is worth noting that numbers are both productive and deceptive, that they enable control but can be evaded, and that they have unintended effects (Levay et al. 2020, S. 3).

Die Analyse der Quantifizierung ist selbst ein Ausgangspunkt sowie auch ein Gründungselement der EC.Footnote 27 Die Konventionentheoretiker Alain Desrosières und Laurent Thévenot haben die sozialstatistischen Kategorien und Klassifikationen am nationalen Statistischen Institut in Frankreich (INSEE)Footnote 28 untersucht, die wiederum die Grundlage für die statistische Repräsentation der französischen Bevölkerung sowie für politische Diskurse und die Regierung sind (Desrosières und Thévenot 2002). Insbesondere Alain Desrosières hat auf die Fundierung von Statistiken durch Konventionen hingewiesen. Desrosières argumentiert, dass Quantifizieren bedeute, zuerst eine Konvention für das Messen einzuführen und dann zu messen (Desrosières 2008, S. 10). Aus Sicht der EC soll die Konvention, die der Messung zugrunde liegt, ermöglichen, dass solche Messungen generiert werden, die in Situationen auch geeignet sind, Akteure so zu informieren, dass eine Koordination mit Bezug auf ein kollektives Gemeinwohl möglich wird. Messungen und Indikatoren können dann zum Beispiel Kostenentwicklungen, eingehaltene Standards, Auslastungen oder den Grad der medizinischen Versorgung repräsentieren und so eingesetzt werden, um aus der Perspektive der beschriebenen Rechtfertigungsordnungen zu beurteilen, welche Missstände und Erfolge es gibt. Zu beachten ist, dass Sachverhalte unterschiedlich in Quantifizierungen umgesetzt werden können und dass Indikatoren daher ungeeignet oder geeigneter erscheinen können. Ein Beispiel ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das lange unhinterfragt als Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herangezogen wurde. Das BIP erfasst die in einem Jahr in einer Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen. Dieses Maß ist vereinbar mit der industriellen Konvention, die eine effiziente Mobilisierung aller Ressourcen zur Steigerung des materiellen Wohlstandes als Gemeinwohl auffasst. Das BIP berücksichtigt aus Sicht der staatsbürgerlichen Konvention allerdings wichtige Aspekte nicht, welche die Mobilisierung von Ressourcen auch rechtfertigen und welche die wirtschaftliche Koordination anstreben sollen. Die Ökonomen Mahbub ul Haq und Amartya Sen haben mit dem Human Development Index (HDI) ein alternatives Maß entwickelt, das zusätzlich zu den materiellen Leistungen auch die Lebenserwartung sowie das Bildungsniveau berücksichtigt. Damit sind auch erreichte (oder eben noch nicht erreichte) Verwirklichungschancen und Partizipationschancen in einer Gesellschaft besser repräsentiert. Man erkennt am Unterschied von BIP und HDI, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unterschiedlich gemessen werden kann und je nach herangezogener Rechtfertigungsordnung (Qualitätskonvention) können die anhand eines Indikators repräsentierten Daten für die (hier: ökonomische) Koordination als angemessen erscheinen oder kritisch als unangemessen beurteilt werden. Der Konventionentheoretiker Robert Salais (2008, 2012) hat deutlich gemacht, dass die Entscheidung über die zu verwendeten Konventionen für die Messung unter Einbeziehung der beteiligten Gruppen und mit Bezug auf Politikziele erfolgen soll. Salais (2008) unterscheidet das „instrumentalistische“ und das „ethische“ Konzept von Indikatoren.

Das instrumentalistische Konzept von Indikatoren entspricht dem positivistischen Datenverständnis, Messungen werden hier schlicht als neutrale Fakten angesehen, die Konventionen der Messung sind nicht für die betroffenen Gruppen verhandelbar, transparent und stehen nicht in Bezug zu einem Gemeinwohl, für dessen Bewertung und Realisierung die Messungen relevant sein sollen. Hier setzt die Kritik von Salais an solchen Leistungsindikatoren an.

Ihre politische Legitimation und Akzeptanz resultiert aus der Tatsache, dass diese Leistungsindikatoren in Form von Ziffern erscheinen, die a priori objektiv und nicht hinterfragbar sind. In Wahrheit sind die Dinge jedoch viel komplizierter. Die Verwendung von Governance-Werkzeugen heißt nicht nur, auf der Suche nach politischer Neutralität Politik durch Technik zu ersetzen, sondern zugleich – wenn auch häufig ganz unbeabsichtigt – mittels der Auswahl bestimmter Techniken Politik zu machen. […] Das Problem hat drei Aspekte: das Erstellen von Indikatoren, die Produktion der notwendigen Daten und ihren Gebrauch bei der Entscheidung. […] Die zweite Konzeption der Indikatoren und der zwischen öffentlicher Politik herzustellenden Beziehungen legt ihr Schwergewicht dagegen auf das Faktum des Bewertens. Die Evaluation, das heißt die Bewertung, impliziert einen ausdrücklichen Bezug auf Werte. […] Das Konzept der tatsächlichen Umsetzung ist komplex, aber wichtig. Das, was bewertet werden soll, betrifft genau genommen den Grad, in dem eine Norm (z. B. ein Standard wissenschaftlicher Qualität) zur realen Institution geworden ist, den Grad, in dem sie in den ökonomischen, politischen und sozialen Praktiken […] inkorporiert ist. […] Um gut zu evaluieren, muss man die Eigenheiten respektieren; mehr noch, die Bewertung muss von den ‚lokalen‘ Akteuren selbst durchgeführt werden, und zwar unter bestimmten Bedingungen öffentlicher Beratung. […] Diese Beratung muss lokale Prozeduren einschließen, bei denen die Akteure diejenigen sind, die sich in den jeweiligen Situationen auskennen (Salais 2008, S. 193 f.–202; Herv. i. Orig.).

Im Unterschied zum instrumentalistischen Konzept der Indikatoren kommt es bei dem ethischen Konzept der Indikatoren darauf an, dass die Konventionen der Messung dann Gegenstand von Verhandlungs-, Implementierungs- und Lernprozessen sind und nicht einfach „gesetzt“ werden. Auch Da Silva (2017) hat argumentiert, dass die Quantifizierung die Einführung neoliberaler Wirtschaftsformen in das Gesundheitssystem dadurch befördere, dass einfach angenommen wird, dass man in Zahlen vertrauen kann und dass Zahlen an die Stelle des bisher auf der persönlichen Beziehung beruhenden Vertrauens zwischen PatientInnen und Ärztinnen bzw. Ärzten treten sollen. Da Silva sieht den Diskurs zur „Evidenz“ und die „evidenzbasierte Medizin“ sowie die darauf aufbauende Standardisierung von medizinischer Versorgung und Pflege als Ausgangspunkt dafür, dass die kognitive Form der Zahlen Vorrang haben soll vor derjenigen des Gesprächs. Da Silva argumentiert – mit Bezug auf Georges Canguilhem (2013) –, dass es eine Pluralität von Konzepten und Krankheitszuständen gibt, die sich nicht als graduelle Variation und als quantifizierbarer Unterschied zu „Gesundheit“ zeigen. Die Zuschreibung von „Gesundsein“ oder „Kranksein“ sei als soziale Qualifizierung anstatt als wissenschaftliche Quantifizierung zu denken (Da Silva 2017, S. 122).Footnote 29 Pflege und medizinische Versorgung seien zudem notwendig personalisiert und die Beurteilung von Gesundheit und Krankheit sei anhand der Quantifizierung zunehmend nicht mehr auf die Deutung des Einzelfalls sowie auf die Erfahrung von Patientinnen und Patienten gestützt (Da Silva 2017, S. 123). Die Quantifizierung ermögliche zudem inakzeptable Strategien, wie den Versuch durch Pharmaunternehmen, Studien für die Evidenzbasierung zu finanzieren, die die Wirkung von Medikamenten ohne Berücksichtigung der Lebensgewohnheiten untersuchen oder die bei einem ungünstigen sozialen Umfeld nicht durchgeführt werden (Da Silva 2017, S. 126).

Die Einführung von Gesundheits-Apps, Robotern oder Telemedizin kombiniert die Quantifizierung mit Technologien, die zusätzlich Spannungen im Gesundheitssystem einbringen. Nicolas Da Silva und Amandine Rauly (2016) haben anhand der Telemedizin deutlich gemacht, wie durch die Datafizierung und die technische Zugänglichkeit der PatientInnendossiers die ärztliche Expertise unterminiert wird und die professionelle Konvention durch die industrielle Konvention in Frage gestellt wird.

Mit dem Internet und der zunehmenden Verwendung von Apps und Sensoren in technischen Geräten des Alltags spricht man von der Quantifizierung der Lebenswelt, dann auch von „Datafizierung“. Darunter kann man die zunehmende Transformation von (sozialen) Praktiken und Prozessen in Datenform sowie deren Repräsentation als Daten verstehen (Ruckenstein und Schüll 2017; Diaz-Bone et al. 2020). Minna Ruckenstein und Natasha Schüll beschreiben diese Datafizierung als umfassenden Prozess, der Regierung, Institutionen des Gesundheitssystems, Social Media und das weitere Alltagsleben durchdringt.

The datafication of health unfolds on a number of different scales and registers, including data-driven medical research and public health infrastructures, such as biobanks and governmental databases; clinical health care, as in continuous patient monitoring, implantable biosensors, the use of the Internet for doctor-to-patient interaction, and personalized or “precision” medicine – practices collectively described as digital health, eHealth, mHealth, or Health 2.0; and self-care practices, as in the use of direct-to-consumer genetic and microbiomics testing websites, health related peer-to-peer social media, and a vast array of wearable fitness and health devices and smartphone applications (apps) (Ruckenstein und Schüll 2017, S. 262).Footnote 30

Aus konventionentheoretischer Sicht ist die Datafizierung auch deswegen ein relevanter Untersuchungsgegenstand, weil große Anteile der Daten durch private Unternehmen und durch technische Infrastrukturen generiert werden, die im Besitz von privaten Unternehmen sind. Daran ist aus Sicht der EC problematisch, dass die unterliegenden Konventionen der Quantifizierung intransparent sind (Diaz-Bone 2016; Al-Amoudi und Latsis 2019; Diaz-Bone et al. 2020). Die Qualität der Daten kann damit nicht durch betroffene Individuen, soziale Gruppen und durch die Öffentlichkeit beurteilt werden und die Unternehmen setzen das Vertrauen in das Unternehmen ein (in dessen Reputation, in das Markenvertrauen), um die Intransparenz der Daten zu kompensieren. Zumeist ist die Situation aber noch fundamentaler intransparent. Denn die Auswertung von Big Data durch die Unternehmen und die algorithmischen Entscheidungen sind für Menschen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind, zumeist ebenfalls nicht erkennbar. Numerische Repräsentationen, wie „Informationen“ über den eigenen Gesundheitszustand anhand von Gesundheits-Apps, sind dann durch Intransparenz und eine asymmetrische Kontrolle der Datenproduktion gekennzeichnet. Gesundheits-Apps können die der Messung unterliegenden Konventionen verschleiern.

When considering a technical object, like a health app, one might assume it measures a natural state. But there is no universal “natural” state of health that could be measured without a context. The interests and values that lead to the measurement of specific health parameters […] can quickly become invisible through the technical object […] (Cappel und Kappler 2019, S. 34).

Die Verhaltenssteuerung erfolgt ebenso in asymmetrischer Weise, da es zumeist Unternehmen (wie Versicherungen oder Internetunternehmer) sind, die nicht nur die Kontrolle über die Daten haben, sondern die anhand der Auswertungen auch selbst nach Mustern in den Daten suchen, die eingesetzt werden können für die Beeinflussung der Individuen sowie für die Ermittlung von Grenzwerten und für die Analyse der Wirksamkeit von Anreizen. Und Krankenversicherer können versucht sein, die fein auflösenden Daten dazu zu nutzen, individualisierte Versicherungstarife und Anreize zu entwickeln.Footnote 31

Die Datafizierung und die überwiegende private Kontrolle der Daten führt zu einer Situation, die dem Panoptismus ähnelt, den Michel Foucault für Architekturen (Gefängnisse, Fabriken, Schulen) beschrieben hat (Foucault 1976). Allerdings gibt es nicht ein einziges Zentrum, wie es das Panopticon von Bentham noch vorsah und die Sichtbarkeit wird nun wesentlich durch numerische Repräsentationen ersetzt, sodass man von einem „statistischen Panoptismus“ sprechen kann (Diaz-Bone 2019b).

Dass die Intransparenz der Datenproduktion durch private Datentechnologien sowie von Big Data Analysen nicht gleichzusetzen ist damit, dass in diese keine normativen Strukturen und normativen Entscheidungen einfließen, haben Ismael Al-Amoudi und John Latsis anhand der Entwicklung von Algorithmen und künstlicher Intelligenz (AI) herausgestellt.Footnote 32

Even if a sufficiently comprehensive data set were available to the developers of an AI algorithm designed to replicate human judgment, they would still face a basic issue: their expert system will always carry an inherent conservative bias because AI algorithms are trained on historical data. Training implicitly assumes that the lessons of the past are a more or less accurate guide to the future. As we saw with the deployment of expert systems to identify skin cancers, this can work well if the data being judged is objective (a photo) and the final output (survival rate of the patient) is known. However, a larger part of health policy does not involve this type of data and has completely different objectives. In particular, the inherently normative elements of policy tend to be focused on decisions about defining categories (Does patient x suffer from a long-term condition, illness or disability?); justifying and prioritising care (How long should a terminally ill or braindead patient be kept on life support?); or selecting between different treatment protocols (Should we always adopt cheaper protocols, or ones that work better with a wider array of cases?) (Al-Amoudi und Latsis 2019, S. 130).Footnote 33

Die normativen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitsbereich sind auf diese Weise nicht mehr der öffentlichen Diskussion zugänglich und entziehen sich auch der (derzeitigen) Gesetzgebung in vielen Ländern. Ähnlich wie dies für Bereiche der Sozialforschung gilt (Diaz-Bone 2019a, b), droht die staatliche Regulierung zurückgedrängt zu werden durch die private Datafizierung und Datenanalyse des „Gesundheitsverhaltens“. Wie sich dies bereits anhand der Selbstquantifizierungsbewegung abzeichnet, wird diese – im Wesentlichen durch private Unternehmen (durch kleine Startups sowie durch die großen Internetunternehmen) – angetriebene Technisierung und Asymmetrisierung des GesundheitswissensFootnote 34 zu einer Veränderung nicht nur der Technologien des Selbst (Foucault) und den Regimen des Engagements (Thévenot) führen, sondern auch zu einer Veränderung der wirkmächtigen Gesundheitskonzepte und des auf die Gesundheit bezogenen Verhaltens.Footnote 35 Denn aus Sicht der Soziologie der Konventionen sind Qualitäten wie „Gesundheit“ letztlich pragmatisch zu begreifen als Resultate von Koordinationsprozessen sowie von Bewertungsprozessen, in denen sich Akteurinnen und Akteure auf Objekte, Konventionen und kognitive Formen stützen.

Es ist aber absehbar, dass sich umfangreiche und anhaltende Prozesse der Kritik und aufkommender Spannungen im Gesundheitswesen einstellen, wenn die Digitalisierung der Gesundheitspraktiken sich tatsächlich auf der Grundlage neoliberaler Wirtschaftspolitiken vollzieht, die eben einer Privatisierung, einer zunehmenden Intransparenz und Asymmetrisierung Vorschub leisten, wie sie hier skizziert worden ist.Footnote 36 Al-Amoudi und Latsis argumentieren, dass intransparente Algorithmen und AI letztlich als „normative black boxes“ keine normative Bindungskraft generieren können, wenn jene nicht diskutiert, kritisiert und gerechtfertigt werden kann (Al-Amoudi und Latsis 2019, S. 120). Bereits diese Situation wird die Spannungen im Gesundheitsbereich erhöhen. Wie Batifoulier et al. (2018) für Frankreich skizziert haben, ist die Geschichte des Gesundheitswesens letztlich nicht anders zu verstehen als ein Prozess sozialer Konflikte, die die EC als Dynamik von Kritik und Rechtfertigung sowie dadurch ausgelöster Transformationen, Vereinnahmungen und Kompromisse rekonstruiert und untersucht hat.Footnote 37 Der Einzug der Digitalisierung hat längst eine neue Phase dieser Konfliktdynamik eingeleitet.